Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der am 00.00.0000 in T. /Iran geborene Kläger ist iranischer Staatsangehöriger und begehrt die (rückwirkende) Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge sowie die Neuausstellung einer Niederlassungserlaubnis.
2Der Kläger reiste nach eigenen Angaben im Jahr 2010 gemeinsam mit seiner Mutter und seiner im Februar 1998 geborenen Schwester in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2010 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger im Wege des Familienasyls die Flüchtlingseigenschaft abgeleitet von seiner Mutter zu.
3Am 13. Dezember 2010 erhielt der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG, die in der Folgezeit fortlaufend verlängert wurde. Ebenfalls im Dezember 2010 wurde dem Kläger ein Reiseausweis für Flüchtlinge ausgestellt, der zuletzt am 19. Juni 2013 mit Gültigkeit bis zum 18. Juni 2016 erneuert wurde. In diesem findet sich u.a. ein Schengenvisum der Kategorie D für die Niederlande vom 27. August 2015.
4Am 7. April 2014 teilte das Bundesamt mit, dass die Voraussetzungen für die Aufhebung der Flüchtlingszuerkennung des Klägers nicht vorlägen.
5Am 4. Juni 2014 erhielt der Kläger eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG.
6Unter dem 28. August 2015 wurde dem Kläger in F. eine bis zum 1. Dezember 2018 gültige niederländische Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Studiums an der Universität N. im Bachelorstudiengang "Data Science and Knowledge Engineering" erteilt. Für dieses Studium erhielt der Kläger von September 2015 bis August 2018 Auslands-BAföG. Nach Ablauf wurde die niederländische Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert.
7Am 9. August 2016 vereinbarte der Kläger bei der Beklagten einen Termin zur Verlängerung seines am 18. Juni 2016 abgelaufenen Reiseausweises für Flüchtlinge. In einem Aktenvermerk der Ausländerbehörde über die Vorsprache des Klägers am 29. August 2016 wurde festgehalten, dass der Kläger seit einem Jahr in N. lebe und dort studiere. Das Studentenapartment finanziere er durch Auslands-BAföG. Er habe bereits einen philippinischen Abschluss erworben, der jedoch bei keiner deutschen Universität anerkannt werde. In den Niederlanden bestehe für ihn die Möglichkeit, ein Studium zu beginnen. Eine Abmeldung beim Einwohnermeldeamt sei nicht erfolgt, da er nicht gewusst habe, dass dies erforderlich sei; die Abmeldung werde er nun veranlassen. Daraufhin vernichtete die Ausländerbehörde der Beklagten den elektronischen Aufenthaltstitel über die Niederlassungserlaubnis des Klägers. Der Reiseausweis für Flüchtlinge wurde dem Kläger zwecks Beantragung eines neuen Passersatzes in den Niederlanden überlassen. Dieser wurde darauf hingewiesen, dass die Zuständigkeit für die Ausstellung des Reiseausweises für Flüchtlinge nach Art. 2 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge (EÜÜVF) auf die Niederlande übergangen sei. Seine Niederlassungserlaubnis sei nach § 51 Abs. 7 AufenthG erloschen.
8Der Kläger wurde anschließend - ausweislich einer Einwohnermeldeauskunft vom 4. Juni 2020 - von Amts wegen rückwirkend zum 1. September 2015 in Aachen abgemeldet.
9Bei einer weiteren Vorsprache zur Beantragung eines Reiseausweises für Flüchtlinge bei der Beklagten am 17. Juli 2017 teilte der Kläger ausweislich eines Aktenvermerks mit, im vorherigen Jahr in den Niederlanden vergeblich einen Reiseausweis beantragt zu haben. Die Gründe der Ablehnung kenne er nicht.
10Mit Schreiben seines vormaligen Prozessbevollmächtigten vom 22. September 2017 und vom 19. Juni 2018 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Neuausstellung des Flüchtlingspasses sowie die Erteilung eines Aufenthaltstitels.
11Mit Schreiben seiner niederländischen Rechtsanwältin vom 21. August 2018 wandte sich der Kläger an die Gemeinde F. und teilte ihr mit, dass die deutschen Behörden seinen Flüchtlingsstatus wegen seines Aufenthalts in den Niederlanden aufgehoben hätten und ihm die Ausstellung eines Reisedokumentes verweigerten. Er benötige daher den Nachweis, dass er von den Niederlanden kein "Reisedokument" erhalten könne. Deshalb bitte er um eine entsprechende schriftliche Bestätigung.
12Auf entsprechende Anfrage der Beklagten nahm das Bundesamt im August 2018 zu der Frage des Übergangs der Flüchtlingsverantwortung bei Studienaufenthalten Stellung. Es führte im Wesentlichen aus, dass die Niederlande im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland von der Möglichkeit eines Vorbehalts gegen den Übergang der Verantwortung bei Studienaufenthalten keinen Gebrauch gemacht hätten. Darauf komme es aber nicht an, da die Bundesrepublik nach Art. 14 Abs. 3 EÜÜVF ihren eigenen Vorbehalt gegen sich gelten lassen müsse. Nach Art. 4 Abs. 1 EÜÜVF müsse aber das Rückübernahmeersuchen der Niederlande innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit des von Deutschland ausgestellten Reiseausweises für Flüchtlinge gestellt werden. Nach Ablauf dieser Frist erlösche die Pflicht zur Rückübernahme und damit nach § 51 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch der Anspruch auf erneute Erteilung eines Aufenthaltstitels. Im September 2018 teilte das Bundesamt ferner mit, dass nach der Aktenlage die Zuständigkeit für die Rechte und Pflichten aus der asylrechtlichen Begünstigung des Klägers auf die Niederlande übergegangen sei
13Im November 2018 legte der Kläger ein Schreiben der Gemeinde F. vom 5. November 2018 nebst beglaubigter Übersetzung vor. Ausweislich dessen könne dem Kläger kein "Reisedokument für Ausländer" ausgestellt werden, da dieser nicht nachgewiesen habe, dass er von seiner nationalen Botschaft keinen Pass erhalten könne.
14Der Kläger hat am 21. Januar 2019 Klage erhoben.
15Mit der Klageschrift seines damaligen Prozessbevollmächtigten hat er zunächst beantragt, die Beklagten zu verpflichten, ihm einen Flüchtlingspass auszustellen und eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen.
16Am 13. Juli 2020 wurde dem Kläger erstmals eine Duldung erteilt, die seither fortlaufend verlängert wurde, zuletzt bis zum 2. März 2022.
17Ebenfalls im Juli 2020 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Ablehnung der Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge, der Versagung seines Aufenthaltstitels und der Androhung der Abschiebung an.
18Auf entsprechende Anfrage der Beklagten teilten die niederländischen Behörden unter dem 21. Januar 2021 mit, dass der Kläger seit dem 29. September 2015 in N. gemeldet sei und sich noch nicht abgemeldet habe. Ob er dort tatsächlich wohne, sei unbekannt.
19Mit anwaltlichen Schreiben vom 24. März 2021 und 1. April 2021 überreichte der Kläger eine Bestätigung der Universität N. . Danach sei der Kläger "beurlaubt" und plane, sein Studium, in dem er bisher 152 von 180 Credit Points erhalten habe, fortzusetzen. Zudem legte der Kläger eine Bestätigung der Stadt N. über seine dortige Abmeldung zum 17. März 2021 vor.
20Der Kläger macht zur Begründung der Klage geltend, einen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge sowie auf Neuausstellung seiner Niederlassungserlaubnis zu haben.
21Der Kläger ist der Ansicht, dass ihm sein vorheriger Status schon deshalb wieder erteilt werden müsse, da ihn die Niederlande nicht zurücknehmen würden und deshalb selbst bei unterstelltem zwischenzeitlichen Übergang der Flüchtlingsverantwortung auf die Niederlande Deutschland wieder zuständig sei nach Art. 24 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie - QRL -) i.V.m. § 25 Abs. 2 AufenthG. Insoweit sei auch § 6 Abs. 3 des Anhangs zur Genfer Flüchtlingskonvention zu beachten, wonach die Vertragsstaaten in wohlwollender Weise die Neuausstellung des Reiseausweises prüfen würden, was vorliegend nicht zu erkennen sei.
22Unabhängig davon sei es auch nach deutschem Recht nicht zu einem Erlöschen der Niederlassungserlaubnis gekommen. Zwar stehe es außer Streit, dass sein Reisausweis für Flüchtlinge mangels rechtzeitigen Verlängerungsantrags abgelaufen sei und deshalb § 51 Abs. 7 AufenthG nicht gelte. Es sei aber kein Fall des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG gegeben, da er aus einem seiner Natur nach nur vorübergehenden Grund ausgereist sei. Er habe seinen Lebensmittelpunkt bei seiner Familie (Mutter und Schwester) in B. gehabt, wo er seit dem Umzug der Familie nach B. bis heute lebe. Er sei nahezu jedes Wochenende nach B. zurückgekehrt und habe zudem die Semesterferien und sonstigen Ferien in B. verbracht. Er sei insofern zwischen B. und dem 30 km entfernten N. gependelt, wo er sich unter der Woche aufgehalten habe. Seine Mutter habe seine Wäsche gewaschen und für ihn gekocht, damit er auch am Studienort etwas zu essen gehabt habe. Er habe ständig in B. gewohnt und nur vorübergehend in den Niederlanden studiert. Dort sei nur seine Zweitwohnung gewesen, während seine Erstwohnung weiterhin in B. gewesen sei. Hierzu legt der Kläger eine eidesstattliche Versicherung seiner Mutter vom 10. Januar 2019 sowie eine Meldebestätigung des Einwohnermeldeamts vom 15. Juni 2020 vor. Ausweislich der Bestätigung war der Kläger in B. seit Juli 2012 durchgehend gemeldet. Demnach sei offensichtlich kein "seiner Natur nach nicht nur vorübergehender Grund" für die Ausreise gegeben. Sein Fall sei deshalb auch nicht mit den Fällen vergleichbar, in denen die Rechtsprechung deshalb etwas anderes angenommen habe, weil das gesamte Studium und nicht nur ein Studienabschnitt im Ausland absolviert worden sei. Zudem sei auch die ihm nach §§ 5 und 8 Abs. 2 BAföG für sein Auslandsstudium bewilligte Förderung ‑ zu Recht - an einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland geknüpft gewesen. Ein Fall des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG sei ebenfalls nicht gegeben, da er nie länger als ein paar Tage aus Deutschland abwesend gewesen sei. Seit dem 1. Dezember 2018 halte er sich wieder ausschließlich in Deutschland auf.
23Auch die Ausstellung des Reiseausweises für Flüchtlinge liege nicht in der Verantwortung der Niederlande. Selbst bei unterstelltem Übergang der Verantwortung auf die Niederlande sei deren Zuständigkeit jedenfalls dadurch nachträglich wieder entfallen, dass ihm in den Niederlanden kein Aufenthaltsrecht mehr gewährt worden sei und auch nicht mehr gewährt werde. Mit dem Wegfall der Verantwortung der Niederlande lebe die Verantwortung der Bundesrepublik wieder auf, mit der Folge, dass ihm auch ein Reiseausweis für Flüchtlinge auszustellen sei.
24Unabhängig davon habe ein Übergang der Verantwortung auf die Niederlande nicht stattgefunden. Aus § 6 Abs. 1 des Anhangs zur Genfer Flüchtlingskonvention (Anhang-GFK) ergebe sich, dass eine dauerhafte Niederlassung in dem anderen Staatsgebiet gemeint sei, was hier gerade nicht erfolgt sei. Auch nach Art. 2 EÜÜVF sei kein Übergang erfolgt. Gemäß Art. 2 Abs. 2 lit. a EÜÜVF werde ein ausschließlich zum Zweck des Studiums erlaubter Aufenthalt in die Berechnung der Frist des Art. 2 Abs. 1 EÜÜVF nicht eingerechnet. Es sei evident, dass ihm der Aufenthalt in den Niederlanden ausschließlich zum Studium erlaubt worden sei. Der von der Gegenseite vertretenen Ansicht, dass Art. 2 Abs. 2 lit. a EÜÜVF ausschließlich auf die Zweijahresfrist der ersten Alternative des Absatzes 1 Anwendung fände, könne nicht gefolgt werden, da in Absatz 2 allgemein auf die "Frist des Absatzes 1" verwiesen werde. Hierfür spreche auch das Beispiel eines sich im Zweitstaat aufhaltenden Flüchtlings, der aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung längerfristig inhaftiert sei, sodass die Geltungsdauer seines Reiseausweises zwischenzeitlich ablaufe. Dass der Zweitstaat dem Flüchtling somit den Aufenthalt über die Geltungsdauer des Reiseausweises gewähre, könne nach Sinn und Zweck der Vorschrift nicht dazu führen, dass die Verantwortung dann auf den Zweitstaat übergehe und diese, wenn er nicht nach Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF innerhalb von sechs Monaten eine Rückübernahme verlange, ihm erhalten bleibe. Gegen einen Übergang der Verantwortung spreche ferner, dass sich der in Art. 2 Abs. 1 EÜÜVF verwendete Begriff des "tatsächlichen und dauerhaften" Aufenthalts des Flüchtlings mit Zustimmung der Behörden auf beide Fallalternativen von Absatz 1 (länger als zwei Jahre oder länger als die Gültigkeit des Reiseausweises) beziehe. Tatsächlich sei ihm zu keinem Zeitpunkt erlaubt worden, sich dauerhaft in den Niederlanden aufzuhalten, sondern lediglich zum Zwecke des Studiums. Überdies greife auch Art. 2 Abs. 2 lit. d EÜÜVF, wonach ein Übergang der Verantwortung nicht erfolge, wenn der Aufenthalt im Zweitstaat für insgesamt mehr als sechs Monate unterbrochen gewesen sei. Er habe sich - wie in der von ihm vorgelegten Auflistung ausgewiesen - während der Studienzeit von insgesamt 39 Monaten ca. 16,4 Monate in Deutschland aufgehalten habe. Damit sei die Frist des Art. 2 Abs. 2 lit. d EÜÜVF von sechs Monaten deutlich überschritten.
25Aufgrund des fehlenden Reiseausweises für Flüchtlinge sei seine niederländische Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert worden und er habe die Kosten für das Studium, die für Ausländer aus Drittstaaten anfallen, die nicht in der Europäischen Union als Flüchtling anerkannt sind, selbst tragen müssen. Auch BAföG habe er mangels Niederlassungserlaubnis und damit Nachweises eines gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nicht mehr erhalten. Mangels entsprechender finanzieller Möglichkeiten habe er das Studium abbrechen müssen. Hierdurch sei er psychisch beeinträchtigt worden. Hierzu legt der Kläger einen Behandlungsbericht der geistigen Gesundheitsfürsorge (MET) in N. vom 23. Oktober 2019 vor.
26Die Beklagte habe zudem jedenfalls wegen ihrer beharrlichen Untätigkeit nach § 155 Abs. 4 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.
27Der Kläger beantragt nach entsprechender Klarstellung durch Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 21. Juli 2020 nunmehr,
28die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger einen Reiseausweis nach der Genfer Flüchtlingskonvention rückwirkend ab Antragstellung am 9. August 2016 auszustellen
29und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Niederlassungserlaubnis erneut auszustellen und darin aufzunehmen, dass diese ab dem 4. Juni 2014 gültig ist, sowie zu notifizieren, dass Erwerbstätigkeit erlaubt ist.
30Die Beklagte beantragt,
31die Klage abzuweisen.
32Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus:
33Der Kläger habe keinen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge. Es fehle an ihrer Passivlegitimation, da gemäß Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF die Zuständigkeit auf die Niederlande übergegangen sei, weil diese nicht innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit des von Deutschland ausgestellten Reiseausweises einen Antrag auf Wiederaufnahme gestellt hätten, wie es in Art. 4 Abs. 1 EÜÜVF vorgesehen sei. Auf den in Art. 2 Abs. 1 EÜÜVF geregelten Ausschluss für die Zweijahresfrist bei Studienaufenthalten nach Art. 2 Abs. 2 lit. a EÜÜVF komme es nicht an. Dieser beziehe sich nur auf die Fälle, in denen der Zweitstaat lediglich eine Aufenthaltserlaubnis bis zum Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises erteile. Ein Übergang der Verantwortung sei auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Bundesrepublik einen solchen bei Studienaufenthalten nach Art. 2 Abs. 1 EÜÜVF ablehne und diesen Vorbehalt nach Art. 14 Abs. 3 EÜÜVF auch gegen sich selbst gelten lassen müsse. Die sich aus Art. 24 QRL ergebende Verpflichtung treffe die zuständigen niederländischen Behörden. Auch Art. 6 Abs. 3 Anhang-GFK gebiete keine andere Bewertung, da der Kläger nicht mehr rechtmäßig in den Niederlanden wohnhaft sei. Zudem sei nicht belegt, dass die niederländischen Behörden sich geweigert hätten, dem Kläger einen Reiseausweis für Flüchtlinge auszustellen. Der vorgelegte Schriftsatz der niederländischen Anwältin vom 21. August 2018 lasse einen entsprechenden Antrag schon nicht erkennen. Darin werde vielmehr fälschlicherweise vorgetragen, der Flüchtlingsstatus des Klägers sei aufgehoben worden, was wohl dazu geführt habe, dass die niederländischen Behörden den Kläger zur Entfaltung von Passbeschaffungsbemühungen aufgefordert hätten. Die von der Rechtsanwältin begehrte Bestätigung, dass die niederländischen Behörden dem Kläger keinen Reiseausweis ausstellen würden, sei gerade nicht erfolgt. Vielmehr habe die Stadt N. dem Kläger in ihrer E-Mail vom 5. November 2018 mitgeteilt, dass er zunächst belegen müsse, dass er einen nationalen Pass nicht beschaffen könne, und ausgeführt, dass der Antrag des Klägers nach Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung bearbeitet werde.
34Auch sei die Niederlassungserlaubnis des Klägers nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG kraft Gesetzes erloschen. Das vom Kläger beabsichtigte Studium habe keinen nur vorübergehenden Auslandsaufenthalt dargestellt, da er das gesamte Studium und nicht nur einen Abschnitt in den Niederlanden habe absolvieren wollen. Zudem habe der Kläger schon am 28. August 2015 eine niederländische Aufenthaltserlaubnis erhalten, sodass davon auszugehen sei, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits in den Niederlanden gewohnt habe. Auch das Schreiben des MET vom 23. Oktober 2019 sei noch an die N1. Adresse gerichtet gewesen. Selbst wenn der Kläger in der von ihm vorgetragenen Weise zwischen B. und N. gependelt sei, habe er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden gehabt. Die mehrfache Rückkehr zu seiner Familie und zur Wahrnehmung von Terminen bei der Ausländerbehörde stehe dem nicht entgegen. Auch die Versagung des Auslands-BAföG sei nicht mangels Niederlassungserlaubnis, sondern wegen Erreichens der Förderungshöchstdauer erfolgt. Im Übrigen sei nicht bekannt, ob das BAföG-Amt den gewöhnlichen Aufenthalt prüfe, sodass die dem Kläger zeitweise gewährte Förderung keinen Beleg für einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland biete. Dem Erlöschen der Niederlassungserlaubnis stehe § 51 Abs. 7 AufenthG nicht entgegen. Zwar erlösche nach § 51 Abs. 7 Satz 1 AufenthG der Aufenthaltstitel eines Ausländers, der unanfechtbar als Flüchtling anerkannt sei, nicht, solange er im Besitz eines gültigen, von den deutschen Behörden ausgestellten Reiseausweises für Flüchtlinge sei. Jedoch sei der Reiseausweis des Klägers bereits mit Ablauf des 18. Juni 2016 erloschen. Gemäß § 51 Abs. 7 Satz 2 AufenthG habe der Kläger zudem keinen Anspruch auf erneute Erteilung eines Aufenthaltstitels, weil er das Bundesgebiet verlassen habe und die Zuständigkeit für die Ausstellung des Reiseausweises auf einen anderen Staat übergangen sei.
35Die Beteiligten haben im Nachgang der mündlichen Verhandlung Vergleichsverhandlungen geführt, die gescheitert sind. Der Kläger hat im Rahmen dessen mit anwaltlichem Schreiben vom 20. Dezember 2021 die Wiederöffnung der mündlichen Verhandlung angeregt.
36Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (IV Bände).
37E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
38Die Klage hat keinen Erfolg.
39Die Entscheidung ergeht gemäß § 101 Abs. 1 VwGO aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 2021. Die Kammer sieht nach pflichtgemäßer Ermessensausübung keine Veranlassung, die mündliche Verhandlung entsprechend der Anregung des Prozessbevollmächtigten des Klägers im Schreiben vom 20. Dezember 2021 wiederzueröffnen (vgl. § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO). Die von den Beteiligten im Nachgang der mündlichen Verhandlung geführten Vergleichsverhandlungen sind angesichts des Schreibens des Prozessbevollmächtigten der Beklagten vom 21. Dezember 2021 gescheitert und die Sache ist entscheidungsreif. Der fehlende Anhang im Schreiben des Klägers vom 20. Dezember 2021 rechtfertigt ebenfalls nicht die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, da dieses keine neuen Gesichtspunkte für die Sachentscheidung enthält, sondern lediglich die Vergleichsverhandlungen betraf.
40Einer Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter an der Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bedurfte es nicht, da es sich hierbei um einen Beschluss außerhalb der mündlichen Verhandlung handelt (§ 5 Abs. 3 Satz 2 VwGO). Eine ausdrücklich als "Wiedereröffnungsbeschluss" gekennzeichnete Entscheidung der Kammer war insoweit nicht erforderlich. Ausreichend ist vielmehr, wenn das Gericht seine Entscheidung, die mündliche Verhandlung nicht wiederzueröffnen, - wie hier - im Urteil selbst begründet. Die Entscheidung des Gerichts über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bleibt auch dann eine selbstständige gerichtliche Entscheidung (Beschluss), wenn sie gleichzeitig mit der Entscheidung zur Hauptsache ergeht und äußerlich als Teil des Urteils erscheint.
41Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 10. März 1983 - 7 C 93.82 -, juris, Rn. 26 sowie Beschluss vom 25. Januar 2016 - 2 B 34.14 -, juris, Rn. 29; Dolderer, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 104 Rn. 52 und 58.
42A. Die Klage auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention rückwirkend ab Antragstellung am 9. August 2016 ist bereits teilweise unzulässig (I.) und im Übrigen unbegründet (II.).
43I. Soweit der Kläger die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention rückwirkend zum 9. August 2016 begehrt, ist die Klage nur teilweise zulässig.
44Die Klage ist zulässig als Untätigkeitsklage (§§ 42 Abs. 1 Alt. 2, 75 VwGO) erhoben worden, da insbesondere die Sperrfrist des § 75 Satz 2 VwGO von drei Monaten ab Antragstellung (9. August 2016) bei der Klageerhebung im Januar 2019 abgelaufen war. Ein zureichender sachlicher Grund, der einer - auch negativen - Bescheidung durch die Beklagte entgegengestanden hätte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
45Soweit der Kläger die Ausstellung des Reiseausweises für Flüchtlinge auch rückwirkend für den Zeitraum ab dem 9. August 2016 (Antragstellung) begehrt, ist die Klage allerdings unzulässig, weil es dem Kläger an dem insoweit erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
46Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Ausländer die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung nur beanspruchen, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hat. Dies gilt unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren Zeitpunkt bereits erteilt worden ist oder nicht. Das ist insbesondere der Fall, wenn es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Ausländers erheblich sein kann, von welchem Zeitpunkt an der Ausländer den begehrten Aufenthaltstitel besitzt.
47Vgl. BVerwG, Urteile vom 9. Juni 2009 - 1 C 7.08 -, juris, Rn.13; vom 26. Oktober 2010 - 1 C 19.09 -, juris, Rn. 13 und vom 26. Mai 2020 - 1 C 12.19 -, juris, Rn. 17.
48Diese für die Erteilung von Aufenthaltstiteln entwickelten Grundsätze sind auf die vorliegende Konstellation übertragbar, da sie letztlich in allgemeiner Weise das Erfordernis eines Rechtsschutzbedürfnisses für die Erteilung von begünstigenden Verwaltungsakten für vergangene Zeiträume konkretisieren.
49Gemessen daran fehlt dem Kläger das Rechtsschutzbedürfnis für die begehrte rückwirkende Erteilung eines Reiseausweises für Flüchtlinge, da sich seine Rechtstellung dadurch nicht verbessern würde.
50Eine potenzielle Verbesserung der Rechtsposition ergibt sich für den Kläger zunächst nicht aus dem Innehaben eines Reiseausweises für Flüchtlinge für sich genommen. Gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953, S. 559 und 1954, S. 619 ‑ GFK -) werden die vertragschließenden Staaten den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhalten, Reiseausweise ausstellen, die ihnen Reisen außerhalb dieses Gebietes gestatten. Diese Regelung wird mit Art. 25 Abs. 1 QRL in das Unionsrecht inkorporiert, wonach die Mitgliedstaaten Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, Reiseausweise - wie im Anhang zur Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehen - für Reisen außerhalb ihres Gebiets ausstellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.
51Vgl. zum Verhältnis der beiden Normen auch: Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. Juni 2020 - 12 S 1163/20 -, juris, Rn. 14 ff.
52Der Reiseausweis für Flüchtlinge soll demnach auch Flüchtlingen, die sich ihrem Status folgend zur Erlangung von Reisepapieren nicht an ihren Heimatstaat wenden können, Reisen ermöglichen und dabei als Identitätsnachweis dienen.
53Vgl. hierzu auch: BVerwG, Urteil vom 17. März 2004 - 1 C 1.03 -, juris, Rn. 24.
54Rückwirkend kann der Kläger jedoch keine Reisen mehr antreten und sich dabei ausweisen.
55Ein schutzwürdiges Interesse des Klägers an einer rückwirkenden Ausstellung des Reiseausweises für Flüchtlinge folgt insbesondere auch nicht aus § 51 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Zwar erlischt hiernach im Falle der Ausreise eines Asylberechtigten oder eines Ausländers, dem das Bundesamt unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, dessen Aufenthaltstitel nicht, solange er im Besitz eines gültigen, von einer deutschen Behörde ausgestellten Reiseausweises für Flüchtlinge ist. Es spricht zudem Einiges dafür, dass die Vorschrift entgegen ihres Wortlauts ("im Besitz") auch schon dann greift, wenn der Ausländer einen Rechtsanspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises hat,
56vgl. so wohl auch: Hessischer VGH, Beschluss vom 1. Februar 2021 ‑ 3 B 1013/20 ‑, juris, Rn. 10 und 20; Berlit, GK-AufenthG, 105. Lfg., § 51 AufenthG Rn. 108; a.A. Hailbronner, Ausländerrecht, Oktober 2021, § 51 AufenthG Rn. 55,
57da andernfalls die zur Ausstellung zuständige Behörde durch das bloße Nichtausstellen den Aufenthaltstitel des Flüchtlings zum Erlöschen bringen könnte.
58Vgl. auch ähnlich zu den Voraufenthaltszeiten bei der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis: BVerwG, Urteil vom 22. Januar 2002 - 1 C 6.01 -, juris, Rn. 13 m.w.N.; ähnlich zu den Voraufenthaltszeiten bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG: BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019 - 1 C 34.18 -, juris, Rn. 24; tendenziell auch zum "rechtmäßigen" Aufenthalt im Sinne des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK: BVerwG, Urteil vom 17. März 2004 - 1 C 1.03 -, juris, Rn. 22 und Bayerischer VGH (BayVGH), Beschluss vom 10. Dezember 2013 - 10 C 13.1340 -, juris, Rn. 7.
59Ausgehend davon könnte ein Anspruch auf rückwirkende Erteilung das Erlöschen des Aufenthaltstitels in der Vergangenheit verhindern, was in der Folge auch für die Anrechnung von Voraufenthaltszeiten relevant wäre. Der Kläger könnte so bei Nichterlöschen seiner Niederlassungserlaubnis Voraufenthaltszeiten für eine Einbürgerung erwerben bzw. erworben haben (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 und Satz 1 Nr. 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes - StAG -). Jedoch hat der Kläger hier lediglich die rückwirkende Erteilung ab Antragstellung am 9. August 2016 beantragt. Damit besteht von vornherein zwischen dem Ablauf seines Reiseausweises für Flüchtlinge am 18. Juni 2016 und einem möglichen Anspruch auf Erneuerung ab dem 9. August 2016 eine Lücke, wegen der § 51 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu Gunsten des Klägers eingreifen und das Erlöschen des Aufenthaltstitels verhindern kann. Eine rückwirkende Erteilung zum 19. Juni 2016 hätte der Kläger auch nicht zulässigerweise beantragen können, da eine solche nur für Zeiten nach der Antragstellung bei der Ausländerbehörde in Betracht kommt.
60Vgl. entsprechend zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Vergangenheit: BVerwG, Urteil vom 22. Juni 2011 - 1 C 5.10 -, juris, Rn. 14; vgl. auch: BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 7.08 -, juris, Rn. 13; BVerwG, Beschluss vom 9. April 2010 - 1 B 26.09 -, juris, Rn. 3; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (OVG), Urteil vom 8. November 2017 - 8 LB 59/17 -, juris, Rn. 39 ff.; OVG für das Land Nordrhein-Westfalten (OVG NRW), Beschluss vom 24. Juli 2009 - 18 B 1661/08 -, juris, Rn. 20.
61Die (rückwirkende) Erteilung eines Reiseausweises für Flüchtlinge führte auch nicht zu einem Wiederaufleben des erloschenen Aufenthaltstitels.
62Vgl. auch: BVerwG, Urteil vom 23. März 2017 - 1 C 14.16 -, juris, Rn. 19.
63Der Ausländer hat vielmehr bei Fortbestehen seines Flüchtlingsstatus grundsätzlich einen Anspruch auf erneute Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus § 25 Abs. 2 AufenthG (i.V.m. Art. 24 Abs. 1 QRL), wie sich bereits aus § 51 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ergibt. Danach ist dieser Anspruch ausgeschlossen, wenn der Ausländer das Bundesgebiet verlassen hat und die Zuständigkeit für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge auf einen anderen Staat übergegangen ist.
64Auch hinsichtlich eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus Art. 25 Abs. 2 AufenthG hat der Kläger kein schutzwürdiges Interesse an der rückwirkenden Erteilung eines Reiseausweises für Flüchtlinge. Der Besitz eines Reiseausweises für Flüchtlinge ist keine Voraussetzung für einen Anspruch aus § 25 Abs. 2 AufenthG - das Gegenteil ist der Fall (vgl. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK: "rechtmäßig […] aufhalten"),
65vgl. hierzu auch: BVerwG, Urteil vom 17. März 2004 - 1 C 1.03 -, juris, Rn. 22; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Reiseausweis für Flüchtlinge, WD 3-3000 -030/18 vom 6. Februar 2018, Ziffer 4.1. -
66und steht für sich genommen auch dem Ausschluss des Anspruchs nach § 51 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht entgegen. Überdies hat der Kläger einen Anspruch auf erneute Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund seiner Flüchtlingsanerkennung mit der vorliegenden Klage auch nicht verfolgt.
67Eine Verbesserung seiner Rechtsposition durch rückwirkende Erteilung eines Reiseausweises für Flüchtlinge folgt entgegen der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertretenen Ansicht ebenso wenig im Hinblick auf die Gewährung von Auslands-BAföG. Angesichts dessen, dass der Kläger bis einschließlich August 2018 Auslands-BAföG erhalten und eine weitergehende Förderung nur für den Zeitraum Oktober 2018 bis August 2019 beantragt hat, käme ein schutzwürdiges Interesse ohnehin allenfalls für den letztgenannten Zeitraum in Betracht. Der Kläger hat den betreffenden Ablehnungsbescheid der Bezirksregierung L. vom 5. August 2020 indes bestandskräftig werden lassen. Es ist auch nicht erkennbar, dass die rückwirkende Erteilung eines Reiseausweises für Flüchtlinge ein (zwingender) Grund zur Revidierung dieser Entscheidung nach Maßgabe der §§ 48 ff. des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen wäre. Der Kläger hatte im August 2018 vielmehr unabhängig von den Fragen um seinen Aufenthaltsstatus bereits die Förderungshöchstdauer (§ 15a BAföG) erreicht. Eine weitergehende Förderung könnte daher nur nach § 15 Abs. 3 oder § 15 Abs. 3a BAföG erfolgen. Im Rahmen dessen würde das Innehaben eines Reiseausweises für Flüchtlinge dem Kläger aber keinen Vorteil gewähren.
