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Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung von Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. Januar 2019 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsgläubiger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsschuldner vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollsteckenden Betrages leistet
T a t b e s t a n d :
2Der am 00.00.0000 in X…… in der Provinz Sistan und Belutschistan/Iran geborene Kläger ist iranischer Staatsangehöriger vom Volk der Belutschen mit Religionszugehörigkeit zum Islam sunnitischer Ausprägung. Er verließ den Iran nach seinen Angaben am 22. Juli 2018 und reiste am 19. November 2018 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein.
3Bei seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 29. November 2018 gab der Kläger an, er habe im Iran zuletzt in der Stadt X……X…… im Dorf X…… gelebt. Er habe die Schule bis zur neunten Klasse besucht und anschließend als Kfz-Mechaniker gearbeitet. Über einen befreundeten Kunden seiner Werkstatt sei er in Kontakt mit der Balochistan People´s Party (BPP) gekommen. Dieser habe ihn eingeladen, mit der Partei zusammenzuarbeiten und ihm erklärt, er solle nachts heimlich Flugblätter und CDs verteilen. Am 13. Juli 2018 habe der Freund ihm Flugblätter und CDs zum Verteilen gegeben und er habe diese Sachen an sich genommen. Währenddessen habe ihn ein Kunde auf seinem Handy angerufen, weil er sein Motorrad habe reparieren sollen. Er sei deswegen mit den Flugblättern und CDs zu sich nach Hause gefahren und habe diese dort abgelegt. Der Kunde habe ihn anschließend um ca. 20:30 Uhr mit seinem Motorrad abgeholt und sie seien dann zu diesem langjährigen Kunden nach Hause gefahren. Er habe bei dem befreundeten Kunden angefangen das Motorrad zu reparieren und gegen 2:30 Uhr in der Nacht, als er bereits erschöpft gewesen sei und sich habe ausruhen wollen, einen Anruf auf dem Handy von seiner Mutter erhalten. Diese habe gesagt, Leute vom Geheimdienst seien bei ihnen zu Hause gewesen, sein Bruder habe weglaufen wollen und sei von den Geheimdienstleuten erschossen worden. Die Mutter sei völlig außer sich gewesen, habe geweint und gesagt, die Leute vom Geheimdienst hätten den toten Bruder mitgenommen. Sie habe weiterhin gesagt, er solle nicht nach Hause kommen, weil die Geheimdienstmitarbeiter die Flugblätter und CDs zu Hause gefunden hätten. Anschließend habe er sein Handy ausgeschaltet. Er sei von diesem Kunden aus direkt zu seinem Onkel, der im Dorf X…… in der Stadt X……X…… lebe, gefahren und habe diesem erzählt, worum es gehe und was er gemeinsam mit seinem Bruder gemacht habe. Der Onkel habe dann innerhalb von sechs Tagen die Ausreise des Klägers mithilfe eines Schleppers organisiert.
4Auf Nachfrage erklärte der Kläger, er habe sich für die BPP engagiert, da diese für die Rechte der belutschischen Kinder kämpfe, die keine Geburtsurkunden erhielten, und sich dafür einsetze, dass für die belutschischen Kinder bessere und mehr Schulen gebaut würden. Sie seien in den Schulen nicht in ihrer Sprache unterrichtet worden und hätten das Gefühl, dass die belutschische Stammessprache aussterbe. Jedes Mal, wenn ein Belutsche studiere und sich nach oben arbeite, werde ihm von der iranischen Regierung eine fingierte Straftat vorgeworfen, sodass er in Misskredit gerate. Die Belutschen existierten nicht für die iranische Republik. Die Partei kämpfe für die Rechte der Belutschen. Die Arbeitsteilung zwischen ihm und seinem Bruder habe dergestalt funktioniert, dass sein Freund ihnen die CDs und Flugblätter gegeben habe und sein Bruder und er sie gemeinsam in der Nacht verteilt hätten, sein Bruder habe dabei das Motorrad gefahren und er habe hinten auf dem Sozius gesessen und sei jedes Mal abgestiegen und habe die Flugblätter an Wände geklebt und die CDs an Schulen und Museen hinterlegt. Er vermute, dass der Geheimdienst über seinen Freund an ihn und seinen Bruder herangekommen sei, da er diesen nicht mehr habe erreichen können und seine Nummer nicht mehr existiere. Auf den Flugblättern habe gestanden: "Freiheit für Belutschistan" und dass der Iran die Rechte der Belutsche respektieren solle.
