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1. In kostenerstattungsrechtlichen Verfahren kann der erstattungspflichtige Träger sich nicht auf formelle Fehler berufen.2. Ein Bewilligungsbescheid nach §§ 27 ff. SGB VIII dient trotz des Wechsels des Ergänzungspflegers und trotz des Zuständigkeitsübergangs nach § 86 Abs. 6 SGB VIII weiterhin als Rechtsgrundlage für die erbrachten Leistungen.
Die Beklagte wird verurteilt,
1. die von dem Kläger für den Hilfefall K., geboren 00.00.0000, im Zeitraum vom 1. Oktober 2018 bis 31. Dezember 2020 aufgewendeten Kosten in Höhe von 24.396,24 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9. Juni 2021
und
2. die ab dem 1. Januar 2021 von dem Kläger aufgewandten und zukünftig aufzuwendenden Kosten für den Hilfefall K., geboren 00.00.0000, nach Maßgabe der §§ 89a, 89f SGB VIII zu erstatten.
Hinsichtlich der Widerklage wird das Verfahren eingestellt.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten um die Übernahme der Kosten für die Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege betreffend das Kind K., geboren am 00.00.0000. Er ist der Sohn der L., geboren am 00.00.0000. Der biologische Vater ist vermutlich Herr B., geboren am 00.00.0000, der die Vaterschaft jedoch bislang nicht anerkannt hat. Die Vaterschaft wurde bislang nicht gerichtlich festgestellt. K. ist derzeit bei einer Pflegefamilie in Aldenhoven im Zuständigkeitsbereich des Klägers untergebracht. Seine Mutter lebt in Aachen.
3K. war mit seiner Mutter ab seiner Geburt in einer Mutter-Kind-Einrichtung in Aachen untergebracht. Sie erhielt Hilfe zur Erziehung gemäß § 19 SGB VIII durch die Beklagte, die die Kosten dafür trug. Sie zog die Mutter zur Kostenerstattung heran. Ab Oktober 2011 bis März 2012 war K. aufgrund einer Inobhutnahme in einer Pflegefamilie in Aachen untergebracht. Der Mutter wurde von der Beklagten Hilfe zur Erziehung in Form einer familiären Bereitschaftsbetreuung gewährt. Mit Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 30. März 2012 wurde der Mutter die elterliche Sorge entzogen und Vormundschaft durch das Stadtjugendamt Aachen angeordnet.
4Seit dem 27. April 2012 lebt K. in Vollzeitpflege in Dauerpflege bei den Eheleuten Z. in Aldenhoven. Die seinem Amtsvormund (Jugendamt Aachen) hierfür von der Beklagten mit Bewilligungsbescheid vom 3. Mai 2012 gewährte Hilfe zur Erziehung ist befristet auf seine Volljährigkeit (10. Juli 2029).
5Mit Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 21. Juni 2013 wurde die Entscheidung des Amtsgerichts Aachen abgeändert und der Mutter die elterliche Sorge lediglich hinsichtlich der Teilbereiche Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge und Beantragung von Hilfen zur Erziehung entzogen und auf das Stadtjugendamt Aachen als Ergänzungspfleger übertragen.
6Mit Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 28. Januar 2014 wurde das Jugendamt Aachen aus dem Amt entlassen und als neuer Ergänzungspfleger das Kreisjugendamt Düren bestellt.
7Am 28. Februar 2014 beantragte die Beklagte bei dem Kläger die Übernahme des Jugendhilfefalls nach § 86 Abs. 6 SGB VIII und sicherte die Übernahme der Kostenerstattung gemäß § 89a SGB VIII zu. Der Kläger teilte etwa ein Jahr später mit, dass er die laufende Sachbearbeitung des Falles sowohl in pädagogischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht zum 1. April 2015 übernehme. Die Kosten würden halbjährlich abgerechnet werden.