68Nach § 15 Abs. 3 BAföG wird über die Förderungshöchstdauer hinaus für eine angemessene Zeit Ausbildungsförderung geleistet, wenn sie aus schwerwiegenden Gründen (Nr. 1), infolge der in häuslicher Umgebung erfolgenden Pflege eines oder einer pflegebedürftigen nahen Angehörigen im Sinne des § 7 Absatz 3 des Pflegezeitgesetzes, der oder die nach den §§ 14 und 15 des Elften Buches Sozialgesetzbuch - Soziale Pflegeversicherung - mindestens in Pflegegrad 3 eingeordnet ist (Nr. 2), infolge einer Mitwirkung in gesetzlich oder satzungsmäßig vorgesehenen Gremien und Organen der Hochschulen und der Akademien im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BAföG (Nr. 3), infolge des erstmaligen Nichtbestehens der Abschlussprüfung (Nr. 4), oder infolge einer Behinderung, einer Schwangerschaft oder der Pflege und Erziehung eines Kindes bis zu 14 Jahren (Nr. 5) überschritten worden ist. Der Besitz eines von den deutschen Behörden ausgestellten Reiseausweises für Flüchtlinge ist demnach keine Voraussetzung für eine weitergehende Förderung.
69Gemäß § 15 Abs. 3a BAföG wird ferner zwar Auszubildenden an Hochschulen und an Akademien im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BAföG, die sich in einem in sich selbständigen Studiengang befinden, als Hilfe zum Studienabschluss für höchstens zwölf Monate Ausbildungsförderung auch nach dem Ende der Förderungshöchstdauer oder der Förderungsdauer geleistet, wenn die Auszubildenden spätestens innerhalb von vier Semestern nach diesem Zeitpunkt zur Abschlussprüfung zugelassen worden sind und die Prüfungsstelle bescheinigt, dass sie die Ausbildung innerhalb der Dauer der Hilfe zum Studienabschluss abschließen können. Ist eine Abschlussprüfung nicht vorgesehen, gilt Satz 1 unter der Voraussetzung, dass die Auszubildenden eine Bestätigung der Ausbildungsstätte darüber vorlegen, dass sie die Ausbildung innerhalb der Dauer der Hilfe zum Studienabschluss abschließen können. Auch hat der Kläger diesbezüglich geltend gemacht, seine niederländische Aufenthaltserlaubnis sei wegen des fehlenden Reiseausweises für Flüchtlinge nicht verlängert worden und deshalb habe er sein Studium unterbrechen müssen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Kläger nicht mehr innerhalb von vier Semestern nach Ende der Förderungshöchstdauer im August 2018 zur Abschlussprüfung zugelassen werden und/oder das Studium innerhalb von zwölf Monaten nach diesem Zeitpunkt abschließen kann.
70Unabhängig davon scheidet die Gewährung von Auslands-BAföG ab Oktober 2018 auch bereits deshalb aus, weil der Kläger seither nicht mehr studiert, sondern - wie sich aus der Bestätigung der Universität N. ergibt - beurlaubt ist, und er dies auch nicht rückwirkend ändern kann.
71Schließlich vermittelt auch § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG dem Kläger kein schutzwürdiges Interesse an einer rückwirkenden Erteilung eines Reiseausweises für Flüchtlinge. Diese Regelung, die ausnahmsweise eine Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit erlaubt, verlangt nur, dass der betreffende Ausländer einen Reiseausweis für Flüchtlinge "besitzt". Vorbesitzzeiten werden gerade nicht vorausgesetzt. Auch insoweit würde der Kläger demnach durch eine rückwirkende Erteilung des Reiseausweises für Flüchtlinge keine Verbesserung seiner Rechtsstellung erlangen können.
72II. Soweit die Klage auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention zulässig ist, ist sie jedoch unbegründet.
73Dem Kläger steht in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung,
74vgl. entsprechend zur Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen in ständiger Rechtsprechung etwa: BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 11.08 -, Rn. 19; zu § 25b AufenthG: BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019 - 1 C 34.18 -, juris, Rn. 23,
75weder ein Anspruch auf (Neu-)Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu (1.), noch kann er die Bescheidung seines Antrags unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts beanspruchen (2.), § 113 Abs. 5 Satz 1 und 2 VwGO.
761. Der Kläger hat keinen Anspruch auf (Neu-)Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Ein solcher ergibt sich weder aus Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK (a) noch aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK (b).
77a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK.
78Nach dieser Vorschrift werden die vertragschließenden Staaten den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhalten, Reiseausweise ausstellen, die ihnen Reisen außerhalb dieses Gebietes gestatten, es sei denn, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen; die Bestimmungen des Anhanges zu diesem Abkommen werden auf diese Ausweise Anwendung finden.
79Auf diese Bestimmung kann sich der Kläger zwar unmittelbar berufen, weil die Bundesrepublik Deutschland der Genfer Flüchtlingskonvention nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG durch Bundesgesetz zugestimmt hat (BGBl. II 1953, S. 559 und 1954, S. 619) und die Vorschriften der Konvention - einschließlich der Bestimmungen über den Reiseausweis - keiner weiteren normativen Ausfüllung bedürfen, da sie nach Wortlaut, Zweck und Inhalt geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten.
80Vgl. in st. Rspr.: BVerwG, Urteile vom 4. Juni 1991 - 1 C 42.88 -, juris, Rn. 14 und vom 17. März 2004 - 1 C 1.03 -, juris, Rn. 15, jeweils m.w.N.; vgl. ferner: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. Juni 2020 - 12 S 1163/20 -, juris, Rn. 14.
81Zudem nimmt Art. 28 GFK aufgrund seiner unionsrechtlichen Fundierung in Art. 25 QRL am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teil.
82Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. Juni 2020 - 12 S 1163/20 -, juris, Rn. 22 ff.; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Reiseausweis für Flüchtlinge, WD 3-3000 -030/18 vom 6. Februar 2018, Ziffer 2.
83Auch ist der Kläger mit dem unanfechtbaren Bescheid des Bundesamts vom 13. Oktober 2010 als Flüchtling anerkannt worden. Diese Entscheidung ist auch nicht nach § 73 AsylG zurückgenommen oder widerrufen worden.
84Es fehlt jedoch an der Passivlegitimation der Beklagten. Diese kann den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf (Neu-)Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nicht mehr erfüllen,
85vgl. entsprechend zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei Übergang der örtlichen Zuständigkeit: BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 1996 - 1 C 19.94 -, juris, Rn. 12; OVG NRW, Beschluss vom 16. Juli 2010 - 18 A 399/09 -, juris, Rn. 3 ff.; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 15. Mai 2014 - 2 L 136/12 -, juris, Rn. 25,
86da die Verantwortung für die Rechte und Pflichten des Klägers aus seiner asylrechtlichen Rechtsposition nach Art. 2 Abs. 3 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 (BGBl. 1994 II, S. 2645 - EÜÜVF -) und damit nach Art. 5 Abs. 1 EÜÜVF auch die Zuständigkeit für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge mit Ablauf des 19. Dezember 2016 auf die Niederlande übergangen ist.
87Angesichts dessen kann hier dahinstehen, ob sich der Kläger im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtmäßig im Sinne des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK im Bundesgebiet aufhält, insbesondere ob hierzu auch ein Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels genüge.
88Vgl. dazu erneut: BVerwG, Urteil vom 17. März 2004 - 1 C 1.03 -, juris, Rn. 22; BayVGH, Beschluss vom 10. Dezember 2013 - 10 C 13.1340 -, juris, Rn. 7.
89aa) Gemäß § 6 Abs. 1 des in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK in Bezug genommenen Anhangs zur Genfer Flüchtlingskonvention (Anhang-GFK) ist zur Erneuerung oder Verlängerung der Geltungsdauer des Ausweises die ausstellende Behörde zuständig, solange der Inhaber sich rechtmäßig nicht in einem anderen Gebiet niedergelassen hat und rechtmäßig im Gebiet der genannten Behörde wohnhaft ist (Satz 1). Zur Ausstellung eines neuen Ausweises ist unter den gleichen Voraussetzungen die Behörde zuständig, die den früheren Ausweis ausgestellt hat (Satz 2).
90§ 11 Anhang-GFK bestimmt sodann, unter welchen Voraussetzungen und auf wen die nach § 6 Abs. 1 Anhang-GFK bestehende Zuständigkeit für die Ausstellung von Reiseausweisen für Flüchtlinge übergeht. Hiernach geht, wenn ein Flüchtling seinen Wohnort wechselt oder er sich rechtmäßig im Gebiet eines anderen vertragschließenden Staates niederlässt, gemäß Art. 28 GFK die Verantwortung für die Ausstellung eines neuen Ausweises auf die zuständige Behörde desjenigen Gebietes über, bei welcher der Flüchtling seinen Antrag zu stellen berechtigt ist.
91Die Auslegung dieser Regelung über den Zuständigkeitsübergang wird durch das Europäische Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge näher konkretisiert.
92Vgl. auch: Hessischer VGH, Beschluss vom 1. Februar 2021 - 3 B 1013/20 -, juris, Rn. 14; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (VG), Urteil vom 3. Juni 2020 - 11 A 45/19 -, juris, Rn. 23.
93Nach der Präambel des Übereinkommens dient dieses dazu, die Anwendung des Art. 28 GFK sowie der §§ 6 und 11 Anhang-GFK zu erleichtern und vornehmlich die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen die Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises von einer Vertragspartei auf die andere übergeht.
94Die zentrale Vorschrift bildet insofern Art. 2 EÜÜVF. Dieser regelt vier eigenständige Übergangstatbestände.
95Vgl. auch: Erläuternder Bericht zum Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge (Erläuternder Bericht zum EÜÜVF), Abs. 21; abgedruckt in BT-Drs. 12/6852, S. 17 ff.; Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge (Nr. 51.7.2 AVV-AufenthG) vom 10. Dezember 2020 (AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge), abgedruckt in: Stoffl, Asyl und Asylverfahrensrecht, in: Praxis der Kommunalverwaltung Bund, PdK Bu K-9d, S. 4 des Abdrucks.
96Nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EÜÜVF gilt die Verantwortung nach Ablauf von zwei Jahren des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts im Zweitstaat mit Zustimmung von dessen Behörden (1. Fall) oder zu einem früheren Zeitpunkt als übergegangen, wenn der Zweitstaat dem Flüchtling gestattet hat, entweder dauernd (2. Fall) oder länger als für die Gültigkeitsdauer des Reiseausweises (3. Fall) in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben. Einen vierten Übergangstatbestand sieht Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF für den Fall vor, dass die Wiederaufnahme des Flüchtlings durch den Erststaat nach Art. 4 EÜÜVF nicht mehr beantragt werden kann.
97Für die Auslegung dieser Bestimmungen ist die Wiener Vertragsrechtskonvention (WKV) vom 23. Mai 1969 (vgl. BGBl. II 1985, S. 926 und BGBl. II 1987, S. 757) heranzuziehen. Nach Art. 31 WVK ist ein völkerrechtlicher Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Dabei sind außer dem Vertragswortlaut samt Präambel, Anlagen sowie weiteren diesbezüglichen Übereinkünften und Urkunden jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen und jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, in gleicher Weise zu berücksichtigen; der Entstehungsgeschichte kommt nach Art. 32 WVK eine subsidiäre Bedeutung für die Vertragsauslegung zu.
98Vgl. hierzu etwa: BVerwG, Urteile vom 17. März 2004 - 1 C 1.03 -, juris, Rn. 16 und vom 29. April 2009 - 6 C 16.08 -, juris, Rn. 47; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. Juni 2020 - 12 S 1163/20 -, juris, Rn. 18.
99Daran ändert auch die Inkorporation des Art. 28 Abs. 1 GFK in das Unionsrecht (Art. 25 Abs. 1 QRL) nichts, da sich dadurch der völkerrechtliche Charakter der Genfer Flüchtlingskonvention und des zu ihrer Konkretisierung geschlossenen Übereinkommens (EÜÜVF) nicht ändert.
100Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. Juni 2020 - 12 S 1163/20 -, juris, Rn. 28 f.
101bb) Gemessen hieran ist die flüchtlingsrechtliche Verantwortung für den Kläger nach Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF auf die Niederlande übergegangen.
102Das Europäische Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge ist vorliegend anwendbar, da sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Niederlande - für das Königreich in Europa - es unterzeichnet und ratifiziert haben.
103Vgl. BGBl. II 1995, S. 540 und aktuell https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list?module=signatures-by-treaty&treatynum=107, zuletzt aufgerufen am: 9. Dezember 2021.
104Die Voraussetzungen für den Übergang der Verantwortung liegen vor. Hier ist die Verantwortung für den Kläger zwar nicht nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EÜÜVF (1-3), jedoch nach Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF (4) auf die Niederlande übergegangen. Auch zu einem Rückübergang der Verantwortung auf die Bundesrepublik Deutschland ist es nicht gekommen (5).
105(1) Der Übergang der Verantwortung auf die Niederlande erfolgte hier zwar nicht gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 EÜÜVF.
106Nach dieser Regelung gilt die Verantwortung nach Ablauf von zwei Jahren des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts im Zweitstaat mit Zustimmung von dessen Behörden als übergegangen.
107Die Zweijahresfrist beginnt gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF mit der Aufnahme des Flüchtlings im Hoheitsgebiet des Zweitstaats oder, lässt sich dieser Zeitpunkt nicht feststellen, mit dem Tag, an dem er sich bei den Behörden des Zweitstaats meldet. Für die Berechnung der in Absatz 1 bezeichneten Frist bestimmt Art. 2 Abs. 2 EÜÜVF Folgendes:
108Nicht berücksichtigt werden ein ausschließlich zum Zweck des Studiums, der Ausbildung oder der medizinischen Behandlung genehmigter Aufenthalt (lit. a) sowie im Zusammenhang mit einem Strafverfahren verhängte Haftzeiten des Flüchtlings (lit. b.).
109Ausnahmsweise berücksichtigt werden Zeiten, in denen der Flüchtling im Hoheitsgebiet des Zweitstaats bleiben darf, solange ein Rechtsmittelverfahren gegen eine Entscheidung der Aufenthaltsverweigerung oder der Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet anhängig ist, wenn die Rechtsmittelentscheidung zugunsten des Flüchtlings getroffen wird (lit. c).
110Ausnahmslos berücksichtigt werden dagegen Zeiten, in denen der Flüchtling das Hoheitsgebiet des Zweitstaats für höchstens drei Monate hintereinander oder mehrmals für insgesamt höchstens sechs Monate vorübergehend verlässt; diese Abwesenheiten gelten nicht als Unterbrechung oder Aussetzung des Aufenthalts (lit d.).
111Die erforderliche Zustimmung der Behörden des Zweitstaates verlangt dabei nicht zwingend die förmliche Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
112Vgl. auch: Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 21; Sächsisches OVG, Beschluss vom 12. April 2016 - 3 B 7/16 -, juris, Rn. 14; a.A. BayVGH, Beschluss vom 27. Oktober 2004 - 10 CS 04.2158 -, juris, Rn. 5; AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 5 des Abdrucks; Berlit, GK-AufenthG, 105. Lfg., § 51 AufenthG Rn. 108; offenlassend: Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2. August 2018 - 8 ME 42/18 -, juris, Rn. 36.
113Dies folgt schon daraus, dass die Vorschrift weder wie Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK einen "rechtmäßigen" Aufenthalt noch wie Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 EÜÜVF einen "gestatteten" Aufenthalt verlangt, womit jeweils (grundsätzlich) das Bestehen einer Aufenthaltserlaubnis vorausgesetzt wird.
114Vgl. zu Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK: BVerwG, Urteil vom 17. März 2004 ‑ 1 C 1.03 -, juris, Rn. 19 f.; zu Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 EÜÜVF: Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 21 ii. und AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 9 des Abdrucks, näher hierzu unter (2).
115Aus dem systematischen Zusammenhang zur Regelung des Fristbeginns in Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF (Aufnahme oder Meldung des Flüchtlings) ergibt sich aber, dass die Behörden den Aufenthalt des Flüchtlings zumindest nach Kenntnisnahme hiervon stillschweigend billigen müssen.
116Vgl. im Ergebnis ebenso: Denkschrift zum Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, abgedruckt in BT-Drs. 12/6852, S. 14 ff. (Denkschrift zum EÜÜVF), S. 15; Sächsisches OVG, Beschluss vom 12. April 2016 - 3 B 7/16 -, juris, Rn. 14; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2. August 2018 - 8 ME 42/18 -, juris, Rn. 36; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25. September 2018 - 7 B 11097/18 -, juris, Rn. 5; BayVGH, Beschluss vom 3. Dezember 2019 - 10 ZB 19.34074 -, juris, Rn. 8; Berlit, GK-AufenthG, 105 Lfg., § 51 AufenthG Rn. 121.