5Der Kläger legte beim Bundesamt Fotografien und eine ID-Karte und Geburtsurkunde des nach seinen Angaben getöteten Bruders sowie der nach seinen Angaben verteilten Flugblätter vor. Zu den Fotos des Bruders erklärte der Kläger, diese habe sein Onkel am Tag, nachdem der Bruder erschossen worden sei, im Kühlhaus des Krankenhauses in der Nähe des Dorfes, aus dem er stamme, gemacht. Sein Bruder sei durch zwei Schüsse getötet worden. Die Fotos der Flugblätter habe er selbst gemacht, da er seinem Freund habe zeigen wollen, dass er diese Flugblätter in der jeweiligen Nacht verteilt habe. Dies habe er deshalb gemacht, weil sein Freund gegenüber der Partei habe beweisen wollen, dass er jemanden gefunden habe, der die Flugblätter und CDs sorgfältig verteile.
6Weiterhin reichte der Kläger beim Bundesamt am 07. Dezember 2018 eine Bescheinigung der BPP vom 26. November 2018 ein, mit der bestätigt wird, dass der Kläger als Unterstützer der BPP im Iran tätig gewesen sei, sowie Fotografien, die ihn und seinen Bruder gemeinsam zeigen.
7Mit Bescheid vom 25. Januar 2019 lehnte das Bundesamt die Anträge des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1) und die Asylanerkennung ab (Ziff. 2) und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziff. 3) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorlägen (Ziff. 4). Es forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik innerhalb von 30 Tagen zu verlassen, und drohte ihm für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung in den Iran an (Ziff. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 6).
8Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Vortrag des Klägers sei nicht glaubhaft. So sei der zeitliche Rahmen der Geschehnisse fraglich. Zudem erscheine es unwahrscheinlich, dass der Kläger das Motorrad gerade an dem Tag habe reparieren sollen, an dem sein Bruder erschossen worden sei. Die Beschreibung des Schadens sowie der Reparatur an dem Motorrad sei nicht nachvollziehbar. Auf den vorgelegten Fotografien, die Flugblätter der BPP zeigten, sei der Kläger selbst nicht zu sehen. Darüber hinaus sei er der Aufforderung nicht fristgemäß nachgekommen, Bilder von sich zusammen mit seinem toten Bruder vorzulegen. Der junge Mann auf den gezeigten Fotos sehe dem Kläger nicht ähnlich. Der Kläger habe auch die Umstände des Todes des Bruders nicht detailliert oder plausibel erklären können. Schließlich müsse die Echtheit der Mitgliedsbescheinigung der BPP angezweifelt werden, da die auf dem Dokument angegebene Webseite "balochpeople.org" nicht mehr existiere.
9Der Kläger hat am 07. Februar 2019 Klage erhoben. Mit der Klagebegründung wiederholt und vertieft er sein Vortrag beim Bundesamt und trägt vor, dass er die vom Bundesamt angeforderten Bilder rechtzeitig zugesandt habe. Mit Schriftsatz vom 03. Dezember 2019 hat der Kläger einen Aufruf zur Jahrestagung der BPP Deutschland für den 31. August 2019 eingereicht. Mit Schriftsatz vom 21. November 2022 trägt der Kläger vor, er sei in Deutschland Teil des Verwaltungskomitees der BPP und organisiere in dieser Funktion deutschlandweit Demonstrationen und habe auch an diesen teilgenommen. Zudem verwalte er die Social-Media-Kanäle der Bewegung in Deutschland. Teile dieser Kanäle liefen dabei unter seinem bürgerlichen Namen und seien öffentlich und für jedermann einsehbar. Bei der BPP handele es sich um eine Untergrundpartei, die hauptsächlich in der Region Belutschistan operiere und sich für die Menschenrechte der Belutschen im Iran einsetze. Sie sei regimekritisch eingestellt. Sie habe zahlreiche Mitglieder, die aus dem Iran geflohen seien und im Ausland ihrem politischen Engagement weiter nachgingen. Wegen seiner inner- sowie exilpolitischen Aktivitäten drohe ihm im Iran mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einem rechtsstaatsfremden Gerichtsverfahren unterzogen und im äußersten Fall zur Todesstrafe verurteilt zu werden. Es sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass seine exilpolitischen Aktivitäten den iranischen Sicherheitsbehörden bekannt seien. Es existierten zahlreiche Fotos und Videos auf diversen sozialen Medien, die den Kläger auf Demonstrationen und anderen regimekritischen Veranstaltungen zeigten. Darüber hinaus werde er wegen seiner Aktivitäten in sozialen Medien bedroht. Mit Schriftsatz vom 28. November 2022 hat der Kläger ein Anlagenkonvolut mit Bildern und Schriftstücken eingereicht, die ihn auf verschiedenen Demonstrationen und Kundgebungen in den Jahren 2019 bis 2022 sowie an der Teilnahme der Jahrestagung der BPP im Jahr 2019 zeigen. Darüber hinaus hat der Kläger eine weitere Bescheinigung der BPP vom 03. Oktober 2022 eingereicht, in der seine exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland im Einzelnen aufgeführt sind.
