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Der angefochtene Gerichtsbescheid wird geändert.
Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 11.4.2019 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge tragen die Beklagte und die Beigeladenen als Gesamtschuldner zu je ½, zwischen ihnen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die jeweiligen Vollstreckungsschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags Sicherheit leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Die Kläger wenden sich gegen eine den Beigeladenen durch die Beklagte erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines eingeschossigen Anbaus mit Dachterrasse.
3Die Kläger sind je zur Hälfte Eigentümer des Grundstücks Gemarkung G01 mit der postalischen Anschrift X.-straße 26, M.. Das Grundstück ist mit einem Einfamilienhaus bebaut, das die Kläger selbst bewohnen. Östlich befindet sich das im jeweils hälftigen Eigentum der Beigeladenen stehende Grundstück Gemarkung F., Flur 40, Flurstück 740 mit der Anschrift X.-straße 28. Auch dieses Grundstück ist mit einem von den Beigeladenen selbst genutzten Einfamilienhaus bebaut. Zwischen den genannten Grundstücken liegt das Flurstück 315, das im hälftigen Miteigentum der Kläger und der Beigeladenen steht. Nördlich schließen sich an alle Grundstücke landwirtschaftlich genutzte Flächen an, westlich und östlich liegen weitere Wohnhäuser, ebenso jenseits der südlich der Grundstücke der Kläger und Beigeladenen verlaufenden X.-straße.
4Sämtliche Grundstücke liegen im Bereich des am 7.6.2004 bekanntgemachten Bebauungsplans Nr. 40.K4. „O.-straße“ in der Fassung der am 17.4.2007 bekanntgemachten Vereinfachten 2. Änderung. Der Plan setzt für die Bereiche, in denen sich die Flurstücke 756 und 740 befinden, ein allgemeines Wohngebiet (WA 8) sowie Baugrenzen fest. Das Flurstück 315 ist als „private Grünfläche als Gemeinschaftsanlage“ zugeordnet zu den angrenzenden Baufeldern 3 und 4 festgesetzt, auf der drei Bäume zu pflanzen sind. In den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans in der Fassung der Vereinfachten 2. Änderung sind u. a. in § 17 und § 18 Regelungen zu Einfriedungen und zur Bepflanzung der öffentlichen und privaten Grünflächen enthalten.
5Unter dem 21.3.2016 erteilte die Beklagte den Beigeladenen eine Baugenehmigung für den Neubau einer Terrassenüberdachung mit mobilen Seitenteilen an der nordwestlichen Ecke des bestehenden Gebäudes, die Abstandsflächen erstrecken sich ausweislich des zur Baugenehmigung gehörenden Lageplans bis zur Mitte des Flurstücks 315.
6Mit Bescheid vom 11.4.2019 erteilte die Beklagte den Beigeladenen eine Baugenehmigung für die Errichtung einer Erweiterung ihres bestehenden Wohnhauses. Auch die Abstandsflächen dieses Anbaus an der südwestlichen Ecke des Bestandsgebäudes erstrecken sich bis zur Mitte des Flurstücks 315. Auf dem grüngestempelten Lageplan ist handschriftlich vermerkt „Abstandsfläche hälftig auf privater Grünfläche, welche nicht bebaut werden darf. Dem Nachbarn entsteht kein Nachteil, da er identisch bauen darf. Gleichzusetzen mit öffentlicher Grünfläche“. Die Baugenehmigung wurde den Klägern mit Schreiben vom 12.4.2019 übersandt, eine Rechtsmittelbelehrung enthielt das Schreiben nicht.
7Die Kläger haben am 2.3.2020 Klage erhoben und zugleich einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt.
8Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Kläger auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage mit Beschluss vom 20.4.2020 - 23 L 403/20 - abgelehnt.