8Unter dem 25. Juli 2017 erklärte die Beklagte die Rücknahme ihrer Kostenerstattungszusage mit Wirkung ab dem 15. Dezember 2016, da die Mutter nicht mehr in Aachen, sondern in Würselen gemeldet sei. Da die Grundzuständigkeit für die Hilfegewährung sich mangels Vaterschaftsanerkennung nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter richte, sei das Jugendamt Würselen kostenerstattungspflichtig. Der Kläger rechnete zuletzt im April 2017 mit der Beklagten Leistungen für den Zeitraum vom 1. Juli bis 14. Dezember 2016 ab. Daraufhin vermerkte die Beklagte in ihren Verwaltungsvorgängen in einer Schlussverfügung, dass die Leistung der Jugendhilfe eingestellt werde und die Heranziehung der Mutter erledigt sei.
9Fortan fand bis zum 30. September 2018 eine Kostenerstattung zwischen dem Kläger und der Stadt Würselen statt.
10Zum 1. Oktober 2018 zog die Mutter zurück nach Aachen. Mit Schreiben vom 5. April 2019 bat der Kläger die Beklagte erneut um Anerkennung der Kostenerstattungspflicht ab dem 1. Oktober 2018. Dies lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 3. Mai 2019 ab und wies darauf hin, dass aufgrund des Zuständigkeitswechsels und der Fallübernahme der Kläger die leistungsgewährende Gebietskörperschaft als Trägerin der Jugendhilfe geworden sei. Eine Leistung könne er nur im eigenen Namen erbringen. Da sich zudem der Ergänzungspfleger und damit der Leistungsberechtigte geändert habe, habe der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 3. Mai 2012 keine Rechtsgültigkeit mehr. Es habe nach der Fallübernahme ein neuer Bewilligungsbescheid auf Antrag des Klägers als Ergänzungspfleger erlassen werden müssen. Ein Einstellungsbescheid nach Fallübergabe an den Kläger sei in diesem Fall nicht gefertigt worden. Mit weiterem Schreiben vom 31. Januar 2020 erklärte die Beklagte, dass sie davon ausgehe, dass der örtlich zuständig gewordene Träger der Jugendhilfe die Leistung des vormals zuständigen Trägers nicht einfach fortführen könne, sondern eine eigene Entscheidung über die nun zu gewährende Hilfe zu treffen habe.
11Der Kläger holte daraufhin eine Auskunft des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. in Heidelberg ein, das er der Beklagten zur Verfügung stellte und das unter Bezugnahme auf ein älteres Gutachten vom 16. April 2012 zu dem Ergebnis kommt, dass ein neuer Bewilligungsbescheid bei Zuständigkeitswechsel und Fallübergabe nicht erlassen werden müsse. Ein schriftlicher Bescheid zur Bewilligung sei nicht erforderlich, sondern könne auch auf andere Weise erlassen werden. Auch eines förmlichen Antrags des Ergänzungspflegers auf Hilfe zur Erziehung bedürfe es nicht. Die Hilfe könne weiter gewährt werden, wenn der neue Ergänzungspfleger damit einverstanden sei. Der Verwaltungsakt, mit dem die Hilfe ursprünglich gewährt worden sei, könne umgedeutet werden.
12Den mehrfachen Aufforderungen des Klägers (24. Oktober 2019, 19. Mai 2020, 2. November 2020, 8. Dezember 2020, 29. März 2021, 20. April 2021) zur Erstattung der im Zeitraum vom 1. Oktober 2018 bis 30. Juni 2020 entstandenen Kosten in Höhe von rund 18.900 € sowie einer weiteren Aufforderung für den Zeitraum 1. Juli bis 31. Dezember 2020 in Höhe von weiteren 5.510 € kam die Beklagte nicht nach.
13Der Kläger hat am 8. Juni 2021 Klage erhoben.
