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Aufhebung Wohnsitzverpflichtung/ Wohnsitzzuweisung, unbillige Härte, Erkrankung an paranoider Schizophrenie mit Halluzinationen und verzerrter Realitätswahrnehmung
Die der Klägerin gemäß § 12a Abs. 1 AufenthG und mit Bescheid des Beklagten vom 24. Juni 2020 in der Fassung des Ablehnungsbescheides vom 25. November 2021 gemäß § 12a Abs. 3 AufenthG auferlegte Wohnsitzverpflichtung für die Gemeinde C. in Nordrhein - Westfalen wird aufgehoben.
Die Beigeladene trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Verfahren ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beigeladene darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin oder der Beklagte Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
2Die am 16. Februar 1962 geborene Klägerin ist kosovarische Staatsangehörige. Mit der vorliegenden Klage begehrt sie nach § 12a Abs. 5 AufenthG die Aufhebung der Wohnsitzzuweisung nach Nordrhein- Westfalen in die Gemeinde C. , weil sie zu ihrem Sohn in die Stadt Ö. in Schleswig-Holstein ziehen will.
3Bereits mit Beschluss des Amtsgerichts Ö. vom 27. August 2014 (Az. 2 XIV 31550 L) wurde die Unterbringung der Klägerin im geschlossen Bereich eines Krankenhauses nach PsychKG bis zum Ablauf des 6. September 2014 angeordnet weil bei ihr vermutlich eine gemischte schizoaffektive Störung vorliege mit der Gefahr, dass sie aufgrund dieser Erkrankung eigengefährdende Fehlhandlungen begehe. Die Klägerin sei zeitweise desorientiert und verhalte sich selbstgefährdend, insbesondere auch suizidal.
4Nach einem weiteren Bericht des städtischen Krankenhauses O.. vom 27. Juli 2015 sei die Klägerin ins dortige Krankenhaus gebracht worden, nachdem sie zu Fuß laufend auf der Autobahn von der Polizei aufgegriffen worden sei.
5Ausweislich der Ausländerakte reiste sie zuletzt am 15. März 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Beschluss des Amtsgerichts Heinsberg / Betreuungsgericht vom 2. Dezember 2015 - Az. 11 XVII 287/15 - wurde ihr Sohn B. N. zu ihrem Betreuer für die Aufgabenkreise Asylangelegenheiten, Aufenthaltsbestimmung, Regelung des Postverkehrs, Vermögensangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern und Wohnungsangelegenheiten bestellt. Grund für die Bestellung war die Feststellung des Gerichts, dass bei der Klägerin eine depressive Erkrankung vorliege und sie deshalb aus gesundheitlichen Gründen gehindert sei, ihre Angelegenheiten in den genannten Bereichen interessensgerecht zu regeln. Der weitere Sohn der Klägerin, Herr S. N. geboren am 1. März 1985 wurde zum Ersatzbetreuer für denselben Aufgabenkreis bestellt. Er ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG.
6Am 13. Januar 2016 stellte sie einen Asylantrag. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 30. März 2016 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. In der Folgezeit wurde die Klägerin zunächst wegen fehlender Reisedokumente geduldet. Der Facharzt für Innere Medizin Dr. med. V. I. attestierte ihr unter dem 25. November 2016 die Erkrankung an einer fortgeschrittenen Demenz mit Weglauftendenzen und einer depressiven Psychose.