117Dabei müssen sich in nach außen objektivierbarer Weise der Wille und die Bereitschaft des Zweitstaates ergeben, den Flüchtling aufzunehmen. Denn der Übergangsregelung des Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF liegt insgesamt die Erwägung zugrunde, dass ein unter Zustimmung des Zweitstaates erfolgter zwei Jahre andauernder Aufenthalt des Flüchtlings in seinem Hoheitsgebiet ein objektives Kriterium bildet, dass die Annahme rechtfertigt, dass der Zweitstaat willens und bereit ist, den Flüchtling aufzunehmen.
118Vgl. hierzu: Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 21 i.; Sächsisches OVG, Beschluss vom 12. April 2016 - 3 B 7/16 -, juris, Rn. 14; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25. September 2018 ‑ 7 B 11097/18 -, juris, Rn. 6; BayVGH, Beschluss vom 3. Dezember 2019 - 10 ZB 19.34074 -, juris, Rn. 8.
119Daher reicht insbesondere die Erteilung einer Duldung grundsätzlich nicht aus.
120Vgl. ebenso: Sächsisches OVG, Beschluss vom 12. April 2016 - 3 B 7/16 -, juris, Rn. 14 f.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25. September 2018 - 7 B 11097/18 -, juris, Rn. 5 ff.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2. August 2018 - 8 ME 42/18 ‑, juris, Rn. 39 f.; AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 5 des Abdrucks; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 16. Oktober 1990 - 1 C 15.88 -,juris, Rn. 19 f.
121Ausgehend davon sind die Voraussetzungen für einen Verantwortungsübergang nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 EÜÜVF vorliegend nicht erfüllt. Es fehlt an einem zwei Jahre dauernden, mit Zustimmung der niederländischen Behörden erfolgten Aufenthalt des Klägers in den Niederlanden.
122Zwar hat sich der Kläger unstreitig jedenfalls von Anfang September 2015 bis Anfang Dezember 2018 und damit mehr als zwei Jahre (auch) in den Niederlanden aufgehalten. Dieser Aufenthalt erfolgte aber ausschließlich zum Zwecke des Studiums, worauf sich auch die Zustimmung der niederländischen Behörden in Form der dem Kläger erteilten Aufenthaltserlaubnis vom 28. August 2015 bezog. Diese Zeiten sind somit nach Art. 2 Abs. 2 lit. a EÜÜVF bei der Berechnung der Zweijahresfrist des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 EÜÜVF nicht zu berücksichtigen. Darauf, ob der Kläger durch die vorgetragene Heimkehr zu seiner in Deutschland lebenden Familie an den Wochenenden und in den Semesterferien das Hoheitsgebiet der Niederlande mehrmals für insgesamt mehr als sechs Monate vorübergehend verlassen hat, sodass auch Art. 2 Abs. 2 lit. d EÜÜVF zur Anwendung käme, kommt es demnach nicht an.
123Die Kammer hat auch keinen Anlass, an dem Vortrag des Klägers, dass er sich ab dem 1. Dezember 2018 nicht mehr in den Niederlanden aufgehalten habe, zu zweifeln. Der Umstand, dass er dort noch bis März 2021 gemeldet war, vermag für sich genommen nichts über den tatsächlichen Aufenthalt des Klägers auszusagen. Vielmehr erweisen sich die Angaben des Klägers im Hinblick darauf, dass auch seine niederländische Aufenthaltserlaubnis am 1. Dezember 2018 abgelaufen war, als schlüssig. Dem steht auch nicht entgegen, dass das Schreiben des MET vom 23. Oktober 2019 noch an die N1. Adresse des Klägers adressiert war. Dies hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar unter Verweis darauf erklärt, dass sein Studentenapartment in N. nicht über einen eigenen Briefkasten verfügt, sondern vielmehr für das gesamte, aus vier Wohneinheiten bestehende Haus ein einziger, nicht mit Namen versehener Gemeinschaftsbriefkasten existiert habe, und sein ehemaliger Nachbar bzw. Mitbewohner ihm den Brief nach B. nachgesendet habe.
124Ungeachtet dessen fehlte es für den Zeitraum ab dem 1. Dezember 2018 jedenfalls auch an der Zustimmung der niederländischen Behörden zum Aufenthalt des Klägers. Die dem Kläger erteilte Aufenthaltserlaubnis zum Studium wurde nach ihrem Ablauf am 1. Dezember 2018 gerade nicht verlängert. Ein weiteres Verhalten der niederländischen Behörden, das nach außen in objektivierbarer Weise deren Willen und Bereitschaft erkennen ließe, den Kläger als Flüchtling aufzunehmen, ist nicht ersichtlich. Insbesondere kann allein aus der Tatsache, dass der Kläger nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis noch weiter in den Niederlanden gemeldet war, nicht auf eine stillschweigende Billigung der niederländischen Behörden geschlossen werden. Denn die melderechtliche Erfassung allein sagt nichts über den tatsächlichen Aufenthalt des Ausländers aus, worauf die Niederlande auch in ihrer Nachricht vom 21. Januar 2021 hingewiesen haben. Auch für diesen Zeitraum käme es demnach nicht auf Art. 2 Abs. 2 lit. d EÜÜVF an.
125(2) Der Verantwortungsübergang ist hier auch nicht nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 EÜÜVF erfolgt.
126Nach dieser Vorschrift gilt die Verantwortung als übergegangen, wenn der Zweitstaat dem Flüchtling gestattet hat, dauernd in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben.
127Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der niederländische Staat hat dem Kläger nicht gestattet, dauernd in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben.
128Mit dem Begriff "gestattet" ist nicht die in § 55 AsylG geregelte Aufenthaltsgestattung gemeint, da ein solcher befristeter Aufenthalt zum Zwecke des Asylverfahrens seiner Natur nach kein "dauernder" sein kann.
129Vgl. ebenso: OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25. September 2018 - 7 B 11097/18 -, juris, Rn. 8; AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 9 des Abdrucks.
130Vielmehr wird an das Bestehen einer Aufenthaltserlaubnis angeknüpft.
131Vgl. auch: Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 21 ii.; AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 9 des Abdrucks.
132Eine bloße stillschweigende Billigung der Behörden reicht im Gegensatz zu Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 EÜÜVF nicht aus. Denn ohne einen förmlichen, expliziten Gestattungsakt zum dauernden Aufenthalt durch die zuständige Behörde wäre der Zeitpunkt des Verantwortungsübergangs mangels in Gang gesetzter Frist nicht erkennbar.
133Vgl. so auch: AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 9 des Abdrucks.
134Ein "dauernder" Aufenthalt erfordert allerdings nicht zwingend die Erlaubnis für einen unbefristeten Aufenthalt, wie sie im deutschen Recht durch eine Niederlassungserlaubnis gewährt wird. Da eine solche Erlaubnis in anderen Mitgliedstaaten nicht vorgesehen ist, zielt die Regelung vielmehr darauf ab, auch die Fälle zu erfassen, in denen der Aufenthalt, unabhängig von der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltserlaubnis, faktisch ein ständiger ist.
135Vgl. Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 21 ii.; AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 9 des Abdrucks; vgl. ähnlich: Hessischer VGH, Beschluss vom 1. Februar 2021 - 3 B 1013/20 -, juris, Rn. 17 ("dauerhafte Aufenthaltsperspektive in dem anderen Staat").
136Dafür spricht auch, dass aus der Präambel des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge der eindeutige Wille der Vertragsstaaten hervorgeht, mit Art. 2 EÜÜVF die Voraussetzungen, unter denen die Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises von einer Vertragspartei auf die andere übergeht, und damit auch den in §§ 6 Abs. 1 und 11 Anhang-GFK verwendeten Begriff der "Niederlassung" näher auszugestalten.
137Gemessen daran fehlt es an einer Gestattung zum dauernden Aufenthalt des Klägers in den Niederlanden.
138Eine Aufenthaltserlaubnis und damit eine Gestattung lag zwar für den Aufenthalt des Klägers zum Zwecke des Studiums zwischen dem 28. August 2015 und dem 1. Dezember 2018 vor. Hierbei handelte es sich indes nicht um die Gestattung eines "dauernden" Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Niederlande. Dies folgt bereits aus Art. 2 Abs. 2 lit. a EÜÜVF. Diese Regelung ist zwar ihrem Wortlaut nach allein auf die Berechnung der Zweijahresfrist des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 EÜÜVF bezogen. Aus ihr geht aber die Wertung hervor, dass im Rahmen des Übereinkommens Aufenthalte zum Zwecke des Studiums grundsätzlich weder von der Absicht des Flüchtlings getragen sind, sich in dem Gebiet des Zweitstaates niederzulassen, noch die Absicht des Zweitstaates erkennen lassen, dem Flüchtling die Niederlassung zu gestatten.
139Vgl. Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 23; AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 9 und S. 6 des Abdrucks.
140Ausschließlich zu Studienzwecken erfolgende Aufenthalte können demnach auch keine "dauernde" im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 EÜÜVF sein.
141Eine andere Auslegung würde insofern der Systematik des Übereinkommens und dem Willen der Vertragsstaaten widersprechen. Dies zeigt sich auch an der Regelung des Art. 14 Abs. 1 EÜÜVF i.V.m. Nr. 1 der Anlage zum EÜÜVF. Hiermit haben die Vertragsstaaten gerade für den einzigen Fall des Übergangs der Verantwortung nach Art. 2 Abs. 1 EÜÜVF, der nicht an den Begriff des "Aufenthalts", sondern vielmehr an die Gültigkeitsdauer des Reiseausweises anknüpft und damit für Ausnahmen wegen der Natur des Aufenthalts (insbesondere zu Studienzwecken) keinen Raum lässt (Fall 3), die Möglichkeit eines Vorbehalts geschaffen, der es ihnen erlaubt, den vorgesehenen Verantwortungsübergang in Fällen von Studien- und Ausbildungsaufenthalten auszuschließen. Hintergrund dieser Regelung war, dass die gesetzlichen Bestimmungen einiger Vertragsstaaten vorsahen, dass sich Studenten über die Gültigkeitsdauer ihres Reiseausweises hinaus in dem betreffenden Staatsgebiet aufhalten durften.
142Vgl. dazu: Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Rn. 22 iii.
143Demnach kommt es auch im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 EÜÜVF nicht auf die Frage an, ob vorliegend auch Art. 2 Abs. 2 lit. d EÜÜVF greift.
144(3) Die Flüchtlingsverantwortung ist ebenso wenig nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 3 EÜÜVF auf die Niederlande übergangen.
145Nach dieser Vorschrift gilt die Verantwortung als übergegangen, wenn der Zweitstaat dem Flüchtling gestattet hat, länger als die Gültigkeitsdauer seines Reiseausweises in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben.
146Der Übergang durch Gestattung knüpft in dieser Vorschrift an das objektive Kriterium der Gültigkeitsdauer des Reiseausweises an. Dies setzt voraus, dass der Zweitstaat die Gültigkeitsdauer kennt, da er andernfalls keinen hierüber hinausgehenden Aufenthalt "gestatten" kann.
147Vgl. ebenso: AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 9 des Abdrucks.
148Diese Voraussetzungen sind zwar erfüllt. Die Niederlande haben dem Kläger gestattet, länger als für die Gültigkeitsdauer seines Reiseausweises in ihrem Hoheitsgebiet zu bleiben. Die Gestattung erfolgte hier mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Studiums am 28. August 2015. Da diese Aufenthaltserlaubnis bis zum 1. Dezember 2018 befristet war, der Reiseausweis für Flüchtlinge des Klägers aber bereits am 18. Juni 2016 ablief, haben die niederländischen Behörden dem Kläger zugleich gestattet, sich länger als für die Gültigkeitsdauer seines Reiseausweises im Hoheitsgebiet der Niederlande aufzuhalten. Dabei steht auch fest, dass die Niederlande die Gültigkeitsdauer kannten. Denn der Reiseausweis dient - wie ausgeführt ‑ Flüchtlingen insbesondere als Identitätsnachweis. Es kann nicht angenommen werden, dass die zuständige niederländische Behörde dem Kläger ohne einen solchen Identitätsnachweis eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hätte. Ungeachtet dessen findet sich im abgelaufenen Reiseausweis des Klägers auch ein Visum für die Niederlande vom 27. August 2015, in dem im Feld "Passnummer" die Nummer seines Reiseausweises für Flüchtlinge (00000000000) eingetragen worden ist. Danach steht fest, dass den niederländischen Behörden der Reiseausweis des Klägers vorlag.
149Dem Übergang der Verantwortung steht aber entgegen, dass die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 14 Abs. 3 EÜÜVF gegen sich gelten lassen muss, dass sie selbst von der Möglichkeit des Vorbehalts nach Art. 14 Abs. 1 EÜÜVF i.V.m. Abs. 1 der Anlage zum EÜÜVF Gebrauch gemacht hat,
150vgl. BGBl. II 1995, S. 540,
151und damit ihrerseits den Übergang der Verantwortung nach Art. 2 Abs. 1 Satz 3 Fall 3 EÜÜVF allein wegen der Erlaubnis zu einem Aufenthalt zu Studienzwecken über die Gültigkeitsdauer des Reiseausweis des Flüchtlings hinaus ausgeschlossen hat.
152Für eine - vom Kläger angenommene - entsprechende Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 2 EÜÜVF besteht angesichts dessen kein Raum.
153(4) Der Verantwortungsübergang auf die Niederlande ist jedoch nach Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF erfolgt.
154Nach Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF gilt die Verantwortung auch dann als übergegangen, wenn die Wiederaufnahme des Flüchtlings durch den Erststaat nach Art. 4 EÜÜVF nicht mehr beantragt werden kann.
155Gemäß Art. 4 Abs. 1 EÜÜVF wird der Flüchtling, solange die Verantwortung nicht nach Art. 2 Abs. 1 und 2 EÜÜVF übergegangen ist, jederzeit im Hoheitsgebiet des Erststaats wieder aufgenommen, selbst nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises (Satz 1). In letzterem Fall erfolgt die Wiederaufnahme auf einfachen Antrag des Zweitstaats unter der Bedingung, dass der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises gestellt wird (Satz 2). Ist den Behörden des Zweitstaats der Verbleib des Flüchtlings unbekannt und können sie aus diesem Grund den Antrag nicht innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises stellen, so muss der Antrag nach Art. 4 Abs. 2 EÜÜVF innerhalb von sechs Monaten nach dem Zeitpunkt gestellt werden, in dem der Zweitstaat vom Verbleib des Flüchtlings Kenntnis erhält, spätestens jedoch zwei Jahre nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises.
156Danach ist die Verantwortung auf Niederlande übergegangen, da diese als Zweitstaat die Wiederaufnahme des Klägers durch die Bundesrepublik Deutschland als Erststaat nicht mehr nach Art. 4 EÜÜVF beantragen können.
157Die Bundesrepublik Deutschland ist Erststaat im Sinne dieser Vorschriften, da sie den betreffenden Reiseausweises des Klägers ausgestellt hat (Art. 1 lit. c EÜÜVF). Auch sind die Niederlande "Zweitstaat". Nach der Begriffsbestimmung des Art. 1 lit. d EÜÜVF meint "Zweitstaat" einen anderen Vertragsstaat dieses Übereinkommens, in dem ein Flüchtling, der einen vom Erststaat ausgestellten Reiseausweis besitzt, anwesend ist. Dies trifft auf den Kläger zu. Dieser war in den Niederlanden anwesend, während er den von der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis für Flüchtlinge besaß.
158Die Niederlande können auch nicht mehr nach Art. 4 EÜÜVF die Wiederaufnahme durch die Bundesrepublik Deutschland als Erststaat beantragen. Sie haben nicht gemäß des hier einschlägigen Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF rechtzeitig gegenüber der Bundesrepublik einen Antrag auf Wiederaufnahme des Klägers gestellt.
159Die Anwendung des Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF setzt voraus, dass der Zweitstaat vom Aufenthalt des Flüchtlings in seinem Hoheitsgebiet Kenntnis hat. Dies ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorschrift, jedoch aus einem systematischen Vergleich mit Art. 4 Abs. 2 EÜÜVF, der eine eigenständige Regelung für den Fall der fehlenden Kenntnis des Zweitstaats vom Verbleib des Flüchtlings trifft.