14Zur Begründung trägt er vor, die Klage sei zulässig, da die bedingungslose Kostenübernahme beantragt werde. Die Beklagte dürfe die Kostenerstattung nicht verweigern, da die Leistungsgewährung nicht rechtswidrig gewesen sei. Der Kläger sei nicht gehalten gewesen, bei der Fallübernahme einen neuen Bewilligungsbescheid zu erlassen. Die Hilfe zur Erziehung ende nicht mit einem Zuständigkeitswechsel, sondern der bisher zuständige Träger der Jugendhilfe sei so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetze. Der neue Jugendhilfeträger trete dann in diese Leistung ein. Dabei handele es sich um die Einheit der Jugendhilfe. Der ursprüngliche Bewilligungsbescheid der Beklagten habe weiterhin Bestand. Alles andere würde einen Bruch mit dem Grundsatz der Einheit der Hilfegewährung bedeuten. Es sei ausreichend, dass die neu zuständige Stelle sich mit der bisher getroffenen Entscheidung einverstanden zeige und die Hilfen faktisch weiterlaufen lasse. Im Übrigen habe die Beklagte zu keinem Zeitpunkt erwähnt, dass sie die Jugendhilfeleistung ihrerseits mit Bescheid eingestellt habe. Der Wechsel des Ergänzungspflegers und eine damit einhergehende erneute Pflicht zur Antragstellung könnten nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Dieser habe bereits vor der Fallübernahme am 28. Januar 2014 stattgefunden. Somit hätte eine erneute Antragstellung noch von der Beklagten als seinerzeit zuständiger Hilfeträgerin gefordert werden müssen.
15Der Kläger beantragt,
16die Beklagte zu verurteilen,
171. die von ihm für den Hilfefall K., geboren 00.00.0000, im Zeitraum vom 1. Oktober 2018 bis 31. Dezember 2020 aufgewendeten Kosten in Höhe von 24.396,24 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit
18und
192. die ab dem 1. Januar 2021 von ihm aufgewandten und zukünftig aufzuwendenden Kosten für den Hilfefall K., geboren 00.00.0000, nach Maßgabe der §§ 89a, 89f SGB VIII zu erstatten.
20Die Beklagte beantragt,
21die Klage abzuweisen.
22Sie ist der Ansicht, die Klage sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Sie habe bereits mit Schreiben vom 31. Januar 2020 sowie mit E-Mail vom 23. April 2021 ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Kostenerstattung erklärt. Zudem sei die Klage unbegründet. Streitig sei zwischen den Parteien nicht die grundsätzliche Verpflichtung zur Kostentragung, sondern allein die Frage, ob der Kläger einen neuen, eigenen Bewilligungsbescheid hätte erlassen müssen. Die Hilfeberechtigten und beteiligten Institutionen hätten insbesondere bei mehrjährigen, stationären Hilfeleistungen ein Interesse daran, durch einen die aktuelle Zuständigkeit nachvollziehbar machenden Bewilligungsbescheid des neu zuständigen Trägers zu erkennen, wer der zuständige und leistende Jugendhilfeträger sei. Sie selbst sei mit Übergang der Zuständigkeit zum Erlass eines Einstellungsbescheids berechtigt gewesen. Zwecks eindeutiger Klarstellung der Zuständigkeiten im Rahmen des Verfahrens habe sie - unter Hinweis auf § 33 Abs. 2 Satz 2 SGB X - vom Kläger einen Leistungsbescheid über die Leistungsgewährung in dortiger Zuständigkeit erbitten dürfen, nachdem sie von diesem auf Kostenerstattung in Anspruch genommen worden sei. Das berechtigte Interesse an einer entsprechenden Bescheidung resultiere daraus, dass für den Fall einer Aktenprüfung, etwa einer internen Revision, auf Anhieb erkennbar sein solle, welche Grundlage für die ihrerseits geleistete Kostenerstattung bestehe. Ausreichend sei auch eine schriftliche Erklärung des Klägers gegenüber dem Ergänzungspfleger dahingehend, dass die mit Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2012 bewilligte Hilfe ab dem 1. April 2015 in unveränderter Form durch das Jugendamt des Klägers in dortiger Zuständigkeit gewährt werde.
23Die Beklagte hat am 27. Juli 2021 Widerklage erhoben.