7Ausweislich der Bescheinigung des Zentrums für integrative Psychiatrie Ö. vom 5. November 2018 hat sich die Klägerin vom 9. August 2018 bis zum 5. Oktober 2018 in dortiger stationärer Behandlung befunden. Als Diagnose ist eine paranoide Schizophrenie nach F 20.0 aufgeführt. Sie sei aufgrund einer Exazerbation einer psychotischen Störung mit Unterbringungsbeschluss gemäß PsychKG bis zum 17. August 2018 stationär aufgenommen worden und sei anschließend freiwillig zur Weiterbehandlung auf Station verblieben. Sie habe Kinder mit einem Klappmesser bedroht, später Kinder und Erwachsene mit einem Stock. Sie spreche kein Deutsch. Nach der erhobenen Familienanamnese habe sich ihr Gesundheitszustand nach dem Tod ihres Mannes vor sechs Jahren stark verschlechtert. Aufgrund der Sprachbarriere sei nur eine sehr eingeschränkte körperliche Untersuchung möglich. Im Angehörigengespräch habe sich herausgestellt, dass sie seit Jahren auffällig und wesensverändert sei. Sie sei gereizt und immer wieder fremdaggressiv aufgefallen. Seit ca. sechs Jahren leide sie unter akustischen Halluzinationen. Es seien vor allen Dingen imperative Stimmen, die sie zu suizidalen Handlungen aufforderten. In der Vergangenheit habe es bereits zwei Suizidversuche gegeben, bei denen sie versucht habe, vom Balkon zu springen. Sie fühle sich durch die Stimmen sehr belastet und wolle gerne Medikamente nehmen, damit die Stimmen aufhörten mit ihr zu sprechen..… Im Gespräch hätten die Angehörigen ausgeführt, dass sie das letzte Mal ihre Medikation abgesetzt habe, weil sie Angst gehabt habe, man würde sie vergiften. Im stationären Verlauf sei die Einstellung der Klägerin auf eine antipsychotische Medikation mit Risperdal bei dem Verdacht auf eine paranoide Schizophrenie erfolgt. Die Therapie sei mit Olanzapin augmeniert und unter regelmäßigen Blutbildkontrollen aufdosiert worden. Die Therapie sei von ihr gut vertragen worden. Diese habe im klinischen Alltag deutlich schwingungsfähiger gewirkt. Im erneuten Angehörigengespräch habe sie angegeben, dass sie sich deutlich besser fühle. Die akustischen Halluzinationen hätten abgenommen und seien weitestgehend nur noch als Akoasmen in Form vom Rauschen zu eruieren gewesen, sodass die Klägerin sich von akuter Suizidalität habe distanzieren können. …. Die Klägerin habe im deutlich gebesserten Zustand am 5. Oktober 2018 ohne Anhalt für eigene oder Fremdgefährdung in die ambulante Weiterbehandlung entlassen werden können.
8Ihr als Betreuer bestellter Sohn B. verstarb am 31. August 2019. Ausweislich der Bestellungsurkunde des Amtsgerichts Heinsberg - Az 11 XVII 287/15 - vom 18. Februar 2020 wurde der weitere Sohn der Klägerin, Herr S. N. , T.-------platz 0, Ö. zu ihrem Betreuer für die Aufgabenkreise Aufenthaltsbestimmung, Regelung des Postverkehrs, Vermögensangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern, Wohnungsangelegenheiten und Asylangelegenheiten bestimmt. Er sei von den in den §§ 1809, 1810, 1812, 1814-1816 BGB bestimmten Beschränkungen und Genehmigungen befreit. Er vertrete die Klägerin im Rahmen seines Aufgabenkreises gerichtlich und außergerichtlich.
9Mit Bescheid des Bundesamtes vom 15. Juni 2020 wurde für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Kosovo festgestellt. Die im Bescheid vom 30. März 2016 erlassene Abschiebungsandrohung wurde aufgehoben. Daraufhin erhielt sie am 1. Juli 2020 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG befristet bis zum 23. Oktober 2022.
10Die Beklagte verpflichtete die Klägerin mit Bescheid vom 24. Juni 2020 gemäß § 12a Abs. 1 S. 1, Abs. 3 AufenthG für die Dauer ihres erlaubten Aufenthaltes, längstens für drei Jahre ab Anerkennung als Flüchtling oder Asylberechtigte bzw. ab erstmaliger Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Gemeinde C. zu nehmen. Dieser Bescheid wurde mangels Klageerhebung bestandskräftig.