160Vgl. dazu: Denkschrift zum EÜÜVF, S. 15; AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 9 f. des Abdrucks.
161Diese ungeschriebene Voraussetzung des Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF ist vorliegend erfüllt. Die Niederlande wussten nicht nur vom Aufenthalt des Klägers in ihrem Hoheitsgebiet zum Zwecke des Studiums, sondern haben ihm hierzu sogar eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Dabei kannten sie auch den Flüchtlingsstatus des Klägers. Die Niederlande hatten zum Zeitpunkt des Ablaufs des Flüchtlingsausweises am 18. Juni 2016 auch keinen vernünftigen Anlass, am Fortbestehen des Flüchtlingsstatus zu zweifeln. Solche Zweifel waren allenfalls nach dem Schreiben der niederländischen Rechtsanwältin des Klägers vom 21. August 2018 gerechtfertigt, da in diesem fälschlicherweise mitgeteilt wurde, die deutschen Behörden hätten den Flüchtlingsstatus des Klägers aufgehoben.
162Ob darüber hinaus im Rahmen des Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF auch erforderlich ist, dass der Aufenthalt des Flüchtlings im Zweitstaat in dessen Einvernehmen, d.h. zumindest mit dessen stillschweigender Billigung erfolgen muss,
163vgl. so: AH zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, S. 9 f. des Abdrucks; a.A. VG Gießen, Urteile vom 19. August 2020 - 6 K 9437/17.GI.A -, juris, Rn. 22 und vom 19. August 2021 - 6 K 5451/18.GI.A -, juris, Rn. 24; im Ergebnis ebenso: Sächsisches OVG, Beschluss vom 12. April 2016 - 3 B 7/16 -, juris, Rn. 14 ff.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2. August 2018 - 8 ME 42/18 ‑, juris, Rn. 39 f.; VG B. , Beschluss vom 19. März 2018 - 8 L 2032/17 -, juris, Rn. 22 f.,
164kann an dieser Stelle dahinstehen, da sich der Kläger im fraglichen Zeitpunkt mit einer Aufenthaltserlaubnis, d.h. einer ausdrücklichen Zustimmung in den Niederlanden aufhielt.
165Die somit für den Wiederaufnahmeantrag maßgebliche Frist des Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF haben die Niederlande nicht gewahrt. Sie haben nicht innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises des Klägers (18. Juni 2016), d.h. bis zum 19. Dezember 2016 einen Antrag auf Wiederaufnahme des Klägers durch die Bundesrepublik Deutschland gestellt.
166Das Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung der Flüchtlinge enthält auch keine Bestimmungen, aus denen sich eine Hemmung oder Unterbrechung der Frist für die Stellung des Wiederaufnahmeantrags ergeben könnte. Insbesondere kann Art. 2 Abs. 2 lit. d EÜÜVF nicht herangezogen werden. Hiergegen spricht bereits der eindeutige Wortlaut der Bestimmung, die lediglich Regelungen für die Berechnung der „in Absatz 1“ bezeichneten Frist, d.h. die Zweijahresfrist des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 EÜÜVF, enthält. Auch die systematische Stellung des Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF hinter Art. 2 Abs. 2 EÜÜVF spricht gegen eine Anwendung der Fristberechnungsregelung auf den vierten Übergangsfall.
167Vgl. auch: Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2. August 2018 - 8 ME 42/18 ‑, juris, Rn. 40.
168Das vorstehende Ergebnis der Subsumtion unter den Wortlaut des Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 EÜÜVF führt auch nicht zu einem Widerspruch zu den Wertungen der Art. 2 Abs. 1 und 2 EÜÜVF. Aus einer Zusammenschau der Regelungen in Art. 2 Abs. 2 lit. a EÜÜVF (Nichtberücksichtigung u.a. von Studienaufenthalten), Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 EÜÜVF („dauernder Verbleib“) und Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 3 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 und Nr. 1 der Anlage EÜÜVF (Vorbehalt bei Studienaufenthalten) lässt sich zwar der Wille der Vertragsparteien entnehmen, dass Studienaufenthalte nicht übergangsbegründend wirken sollen, da diese grundsätzlich weder von der Absicht des Flüchtlings getragen sind, sich in dem Gebiet des Zweitstaats niederzulassen, noch von dem Willen des Zweitstaates, diesen aufzunehmen, und da ein Verantwortungsübergang deren grundsätzlich zeitlich befristetem Charakter nicht gerecht wird.
169Vgl. Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 23, Denkschrift zum EÜÜVF, S. 15.
170Die Wertungen des Art. 2 Abs. 1 und 2 EÜÜVF können jedoch nicht auf den Verantwortungsübergang nach Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 EÜÜVF übertragen werden, da dieser einen eigenständigen Übergangsfall enthält, der den Übergang der Verantwortung unabhängig von bestimmten Anforderungen an Art und Natur des Aufenthalts des Flüchtlings sowie von einer (ausdrücklichen oder konkludenten) Zustimmung der Behörden des Zweitstaates allein an das zeitliche Kriterium des Ablaufs der Sechsmonatsfrist für den Wiederaufnahmeantrag knüpft.
171Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF. So zeigt die Formulierung „auch dann“, dass die Bestimmung einen eigenständigen Übergangsfall beinhaltet, der neben die in Art. 2 Abs. 1 und 2 EÜÜVF geregelten Fälle des Verantwortungsübergangs tritt und diesen unabhängig von den dort festgelegten Voraussetzungen regelt. Auch der von Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF in Bezug genommene Art. 4 Abs. 1 greift nach dessen Satz 1 ausdrücklich nur, „solange die Verantwortung nicht nach Art. 2 Abs. 1 und 2 EÜÜVF übergegangen ist“. Das Vorliegen der Voraussetzungen der Art. 2 Abs. 1 und 2 EÜÜVF im Fall des Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF ist damit gerade ausgeschlossen. Nach dem von Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF ebenfalls in Bezug genommenen Art. 4 Abs. 2 EÜÜVF ist für einen Verantwortungsübergang nicht einmal die Kenntnis des Zweitstaates vom Aufenthalt des Flüchtlings in seinem Gebiet und damit auch keine Zustimmung der Behörden des Zweitstaates erforderlich. In Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Nr. 2 der Anlage EÜÜVF ist insofern lediglich die Möglichkeit eines Vorbehaltes der Vertragsstaaten vorgesehen - von dem die Bundesrepublik Gebrauch gemacht hat -, um die Anwendung dieser Bestimmung aufgrund ihres Ausnahmecharakters auszuschließen, da sie für den Verantwortungsübergang gerade kein Einvernehmen der Behörden des Zweitstaates mit dem Aufenthalt des Flüchtlings vorsieht.
172Vgl. Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 30.
173Ferner bestimmt Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF als Voraussetzung für den Verantwortungsübergang ausdrücklich nur die fehlende Möglichkeit der Beantragung der Wiederaufnahme des Flüchtlings durch den Erststaat nach Art. 4 EÜÜVF. Die Möglichkeit der Beantragung der Wiederaufnahme des Flüchtlings wird in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF für den Fall des Ablaufs der Gültigkeit des Reiseausweises wiederum allein an die Bedingung geknüpft, dass der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises gestellt wird. Anforderungen in Bezug auf die Art oder Natur des Aufenthalts des Flüchtlings oder das Vorliegen einer (ausdrücklichen oder konkludenten) Zustimmung des Zweitstaates enthält die Bestimmung im Gegensatz zu Art. 2 Abs. 1 und 2 EÜÜVF hingegen nicht.
174Auch die Systematik des Art. 2 EÜÜVF spricht gegen eine Übertragung der Anforderungen des Art. 2 Abs. 1 und 2 EÜÜVF auf Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF. Zum einen weist die nachgeordnete Stellung der Bestimmung auf deren Charakter als eigenständiger Übergangsfall hin. Zum anderen enthält Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF anders als Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 i.V.m. Abs. 2 lit. a EÜÜVF (Nichtberücksichtigung von Studienaufenthalten), Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 EÜÜVF (dauernder Verbleib) und Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 3 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 und Nr. 1 der Anlage EÜÜVF (Vorbehalt bei Studienaufenthalten) gerade keine den Verantwortungsübergang ausschließende Ausnahmeregelung für Studienaufenthalte im Zweitstaat. Die Bestimmung erfasst daher alle Fälle, die von Art. 2 Abs. 1 und 2 EÜÜVF nicht erfasst sind, namentlich Aufenthalte des Flüchtlings mit Zustimmung des Zweitstaates, die nicht die Zweijahresfrist erreichen oder nicht auf einen dauerhaften oder längeren Aufenthalt als die Gültigkeit des Reiseausweises gerichtet sind, sowie auch Aufenthalte des Flüchtlings ohne jede Zustimmung des Zweitstaates.
175Dieses Verständnis von Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF im Falle von Studienaufenthalten widerspricht ferner auch nicht dem in Art. 2 Abs. 1 EÜÜVF zum Ausdruck kommenden Willen der Vertragsparteien, dass grundsätzlich jeder Vertragsstaat die Entscheidungsfreiheit darüber behalten soll, ob er einen aus einem anderen Vertragsstaat eingereisten Flüchtlingen dauerhaft aufnehmen will oder nicht, und dass grundsätzlich nur die auf einer Mitwirkung des Zweitstaates beruhende Aufenthaltsgewährung die Verantwortung übergehen lassen soll.
176Vgl. Denkschrift zum EÜÜVF, S. 14 f.
177Denn die Entscheidungsfreiheit des Zweitstaates darüber, ob er einen eingereisten Flüchtlingen dauerhaft aufnehmen möchte oder nicht, wird auch bei Studienaufenthalten im Fall des Art. 4 Abs. 1 EÜÜVF, in dem der Zweitstaat Kenntnis von dem Aufenthalt des Flüchtlings hat, dadurch gewahrt, dass er sechs Monate Zeit hat, die Wiederaufnahme des Flüchtlings durch den Erststaat zu beantragen. Es liegt daher allein in seinem Verantwortungsbereich, ob er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht oder nicht.
178Vgl. Denkschrift zum EÜÜVF, S. 16; Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 29.
179Eine einschränkende Auslegung von Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 EÜÜVF ist allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn aufgrund objektiver Anhaltspunkte sicher festzustellen wäre, dass der Flüchtling trotz seines Aufenthalts im Zweitstaat (vgl. Art. 1 lit. d EÜÜVF „anwesend ist“) den Wohnsitz im Erststaat gerade nicht aufgegeben hat und dort weiterhin niedergelassen ist, d.h. seinen Lebensmittelpunkt dort beibehalten hat.
180Dies dürfte zum einen aus dem Erfordernis der Wiederaufnahme durch den Erststaat abzuleiten sein, woran Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF den Verantwortungsübergang knüpft. Eine Wiederaufnahme durch den Erststaat setzt nämlich voraus, dass der Flüchtling den Erststaat überhaupt verlassen, d.h. dort nicht mehr seinen Wohnsitz oder seine Niederlassung und damit seinen Lebensmittelpunkt hat.
181Zum anderen dürfte sich eine solche Einschränkung auch aus dem Sinn und Zweck des Übereinkommens ergeben, wie er insbesondere auch in dessen Präambel zum Ausdruck kommt, nämlich im Interesse einer Erleichterung der Anwendung des Art. 28 GFK und der §§ 6 und 11 Anhang-GFK einheitliche Regelungen für den Übergang der Verantwortung auf einen anderen Staat in Fällen von Wohnortwechsel und (rechtmäßiger) Niederlassung von Flüchtlingen in einem anderen Vertragsstaat zu treffen, wobei objektive, insbesondere zeitliche Kriterien zugrunde gelegt werden sollen.
182Vgl. Denkschrift zum EÜÜVF, S. 14.
183Diese objektiven Kriterien enthält Art. 2 EÜÜVF, der die Bedingungen festgelegt, unter denen von einem Verantwortungsübergang auszugehen ist, ohne dabei den Begriff des Wohnsitzwechsels oder der Niederlassung, wie er in den §§ 6 und 11 Anhang-GFK zu finden ist, zu definieren.
184Vgl. Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 20.
185Beinhaltet Art. 2 EÜÜVF aber in allen Übergangsfällen eine Konkretisierung bzw. Umschreibung der Fälle von Wohnortwechsel und Niederlassung in einem anderen Vertragsstaat, setzt diese Bestimmung notwendigerweise auch in Absatz 3 einen solchen Wohnortwechsel bzw. eine solche Niederlassung implizit voraus.
186Ferner bezweckt Art. 4 EÜÜVF, dass es innerhalb einer angemessenen Frist zu einer an objektiven Kriterien orientierten Klärung der Verantwortlichkeit zwischen Erst- und Zweitstaat kommt, wobei insgesamt ein Gleichgewicht zwischen den gegenseitigen Verpflichtungen hergestellt werden soll.
187Vgl. Denkschrift zum EÜÜVF, S. 16 und Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 30.
188Dieser Zweck dürfte aber nicht erreicht werden können, wenn seinerseits nicht hinreichend klar ist, welchem Staat der Flüchtling im Zeitpunkt des Ablaufs der Gültigkeitsdauer des Reiseausweises für Flüchtlinge räumlich zuzuordnen ist, so etwa im Falle eines Grenzpendlers, der in beiden Staaten "anwesend ist". Es erscheint auch nicht sachgerecht, in einem solchem Fall dem Staat, in den der Flüchtling vom Erststaat aus pendelt, die Verantwortung für dessen Flüchtlingsstellung allein deshalb zu übertragen, weil er dort (auch) "anwesend ist". Dies würde weder den Interessen des Zweitstaates noch denen des Flüchtlings gerecht, die indes bei der Anwendung des Übereinkommens gerade Berücksichtigung finden sollen.
189Vgl. dazu: Denkschrift zum EÜÜVF, S. 14.
190Letztlich kann dies vorliegend aber dahinstehen. Denn auch unter Berücksichtigung einer solchen an Sinn und Zweck des Übereinkommens orientierten Einschränkung des Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF verbliebe es dabei, dass die Verantwortung vorliegend auf die Niederlande übergangen ist. Es kann nämlich nicht festgestellt werden, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Ablaufs der Gültigkeitsdauer seines Reiseausweises für Flüchtlinge seinen Wohnsitz in B. nicht aufgegeben hatte und dort weiterhin niedergelassen war, d.h. seinen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik Deutschland beibehalten hatte.
191Die Bestimmung, wo der Flüchtling seinen Lebensmittelpunkte hat, hat unter Berücksichtigung der objektiven Umstände des Einzelfalls zu erfolgen, während es daher auf den inneren Willen des Flüchtlings nicht ankommen kann, da andernfalls der mit Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF verfolgte Zweck, anhand objektiver Kriterien die Verantwortlichkeiten zwischen den Vertragsstaaten zu klären, nicht erreicht werden könnte.
192Vgl. ähnlich zu § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 2012 - 1 C 15.11 -, juris, Rn. 16; OVG NRW, Beschluss vom 24. April 2007 - 18 B 2764/06 -, juris, Rn. 8 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 9. November 2015 - 11 S 714/15 -, juris, Rn. 43.
193So können neben dem Zweck der Ausreise insbesondere die Beibehaltung von Beziehungen im Bundesgebiet, die Aufgabe von Arbeitsplatz und Wohnung, die Anmietung oder der Erwerb von Wohnraum im Zielstaat der Ausreise, eine ordnungsbehördliche Abmeldung, die Mitnahme von Hausrat, die Kündigung von Bankverbindungen und Versicherungen oder die Auszahlung von im Bundesgebiet erworbenen Rentenanwartschaften von Bedeutung sein. Zu berücksichtigen sind zudem die im Lichte von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK schutzwürdigen Bindungen des Ausländers.
194Vgl. jeweils m.w.N: Fleuß, in Kluth/Heusch: BeckOK Ausländerrecht, 30. Edition, Stand: 1. Juli 2021, § 51 AufenthG Rn. 32; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 51 AufenthG Rn. 12 f.
195In Anwendung dieser Maßstäbe kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger nach der Begründung eines Wohnsitzes in N. im September 2015 nach Einholung eines Visums am 27. August 2015 und Erhalt einer niederländischen Aufenthaltserlaubnis am 28. August 2015 seinen Lebensmittelpunkt weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland hatte. Der Kläger hatte ab September 2015 vielmehr seine sozialen und beruflichen Beziehungen in N. , wo er zwecks eines dreijährigen Vollzeitstudiums auch einen eigenen Wohnraum angemietet hatte, während er in der Bundesrepublik über keine bedeutsamen sozialen Kontakte und insbesondere auch keine nach Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK schutzwürdigen familiären Bindungen mehr verfügte.