24Im Rahmen der Widerklage beantragte die Beklagte ursprünglich, festzustellen, dass der Kläger verpflichtet sei, in Bezug auf die Übernahme der Hilfegewährung im Falle K., geboren am 00.00.0000, mit Wirkung ab dem 1. Oktober 2018 eine Bescheidung gemäß den Vorschriften des SGB VIII vorzunehmen. Die Beklagte hat die Widerklage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.
25Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beteiligten verwiesen.
26Entscheidungsgründe
27Das Verfahren wird im Hinblick auf die Widerklage nach entsprechender Rücknahme eingestellt, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO.
28Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
29Sie ist als allgemeine Leistungsklage statthaft, vgl. § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Auch fehlt dem Kläger entgegen der Ansicht der Beklagten nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
30Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis fehlt, sofern das prozessuale Vorgehen die Rechtsstellung des Klägers nicht verbessern kann und daher nutzlos ist. Dies ist der Fall, wenn ein zu beseitigender Nachteil nicht vorliegt oder ein vorliegender Nachteil sich nicht beheben lässt; die Nutzlosigkeit muss außer Zweifel stehen.
31Vgl. BVerwG, Urteile vom 14. Februar 2007 - 6 C 28/05 -, juris Rn. 15 sowie vom 29. April 2004 -, juris Rn. 19.
32Vor dem Hintergrund, dass die Beklagte sich weigert, hinsichtlich des Vollzeitpflegeverhältnis K. eine unbedingte Kostenübernahmeerklärung abzugeben und die bereits angefallenen Kosten zu erstatten, verbleibt dem Kläger keine andere Möglichkeit, als den Anspruch klageweise durchzusetzen. Die von der Beklagten angeführte Bereitschaft, die Kosten grundsätzlich übernehmen zu wollen, steht unter dem Vorbehalt des Erlasses eines erneuten Bewilligungsbescheids. Ob ein solcher zu erlassen ist, konnte von den Verfahrensbeteiligten außergerichtlich nicht geklärt werden und liegt auch nicht ohne weiteres auf der Hand. Es ist nach den Angaben der Beklagten davon auszugehen, dass sie ohne eine entsprechende gerichtliche Entscheidung keine Zahlungen vornehmen wird.
33Die Klage ist begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger die im Hilfeleistungsfall K. bereits angefallen und in Zukunft noch anfallenden Kosten nach Maßgabe der §§ 89a, 89f SGB VIII zu erstatten.
34Diese Verpflichtung beruht auf § 89a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB VIII. Danach sind Kosten, die ein örtlicher Träger auf Grund einer Zuständigkeit nach § 86 Absatz 6 aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der zuvor zuständig war oder gewesen wäre. Nach Abs. 3 gilt: Ändert sich während der Gewährung der Leistung nach Absatz 1 der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Absatz 1 bis 5 maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt, so wird der örtliche Träger kostenerstattungspflichtig, der ohne Anwendung des § 86 Absatz 6 örtlich zuständig geworden wäre.
35Für die Hilfeleistung war bei ihrer Begründung im Jahr 2012 nach § 86 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB VIII die Beklagte örtlich zuständig. Nach dieser Vorschrift ist für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB VIII der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. An die Stelle der Eltern tritt die Mutter, wenn und solange die Vaterschaft nicht anerkannt oder gerichtlich festgestellt ist. Da der vermeintliche Vater die Vaterschaft nicht anerkannt hat und diese auch nicht gerichtlich festgestellt ist, richtet sich die örtliche Zuständigkeit für die Hilfegewährung bis heute allein nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter. Diese lebte zum Zeitpunkt der Bewilligung der Langzeitpflege am 3. Mai 2012 im Zuständigkeitsbereich der Beklagten.
36Die örtliche Zuständigkeit ist nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII mit Ablauf des 26. April 2014 auf den Kläger übergegangen, da K. bereits seit dem 27. April 2012 bei der Pflegefamilie lebt, ein Verbleib bei dieser zu erwarten ist und sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Klägers hat. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig, wie die Bestätigung der Fallübernahme seitens des Klägers zum 1. April 2015 und die im Folgenden durchgeführte Kostenerstattung seitens der Beklagten an den Kläger zeigt.