9Zur Begründung ihrer Klage haben die Kläger im Wesentlichen ausgeführt: Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 11.4.2019 sei rechtswidrig und verletze sie in ihren Rechten. Das Flurstück 315 stehe in ihrem hälftigen Miteigentum, die zu diesem Flurstück gemäß § 6 BauO NRW einzuhaltende Abstandsfläche werde nicht gewahrt, eine Zustimmung zu einer Bebauung hätten sie nicht erteilt. Dem stehe nicht entgegen, dass eine Bebauung des Flurstücks nach dem Bebauungsplan Nr. 40.K4. derzeit nicht zulässig sei, von einer solchen Festsetzung könnten Befreiungen oder Ausnahmen erteilt werden, auch eine zukünftige Veränderung der Festsetzung sei möglich. Die heranrückende Bebauung der Beigeladenen verstoße zudem gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Über die Dachterrasse werde ein direkter Einblick in ihren Wohn-/Essbereich, das Schlafzimmer und den vorderen Gartenbereich möglich sein. Ihr eigener Wunsch, näher an die Grenze zu bauen, sei von der Beklagten abschlägig beschieden worden. Zudem sehe der Planentwurf die Errichtung eines Lichtschachtes zum Wohnkeller vor, für die es an der erforderlichen Befreiung von den Festsetzungen des maßgeblichen Bebauungsplans fehle.
10Die Kläger haben beantragt,
11die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten für das Flurstück 740, Flur 40, Gemarkung F. (Az. 00231-19-01) vom 11.4.2019 aufzuheben.
12Die Beklagte hat beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen: Nach einem Beschluss des OVG NRW vom 6.10.1999 - 7 B 1766/19 - komme einer reinen Wegeparzelle die Schutzwirkung der Abstandsflächen nicht zugute. Ausweislich der Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 40.K4. sei das Flurstück 315 als Wirtschaftsweg zur dauerhaften Pflege und Unterhaltung der dort anzupflanzenden Bäume und Unternutzung anzusehen, so dass ihm die Schutzwirkung des § 6 BauO NRW nicht zukomme. Da die Abstandsflächen eingehalten würden, sei auch das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt. Der beanstandete Lichtschacht sei nicht Gegenstand der Baugenehmigung vom 11.4.2019, sondern bereits mit der Baugenehmigung vom 15.4.2008 gestattet worden.
15Die Beigeladenen haben beantragt,
16die Klage zurückzuweisen.
17Zur Begründung haben sie im Wesentlichen vorgetragen: Die Klage sei unbegründet. Für das Flurstück 740 sei im Bebauungsplan Nr. 40.K4. eine Baugrenze festgelegt worden, die durch die streitgegenständliche Erweiterung eingehalten werde. Eine Verletzung des Abstandsflächenrechts liege nicht vor. Das Flurstück 315, das als private Grünfläche ausgewiesen sei und nicht bebaut werden dürfe, sei nach den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans den jeweils östlich und westlich angrenzenden Baufenstern zugeordnet und damit bewusst zur Übernahme von Abstandsflächen ausgewiesen worden. Es handele sich insoweit um eine zulässige Festsetzung nach § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB.
18Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 3.5.2022 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die angegriffene Baugenehmigung vom 11.4.2019 verletze die Kläger nicht in ihren Rechten. Sie verstoße zwar gegen Regelungen des Bauordnungsrechts. Das genehmigte Vorhaben der Beigeladenen halte die Abstandsflächen nach § 6 Abs. 1 BauO NRW nicht ein. Sie lägen nicht ausschließlich auf dem Grundstück der Beigeladenen, die Hälfte der Abstandsflächen falle auf das Nachbarflurstück 315, welches im Miteigentum der Kläger liege. Diese private Grünfläche falle nicht unter § 6 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW, die Regelung erfasse nur öffentliche Flächen, die einer Bebauung entzogen und daher zur Aufnahme der Abstandsflächen angrenzender Gebäude ungeeignet seien. Die Vorschrift könne auf eine private Grünfläche auch nicht analog angewendet werden, nichts anderes ergebe sich aus dem Beschluss des OVG NRW vom 6.10.1999 - 7 B 1766/99 -, der eine Verkehrsfläche betroffen habe. Die Kläger könnten sich allerdings nicht auf diesen Verstoß berufen. Die Abstandsflächenvorschriften seien grundsätzlich nicht dazu bestimmt, Eigentümer privater Grünflächen wie der vorliegenden zu schützen. Eine Rechtsverletzung scheide aus, da eine Bebauung der Grünfläche nicht zulässig sei. Da sie auch bauordnungsrechtlich nicht für Abstandsflächen in Anspruch genommen werden dürfe, könnten die Kläger auch unter diesem Gesichtspunkt keine schützenswerte Rechtsposition geltend machen. Die Fläche sei vielmehr als Gemeinschaftsfläche festgesetzt, für die die Kläger persönlich keinen Sozialabstand beanspruchen könnten. Ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften zu Lasten des Flurstücks 756 scheide von vornherein aus. Ob die Inanspruchnahme des Flurstücks 315 für die Abstandsfläche zivilrechtlich zulässig sei, sei nicht zu entscheiden. Auf einen Verstoß des Lichtschachts gegen Festsetzungen des Bebauungsplans könnten sich die Kläger ebenfalls nicht berufen, es sei bereits nicht ersichtlich, inwieweit ein Verstoß gegen nachbarrechtliche Vorschriften vorliege, zudem sei der Schacht nicht Gegenstand der angefochtenen Baugenehmigung.
19Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung tragen die Kläger im Wesentlichen vor: Die Baugenehmigung vom 11.4.2019 sei rechtswidrig. Der nach § 6 BauO NRW erforderliche Abstand von 3,00 m werde durch das Vorhaben der Beigeladenen nicht eingehalten. Vielmehr betrage der Abstand zur Grundstücksgrenze lediglich 1,50 m, so dass die Hälfte der erforderlichen Abstandsfläche auf dem Nachbargrundstück liege, das in ihrem Miteigentum stehe. Die Regelung des § 6 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW finde keine Anwendung, weil es sich bei dem Flurstück 315 nicht um eine öffentliche, sondern um eine private Grünfläche handele. Bei einer solchen könne nicht von einer dauernden Sicherung gegen Bebauung ausgegangen werden. Auch eine analoge Anwendung auf private Grünflächen scheide aus, es fehle an einer planwidrigen Regelungslücke. Im Bebauungsplan Nr. 40.K4. sei kein vom Bauordnungsrecht abweichendes Maß der Tiefe der Abstandsflächen nach § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB festgesetzt worden. Der Bebauungsplan sei am 7.6.2004 in Kraft getreten, § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB sei dagegen erst durch das Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung vom 21.12.2006 in das Baugesetzbuch eingefügt worden. Zudem beziehe sich § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB nur auf das Maß für die Tiefe der Abstandsfläche, alle übrigen Elemente bestimmten sich ausschließlich nach dem maßgeblichen Landesrecht, für sie könnten keine abweichenden Festsetzungen getroffen werden. Werde angenommen, die Festsetzung der Baugrenzen in Kombination mit der Festsetzung der privaten Grünflächen sei eine Festsetzung im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB, liege eine