11Mit Schreiben vom 21. Juli 2020 stellte die Klägerin einen Antrag auf Änderung der Wohnsitzauflage nach § 12a Abs. 5 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen, wegen Pflegebedürftigkeit und wegen psychotherapeutischer und psychiatrischer Behandlung. Ergänzend führte ihr Betreuer, Herr S N. , im Schreiben vom 28. Juli 2020 aus, sein in Nordrhein - Westfalen wohnhafter Bruder sei vor knapp einem Jahr tödlich verunglückt. Ohne ständige Aufsicht und Betreuung sei eine Versorgung seiner Mutter nicht möglich. Sie selbst habe keine Orientierung und könne sich weder selbst versorgen noch pflegen. Er übersandte anliegend verschiedene Bescheinigungen über die Erkrankung seiner Mutter.
12Die um Zustimmung zum Zuzug gebetene Stadt Ö. , die spätere Beigeladene bat mit E-Mail vom 13. August 2020 um Übersendung eines Pflegegutachtens der Krankenkasse, eines aktuellen fachärztlichen Attestes und einer schriftlichen Einverständniserklärung des Vermieters zum Einzug der Klägerin in die Wohnung des Sohnes.
13Der Betreuer der Klägerin teilte mit Schreiben vom 7.September 2020 mit, dass es momentan unmöglich sei, ein Pflegegutachten zu erstellen. Seine Mutter erhalte seit Anfang Juli weder Sozialleistungen, noch sei sie krankenversichert. Dies solle geschehen, nachdem sie nach Ö. umgemeldet werde. Außerdem könne er wegen der langen Fahrt von Ö. nach NRW, aufgrund seiner Berufstätigkeit und wegen der fehlenden Krankenversicherung kein Attest erstellen lassen. Es sei unmöglich, sich als Betreuer um seine Mutter zu kümmern, wenn sie über 600 km entfernt wohne. Sie müsse ärztlich versorgt werden und benötige Geld für ihre Verpflegung. Er übersandte einer Wohnungsgeberbestätigung des Vermieters zum Einzug der Klägerin in seine Wohnung in Ö. .
14Die Beigeladene lehnte mit Schreiben vom 25. September 2020 ihre Zustimmung zur Wohnsitzänderung der Klägerin ab. Die vorgetragenen gesundheitlichen und finanziellen Probleme der Klägerin begründeten keinen gesetzlichen Ausnahmetatbestand nach § 12a Abs. 5 AufenthG. Die familiäre Bindung zu dem Sohn falle aufgrund der Volljährigkeit der Klägerin nicht in den Schutzbereich des Art. 6 GG. Auch eine Härte im Sinne des § 12a Abs. 5 AufenthG sei nicht nachgewiesen. Die geforderten Nachweise wie ein aktuelles fachärztliches Attest und ein Pflegegutachten seien bis heute nicht eingereicht worden. Eine ambulante Betreuung der der behinderten Klägerin könne auch am Wohnort durch verschiedene Institutionen erfolgen.
15Nach vorheriger Anhörung der Klägerin lehnte der Beklagte die beantragte Aufhebung der Wohnsitzauflage mit Bescheid vom 25. November 2020 ab. Zur Begründung führte er aus, dass bei bundeslandübergreifenden Umzügen die Zustimmung der Ausländerbehörde des Zuzugsortes erforderlich sei. An die fehlende Zustimmung der Ausländerbehörde der Beigeladenen sei sie gebunden. Der Bescheid wurde dem Betreuer der Klägerin am 27. November 2020 zugestellt.
16Hingegen hat die Klägerin, am Montag den 28. Dezember 2020 Klage erhoben. Zur Begründung führt sie ergänzend aus, dass nach den bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegten Unterlagen feststehe, dass sie in den wesentlichen Bereichen des alltäglichen Lebens nicht in der Lage sei, ihre Geschäfte selbständig und eigenverantwortlich zu regeln. Daher sei es notwendig, dass der Betreuer seine Funktion auch kurzfristig und spontan ausüben und entsprechend zur Verfügung stehen könne. Sie könne ihre Lebensführung nur mit seiner Hilfe bewältigen. Von ihm könne aber eine Lebensführung in C. nicht erwartet werden. Er lebe mit seiner deutschen Familie in Ö. und sei dort fest verwurzelt
17Die Klägerin beantragt sinngemäß,
18die für sie nach § 12a Abs. 1, Abs. 3 AufenthG bestehende Wohnsitzverpflichtung in Nordrhein - Westfalen und in der Gemeinde C. unter Aufhebung der Bescheide des Beklagten vom 24. Juni 2020 und vom 25. November 2020 aufzuheben.