37Mit dem Umzug der Mutter in den Zuständigkeitsbereich der Stadt Würselen ist diese ab dem 15. Dezember 2016 nach § 89a Abs. 3 SGB VIII kostenerstattungspflichtig geworden. Denn sie wäre, ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII, nach § 86 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB VIII örtlich zuständig geworden.
38Aufgrund des erneuten Umzugs der Mutter in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten zum 1. Oktober 2018 ist diese nach den oben genannten Grundsätzen gemäß § 89a Abs. 3 SGB VIII erneut kostenerstattungspflichtig geworden.
39Die Beklagte hat jedoch nicht ungeprüft alle Kosten zu erstatten, die der Kläger im vorliegenden Hilfefall aufgewendet hat. Die aufgewendeten Kosten sind nach § 89f Abs. 1 SGB VIII vielmehr nur insoweit zu erstatten, als die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften des SGB VIII entspricht. Dabei kann die Beklagte sich nicht auf rein formelle Fehler, wie hier das geltend gemachte Unterlassen des Klägers, einen neuen Bewilligungsbescheid zu erlassen, berufen.
40Das Bundesverwaltungsgericht hat zur Reichweite des § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ausgeführt: „Das Gebot der Gesetzeskonformität der aufgewendeten Kosten verlangt bereits nach seinem Wortlaut nicht, dass die Leistungsgewährung in jeder Hinsicht objektiv rechtmäßig gewesen ist, und ist beschränkt auf die Vorschriften des Achten Buches Sozialgesetzbuch. Gesetzeskonformität i.S.d. § 89f Abs. 1 SGB VIII und objektive Rechtmäßigkeit sind nicht durchweg identisch, auch wenn sich die Anwendungsergebnisse im Wesentlichen überschneiden werden. Nach seinem Sinn und Zweck formt das Gebot der Gesetzeskonformität das allgemeine, aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung für das Erstattungsrechtsverhältnis zwischen Jugendhilfeträgern aus. Es soll sicherstellen, dass der erstattungsberechtigte Jugendhilfeträger nicht in Erwartung einer Erstattungsleistung bei der Leistungsgewährung die durch das Gesetz gezogenen Grenzen überschreitet, und - dem korrespondierend - den erstattungspflichtigen Jugendhilfeträger davor bewahren, die Aufwendungen für solche Leistungen zu erstatten, die bei ordnungsgemäßer Leistungsgewährung nach Art oder Umfang so nicht hätten erbracht werden müssen. Insoweit ist die Regelung zugleich Ausdruck des kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatzes. Der Kostenerstattung begehrende Träger hat bei der Leistungsgewährung die rechtlich gebotene Sorgfalt anzuwenden, zu deren Einhaltung er in eigenen Angelegenheiten gehalten ist; der auf Erstattung in Anspruch genommene Jugendhilfeträger kann eine darüber hinausgehende Prüfung der Leistungsvoraussetzungen nicht verlangen und daher eine Erstattung nicht verweigern, wenn auch er selbst die angefallenen Kosten nicht hätte vermeiden können, weil er nach dem im Zeitpunkt der Entscheidung über die Hilfegewährung gegebenen Erkenntnisstand nicht anders gehandelt hätte.“
41BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2006 - 5 C 24/05 -, juris Rn. 16 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 8. Juli 2004 - 5 C 63.03 -, juris Rn. 16.
42Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen führte hierzu bereits zuvor aus, dass die Erstattungspflicht nur bestehe, soweit die zugrundeliegende Maßnahme den materiell-rechtlichen Vorschriften entspreche. Im Übrigen bestehe kein Kostenerstattungsanspruch des tätig gewordenen Trägers.
43Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Dezember 2001 - 12 A 4215/00 -, juris Rn. 21 zu einer unterlassenen Information nach § 86 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII.