196Der Kläger ist mit einem Schengenvisum der Kategorie D, d.h. mit einem nationalen Visum für einen längerfristigen Aufenthalt in die Niederlande eingereist. Hier hat er in N. ein Studium mit - wie sich aus dem vorgelegten BAföG-Bescheid der Bezirksregierung L. vom 5. August 2020 und den von der Universität N. bereitgestellten Informationen,
197vgl. https://www.maastrichtuniversity.nl/education/bachelor/business-engineering, zuletzt aufgerufen am 9. Dezember 2021,
198ergibt - einer Regelstudienzeit von drei Jahren aufgenommen, das er auch vollständig und nicht nur teilweise dort absolvieren wollte. Dies folgt bereits daraus, dass er nach eigenen Angaben wegen seines philippinischen Schulabschlusses in Deutschland kein Studium hat aufnehmen können. Schon diese Umstände sprechen gegen eine Beibehaltung des Lebensmittelpunktes im Bundesgebiet.
199Vgl. auch ähnlich zu einem vollständigen Vollzeitstudium: BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 2012 - 1 C 15.11 -, juris, Rn. 16; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 9. November 2015 - 11 S 714/15 -, juris, Rn. 43.
200Der Kläger ist zu diesem Zweck nach N. in eine angemietete Wohnung (Studentenapartment) gezogen, wo er sich unter dem 29. September 2015 auch melderechtlich hat erfassen lassen, während er im Hinblick auf seinen Wohnsitz in B. jedenfalls nachträglich die Abmeldung vorzunehmen beabsichtigte. Dies ergibt sich aus dem Aktenvermerk über die Vorsprache des Klägers bei der Ausländerbehörde der Beklagten am 29. August 2016, in dem festgehalten ist, dass der Kläger seit einem Jahr wegen seines Studiums in N. lebe und nicht gewusst habe, dass er sich abmelden müsse, er dies aber nun veranlassen werde. Dem ist der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten. Zwar hat er in der mündlichen Verhandlung darauf verwiesen, dass lediglich von der Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde vermerkt worden sei, dass er sich so geäußert habe. Er hat aber nicht konkret dargelegt, dass und vor allem inwieweit die Angaben des Aktenvermerks seine Einlassung bei der Vorsprache unzutreffend wiedergeben. Angesichts dessen kommt es nicht darauf, dass die von der Beklagten zur Akte gereichte Abmeldung des Klägers von Amts wegen zum 1. September 2015 im Widerspruch zu der vom Kläger vorgelegten Meldebestätigung vom 15. August 2020 steht, wonach er seit Juli 2012 durchgehend in B. gemeldet gewesen ist. In B. hatte der Kläger ferner lediglich sein Zimmer in der Wohnung seiner Familie behalten, das er sich anfangs noch mit seiner Schwester geteilt hat. Diesbezüglich hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung bekundet, die räumlichen Verhältnisse in B. seien für drei Erwachsene "problematisch", da sehr beengt gewesen. Unter diesen Umständen ist von einer Beibehaltung des "Jugendzimmers" als Lebensmittelpunkt nicht auszugehen.
201Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, dass die Anmietung des Apartments in N. nur dem Umstand geschuldet gewesen sei, dass die bestehende Busverbindung zwischen B. und N. es nicht ermöglicht habe, morgens pünktlich für studienbezogene Termine in N. zu sein, ändert dies nichts daran, dass dem die bewusste Entscheidung des Klägers zugrunde lag, unter wesentlichen Veränderungen seiner Lebensverhältnisse im Bundesgebiet ein Studium im Ausland aufzunehmen.
202Überdies hat der Kläger auch tatsächlich sein Leben unter der Woche in N. geführt und hier seine sozialen und beruflichen Beziehungen gehabt. Er hat dort nicht nur studiert, sondern ist auch einer Erwerbstätigkeit nachgegangen (Tellerwäscher in einem Restaurant) und hat die Abende mit seinen Freunden verbracht. In B. hatte der Kläger dagegen nach eigenen Angaben keine bedeutsamen sozialen Kontakte mehr. Seine Freunde hätten vielmehr mit ihm N. studiert und seien ebenfalls an den Wochenenden nach Hause zu ihren Familien gefahren, die nicht in B. gelebt hätten. In N. hat er sich außerdem bereits im Jahr 2016 in fachärztliche, psychologische Behandlung begeben. Der Umstand, dass sich der Kläger an den Wochenenden und in den Semesterferien bei seiner Familie in B. aufgehalten hat, führte unter diesen Umständen nicht zur Beibehaltung des Lebensmittelpunktes in Deutschland. Diese kurzzeitigen Besuchsaufenthalte waren lediglich mit einem jeweils vorübergehenden Aufenthalt in B. verbunden und tangierten den Schwerpunkt der Lebensführung in den Niederlanden nicht.
203Vgl. ähnlich zu einem Grenzpendler: Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 10. Juli 1997 - 14 REg 8/96 -, juris, Rn. 10; VG B. , Beschluss vom 16. Mai 2017 - 8 K 1767/15 -, n.v., S. 3 f.
204So hat sich der Kläger auch nach seiner eigenen Auflistung während der Studienzeit von insgesamt 39 Monaten (= ca. 1170 Tage) nur ca. 16,4 Monate (= 493 Tage) in Deutschland, demnach überwiegend in den Niederlanden aufgehalten. Der Kläger hat auch nicht etwa vorgetragen, in B. sonstige soziale oder gesellschaftliche Aktivitäten entfaltet zu haben. Soweit er in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, er habe sich in B. immer um seine "persönlichen Angelegenheiten" gekümmert, hat er dies nicht näher substantiiert.
205Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger für sein Studium Auslands-BAföG erhalten hat. Dieses setzt zwar einen ständigen Wohnsitz in Deutschland voraus (vgl. §§ 5 Abs. 1 und 7, 8 Abs. 2 Nr. 1 BAföG). Allerdings gehen von der Entscheidung des BAföG-Amts keine Präjudizwirkungen für die Beklagte oder das Gericht aus. Überdies ist - worauf die Beklagte zutreffend hingewiesen hat - schon nicht zu erkennen, inwieweit und nach welchen Maßstäben im Rahmen der BAföG-Gewährung der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers geprüft worden ist. Es spricht Einiges dafür, dass sich das zuständige BAföG-Amt bei seiner Entscheidung schlicht an der Niederlassungserlaubnis des Klägers orientiert hat (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 2 BAföG). Dieser trägt zudem selbst vor, dass er nach Vernichtung des Aufenthaltstiteldokumentes keinen Nachweis über den gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet für die Gewährung des BAföG hatte.
206Die familiären Bindungen des im Zeitpunkt der Aufnahme des Studiums bereits volljährigen Klägers zu seiner Mutter und seiner kurz nach der Wohnsitznahme in den Niederlanden (Februar 2016) volljährig gewordenen Schwester in B. gebieten ebenfalls keine andere Bewertung. Diese Bindungen unterfallen grundsätzlich schon nicht mehr den Schutzwirkungen von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Bei Beziehungen zwischen volljährigen Familienmitgliedern entstehen aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen nur unter der Voraussetzung, dass ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, bzw. wenn über die sonst üblichen Bindungen hinaus zusätzliche Merkmale einer Abhängigkeit vorhanden sind.
207Vgl. nur: OVG NRW, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - 18 B 1398/20 -, juris, Rn. 4 ff. m.w.N.
208Bei Geschwistern bedarf es zudem auch bei Minderjährigkeit eines der Geschwister grundsätzlich einer solchen Abhängigkeit, die über die normale emotionale Bindung zwischen Geschwistern, mag diese auch eng sein, hinausreicht.
209Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 4. März 2019 - 11 S 459/19 -, juris, Rn. 14.
210Anhaltspunkte für eine solche Beistandsgemeinschaft im Zeitpunkt der Aufnahme des Studiums sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Solche ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass die Mutter des Klägers dessen Wäsche gewaschen und ihm Essen für das Leben unter der Woche in N. gekocht und mitgegeben hat. Auch der vorgelegten Stellungnahme des MET vom 23. Oktober 2019 zur psychischen Verfassung des Klägers lässt sich nichts dahingehend entnehmen, dass der Kläger auf die Lebenshilfe seiner Mutter oder seiner Schwester angewiesen wäre. Diese beschreibt lediglich die Fortschritte des Klägers im Jahr 2018 im Hinblick auf sein negatives Coping-Verhalten ("Kiffen und Trinken in schwierigen Augenblicken"), seine Auseinandersetzung mit seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen im Hinblick auf die im Rahmen seiner Erziehung vermittelten Werte sowie den einvernehmlichen Behandlungsabbruch im Jahr 2019 wegen der Probleme des Klägers mit seinem Aufenthaltsstatus. Soweit in der Stellungnahme ausgeführt wird, das Bedürfnis des Klägers auf Verbundenheit habe im Jahr 2018 zugenommen, lässt dies in keiner Weise ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis, zumal bei Aufnahme des Studiums erkennen.
211Auch ungeachtet der nicht eingreifenden Schutzwirkungen von Art. 6 GG und 8 ERMK ist festzuhalten, dass der Kläger im Zeitpunkt der Aufnahme des Studiums bereits 23 Jahre alt und damit auch kein Heranwachsender (vgl. § 1 Abs. 2 JGG) mehr war. Es handelte sich bei ihm somit um einen selbständige Entscheidungen treffenden Erwachsenen, sodass auch altersbedingt allein aufgrund des Wohnortes seiner Familie in B. keine Rückschlüsse auf den Ort seines Lebensmittelpunktes gezogen werden können.
212Angesichts dessen kann die Lebenssituation des Klägers auch nicht mit Fällen verglichen werden, in denen sich ein minderjähriges Kind etwa zu Schulaufenthalten in einen anderen Staat begibt, aufgrund der familiären Bindungen zu seinen Eltern aber seinen Lebensmittelpunkt weiter an deren Aufenthaltsort hat,
213vgl. insoweit: BayVGH, Urteil vom 2. November 2010 - 10 B 09.1771 -, juris, Rn. 25,
214oder aber ein Ehegatte oder Elternteil minderjähriger Kinder sich unter der Woche an einem anderen Ort zum Zwecke der Erwerbstätigkeit aufhält und ebenso wegen seinen familiärem Bindungen seinen Lebensmittelpunkt am Aufenthaltsort der Familie beibehält.
215Allein der innere Wille des Klägers, der in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, stets vorgehabt zu haben, nach Abschluss seines Studiums einer Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik nachzugehen, vermag somit aufgrund der objektiven, für eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes sprechenden Umstände zu keinem anderen Ergebnis zu führen. Im Übrigen hat der Kläger auch schon mit Blick auf das in Rede stehende, nur in den Niederlanden mögliche Studium gezeigt, dass er, wenn er beruflich in der Bundesrepublik Deutschland nicht weiterkommt, räumlich nicht auf das Bundesgebiet festgelegt ist, sodass dieser Angabe nur ein geringes Gewicht beigemessen werden kann.
216Eine Rückverlagerung des Lebensmittelpunktes des Klägers in das Bundesgebiet kann hier frühestens zum 1. Dezember 2018 und damit nach Ablauf des Reiseausweises am 18. Juni 2016 und der gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF in Gang gesetzten Sechs-Monats-Frist angenommen werden. Erst seit diesem Zeitpunkt hält sich der Kläger nach eigenen Angaben wieder ausschließlich in Deutschland auf.
217Nach alledem ist nach Art. 5 Abs. 1 EÜÜVF die Zuständigkeit Deutschlands für die Ausstellung des Reiseausweises erloschen und auf die Niederlande übergegangen.
218(5) Die Verantwortung ist auch nicht wieder von den Niederlanden zurück auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.
219Entgegen der Ansicht des Klägers ist ein solcher Rückübergang nicht bereits dadurch erfolgt, dass die Niederlande seine Aufenthaltserlaubnis nach Ablauf am 1. Dezember 2018 nicht verlängert haben.
220Zwar wird in der Kommentarliteratur zu § 51 Abs. 7 Satz 2 AufenthG teilweise die Ansicht vertreten, dass die Flüchtlingsverantwortung eines anderen (dritten) Staates erlösche, wenn der Flüchtling dort eine verfestigte aufenthaltsrechtliche Position verloren habe, sodass die Schutzbedürftigkeit des Flüchtlings wieder auflebe und dem Betroffenen unmittelbar nach § 25 Abs. 2 AufenthG der Aufenthalt im Bundesgebiet wieder zu ermöglichen sei.
221Vgl. Berlit, GK-AufenthG, 105 Lfg., § 51 AufenthG Rn. 123; ähnlich Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 51 AufenthG Rn. 22; Hailbronner, Ausländerrecht, Oktober 2021, § 51 AufenthG Rn. 59; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, 13. Auflage 2020, § 51 AufenthG Rn. 38; vgl. auch: Hessischer VGH, Beschluss vom 1. Februar 2021 - 3 B 1013/20 -, juris, Rn. 15, unter Bezugnahme auf diese Kommentarstellen, wobei ein Verantwortungsübergang (auf Dänemark) gar nicht stattgefunden hatte.
222Dem kann aber nicht gefolgt werden.
223Bereits die dieser Ansicht zugrundeliegende Prämisse, dass die Flüchtlingsverantwortung eines Vertragsstaates ersatzlos, d.h. ohne Übergang auf einen anderen Vertragsstaat, erlöschen könne, vermag nicht zu überzeugen. Ein solches Erlöschen der Verantwortung ist weder in der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. §§ 6 und 11 Anhang-GFK) noch im Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vorgesehen. Vielmehr liegt der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Übereinkommen gerade der Wille der Vertragsstaaten zugrunde, das Entstehen derartiger "Zuständigkeitslöcher" auszuschließen. Entsprechend bleibt der Erststaat nach den §§ 6 und 11 Anhang-GFK und Art. 3 EÜÜVF solange dazu verpflichtet, den Reiseausweis des Flüchtlings zu verlängern oder zu erneuern, bis die Verantwortung auf einen anderen Vertragsstaat übergegangen ist. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Übereinkommen ist damit immer einer der Vertragsstaaten zuständig; den Zustand, dass kein Vertragsstaat zuständig ist, kennt weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch das Übereinkommen.
224Vgl. hierzu: Erläuternder Bericht zum EÜÜVF, Abs. 10 und 26.
225Dieses Ziel verfolgt im Übrigen auch § 51 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Die Vorschrift soll verhindern, dass ein Flüchtling in ein "Zuständigkeitsloch" fällt, indem sie gewährleistet, dass ein Flüchtling selbst im Falle der Ausreise und des Ablaufs seines Reiseausweises (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 bzw. 7 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) solange jederzeit wieder im Bundesgebiet aufgenommen wird, bis die Verantwortung auf einen anderen Staat übergegangen ist.
226Vgl. BT-Drs. 15/420, S. 89 ff.; Hessischer VGH, Beschluss vom 1. Februar 2021 - 3 B 1013/20 -, juris, Rn. 15.
227Überdies lässt sich die Annahme, dass die Flüchtlingsverantwortung allein wegen des Wegfalls der Aufenthaltsverfestigung erlischt, auch nicht mit Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 EÜÜVF vereinbaren. Wie ausgeführt kann die Verantwortung hiernach unabhängig von der Zustimmung des Zweitstaates und damit auch bei einer von vornherein fehlenden Aufenthaltsverfestigung dort auf den Zweitstaat übergehen.
228Gegen eine solche Annahme spricht zudem Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK. Diese Bestimmung sieht in Ergänzung zu Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK vor, dass die Vertragsstaaten auch jedem anderen Flüchtling, der sich in ihrem Gebiet befindet, d.h. solchen, für die Satz 1 keine Anwendung findet, einen Reiseausweis für Flüchtlinge ausstellen. Sie vermittelt daher einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über dem Antrag auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge, die sich nicht rechtmäßig im Gebiet eines Vertragsstaates aufhalten. Das Nichtbestehen bzw. der Verlust eines Aufenthaltsrechts in einem Vertragsstaat führt daher im Rahmen der Anspruchsnorm des Art. 28 GFK dazu, dass anstatt eines gebundenen Anspruchs nur ein Ermessensanspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge besteht. Davon zu unterscheiden ist die den Anspruchsvoraussetzungen des Art. 28 GFK vorgelagerte Frage, welcher Vertragsstaat für die Erfüllung des Anspruchs aus Art. 28 GFK (gebunden oder nach Ermessen) zuständig ist. Diese Frage bestimmt sich aber allein nach den §§ 6 und 11 Anhang-GFK und dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge.