10Der Kläger beantragt,
11die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 25. Januar 2019 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
12hilfsweise,
13die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
14weiter hilfsweise,
15die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt.
16Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
19Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten sowie der Ausländerbehörde der Stadt X…… Bezug genommen.
20E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
21Die zulässige Klage ist begründet.
22Der ablehnende Bescheid des Bundesamtes vom 25. Januar 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 Asylgesetz – AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
23Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GK) -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ‑ zur Definition dieser Begriffe vgl. § 3b Abs. 1 AsylG ‑ außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder (b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
24Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten zunächst Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), ferner Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). § 3a Abs. 2 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlungen beispielhaft u.a. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, sowie gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden.
25Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG der Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatliche Akteure, sofern die in Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
26Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von §§ 3 Abs. 1 und 3b AsylG und der Verfolgungshandlung bzw. den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen, wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse, oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinen Verfolgern zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt.
27Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 19. Januar 2009 ‑ 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rn. 22, 24.
28Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
29Vgl. hierzu und zu dem Folgenden: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 = juris, Rn 32.
30Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …" des Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
31Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG zu erleiden, auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (sogenannte objektive Nachfluchtgründe; Umsetzung des Art. 5 Abs. 1 RL 2011/95/EU) oder auf einem Verhalten bzw. Aktivitäten des Ausländers nach seiner Ausreise aus dem Herkunftsland (sogenannte subjektive Nachfluchtgründe; Umsetzung des Art. 5 Abs. 2 RL 2011/95/EU). Ein Indiz für die Glaubhaftigkeit subjektiver Nachfluchtgründe liegt vor, wenn die Aktivitäten, auf die sich der Antragsteller stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.
32Vgl. Marx, AsylG, 10. Auflage 2019, § 28 Rn 28.
33Es ist Sache des Schutzsuchenden, von sich aus unter Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).
34Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e AsylG allerdings nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftsstaates keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2), sog. inländische Fluchtalternative.
35Ausgehend von diesen Grundsätzen und unter Berücksichtigung der aktuellen Verhältnisse im Iran droht dem Kläger bei einer Rückkehr unabhängig davon, ob sich die Vorfluchtgründe im Einzelnen wie vom Kläger geschildert ereignet haben, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit Verfolgung wegen seiner exilpolitischen Aktivität für die im Iran verbotene BPP (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 4. Alt., 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG).
36Nach den Erkenntnissen des Gerichts sind im Iran Personen, die öffentlich Kritik an Missständen üben oder sich für Menschenrechtsthemen engagieren, der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder islamische Grundsätze infrage stellt. Gegen die politische Opposition werden immer wieder drakonische Strafen aufgrund weitgefasster und diffuser Straftatbestände („regimefeindliche Propaganda“, „Beleidigung des Obersten Führers“ etc.) verhängt.
37Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 16. Februar 2022 (Stand: 23. Dezember 2021), S. 7 ff.; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran (Stand: 23. Mai 2022), S. 62 f.; Amnesty International, Report Iran 2021 (Stand: 29. März 2022); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Iran: Risiken im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von „kritischen“ Informationen in sozialen Netzwerken, 25. April 2019, S. 5 f.
38Die ohnehin angespannte Sicherheitslage im Iran eskaliert, seitdem am 18. September 2022 die junge Kurdin Mahsa Amini nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei unter ungeklärten Umständen im Polizeigewahrsam ums Leben gekommen ist. In der Hauptstadt Teheran sowie in vielen weiteren Landesteilen kommt es seitdem zu fortdauernden Protesten und heftigen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Polizei und Sicherheitskräfte gehen dabei gewaltsam und mit aller Härte gegen Demonstrierende vor, es gibt zahlreiche Tote und Verletzte. Im räumlichen Umfeld von Demonstrationen kommt es tausendfach zu willkürlichen Verhaftungen. Das Regime hat im Zusammenhang mit den systemkritischen Protesten im Land bereits Hunderte Menschen zu Freiheitsstrafen und mehrere Menschen zum Tode verurteilt. Am Vortag der mündlichen Verhandlung wurde ein erster Demonstant hingerichtet.