44Soweit demgegenüber in der Literatur vereinzelt die Ansicht vertreten wird, es könne nur die Erstattung von Kosten verlangt werden, die „nach den Vorschriften des SGB VIII formell und materiell rechtmäßig erbracht wurden“,
45vgl. Höhn, in: Eschelbach/Nickel, Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattung in der Jugendhilfe, Praxiskommentar, § 89f Rn. 7 sowie Winkler, in: Beck’scher Onlinekommentar Sozialrecht, Stand: 1. Juni 2022, § 89f SGB VIII Rn. 2,
46geht dies offensichtlich über die Reichweite des § 89f Abs. 1 SGB VIII im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hinaus. Im Übrigen ist auch diesen Kommentaren im Weiteren zu entnehmen, dass nicht „jeder Rechtsverstoß schlechthin“ die Erstattungsfähigkeit der Hilfeleistungen ausschließe. So sei ein Verstoß gegen bloße Ordnungsvorschriften erstattungsrechtlich unbedeutend und schließe die „Nichteinhaltung formeller Vorgaben (Erstellung eines Hilfeplanes, Fortschreibung des Hilfeplanes, Dokumentation)“ die Rechtmäßigkeit der Kostenverursachung nicht aus.
47Teilweise wird in der Literatur gefordert, bezüglich Verfahrens- und Formvorschriften sei nach den §§ 41 - 43 SGB X zu prüfen, ob eine eventuelle Verletzung beachtlich sei.
48Vgl. Schweigler, in: Beck’scher Online-Großkommentar, Stand: 1. September 2022, § 89f SGB VIII Rn. 3.
49Nach anderer Ansicht dürfe der erstattungspflichtige Träger im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle nur prüfen, ob Kosten angefallen sind, die ihm bei (nach Grund und Höhe) rechtmäßiger Gewährung der Hilfe nicht entstanden wären, woraus folge, dass - kostenerstattungsrechtlich - formelle Fehler (also Fehler bei der Zuständigkeit, beim Verfahren oder der Form der Gewährung) unbeachtlich seien, soweit auch bei Einhaltung der Formvorschriften inhaltlich dieselbe Hilfe zu gewähren gewesen wäre, ähnlich der Unbeachtlichkeit von Fehlern nach § 42 SGB X. Führe der Formfehler allerdings zur Nichtigkeit des die Leistung gewährenden Verwaltungsakts, hindere dies einen Kostenerstattungsanspruch. Unbeachtlich seien zum Beispiel Unregelmäßigkeiten im Hilfeplanungsverfahren, solange überhaupt planvoll gehandelt werde. Unbeachtlich sei auch die fehlende Unterrichtung nach § 86 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII. Beachtlich hingegen sei es, wenn eine Hilfe nur tatsächlich, aber ohne Bescheid geleistet, ebenso, wenn aufgrund eines nichtigen Bescheides geleistet worden sei. Sind bei einer Hilfegewährung Vorschriften über die sachliche oder örtliche Zuständigkeit verletzt worden, soll dies unbeachtlich sein, wenn die Hilfe auch vom örtlich zuständigen Träger hätte gewährt werden müssen.
50Vgl. Kunkel/Kepert/Pattar, Kinder- und Jugendhilfe, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 89f Rn. 10 ff.
51Die von dem Kläger aufgewendeten Kosten für die Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII betreffend den Hilfeleistungsfall K. entsprechen im Hinblick auf ihre Aufgabenerfüllung den Vorschriften des SGB VIII.
52Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die bewilligte Form der Vollzeitpflege in der Pflegefamilie Z. fortgesetzt werden soll. Dies bestätigten die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung und kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Beklagte die geltend gemachte Kostenerstattung weder dem Grunde (im Sinne einer Notwendigkeit dieser konkreten Hilfeleistung) noch der Höhe nach in Zweifel zieht. Auch ist die örtliche Zuständigkeit des Klägers unstreitig nach § 86 Abs. 6 SGB VIII gegeben.