229Ein Rückübergang der Verantwortung von den Niederlanden auf die Bundesrepublik Deutschland kann sich daher allein nach den Vorgaben des Art. 2 EÜÜVF vollzogen haben. Hierzu ist es aber im Falle des Klägers nicht gekommen.
230Die Beklagte hat bereits unmittelbar nach Kenntnis vom Studienaufenthalt des Klägers in den Niederlanden bei dessen Vorsprache am 29. August 2016 dessen Aufenthaltstiteldokument vernichtet sowie die Verlängerung des Reiseausweises abgelehnt und auch keinen anderweitigen Aufenthaltstitel erteilt. Sie hat zudem ausdrücklich auf die Verantwortung der Niederlande verwiesen und den Kläger seither nur noch geduldet. Damit hat die Beklagte als zuständige Behörde der Bundesrepublik Deutschland nach den vorstehenden Maßstäben weder einem tatsächlichen und dauernden Aufenthalt des Kläger zugestimmt, noch diesem gestattet, sich (dauernd oder länger als für die Gültigkeitsdauer des Reiseausweises) in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten (Art. 2 Abs. 1 EÜÜVF). Ein Übergang nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Fall 3 EÜÜVF würde auch bereits deshalb ausscheiden, da der Kläger über keinen von den Niederlanden ausgestellten Reiseausweis verfügte. Daher kommt auch ein erneuter Zuständigkeitswechsel nach Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF nicht in Betracht.
231Insbesondere hat die Bundesrepublik Deutschland auch nicht von der ihr in Art. 8 Abs. 2 EÜÜVF eröffneten Möglichkeit zur Rückübernahme der Verantwortung Gebrauch gemacht. Danach ist das Übereinkommen nicht so auszulegen ist, als hindere es eine Vertragspartei, die Vorteile des Übereinkommens auf Personen zu erstrecken, welche die festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllen (sog. Selbsteintrittsrecht).
232Vgl. dazu: Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2. August 2018 - 8 ME 42/18 -, juris, Rn. 42 ff.; VG Saarlouis, Beschluss vom 17. September 2021 - 6 L 964/21 -, juris, Rn. 10 f.
233Die im Nachgang zur mündlichen Verhandlung von der Beklagten geäußerte Bereitschaft, von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, hat sich angesichts der gescheiterten Vergleichsverhandlungen der Beteiligten nicht verwirklicht.
234Die Kammer hat entgegen der Anregung des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung auch keinen Anlass, die Frage des Verantwortungsübergangs dem Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 UAbs. 2 AEUV zur Vorabentscheidung vorzulegen. Als erstinstanzliches Gericht ist die Kammer nur dann ausnahmsweise zur Vorlage nach Art. 267 UAbs. 2 AEUV verpflichtet, wenn es eine Vorschrift des Unionsrechts oder eine sonstige Handlung eines Unionsorgans für ungültig erachtet und außer Anwendung lassen will.
235Vgl. Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Urteil vom 22. Oktober 1987 - 314/85 (Foto Frost) -, juris, Rn. 15; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 267 AEUV Rn. 29; Dörr, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, Europäischer Verwaltungsrechtschutz Rn. 124 m.w.N.
236Da ein solcher Fall hier nicht gegeben ist, ist die Kammer lediglich zur Vorlage berechtigt. Hierzu besteht aber keine Veranlassung. Es besteht schon kein tauglicher Vorlagegegenstand. Das Vorlageverfahren des Art. 267 AEUV bezieht sich nach Unterabsatz 1 der Vorschrift allein auf die Auslegung der Verträge sowie die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Darüber hinaus erstreckt der Gerichtshof der Europäischen Union seine Auslegungskompetenz auf völkerrechtlichen Verträge, die die Europäische Union selbst abgeschlossen hat.
237Vgl. zu Letzterem: EuGH, Urteil vom 12. Dezember 1995 - C-469/94 (Chiquita Italia) -, juris, Rn. 40 ff.; Dörr, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, Europäischer Verwaltungsrechtschutz Rn. 108 m.w.N.
238Das in Rede stehe Europäische Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge hat die Europäische Union nicht selbst unterzeichnet und ratifiziert. Das Übereinkommen ist daher auch kein integrativer Bestandteil des Unionsrechts. Die Auslegung des Art. 28 GFK selbst, der aufgrund seiner unionsrechtlichen Fundierung in Art. 25 QRL als Vorlagegegenstand in Betracht kommen könnte,
239vgl. dazu m.w.N.: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. Juni 2020 - 12 S 1163/20 -, juris, Rn. 30 f.,
240steht hier nicht in Rede.
241Unabhängig davon dessen kann die Kammer den Inhalt der hier entscheidungserheblichen Normen unter Anwendung der anerkannten Auslegungsmethoden für völkerrechtliche Verträge selbst ermitteln. Zudem handelt es sich bei der aufgrund einer in Betracht gezogenen einschränkenden Auslegung des Art. 2 Abs. 3 EÜÜVF geprüften Frage, ob der Kläger seinen Lebensmittelpunkt noch im Bundesgebiet hatte, um eine Würdigung des tatsächlichen Umstände und nicht um eine Rechtsfrage.
242b) Ein Anspruch des Klägers auf Ausstellung eines Reiseausweises aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK scheidet ebenfalls aus.
243Nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK, auf den sich der Kläger - wie ausgeführt - unmittelbar berufen kann, können die vertragschließenden Staaten einen Reiseausweis jedem anderen Flüchtling ausstellen, der sich in ihrem Gebiet befindet; sie werden ihre Aufmerksamkeit besonders jenen Flüchtlingen zuwenden, die sich in ihrem Gebiet befinden und nicht in der Lage sind, einen Reiseausweis von dem Staat zu erhalten, in dem sie ihren rechtmäßigen Aufenthalt haben.
244Nach dieser Vorschrift ist es zwar insbesondere nicht erforderlich, dass der Flüchtling sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, woran es im Fall des Klägers im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung fehlt (hierzu näher unter B.) Auch kann das der Ausländerbehörde eingeräumte Ermessen ("können) - namentlich wegen der Wohlwollensklausel des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GFK - im Einzelfall zu Gunsten des Flüchtlings auf "null" reduziert sein.
245Vgl. zu Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK: BVerwG, Urteile vom 13. Dezember 2005 - 1 C 36.04 -,juris, Rn. 23; vgl. auch bereits: BVerwG, Urteil vom 16. Oktober 1990 - 1 C 15.88 -, juris, Rn. 26.
246Darauf kommt es vorliegend aber nicht an. Denn ein Anspruch des Klägers auf eine Ermessensentscheidung scheidet bereits deshalb aus, weil es wegen des Übergangs der Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge auf die Niederlande nach Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF auch insoweit an der Passivlegitimation der Beklagten fehlt. Auf die vorstehenden Ausführungen unter a) wird Bezug genommen. Dementsprechend kann auch dahinstehen, ob der Kläger in der Lage ist, von den Niederlanden einen Reiseausweises für Flüchtlinge zu erhalten (vgl. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GFK und § 6 Abs. 3 Anhang-GFK).
2472. Demnach kann der Kläger mangels Passivlegitimation der Beklagten auch nicht nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK die Bescheidung seines Antrags auf Erteilung eines Reiseausweises für Flüchtlinge durch die Beklagte unter der Rechtsaufassung des Gerichts beanspruchen. Auf die vorstehenden Ausführungen unter 1. wird verwiesen.
248B. Soweit der Kläger die Neuausstellung seiner Niederlassungserlaubnis mit Gültigkeit ab dem 4. Juni 2014 unter "Notifizierung" der Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit begehrt, ist die Klage zulässig (I.), aber ebenso unbegründet (II.).
249I. Die Klage auf Neuausstellung der Niederlassungserlaubnis mit Gültigkeit ab dem 4. Juni 2014 ist zulässig.
2501. Insbesondere ist der Antrag als allgemeine Leistungsklage (§§ 43 Abs. 2, 111 Satz 1, 113 Abs. 4 VwGO) statthaft.
251Die allgemeine Leistungsklage ist vorliegend die statthafte Klageart, da die Neuausstellung eines - wie hier - durch die Ausländerbehörde vernichteten Aufenthaltstiteldokuments grundsätzlich keinen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG, sondern einen bloßen Realakt darstellt. Es fehlt an der Regelungswirkung. Ein solches neu ausgestellte Aufenthaltsdokument vermag ebenso wie eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 3 und 4 AufenthG),
252vgl. dazu: BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1997 - 1 C 7.96 -, juris, Rn. 27; und Beschluss vom 21. Januar 2010 - 1 B 17.09 -, juris, Rn. 7; Hessischer VGH, Beschluss vom 20. Oktober 2016 - 7 B 2174/16 -, juris, Rn. 30; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 12. Dezember 2013 - 8 ME 162/13 ‑, juris, Rn. 21,
253nur deklaratorischen Charakter zu entfalten. Sie gibt ebenso wie die Vernichtung des Aufenthaltstiteldokuments (actus contrarius),
254vgl. entsprechend zur Ungültig-Stempelung: BVerwG, Urteil vom 20. November 1990 - 1 C 8.89 -, juris, Rn. 15 ff.; VG Berlin, Urteil vom 27. Januar 2011 - 20 K 29.10 -, juris, Rn. 22; VG München, Beschluss vom 14. Dezember 2006 - M 10 S 06.4449 -, juris, Rn. 2 und Urteil vom 16. März 2011 - M 23 K 10.2469 -, Rn. 23; Hailbronner, Ausländerrecht, Oktober 2021, § 51 AufenthG Rn. 10; a.A.: Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 51 AufenthG Rn. 69,
255lediglich die kraft Gesetzes bereits bestehende Rechtslage - (Fort-)Bestehen des Aufenthaltstitels - wieder, ohne eigene Rechtsfolgen zu bewirken.
256Anders liegt es nur dann, wenn die Ausländerbehörde das Erlöschen des Aufenthaltstitels ausdrücklich feststellt, d.h. einen feststellenden Verwaltungsakt erlässt, der sodann mit einer Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) - ggf. in Verbindung mit einem Antrag nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO - anzugreifen wäre.
257Vgl. etwa: BVerwG, Urteil vom 20. November 1990 - 1 C 8.89 -, juris, Rn. 16 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 9. November 2015 - 11 S 714/15 -, juris, Rn. 28; BayVGH, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 10 ZB 14.345 -, juris, Rn. 6; Fleuß, in Kluth/Heusch: BeckOK Ausländerrecht, 30. Edition, Stand: 1. Juli 2021, § 51 AufenthG Rn. 5,
258Dies ist vorliegend aber nicht der Fall. Nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB analog),
259vgl. BVerwG, Urteile vom 20. November 1990 - 1 C 8.89 -, juris, Rn. 16 und vom 23. Mai 2012 - 6 C 8.11 -, juris, Rn. 18; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. September 2013 - 2 S 889/13 -, juris, Rn. 21,
260kann in der Vernichtung des Dokumentes über den Nachweis der Niederlassungserlaubnis des Klägers im Rahmen der Vorsprache am 29. August 2016 kein Verwaltungsakt der Beklagten gesehen werden. Die Beklagte hat keinen mit Tenor, Begründung und Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheid erlassen. Zudem nahm sie die Vernichtung als faktische Folge der aus ihrer Sicht eindeutigen Rechtslage vor, die sie dem Kläger entgegen § 77 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG lediglich mündlich mitgeteilt hatte. Sie ging dabei offensichtlich davon aus, dass es einer rechtsverbindlichen Feststellung des Erlöschens der Niederlassungserlaubnis gegenüber dem Kläger nicht bedurfte.
261Vgl. zu Letzterem: BVerwG, Urteil vom 20. November 1990 - 1 C 8.89 -, juris, Rn. 16.
2622. Dem Kläger steht auch das erforderliche allgemeine Rechtsschutzbedürfnis für eine solche Leistungsklage zu.
263Zwar kann - entgegen § 43 Abs. 2 VwGO - die Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO gegenüber der allgemeinen Leistungsklage vorrangig sein, weil Erstere dem Gewaltenteilungsprinzip eher Rechnung trägt, indem sie nicht auf die Entscheidungsfreiheit der exekutiven Organ einwirkt, und zudem der Bürger sich grundsätzlich darauf verlassen kann, dass sich der Staat auch feststellenden Urteilen beugt (sog. Ehrenmannstheorie).
264Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2002 - 2 C 13.01 -, juris, Rn. 15 f.; Terhechte, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Auflage 2021 § 43 VwGO Rn. 19 m.w.N.
265Dieser Subsidiaritätsgrundsatz greift vorliegend aber nicht. Bereits die in § 51 Abs. 2 Satz 3 AufenthG zum Ausdruck kommende gesetzliche Wertung zeigt, dass der Ausländer über die reine Feststellung seines Aufenthaltsstatus hinaus ein berechtigtes Interesse an der Ausstellung eines diesen ausweisenden Dokumentes hat. Da dies nach § 51 Abs. 2 Satz 3 AufenthG sogar den Fall erfasst, dass der Ausländer sein Dokument zum Nachweis der Niederlassungserlaubnis noch besitzt, muss dies erst recht gelten, wenn er - wie hier - wegen Vernichtung seines Aufenthaltstiteldokuments keinerlei Nachweis über seinen Aufenthaltsstatus mehr vorweisen kann. Dann aber ist es prozessökonomischer und entspricht dem Rechtsschutzbegehren, unmittelbar im Wege der Leistungsklage vorzugehen, in deren Rahmen das Fortbestehen des Aufenthaltstitels ohnehin zu prüfen ist, sodass es einer gesonderten Feststellungklage nicht bedarf. Das Gewaltenteilungsprinzip wird auch nicht beeinträchtigt, da im Falle des Fortbestehens des Aufenthaltstitels die Neuausstellung eines entsprechenden Dokuments lediglich die bestehende Rechtslage abbildet, ohne dass der Ausländerbehörde dabei ein Entscheidungsspielraum zukäme.
266II. Die Klage ist jedoch unbegründet.
267Der Kläger hat im auch insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Neuausstellung eines Dokumentes über die ihm am 4. Juni 2014 erteilten Niederlassungserlaubnis.
268Ein Anspruch auf Neuausstellung eines Dokumentes über die Niederlassungserlaubnis setzt - wie ausgeführt - voraus, dass dieser Aufenthaltstitel tatsächlich fortbesteht. Dies ist vorliegend aber nicht der Fall. Die dem Kläger am 4. Juni 2014 erteilte Niederlassungserlaubnis ist vielmehr durch die spätestens Anfang September 2015 mit Bezug der Wohnung in N2. nach Erhalt eines Visums und einer niederländischen Aufenthaltserlaubnis erfolgte Ausreise in die Niederlande erloschen.
269Das Erlöschen eines Aufenthaltstitels bestimmt sich nach § 51 AufenthG. Vorliegend ist die Niederlassungserlaubnis zwar nicht nach § 51 Abs. 7 AufenthG (1.), jedoch nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG (2.) und § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG (3.) erloschen.
2701. Die Niederlassungserlaubnis des Klägers ist zunächst nicht - wie die Beklagte im Verwaltungsverfahren ausgeführt hat - nach § 51 Abs. 7 AufenthG erloschen.
271Diese Regelung bestimmt, dass im Falle der Ausreise eines Asylberechtigten oder eines Ausländers, dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, der Aufenthaltstitel nicht erlischt, solange er im Besitz eines gültigen, von einer deutschen Behörde ausgestellten Reiseausweises für Flüchtlinge ist (Satz 1). Der Ausländer hat auf Grund seiner Anerkennung als Asylberechtigter oder der unanfechtbaren Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt keinen Anspruch auf erneute Erteilung eines Aufenthaltstitels, wenn er das Bundesgebiet verlassen hat und die Zuständigkeit für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge auf einen anderen Staat übergegangen ist (Satz 2).
272Zwar sind diese Voraussetzungen erfüllt, da der Kläger wie unter A.II. ausgeführt nicht (mehr) im Besitz eines von den deutschen Behörden ausgestellten Reiseausweises für Flüchtlinge ist und die Verantwortung hierfür gemäß Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF auf die Niederlande übergegangen ist. Jedoch stellt weder § 51 Abs. 7 Satz 1 noch Satz 2 AufenthG einen Erlöschenstatbestand dar.