39Vgl. z.B.: tagesschau, Erster Demonstrant im Iran hingerichtet, 08. Dezember 2022, abrufbar unter https://www.tagesschau.de/aus-land/asien/iran-proteste-231.html, Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Stand: 3. November 2022, abrufbar unter https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/iransicherheit/202396); Süddeutsche Zeitung, Proteste in Iran - EU beschließt neue Sanktionen gegen Iran, 14. November 2022, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/p olitik/iran-proteste-eu-sanktionen-1.5695416); Bundeszentrale für politische Bildung, Iran: Anhaltende Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini, 20. Oktober 2022, abrufbar unter https:// www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/514577/iran-anhaltende-proteste-nach-dem-tod-von-jina-mahsa-amini/); tagesschau, Proteste im Iran, Große Solidarität - und alle Härte des Regimes, 15. Oktober 2022, abrufbar unter https://www.tagessc hau.de/ausland/asien/iran-proteste-171.html); amnesty international, Pressemitteilung vom 13. Oktober 2022, Iran: Mindestens 23 Kinder getötet bei brutaler Niederschlagung von Protesten, abrufbar unter https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/iran-mindest-ens-23-kinder-getoetet-bei-brutaler-niederschlagung-von-protest-en; alle zuletzt abgerufen am 9. Dezember 2022.
40Mit Blick auf diese Situation warnt das Auswärtige Amt gegenwärtig vor Reisen in den Iran. Auch für deutsche Staatsangehörige bestehe die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. Vor allem Doppelstaater, die neben der deutschen auch noch die iranische Staatsangehörigkeit besäßen, seien gefährdet. In jüngster Vergangenheit sei es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch ausländischer Staatsangehöriger gekommen.
41Vgl. Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Stand: 3. November 2022, abrufbar unter https://www.auswaertiges-amt.de/de/Rei seUndSicherheit/iransicherheit/202396), zuletzt abgerufen am 09. Dezember 2022.
42Das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen hat vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklungen mit Erlass vom 3. November 2022 gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG mit sofortiger Wirkung und befristet bis zum 7. Januar 2023 Abschiebungen nach Iran aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen ausgesetzt.
43Dass angesichts der beschriebenen Situation in Iran auch für die Zeit nach dem Auslaufen der Befristung dieses Erlasses und etwaiger Nachfolgeregelungen und damit auch für die Zeit nach dem Wegfall eines auf der Grundlage der Annahme einer allgemeinen Gefahr i. S. d. §§ 60 Abs. 7 Satz 6, 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG politisch entschiedenen Abschiebestopps nunmehr von einer Rückkehrgefahr für alle iranischen Staatsangehörigen unabhängig von einem besonderen Verfolgungsprofil auszugehen ist, ist der aktuellen Erkenntnislage jedoch nicht zu entnehmen. Im Fokus der Sicherheitskräfte stehen aktuell offenbar vielmehr die Teilnehmer an den Protestveranstaltungen und Demonstrationen in Teheran und in den iranischen, vor allem den kurdischen Provinzen. Es ist nach der Erkenntnislage zwar auch davon auszugehen, dass das iranische Regime die Auslandsaktivitäten der Opposition weiterhin überwacht und dabei gerade diejenigen in den Blick nimmt, die im Ausland in den sozialen Medien protestieren bzw. sich regimekritisch äußern, und grundsätzlich wohl auch diejenigen, die im Ausland an Solidaritäts- und Protestveranstaltungen auf der Straße teilnehmen und sich in dieser Form exilpolitisch und regimekritisch betätigen. Dabei wird das iranische Regime die politischen Gegner, die es identifizieren kann und derer es habhaft werden kann, nach der Erkenntnislage wie zuvor bereits auch mit aller Härte bestrafen. Gleichwohl ist angesichts des Umstands, dass dieses Protestverhalten aktuell massenhaft auftritt,
44vgl. etwa tagesschau, Demonstration in Berlin - Zehntausende gegen Irans Führung, 22. Oktober 2022 (im Internet abrufbar unter https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/protest-iran-berlin-101.h tml); WDR, Proteste im Iran: Tausende bei Demos in Köln und Düsseldorf, 29. Oktober 2022 (im Internet abrufbar unter https://www1.wdr.de/nachrichten/iran-demos-koeln-duesseldorf-100.html), alle zuletzt abgerufen am 09. Dezember 2022,
45nicht davon auszugehen, dass jeder iranische Staatsangehörige, der sich im Ausland exilpolitisch aktiv zeigt, für den iranischen Staat bzw. seinen Geheimdienst überhaupt identifizierbar ist bzw. von diesem tatsächlich identifiziert wird. Es ist deshalb auch unter Zugrundelegung der aktuellen Entwicklungen vorerst weiter im Einzelfall zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner (exil-)politischen Aktivitäten von den iranischen Behörden als Regimegegner erkannt wird und im Fall einer Rückkehr deswegen in Gefahr geraten könnte.
46Vgl. hierzu schon VG Aachen, Urteile vom 14. November 2022 - 10 K 1630/21.A -, juris, Rn. 51, und vom 5. Dezember 2022 - 10 K 2406/20.A -, Bl. 13 ff. des Urteilsumdrucks (zur Veröffentlichung in juris vorgesehen); vgl. auch VG Würzburg, Urteile vom 7. November 2022 - W 8 K 21.30749 -, juris, Rn. 37 ff., und - W 8 K 22.30541 -, juris, Rn. 31 ff.