Abweichung von der bauordnungsrechtlichen Vorgabe vor, dass Abstandsflächen sich grundsätzlich auf dem Grundstück selbst befinden müssten, dies sei nicht von § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB gedeckt. Eine solche Festsetzung wäre auch unbestimmt, es stelle sich die Frage, wie die Abstandsflächen zu berechnen wären bzw. welche Lage dieser Flächen zulässig wäre, wenn die nach § 6 Abs. 5 BauO NRW erforderliche Abstandsfläche mehr als 3,00 m betrage. Die Festsetzungen und die Begründung des Bebauungsplans enthielten keinen Hinweis darauf, dass vom Abstandsflächenrecht der BauO NRW abweichende Festsetzungen getroffen werden sollten. Ziel der privaten Grünflächen als Gemeinschaftsanlagen sei nur die Gliederung und Strukturierung des Plangebiets insgesamt. Die Abstandsflächen dürften sich auch nicht nach § 6 Abs. 2 Satz 3 BauO NRW ganz oder teilweise auf das Nachbarflurstück 315 erstrecken. Eine hierfür erforderliche öffentlich-rechtliche Sicherung, etwa in Form einer Abstandsflächenbaulast, liege nicht vor. Dies verletze sie, die Kläger, auch in ihren Rechten. § 6 BauO NRW sei nachbarschützend, die Regelung diene der ausreichenden Belichtung und Belüftung angrenzender Grundstücke, dem Feuerschutz und der Brandbekämpfung sowie der Gewährleistung eines Sozialabstands. Nebenzweck sei es, die ungestörte Nutzung der Freiflächen sicherzustellen und deren Verschattung zu verhindern. Die insoweit betroffenen Interessen der Grundstücksnachbarn sowie die öffentlichen Belange würden durch § 6 BauO NRW in einen gerechten Ausgleich gebracht. Eine Unterschreitung der vorgeschriebenen Abstandsflächen löse regelmäßig einen Abwehranspruch aus. Aus der Festsetzung als „private Grünfläche“ ergebe sich nichts anderes. Dadurch sei eine dauernde Sicherung vor einer künftigen Bebauung nicht gewährleistet. Eigentümer privater Grünflächen seien daher vom Schutz des § 6 BauO NRW umfasst. Die Rechtsprechung zur Schutzwirkung des Abstandsflächenrechts in Bezug auf reine Wegeparzellen sei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht übertragbar, die zwischen den Baukörpern liegende private Grünfläche sei vielmehr ein „nach außen gestülpter“ Wohnbereich. Die privaten Grünflächen mit der Zweckbestimmung Gemeinschaftsgrün dienten der Durchgrünung des Plangebiets, förderten die Aufenthaltsqualität und sollten zum Aufenthalt und Spiel in der Gemeinschaft einladen. Es sei nicht davon auszugehen, dass das Flurstück 315 durch sämtliche Bewohner des Plangebiets oder die Öffentlichkeit genutzt werden solle. Dies ergebe sich aus der eindeutig privaten Zuordnung der Fläche zu den angrenzenden Baufenstern. Sie hätten einen hälftigen Miteigentumsanteil an dem Grundstück erworben, die Fläche befinde sich im Privateigentum. Gegen einen Nutzerkreis, der über die Eigentümer hinausgehe, spreche auch die nach § 17 der textlichen Festsetzungen zum Bebauungsplans mögliche Einfriedung der Fläche zur öffentlichen Verkehrsfläche hin. Es handele sich um einen sehr beschränkten und eindeutig festgelegten Nutzerkreis und eine Nutzung zu rein privaten Zwecken. Der Ortstermin habe gezeigt, dass die als private Grünflächen als Gemeinschaftsanlagen festgesetzten Flurstücke im Plangebiet unterschiedlich, aber rein privat genutzt würden, eine gemeinschaftliche Nutzung im weiteren Sinne erfolge nicht. Der unterschiedliche Umgang gelte auch in Bezug auf die Abstandsflächen. Aus der Bauakte zu dem Baugenehmigungsverfahren zum Wintergarten der Beigeladenen ergebe sich, dass auch die Beklagte davon ausgegangen sei, dass jedenfalls eine zivilrechtliche Regelung im Hinblick auf die Lage der Abstandsflächen auf der im Miteigentum der Nachbarn stehenden Grundstücksfläche empfehlenswert sei. Ihre Zustimmung zur Lage der Abstandsflächen auf dem Flurstück 315 oder eine öffentlich-rechtliche Sicherung hätten jedoch nicht vorgelegen, sodass die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 3 BauO NRW nicht erfüllt seien.