19Der Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Vorliegend könnten die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Aufhebung der Wohnsitzverpflichtung nach § 12a Abs. 5 Nr. 2 c) AufenthG vorliegen. Danach könne eine Verpflichtung oder Zuweisung auf Antrag des Ausländers zur Vermeidung einer Härte aufgehoben werden. Eine unbillige Härte liege insbesondere vor, wenn für den Betroffenen aus sonstigen Gründen vergleichbare unzumutbare Einschränkungen entstünden. Dies seien sei nach der Begründung des Gesetzesentwurfs Beeinträchtigungen persönlicher Belange, die im Vergleich zu den betroffenen öffentlichen Interessen und im Hinblick auf den vom Gesetz vorausgesetzten Zweck der aufenthaltsbeendende Beschränkung als unangemessen schwer anzusehen sein. Davon sei bei bestehender Pflegebedürftigkeit auszugehen. Dafür, dass hier eine solche gegeben sei, spräche schon die der Klägerin attestierte fortgeschrittene Demenz mit Weglauftendenzen.
22Allerdings sei nach § 72 Abs. 3a AufenthG die Aufhebung einer Wohnsitzverpflichtung nach § 12a Abs. 5 AufenthG nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde des geplanten Zuzugsortes erfolgen. Die Zustellung sei zu erteilen, wenn die Voraussetzungen des § 12a Abs. 5 AufenthG vorlägen. Ohne die hier abgelehnte Zustimmung der Beigeladenen sei es dem Beklagten nicht möglich, die kraft Gesetzes bestehende Wohnsitzverpflichtung aufzuheben und der Klägerin die Wohnsitznahme im Stadtgebiet Ö. zu gestatten.
23Das Gericht hat mit Beschluss vom 9. Juni 2021 und vom 17. Februar 2022 die Stadt Ö. , Ausländeramt beigeladen. Die Beigeladene hat an ihrer Zustimmungsverweigerung zur Aufhebung der Wohnsitzauflage festgehalten. Nachweise für eine Pflegebedürftigkeit der Klägerin und aktuelle ärztliche Atteste seien bis heute nicht vorgelegt worden.
24Ausweislich der vom Betreuer vorgelegten ärztlichen Bescheinigung des medizinischen Versorgungszentrums MVZ der U gGmbH Dr. med. W. I. , Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, vom 2. Februar 2021, leidet die Klägerin an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie mit Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörungen. Sie sei nicht zu einer ausreichenden Selbstfürsorge und realitätsgerechten Willensbildung fähig. Sie sei weiterhin auf die Hilfe ihrer Angehörigen angewiesen.
25Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs verwiesen.
26E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
27Die zulässige Klage ist begründet.