47Eine exilpolitische Betätigung eines iranischen Staatsangehörigen ist asylrechtlich danach weiterhin (nur) dann relevant, wenn sie in einem nach außen hin in exponierter Weise für eine regimefeindliche Organisation erfolgten Auftreten besteht. Dabei lässt sich die Frage, welche Anforderungen in tatsächlicher Hinsicht an eine exilpolitische Tätigkeit gestellt werden müssen, damit sie in diesem Sinne als exponiert anzusehen ist, nicht allgemein beantworten. Maßgeblich ist, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem Regime in Teheran Unzufriedenen herausheben und als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner erscheinen lassen.
48Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 16. Januar 2017 – 13 A 1793/16.A ‑, juris, Rn. 10 f. m.w.N.; sowie mit Blick auf die aktuelle Situation: VG Aachen, Urteile vom 14. November 2022 - 10 K 1630/21.A -, juris, Rn. 51, und vom 5. Dezember 2022 - 10 K 2406/20.A -, juris Rn 52; vgl. auch VG Würzburg, Urteile vom 7. November 2022 - W 8 K 21.30749 -, juris, Rn. 37 ff., und - W 8 K 22.30541 -, juris, Rn. 31 ff.
49Im Rahmen der danach erforderlichen Bewertung der individuellen exilpolitischen Aktivitäten des Klägers ist die Kammer zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger diese Voraussetzungen im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erfüllt.
50Der Kläger hat die Gründe für sein Engagement für die BPP sowohl beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar mit den von ihm als sehr schlecht wahrgenommenen Lebensverhältnissen der Belutschen begründet. Die von ihm benannten Ziele der BPP und das Agieren der Partei aus dem Exil in Schweden heraus, wo der Parteivorsitzende Nasser Boladei lebt, entsprechen den Erkenntnissen des Gerichts zu den politischen Inhalten und Aktivitäten der Partei. Die der Kammer vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse zur Situation der Belutschen im Iran und zur Organisation und Betätigung der BPP bestätigen die Angaben des Klägers beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung.
51Danach leben die rund 1,5 Mio. sunnitischen Belutschen vor allem in unterentwickelten Gebieten in der südöstlichen Provinz Sistan und Belutschistan an der Grenze zu Pakistan und Afghanistan. In dieser Provinz liegt auch die Stadt X……, aus der der Kläger stammt. Die Provinz Sistan und Belutschistan gilt als ärmste und am meisten unterentwickelte Provinz des Iran und ist von Gewalt, Drogen- Kraftstoffschmuggelkriminalität geplagt. Belutschische Volkszugehörige haben nur einen begrenzten Zugang zu Bildung, Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt, Gesundheitsvorsorge und zum Wohnungsmarkt. Mehr als siebzig Prozent der Bevölkerung sollen unterhalb der Armutsgrenze leben. Hinweise auf staatliche Repressionen beruhend auf ihrer ethnischen Zugehörigkeit liegen zwar nicht vor, die Todesstrafe wird jedoch häufig gegen Belutschen verhängt. Nach Berichten belutschischer Aktivisten sind belutschische Journalisten und Menschenrechtsaktivisten willkürlichen Verhaftungen, körperlichen Misshandlungen und unfairen Verfahren ausgesetzt. Die Infrastruktur in Sistan und Belutschistan ist dermaßen schlecht, dass vielen belutschischen Dorfbewohnern de facto ihr Recht auf ausreichendes, gut zugängliches und sicheres Trinkwasser verwehrt wird. Sie müssen sich Trinkwasser und Wasser für den Hausgebrauch aus unsicheren Quellen holen, wie Flüssen, Brunnen, Teichen und Gruben, in denen es mitunter Krokodile gibt. Mehrere Menschen ertranken beim Wasserholen. In einigen Fällen erklärten die lokalen Behörden, die Opfer seien selbst schuld an ihrem Tod, weil sie nicht vorsichtig genug gewesen seien. Zudem mangelt es in der Provinz an Strom-versorgung, Schulen und Gesundheitseinrichtungen, weil der Staat nicht genug investiert. Kulturelle und politische Aktivitäten der Belutschen werden durch die Regierung eingeschränkt und sie sind von Diskriminierung betroffen. Regelmäßig wird auch in dieser Region von tödlichen Zusammenstößen von Sicherheitskräften mit vermeintlichen Schmugglern, Drogenkurieren oder Terroristen berichtet. Den Belutschen bleibt mangels anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten zum Überleben oftmals keine andere Wahl als der Schmuggel. Die Behörden unternehmen nichts, um die zahlreichen Fälle von rechtswidrigen Tötungen unbewaffneter belutschischer Träger (soukhtbar), die in der Provinz Sistan und Belutschistan Kraftstoff transportieren, zu stoppen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
52Vgl. Accord, Iran: COI Compilation, July 2018, S. 155 ff; BFA: Länderinformation der Staatendokumentation Iran. 23.05.2022. S. 65 m.w.N.