273Bei § 51 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich vielmehr seinem Wortlaut ("erlischt nicht"), seiner den in § 51 Abs. 1 AufenthG verorteten Erlöschenstatbeständen nachgeordneten systematischen Stellung sowie seiner Zweckrichtung nach um eine Privilegierung von anerkannten Flüchtlingen gegenüber sonstigen Ausländern im Hinblick auf die Regelungen zum Erlöschen eines Aufenthaltstitels bei Ausreise aus dem Bundesgebiet (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG).
274Vgl. BT-Drs. 15/420, S. 89 f.; Hessischer VGH, Beschluss vom 1. Februar 2021 - 3 B 1013/20 -, juris, Rn. 8; VG München, Urteil vom 14. Dezember 2010 - M 4 K 10.1761 -, juris, Rn. 44; Berlit, GK-AufenthG, 105 Lfg., § 51 AufenthG Rn. 108.
275§ 51 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hat bereits seinem Wortlaut nach nicht das Erlöschen eines Aufenthaltstitels zum Gegenstand, sondern schließt den "Anspruch auf erneute Erteilung" aus. Die Regelung knüpft also an eine Situation an, in der der Aufenthaltstitel bereits erloschen ist. Sie ist demnach ebenfalls systemgerecht nicht in § 51 Abs. 1 AufenthG verortet.
2762. Die Niederlassungserlaubnis des Klägers ist aber nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG durch seine Ausreise in die Niederlande zwecks Aufnahme eines Studiums erloschen.
277Nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erlischt der Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausreist. Bei anerkannten Flüchtlingen gilt dabei § 51 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Für das Erlöschen einer Niederlassungserlaubnis ist zudem § 51 Abs. 2 AufenthG zu beachten.
278Danach ist die Niederlassungserlaubnis des Klägers erloschen.
279a) Die Privilegierung des § 51 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greift nicht ein, da der Kläger seit dem 19. Juni 2016 nicht mehr im Besitz eines gültigen, von einer deutschen Behörde ausgestellten Reiseausweises für Flüchtlinge ist. Sein vorheriger Reiseausweis war nur bis zum 18. Juni 2016 gültig und einen Verlängerungsantrag hat der Kläger seinerzeit - unstreitig - nicht rechtzeitig gestellt. Ein etwaiger Anspruch nach Antragstellung am 9. August 2016 würde nicht zu einem Wiederaufleben der Niederlassungserlaubnis und damit zum Wiedereingreifen des § 51 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen. Überdies hat der Kläger keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Erteilung eines Reiseausweises für Flüchtlinge, sodass dahinstehen kann, ob ein solcher entgegen des Wortlauts des § 51 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ("im Besitz ist") auch genügen würde. Auf die vorstehenden Ausführungen unter A.I und A. II wird verwiesen.
280b) Ebenso wenig kommt vorliegend die privilegierende Regelung des § 51 Abs. 2 AufenthG zur Anwendung, da sich der im Jahr 2010 ins Bundesgebiet eingereiste Kläger im Zeitpunkt der Ausreise jedenfalls nicht seit 15 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
281c) Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG liegen vor. Der Kläger ist aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausgereist.
282Im Rahmen des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG sind lediglich solche Auslandsaufenthalte unschädlich, die nach ihrem Zweck typischerweise zeitlich begrenzt sind und die keine wesentliche Änderung der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland mit sich bringen. Fehlt es an einem dieser Erfordernisse, liegt ein seiner Natur nach nicht vorübergehender Grund vor. Neben der Dauer und dem Zweck des Auslandsaufenthalts sind alle objektiven Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, während es auf den inneren Willen des Ausländers - insbesondere auf seine Planung der späteren Rückkehr nach Deutschland - nicht allein ankommen kann. Als ihrer Natur nach vorübergehende Gründe für Auslandsaufenthalte können danach etwa Urlaubsreisen oder beruflich veranlasste Aufenthalte von ähnlicher Dauer anzusehen sein, ebenso Aufenthalte zur vorübergehenden Pflege von Angehörigen, zur Ableistung der Wehrpflicht oder Aufenthalte während der Schul- oder Berufsausbildung, die nur zeitlich begrenzte Ausbildungsabschnitte umfassen, nicht aber die Ausbildung insgesamt im Ausland. Demgegenüber lässt sich eine feste Zeitspanne, bei deren Überschreitung stets von einem nicht mehr vorübergehenden Grund auszugehen wäre, nicht abstrakt benennen. Je weiter sich die Aufenthaltsdauer im Ausland über die Zeiten hinaus ausdehnt, die mit den o.g. begrenzten Aufenthaltszwecken typischerweise verbunden sind, desto eher liegt die Annahme eines nicht nur vorübergehenden Grundes im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG nahe. Jedenfalls erlischt der Aufenthaltstitel nach dieser Vorschrift, wenn sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass der Betreffende seinen Lebensmittelpunkt ins Ausland verlagert hat.
283Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 2012 - 1 C 15.11 -, juris, Rn. 16; BayVGH, Beschlüsse vom 18. Februar 2015 - 10 ZB 14.345 - , juris, Rn. 9 und vom 4. Januar 2016 - 10 ZB 13.2431 -, juris Rn. 6; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 9. November 2015 - 11 S 714/15 - juris, Rn. 43; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 20. Januar 2020 - 13 ME 348/19 -, juris, Rn. 10; VG Aachen, Beschluss vom 16. Mai 2017 - 8 K 1767/15 -, n.v., S. 3 des Abdrucks.
284Maßgeblich ist dabei der Zweck der Ausreise im Zeitpunkt der Ausreise. Wenn die Ausreise in diesem Zeitpunkt nicht nur vorübergehend war, erlischt die Aufenthaltserlaubnis damit unmittelbar und unwiderruflich; sie lebt nicht wieder auf, wenn der Ausländer es sich später - und sei es auch nur kurze Zeit nach der Ausreise - anders überlegt und nach Deutschland zurückkehrt bzw. zurückkehren will.
285Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24. April 2007 - 18 B 2764/06 -, juris, Rn. 8 f. u. 14.
286Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger spätestens Anfang September 2015 aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde in die Niederlande ausgereist. Er beabsichtigte im Zeitpunkt der Ausreise, in N2. ein gesamtes Vollzeitstudium mit einer Regelstudienzeit von drei Jahren aufzunehmen und hat hierzu seinen Lebensmittelpunkt dorthin verlagert. Dies hatte wesentliche Änderungen der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland zur Folge, wo er sich nur noch an den Wochenenden und in den Semesterferien aufhielt. Auf die vorstehenden Ausführungen unter A. II. wird verwiesen. Darauf, dass der Kläger ggf. vorhatte, nach Abschluss des Studiums in die Bundesrepublik Deutschland zurückzukehren, kommt es nach den vorstehenden Maßstäben nicht an.
287Eine andere Bewertung ist auch nicht mit Blick auf den Flüchtlingsstatus des Klägers sowie darauf geboten, dass Studienaufenthalte nach Art. 2 Abs. 1 und 2 EÜÜVF keinen Verantwortungsübergang begründen. Über die Privilegierungsvorschrift des § 51 Abs. 7 Satz 1 und 2 AufenthG ist ein Gleichlauf mit den Bestimmungen zum Verantwortungsübergang nach dem Übereinkommen sichergestellt. Hat ein Verantwortungsübergang danach - wie hier - stattgefunden, kann ein Wertungswiderspruch nicht bestehen.
2883. Die Niederlassungserlaubnis ist damit zugleich auch nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erloschen.
289Hiernach erlischt der Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer ausgereist und nicht innerhalb von sechs Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereist ist.
290So liegt es hier. Der Kläger ist hier nicht innerhalb von sechs Monaten nach seiner Ausreise Anfang September 2015 in die Niederlande wieder eingereist. Insbesondere hat er den Lauf dieser Sechs-Monats-Frist nicht durch seine regelmäßigen Besuche in B1. an den Wochenenden und in den Semesterferien unterbrochen.
291Der verwendete Begriff der Wiedereinreise ist nicht mit dem Begriff der Einreise im Sinne eines Grenzübertritts nach § 13 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gleichzusetzen, sondern bedarf im Lichte der seitens des Gesetzgebers mit der Norm verfolgten Zielsetzung, Rechtsklarheit über den Aufenthaltsstatus des Ausländers zu schaffen, einer einschränkenden Auslegung dahingehend, dass ein Ausländer, der seinen Lebensmittelpunkt aus dem Bundesgebiet in das Ausland verlegt hat, durch das kurzfristige Betreten des Bundesgebiets etwa zu Besuchszwecken den Lauf der Sechs-Monatsfrist nicht zu unterbrechen vermag.
292Vgl. Fleuß, in Kluth/Heusch: BeckOK Ausländerrecht, 30. Edition, Stand: 1. Juli 2021, § 51 AufenthG Rn. 42a; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. September 2010 - OVG 11 B 14.10 -, juris, Rn. 22; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 30. Juni 2003 - 10 B 10830/03 -, juris, Rn. 6; OVG NRW, Beschluss vom 24. April 2007 - 18 B 2764/06 -, juris, Rn. 8 ff.; BayVGH, Beschluss vom 17. Dezember 2007 - 24 CE 07.2964 -, juris, Rn. 5 und 8; vgl. auch bereits BVerwG, Beschluss vom 30. Dezember 1988 - 1 B 135.88 ‑, juris, Rn. 7; a.A. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 9. November 2015 - 11 S 714/15 -, juris, Rn. 34 ff.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 20. Januar 2020 - 13 ME 348/19 -, juris, Rn. 5 ff.
293Dies folgt auch daraus, dass § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG eine Ergänzung zu § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG darstellt,
294vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. September 2010 - OVG 11 B 14.10 -, juris, Rn. 21; Fleuß, in Kluth/Heusch: BeckOK Ausländerrecht, 30. Edition, Stand: 1. Juli 2021, § 51 AufenthG Rn. 39,
295und insoweit die grundsätzlich unwiderlegliche Vermutung aufstellt, dass, wenn sich ein Ausländer länger als sechs Monate außerhalb des Bundesgebietes aufhält, er aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausgereist und dass sein Aufenthaltstitel damit erloschen ist.
296Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2012 - 1 C 1.11 -, juris, Rn. 9; OVG NRW, Beschluss vom 24. April 2007 - 18 B 2764/06 -, juris, Rn. 8 f.; VG Berlin, Urteil vom 20. November 2019 - 34 K 307.18 V -, juris, Rn. 25; Fleuß, in Kluth/Heusch: BeckOK Ausländerrecht, 30. Edition, Stand: 1. Juli 2021, § 51 AufenthG Rn. 39; VG Berlin, Urteil vom 20. November 2019 - 34 K 307.18 V -, juris, Rn. 25
297Angesichts dessen können kurzzeitige Aufenthalte des Ausländers im Bundesgebiet nach der Ausreise die Sechs-Monats-Frist nicht unterbrechen, wenn damit nicht zugleich eine Zurückverlegung des Lebensmittelpunktes nach den Maßstäben des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG verbunden ist. Denn andernfalls wäre die durch die Sechs-Monats-Frist zum Ausdruck gebrachte Vermutung, dass die Ausreise nicht nur vorübergehender Natur war, widerlegt, obwohl nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG gerade feststeht, dass der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausgereist und sein Aufenthaltstitel deshalb erloschen ist.
298Vgl. ebenso einen Gleichlauf annehmend: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. September 2010 - OVG 11 B 14.10 -, juris, Rn. 21 f.; BayVGH, Beschluss vom 25. August 2021 - 10 ZB 21.1582 -, juris, Rn. 9; OVG NRW, Beschluss vom 24. April 2007 - 18 B 2764/06 -, juris, Rn. 8 und 14; dem zustimmend sodann auch Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 20. Januar 2020 - 13 ME 348/19 -, juris, Rn. 8.
299Ausgehend hiervon ist die Niederlassungserlaubnis des Klägers auch nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erloschen. Auf die vorstehenden Ausführungen im Rahmen des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG zur Verlagerung des Lebensmittelpunktes in die Niederlande und den Besuchsaufenthalten in Deutschland wird verwiesen.
300§ 51 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und § 51 Abs. 2 AufenthG - entsprechend auch § 51 Abs. 10 Satz 2 AufenthG - greifen aus den oben (unter 2. a) und b)) genannten Gründen nicht ein.
301C. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
302Entgegen der Ansicht des Klägers waren die Kosten des Verfahrens hier nicht gemäß § 155 Abs. 4 VwGO der Beklagten aufzuerlegen.
303Nach der als Spezialregelung allen übrigen Kostenregelungen vorgehenden Bestimmung des § 155 Abs. 4 VwGO,
304vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. Januar 1992 - 3 B 1247/90 -, juris, Rn. 6 und vom 20. November 2001 - 13 B 1116/01 -, juris, Rn. 5, jeweils noch zur deckungsgleichen Vorgängerregelung des § 155 Abs. 5 VwGO a.F.; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 2. September 2004 - 1 LB 18/04 -, juris, Rn. 5; BayVGH, Beschluss vom 26. September 2016 - 15 CE 16.1333 -, juris, Rn. 18; Neumann/Schaks, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 155 Rn. 77,
305können Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, diesem auferlegt werden.
306Die Regelung kann dabei nicht nur die ausscheidbaren Mehrkosten für einzelne Prozesshandlungen erfassen, sondern die gesamten Prozesskosten, wenn durch ein schuldhaftes vorprozessuales Verhalten die Erhebung eines an sich vermeidbaren Rechtsschutzbegehrens verursacht wurde. Ein Verschulden eines Beteiligten im Sinne des § 155 Abs. 4 VwGO liegt vor, wenn dieser die erforderliche und ihm zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen hat.
307Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. November 2001 - 13 B 1116/01 -, juris, Rn. 6 ff.; BayVGH, Urteil vom 17. Mai 2021 - 7 B 21.783 -, juris, Rn. 15.
308Danach waren die Kosten des Verfahrens hier nicht der Beklagten aufzuerlegen. Es bestehen keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte durch ein schuldhaftes vorprozessuales Verhalten die Erhebung der andernfalls entbehrlichen Klage verursacht hat. Zwar hat sie den bei sachgerechter Auslegung bereits im August 2016 gestellten Anträge des Klägers, der Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind, über etwa anderthalb Jahre nicht beschieden und den Kläger damit zur Klageerhebung veranlasst. Jedoch wären die hierdurch entstandenen Kosten ohnehin angefallen, da die Klage nicht vermeidbar war. Denn ungeachtet der Nichtbescheidung hat die Beklagte bereits bei der Vorsprache des Klägers am 29. August 2016 ihre Rechtsansicht dargelegt. Ferner hat sie nach Einholung der Stellungnahmen des Bundesamts vom 30. August 2018 und 27. September 2018 verdeutlicht, dass sie an ihrer vom Bundesamt bestätigten Ansicht festhält. Entsprechend hat sie den Kläger unter dem 30. Juli 2020 zur beabsichtigten Ablehnung der Ausstellung eines Reiseausweises, der Versagung seines Aufenthaltstitels und der Androhung der Abschiebung angehört. Der Kläger hat ungeachtet dessen sein Begehren weiterfolgt und an seiner Rechtsaufassung im Klageverfahren festgehalten. Dies rechtfertigt die Annahme, dass er auch nach einer ablehnenden Entscheidung der Beklagten, die hier vorliegende Klage erhoben hätte. Es kann daher dahinstehen, ob die verzögerte Bearbeitung des Antrags des Klägers durch die Beklagte auf einem (Organisations-)Verschulden ihrerseits beruhte.
309Angesichts dessen kommt mangels Kausalität zwischen Nichtbescheidung und Klageerhebung auch eine Anwendung des § 161 Abs. 3 VwGO nicht in Betracht.
310Vgl. insoweit etwa: BVerwG, Beschluss vom 23. Juli 1991 - 3 C 56.90 -, juris, Rn. 13; BayVGH, Beschluss vom 17. November 2014 - 22 ZB 14.1633 -, juris, Rn. 27; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18. Januar 2006 - 13 S 2220/05 -, juris, Rn. 57; Verfassungsgericht Brandenburg, Beschluss vom 17. Juni 2016 - 79/15 -, juris, Rn. 28 ff. m.w.N.; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 161 Rn. 21; Neumann/Schaks, in: Sodan/Ziekow, 5. Auflage 2018, § 161 Rn. 219.
311Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.
312Felsch Pfohl Retzmann