28Gegenstand des Klageverfahrens ist das Begehren der Klägerin, den Beklagten gemäß § 12a Abs. 5 AufenthG zur Aufhebung der gesetzlichen Wohnsitzverpflichtung in Nordrhein -Westfalen nach § 12a Abs. 1 AufenthG und der Zuweisungsentscheidung nach C. nach § 12 a Abs. 3 AufenthG vom 24. Juni 2020 in der Fassung des Ablehnungsbescheides vom 25. November 2020 zu verpflichten. Die Klage ist begründet, die Klägerin hat einen Anspruch auf Aufhebung der Wohnsitzverpflichtung (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
29Nach der hier allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 12a Abs. 5 ist eine Verpflichtung oder Zuweisung nach § 12a Abs. 1 bis 4 AufenthG auf Antrag des Ausländers u.a. zur Vermeidung einer Härte aufzuheben. Eine Härte liegt nach § 12a Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AufenthG insbesondere vor, wenn a) nach Einschätzung des zuständigen Jugendamtes Leistungen und Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch mit Ortsbezug beeinträchtigt würden, b) aus anderen dringenden persönlichen Gründen die Übernahme durch ein anderes Land zugesagt wurde oder c) für den Betroffenen aus sonstigen Gründen vergleichbare unzumutbare Einschränkungen entstehen. Eine Änderung der Wohnsitzverpflichtung kommt hier allein aufgrund einer vergleichbaren unzumutbaren Einschränkung nach § 12a Abs. 5 Satz 1 Ziff. 2 Buchst. c) AufenthG in Betracht. Unzumutbare Einschränkungen in diesem Sinne sind Beeinträchtigungen persönlicher Belange, die im Vergleich zu den betroffenen öffentlichen Interessen und im Hinblick auf den vom Gesetz vorausgesetzten Zweck der Aufenthaltsbeschränkung als unangemessen schwer anzusehen sind. In Betracht kommen berechtigte persönliche Interessen aller Art, insbesondere familiäre Gründe, sozial- und integrationspolitische Erwägungen für besonders schutzbedürftige Personengruppen – etwa Menschen mit Behinderung und Betreuungsbedarf – oder Gründe der Sicherheit bzw. des Gewaltschutzes. Diese müssen einiges Gewicht haben und ähnlich schwer wiegen wie insbesondere der in § 12a Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a) AufenthG geregelte Fall einer Beeinträchtigung von Leistungen und Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Es muss sich aber nicht um eine besondere oder gar außergewöhnliche Härte oder einen atypischen Fall handeln,
30vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 9. Januar 2018 – 19 CS 17.1838 –, juris Rdnr. 9; OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. August 2017 – 8 ME 90/17 –, juris Rdnr. 23.
31Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Unabhängig von der Frage, ob die Klägerin nach pflegeversicherungsrechtlichen Maßstäben pflegebedürftig ist, so sie jedenfalls nach Würdigung aller vorgelegten medizinischen Unterlagen zur Überzeugung der Einzelrichterin im Alltag umfänglich betreuungsbedürftig, wenn eine Eigen- und/ oder Fremdgefährdung vermieden werden soll. Aus den vorliegenden medizinischen Stellungnahmen, insbesondere der Bescheinigung des Zentrums für integrative Psychiatrie Ö. vom 5. November 2018 und der Bescheinigung des medizinischen Versorgungszentrums Dr. med. I , Facharzt für Psychiatrie und Neurologie vom 2. Februar 2021 ergibt sich übereinstimmend, dass Klägerin an einer paranoiden Schizophrenie mit Halluzinationen nach F 20.0 leidet, die sie daran hindern, sich eigenverantwortlich um sich selbst zu kümmern. Die Bescheinigung des Zentrums für integrative Psychiatrie Ö. , die auf einer Beobachtung der Klägerin während eines knapp zweimonatigen stationären Aufenthalts beruht, hat dabei ein besonderes Gewicht. Aufgrund der übereinstimmend dargestellten Schwere der Erkrankung ist die Realitätswahrnehmung der Klägerin seit Jahren massiv gestört. Wiederholt ist es zu eigen- und fremdgefährdendem Verhalten gekommen, sofern die Klägerin ihre Medikation z.B. aus Angst vor Vergiftungen nicht zuverlässig eingenommen hat. Aufgrund dessen ist die Klägerin bereits zweimal in den Jahren 2014 und 2018 mit einem Unterbringungsbeschluss nach PsychKG in eine geschlossene psychiatrische Abteilung aufgenommen worden. Eine Heilung der Erkrankung ist nach Art des Krankheitsbildes und mit Blick auf das fortgeschrittene Alter der Klägerin nicht zu erwarten. Daher ist jedenfalls eine massive, engmaschige Betreuung der Klägerin zur Vermeidung einer Eigen- und Fremdgefährdung erforderlich, die eine vergleichbare Härte im Sinne des § 12a Abs. 5 Nr. 2 c AufenthG begründet. Sofern die Beigeladene in ihrem Ablehnungsschreiben vom 25. September 2020 die familiäre Bindung der Klägerin zu ihrem als Betreuer bestellten Sohne aufgrund ihrer Volljährigkeit nicht als in den Schutzbereich des Art. 6 GG fallend ansieht, wird dies dem Krankheitsbild und der Situation der Klägerin nicht gerecht. Eine solche Einordnung ist nur zutreffend, sofern der jeweilige volljährige Ausländer anders als die Klägerin in der Lage ist, sich um seine wesentlichen persönlichen Belange eigenverantwortlich zu kümmern. Der Schutzbereich des Art. 6 GG umfasst die familiären Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und Eltern aber auch dann, wenn ein volljähriges Familienmitglied wie hier (wieder) auf familiären Beistand und Lebenshilfe angewiesen ist,
32vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 -, zitiert nach juris.