53Bei der Balochistan People´s Party (BPP) handelt es sich nach den Erkenntnissen der Kammer um eine vor allem aus dem Exil agierende Partei mit Sitz in Stockholm/Schweden, deren Ziel es ist, gewaltfrei und friedlich nationale Selbstbestimmung und Souveränität für das Volk der Belutschen zu erlangen. Sie setzt sich für die Schaffung eines belutschischen Bundesstaates in einer föderalen demokratischen Republik Iran ein und strebt ein liberales demokratisches System an, das auf politischem Pluralismus, Säkularismus und sozialer Wohlfahrt ohne Diskriminierung beruht. Die BPP ist Mitglied des Congress of Nationalities for a Federal Iran (CNFI), der aus Parteien und Organisationen besteht, die im Iran lebende Minderheiten wie Araber, aserbaidschanische Türken, Belutschen, Kurden und Turkmenen vertreten. Daneben ist die BPP Mitglied in der Unrepresented Nations & People Organization (UNPO), die Anfang der 90er Jahre in Den Haag mit dem Ziel gegründet wurde, ein Forum für Minderheiten zu schaffen, welche in nationalen und internationalen Institutionen nicht repräsentiert sind.
54Vgl. UNPO: Member Profile West Baluchistan Balochistan Peoples´s Party (BPP), Juli 2017 S. 7; About UNPO, https://unpo.org/section/2, abgerufen am 09. Dezember 2022; BFA: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Iran vom 20. Dezember 2017, Balochistan People’s Party, S. 10.
55Repräsentant bzw. Vorsitzender der BPP ist der vom Kläger benannte Nasser Boladai, der Autor zahlreicher Artikel zur Situation der Belutschen im Iran ist. Da eine offene politische Opposition im Iran nicht möglich ist, hat sich die Widerstandsbewegung der Belutschen zunehmend im Untergrund und im Exil organisiert. Die BPP pflegt Kontakt zu den Widerstandsgruppen im Iran und versorgt sie mit Informationen und politischer Anleitung.
56Vgl. BFA: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Iran vom 20. Dezember 2017, Balochistan People’s Party, S. 10. Iran Human Rights Review (IHRR): Nasser Boladai, Balochistan Peoples Party, https://www.ihrr.org/ihrr_author/nasser-boladai-en/, abgerufen am 28.11.2022; UNPO: Member Profile West Baluchistan Balochistan Peoples´s Party, S. 10; Nasser Boladai: The Baloch in Iran - A national question vom 25. Oktober 2006, https://www.gozaar.org/english/articles-en/The-Baloch-in-Iran.html, abgerufen am 20. Dezember 2022.
57Aus den zitierten Erkenntnissen ergibt sich zugleich, dass die sprachliche, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Diskriminierung und Marginalisierung des Volks der Belutschen der wesentliche Antrieb für die Gründung der Partei und deren Aktivitäten sind und waren.
58Vgl. UNPO: Member Profile West Baluchistan Balochistan Peoples´s Party (BPP), Juli 2017, S. 7; Nasser Boladai: The Baloch in Iran, A national question vom 25. Oktober 2006.
59Der Kläger hat beim Bundesamt als Grund für sein Engagement für die BPP angegeben, dass die Partei für die Rechte der Belutschen und der belutschischen Kinder kämpfe, die keine Geburtsurkunden erhielten. Die Partei setze sich dafür ein, dass für die belutschischen Kinder bessere und mehr Schulen gebaut würden. Die Belutschen würden in den Schulen nicht in ihrer Sprache unterrichtet werden und sie hätten das Gefühl, dass die belutschische Stammessprache aussterbe. Jedes Mal, wenn ein Belutsche studiere und sich nach oben arbeite, werde ihm von der iranischen Regierung eine fingierte Straftat vorgeworfen, sodass er in Misskredit gerate. Die Belutschen existierten nicht für die iranische Republik.