53Die von der Beklagten aufgeworfene Frage, ob die Bewilligung seit Fallübernahme seitens des Klägers in formeller Hinsicht rechtmäßig oder rechtswidrig erfolgt und ob es eines erneuten Bescheids bedurfte hätte, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits unbeachtlich. Sie ist nicht Gegenstand der Gesetzeskonformität im Sinne des § 89f Abs. 1 SGB VIII, sondern eine - darüber hinausgehende - Frage der objektiven Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns.
54Auch unter Berücksichtigung der in der Literatur vertretenen Ansicht, formelle Fehler seien nur dann unbeachtlich, soweit auch bei Einhaltung der Formvorschriften inhaltlich dieselbe Hilfe zu gewähren gewesen wäre, folgt kein anderes Ergebnis. Wie bereits ausgeführt, ist es unstreitig, dass die konkrete Form der Hilfe fortgesetzt werden soll.
55Selbst unter Zugrundelegung der weiteren, in der Literatur vertretenen Ansicht, wonach aufgrund eines fehlenden oder nichtigen Bescheids geleistete Zahlungen nicht zu erstatten seien, kann die Beklagte sich vorliegend einer Kostenerstattung nicht verweigern. Dabei kann dahinstehen, ob es - wie die Beklagte meint - eines erneuten Bewilligungsbescheids seitens des Klägers an den Ergänzungspfleger bedurft hätte, da jedenfalls der ursprüngliche Bewilligungsbescheid nicht nichtig ist.
56Der Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 3. Mai 2012 dient trotz des Wechsels des Ergänzungspflegers (1.) und trotz des Zuständigkeitsübergangs nach § 86 Abs. 6 SGB VIII (2.) weiterhin als Rechtsgrundlage für die Hilfeleistung im Fall K.
571. Die Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII wurde seitens der Beklagten mit Bescheid vom 3. Mai 2012 dem Stadtjugendamt Aachen als Amtsvormund (Personensorgeberechtigter) bewilligt. Die Abänderung des Beschlusses des Amtsgerichts, mit dem der Mutter die Personensorge zunächst vollumfänglich entzogen und das Stadtjugendamt Aachen als Amtsvormund bestellt wurde, durch das OLG Köln am 19. Juni 2013 dahingehend, dass ihr die Personensorge nur für einige Teilbereiche entzogen wurde, machte keine Anpassung des Hilfeleistungsempfängers erforderlich. Mit diesem Änderungsbeschluss wurde der Teilbereich der Beantragung von Hilfen für Erziehung ausdrücklich von der Personensorge der Mutter ausgenommen und auf das Stadtjugendamt Aachen als Ergänzungspfleger übertragen. Die Hilfeleistung erfolgte somit weiterhin an das Stadtjugendamt Aachen, lediglich nicht mehr in seiner Eigenschaft als Amtsvormund, sondern als Ergänzungspfleger.
58Eines erneuten Bescheids bedurfte es auch nicht aufgrund der Übertragung der Ergänzungspflegschaft auf das Kreisjugendamt Düren mit Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 28. Januar 2014. Zwar ist Adressat der Hilfeleistung danach gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII nicht mehr das Stadtjugendamt Aachen, das Adressat des Bewilligungsbescheids war. Es kann jedoch aufgrund der nunmehrigen Teilnahme des Kreisjugendamts Düren an den Hilfeplangesprächen davon ausgegangen werden, dass dieses als neuer Ergänzungspfleger jedenfalls konkludent sein Einverständnis mit der bereits laufenden Hilfe zur Erziehung erklärt und einen konkludenten Antrag auf Fortführung der Hilfe gestellt hat, der noch von der seinerzeit unstreitig zuständigen bzw. nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bis zur Fallübernahme leistungsverpflichteten Beklagten konkludent bewilligt wurde.
59Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass der Kläger es unterlassen hat, einen neuen Bescheid an das Kreisjugendamt Düren als Ergänzungspfleger zu erlassen, da sie selbst im Zeitpunkt des Wechsels des Ergänzungspflegers noch für den Erlass eines neuen Bescheids zuständig gewesen wäre. Der Kläger jedenfalls durfte nach Aktenlage davon ausgehen, dass er die Hilfeleistung ab Übernahme des Falles an das Kreisjugendamt Düren als Ergänzungspfleger erbringen wird.
602. Auch der Zuständigkeitsübergang nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII führt nicht zur Nichtigkeit des ursprünglichen Bewilligungsbescheids in der Gestalt, die er durch den Wechsel des Adressaten erfahren hat.
61Mangels eines „Einstellungsbescheids“ der Beklagten - ungeachtet der hier nicht zu entscheidenden Frage, ob ein solcher von der Beklagten rechtmäßigerweise überhaupt hätte erlassen werden können,
62vgl. insoweit die Rechtsprechung des BVerwG zur Beendigung einer Leistung: Urteil vom 15. Dezember 2016 - 5 C 35/15 -, juris Rn. 28 ff. -
63wurde die Leistung gegenüber dem Hilfeleistungsempfänger nicht zurückgenommen oder aufgehoben. Es lag demnach am 1. April 2015 weiterhin ein Bewilligungsbescheid vor. Dieser war nicht nichtig. Eine Nichtigkeit resultiert insbesondere nicht daraus, dass die Zuständigkeit für den Hilfefall zum 1. April 2015 von der Beklagten auf den Kläger übergegangen ist.
64Da nämlich bereits der Erlass eines Verwaltungsakts durch eine örtlich unzuständige Behörde gemäß § 40 Abs. 3 Nr. 1 SGB X ausdrücklich nicht zur Unwirksamkeit eines Bescheids führt, kann für den Fall eines Zuständigkeitswechsels im laufenden Verfahren nichts anderes gelten. Selbst wenn der Bescheid hierdurch rechtswidrig geworden sein sollte, was die Beklagte annimmt, ist er jedenfalls nicht nichtig.
65Der erneute (hypothetische) Zuständigkeitsübergang von der Beklagten auf die Stadt Würselen und dann zurück zur Beklagten aufgrund zweifachen Umzugs der Mutter lässt die Frage der örtlichen Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII unberührt und ist daher insoweit für die Frage des Erfordernisses eines erneuten Bewilligungsbescheids unbeachtlich.
66Die Beklagte kann darüber hinaus im hiesigen - kostenerstattungsrechtlichen - Verfahren auch nicht die Abgabe einer Erklärung des Klägers gegenüber dem Ergänzungspfleger dahingehend fordern, dass die mit Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2012 bewilligte Hilfe ab dem 1. April 2015 in unveränderter Form durch das Jugendamt des Klägers in dortiger Zuständigkeit gewährt werde. Es handelt sich hierbei um die von § 86 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII geforderte Unterrichtung des Personensorgeberechtigten. Ungeachtet des Umstands, dass eine entsprechende Information seitens des Klägers an den Ergänzungspfleger, Herrn P., am 4. Februar 2015 erfolgte, wäre nach der zitierten Rechtsprechung des OVG NRW selbst das Unterlassen für die Kostenerstattungspflicht unbeachtlich.
67Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Dezember 2001 - 12 A 4215/00 -, juris.
68Bedenken im Hinblick auf die Höhe der mit dem Klageantrag zu 1. geforderten Kosten wurden von der Beklagten nicht geltend gemacht. Der Kläger hat einen Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus dem tenorierten Betrag seit Rechtshängigkeit am 9. Juni 2021 (§ 90 Satz 1 VwGO). Nach den auch im Verwaltungsprozess anwendbaren Vorschriften der § 291 Satz 1 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB sind Prozesszinsen immer dann zu zahlen, wenn das einschlägige Fachrecht keine abweichende Regelung trifft und die Geldforderung - wie hier - eindeutig bestimmt ist.
69Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. August 2010 - 5 C 14/09 -, juris Rn. 25; OVG NRW, Urteil vom 12. September 2022 - 11 A 1583/21 -, juris Rn. 41.
70Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 709 Satz 2 ZPO.