33Eine solche Beistandsgemeinschaft liegt hier aufgrund der Bereitschaft des als Betreuer bestellten Sohnes der Klägerin vor, ihr den aufgrund ihrer Erkrankung nötigen familiären Beistand tatsächlich zu leisten. Sie fällt unter den besonderen Schutz des Art. 6 GG. Hinzu kommt, dass eine Betreuung der Klägerin durch andere Personen aufgrund ihrer Sprachbarriere und ihres krankheitsbedingten Misstrauen deutlich erschwert wäre. Dem Sohn ist ein Verlassen der Bundesrepublik Deutschland mit Blick auf seine deutschen Familienmitglieder aber nicht zuzumuten.
34Die fehlende Zustimmung der Beigeladenen steht der Aufhebung der Wohnsitzauflage nicht entgegen. Zwar darf die Aufhebung einer Wohnsitzverpflichtung nach § 12a Abs. 5 AufenthG gemäß § 72 Abs. 3a Satz 1 AufenthG nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde des geplanten Zuzugsortes erfolgen. Hier hat die Beigeladene die Zustimmung verweigert. Nach § 72 Abs. 3a Satz 2 AufenthG ist die Zustimmung aber zu erteilen, wenn die Voraussetzungen des § 12 a Abs. 5 AufenthG vorliegen. Dies ist hier - wie oben gezeigt - der Fall.
35Eine rechtswidrig entgegen den Voraussetzungen des § 12a Abs. 5 AufenthG verweigerte Zustimmung durch die Ausländerbehörde der Beigeladenen ist für das Verwaltungsgericht im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht bindend, denn es prüft hier eigenständig und unabhängig von der Behördenentscheidung, ob die Voraussetzungen des § 12 a Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 c AufenthG vorliegen. Da es sich um eine gebundene Vorschrift handelt, die weder dem Beklagten noch der Ausländerbehörde des Beigeladenen eine gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare Letztverantwortlichkeit (z.B. Ermessen oder einen Beurteilungsspielraum) einräumt, ist eine - wie hier - rechtswidrig versagte Zustimmung jedenfalls durch die gerichtliche Entscheidung, die die Voraussetzungen des § 12a Abs. 5 AufenthG bejaht, ersetzt,
36vgl. auch OVG Berlin - Brandenburg, Beschluss vom 7.Mai 2018 - OVG 3 N 118.18 - zitiert nach juris.
37Im vorliegenden Fall ist es ausnahmsweise gerechtfertigt, die Kosten des Verfahrens in vollem Umfang der Beigeladenen aufzuerlegen, auch wenn sie selbst keinen Sachantrag gestellt und sich deshalb grundsätzlich keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, vgl. § 154 Abs. 3, HS 1. Der zweite Halbsatz des § 154 Abs. 3 VwGO, wonach § 155 Abs. 4 VwGO unberührt bleibt, zeigt, dass die Regel, dass derjenige die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat, der sie durch sein Verschulden verursacht hat, der grundsätzlich fehlenden Kostentragungspflicht bei fehlendem Sachantrag vorgeht. Wie gezeigt, hat die Beigeladene den Rechtsstreit durch ihre rechtswidrig verweigerte Zustimmung zum Wohnsitzwechsel, an die der Beklagte nach § 72 Abs. 3a AufenthG gebunden war, verursacht. Bei sorgfältiger und sachgerechter Prüfung unter Berücksichtigung der Belange der Klägerin und nicht nur der eigenen fiskalischen Belange hätte sie dies ohne weiteres erkennen können.
38Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, 709 Satz 2, § 711 der Zivilprozessordnung.