60Damit hat der Kläger bereits beim Bundesamt als Motivation für sein Engagement für die BPP die schlechten Lebensverhältnisse der Belutschen, ihre Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt, den Verlust ihrer kulturellen Identität und Sprache benannt. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung als weiteren Grund für sein Engagement für die BPP angegeben, dass er als Motorrad-Mechaniker die Probleme und Ungerechtigkeiten in seiner Heimat gesehen habe. Es habe an Schulen und Krankenhäusern gefehlt, man habe keinen Ausweis bekommen, es habe keine Rechte für Frauen gegeben und Kinder seien bereits verheiratet worden. Die Belutschen im Iran litten am meisten unter der Ungerechtigkeit, die persisch-sprachigen Iraner hätten Schulen und Krankenhäuser, aber in Belutschistan fehlten diese lebensnotwendigen Einrichtungen. Schließlich hat der Kläger auch auf die aktuelle Situation in Sistan und Belutschistan und insbesondere den "blutigen Freitag von Zahedan" abgestellt, wo bei regimekritischen Protesten zahlreiche Menschen getötet und verletzt wurden.
61Vgl. hierzu: AI: Mindestens 82 Tote bei blutiger Niederschlagung der Proteste in Sistan und Belutschistan, 06. Oktober 2022, S. 1.
62Vor dem Hintergrund der dargestellten Erkenntnisse ist nachvollziehbar, dass der Kläger sich bereits im Iran mit den schlechten Lebensbedingungen der Belutschen auseinandersetzte und sich mit Zielen und Inhalten der BPP identifizierte und mit dieser zumindest sympathisierte. Dabei kann dahinstehen, ob die vom Kläger vorgetragenen Fluchtgründe sich im Einzelnen, wie von ihm geschildert ereignet haben. Die Argumentation des Bundesamts, mit der die Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers in Abrede gestellt wird, ist aber in großen Teilen so jedenfalls nicht haltbar. Dies betrifft zunächst die vom Kläger nachgereichten Fotografien, auf denen er gemeinsam mit seinem Bruder zu sehen ist, die gemeinsam mit der Bescheinigung der BPP am 07. Dezember 2018 und damit vor Erstellung des ablehnenden Bescheids beim Bundesamt eingegangen sind. Die Einschätzung des Bundesamts, der auf den eingereichten Bildern zu sehende junge Mann, sehe dem Kläger nicht ähnlich, ist zum einen subjektiv und zum anderen nicht näher begründet. Insofern könnte man bei einem Vergleich der Mund-, Nasen-und Augenpartie, ohne weiteres auch zu dem Ergebnis kommen, dass eine Familienähnlichkeit gegeben ist. Einigermaßen seriös dürfte sich dies lediglich durch ein anthropologische-biometrisches Gutachten feststellen lassen. Dass der Kläger die Umstände des Todes des Bruders nicht detailliert schildern konnte, ist vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass er nach seinen eigenen Angaben nicht anwesend war, als dieser erschossen wurde und den Iran unmittelbar nach dessen Tötung verlassen hat. Angaben dazu, wie der Bruder getötet wurde, konnte der Kläger daher naturgemäß nur vom Hörensagen machen. Schließlich überzeugt die Argumentation auch nicht, sofern das Bundesamt in dem angegriffenen Bescheid ausführt, den vorgelegten Fotografien von Flugblättern komme kein Beweiswert zu, weil der Kläger auf diesen nicht zu sehen sei. Zwar mag der Beweiswert der vom Kläger eingereichten Fotografien und Videos eher gering sein. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass eine Person in aller Regel auf von ihr selbst aufgenommenen Bildern, es sei denn es handelt sich um sogenannte "Selfies", nicht zu sehen ist. Insoweit kommt den vom Kläger beim Bundesamt vorgezeigten Bildern und der Videodatei immerhin eine Indizwirkung dahingehend zu, dass der Kläger mit regierungskritischen Flugblättern, auf denen die Situation der Belutschen angeprangert wird, jedenfalls in Berührung gekommen ist. Was die Dauer und die Umstände der Reparatur an dem Motorrad des befreundeten Kunden betrifft, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, er habe die Motorradreparatur nicht sofort durchgeführt, sondern zunächst mit diesem gemeinsam gegessen und Tee getrunken und er habe erst anschließend peu à peu mit der Arbeit begonnen. Dies erscheint angesichts des Umstandes, dass der Kläger mit dem Kunden zugleich befreundet war, jedenfalls nicht vollkommen unplausibel. Nicht nachvollziehbar ist schließlich, dass das Bundesamt die Echtheit der Mitgliedsbescheinigung der BPP mit dem Argument anzweifelt, die auf dem Dokument angegebene Webseite "balochpeople.org" existiere nicht mehr und der letzte Beitrag auf der Webseite, die solche Seiten archiviere, stamme vom 25. Februar 2013, sodass davon auszugehen sei, dass die Webseite und eventuell die Partei nicht mehr existierten. Nach den Feststellungen des Gerichts wird man, wenn man die in der Bescheinigung angegebene Webseite "balochpeople.org" im Internet aufruft, unmittelbar zu der aktuellen Webseite der Partei "www.ostomaan.org" weitergeleitet, die in persischer und englischer Sprache eine Vielzahl von aktuellen und älteren Beiträgen enthält. Anhand der oben zitierten Erkenntnisse des Gerichts ist zudem festzustellen, dass die BPP in den vergangenen Jahren durchgehend aktiv war und der Parteivorsitzende Nasser Boladei zahlreiche Beiträge veröffentlicht.
63Letztlich kann dahinstehen, ob die mit den zur Verfügung stehenden Mitteln äußerst schwer überprüfbaren Angaben des Klägers zu seinen Fluchtgründen zutreffen und sich diese wie von ihm geschildert ereignet haben. Denn der Kläger betätigt sich jedenfalls im Bundesgebiet in einer Weise exilpolitisch, die es angesichts der aktuellen Situation im Iran als beachtlich wahrscheinlich erscheinen lässt, dass ihm bei einer Rückkehr Maßnahmen von staatlicher Seite wie eine willkürliche Verhaftung auf unbestimmte Zeit, Folter oder eine Verurteilung aufgrund unbestimmter, weit gefasster Tatbestände drohen.
64Der Kläger hat durch Vorlage zahlreicher Dokumente belegt, dass er seit seiner Ankunft in Deutschland ein äußerst aktives Mitglied der deutschen Sektion der BPP ist und durch die Veröffentlichung zahlreicher Beiträge für die Partei auf deren Webseite www.ostomaan.org eine herausgehobene Stellung einnimmt, die es als wahrscheinlich erscheinen lässt, dass er vom iranischen Geheimdienst identifiziert worden ist. Der Kläger hat mit der eingereichten Dokumentensammlung nachgewiesen, dass er seit 2019 an Veranstaltungen der Partei, Demonstrationen und Protestkundgebungen teilnimmt und diese teilweise unter seinem Namen anmeldet. Die Teilnahme des Klägers an Veranstaltungen, Demonstrationen und Kundgebungen der BPP in den vergangenen Jahren sowie zuletzt gehäuft aufgrund der aktuellen Verhältnisse im Iran ist auch auf zahlreichen Videos und Fotografien, die auf der Webseite der Partei, "http.www.ostomaan.org", verlinkt sind und bei denen der Kläger gut sichtbar und mit großen Bannern, auf denen das Regime im Iran angeprangert wird, sowie wahlweise mit der Flagge der Belutschen in der Hand in erster Reihe voranschreitet, zu sehen. Aufgrund der überzeugenden Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung und der in Augenschein genommenen Fotografien und Ausdrucke aus dem Internet und aus dem Instagram-Account des Klägers hat das Gericht auch keine Zweifel daran, dass die in der Bescheinigung der BPP vom 03. Oktober 2022 getätigten Aussagen nicht nur soweit sie die Situation der Belutschen und die Verhältnisse in der Provinz Sistan und Belutschistan betreffen, sondern auch sofern sie sich auf das Engagement des Klägers für die Partei beziehen, im Wesentlichen der Wahrheit entsprechen. Einer weiteren Überprüfung der Echtheit der Bescheinigung bedurfte es vor diesem Hintergrund nicht, zumal eine solche mit den dem Gericht zur Verfügung stehenden Mitteln nicht erfolgversprechend ist,
65vgl. hierzu: AA, Anfragebeantwortung vom 24. September 2019, - AZ.: 7433348-439. 24.09.2019 ("Echtheit einer Mitglieds-bescheinigung der BPP"); BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Iran vom 20. Dezember 2017, Balochistan People’s Party, S. 1.
66Die von dem Kläger gezeigten Aktivitäten haben zur Überzeugung der Kammer zwischenzeitlich eine Qualität erreicht, die ihn aus der Masse der mit dem iranischen Regime Unzufriedenen heraushebt und es naheliegend erscheinen lässt, dass die politischen Aktivitäten des Klägers dem iranischen Staat bekannt geworden sind, er identifiziert worden ist und als ein ernstzunehmender Regimekritiker angesehen wird. Angesichts der oben geschilderten Erkenntnislage und der aktuell weiter eskalierenden Situation im Iran, insbesondere auch in der Provinz Sistan und Belutschistan, erscheint die Furcht des Klägers vor Verfolgung bei einer Rückkehr in den Iran daher begründet. Eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 3e AsylG) besteht für ihn nicht.
67Die Feststellungen in Nrn. 3 und 4. des angefochtenen Bescheides, dass der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG hat und Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, sind aufzuheben. Einer Entscheidung über den mit den Hilfsanträgen geltend gemachten Schutzanspruch und die behaupteten Abschiebungshindernisse bedarf es nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht (§ 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG).
68Die Abschiebungsandrohung ist ebenfalls aufzuheben. Die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG liegen nicht vor, weil dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.
69Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.