20Die Beklagte beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Zur Begründung verweist sie auf ihren Vortrag vor dem Verwaltungsgericht und im Verfahren über die Zulassung der Berufung. Dort hat sie im Wesentlichen ausgeführt: Die Zwecke des Abstandsflächenrechts rechtfertigten es nicht, dass privaten Grünflächen eine Abwehrfunktion zukomme. Die Abstandsfläche reiche vorliegend nur bis zur Mitte der im Eigentum der Kläger und Beigeladenen stehenden privaten Grünfläche, die Abstandsflächen zwischen den Bebauungen würden mit insgesamt 7,50 m eingehalten. Es liege auch kein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme vor. Die von den Klägern befürchteten Einsichtnahmen seien hinzunehmen, die Befürchtung einer erhöhten Lärmentwicklung von der Dachterrasse könne nicht nachvollzogen werden. Der Bebauungsplan Nr. 40.K4. setze nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB die überbaubare Grundstücksfläche und das zulässige Maß der baulichen Nutzung fest. Durch die Baufenster sei geregelt, dass unabhängig von der Parzellierung der Flurstücke mindestens 6 m zwischen der Bebauung lägen und damit der gefahrenabwehrrechtliche Mindestabstand von 3,00 m je Bebauung eingehalten werde. Es müsse bereits bei der Aufstellung des Plans der Wille des Plangebers gewesen sein, dass bei Ausnutzung der Baufenster eine Verringerung der Abstandsfläche auf 1,50 m zu der privaten Grünfläche zulässig sei. Ergänzend führt die Beklagte aus, für das Flurstück 315 sei im Bebauungsplan Nr. 40.K4. eine private Grünfläche festgesetzt, deren Zweckbestimmung ausweislich § 18 Abs. 2 der textlichen Festsetzungen eine Gemeinschaftsgrünfläche sei, in der Einfriedungen unzulässig seien. Diese Flächen sollten ausweislich Nr. 5.1 der Satzungsbegründung zum Aufenthalt und Spiel in Gemeinschaft einladen. Dementsprechend könne nicht von einer privaten Grünfläche oder einem „nach außen gestülpten Wohnbereich“ ausgegangen werden. Zweckbestimmung sei eine gemeinschaftliche Nutzung, weshalb auch keine Abgrenzung in Form einer Einfriedung innerhalb des Flurstücks 315 zulässig sei; eine mittige Realteilung des Flurstücks, wie sie vorliegend durch die faktische hälftige Aufteilung und Einbeziehung in den jeweiligen privaten Garten- und Wohnbereich erfolgt sei, laufe der festgesetzten Zweckbestimmung zuwider. Durch die textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans werde deutlich, dass es sich nur um gemeinschaftlich genutzte Flächen handeln könne. Dementsprechend kämen den Flächen nicht die Schutzwirkungen des Abstandsflächenrechts zugute.
23Die Beigeladenen beantragen,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Zur Begründung verweisen sie zunächst auf ihren Vortrag vor dem Verwaltungsgericht und im Verfahren über die Zulassung der Berufung. Dort haben sie u. a. vorgetragen, dass der Bebauungsplan gem. § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB zulässigerweise eine Verringerung der Abstandsflächen vorsehe. Es fehle aus mehreren Gründen an einer Rechtswidrigkeit bzw. an einer Verletzung subjektiver Rechte der Kläger. Bei der Parzelle 315 handele es sich um eine als Gartenland ausgewiesene Fläche ohne Bebauungsmöglichkeit. Ein durch Abstandsflächen gewährleisteter Sozialabstand sei bereits im Hinblick auf das Miteigentum der Beteiligten an der Parzelle ausgeschlossen. Zudem sei bereits zu Beginn der Nutzung durch die Errichtung eines Zaunes und die Anpflanzung einer Hecke über die gesamte Tiefe der Parzelle eine faktische Teilung vereinbart und umgesetzt worden. Damit liege ein Fall des § 6 Abs. 2 Satz 3 BauO NRW vor. Das Flurstück habe eine Breite von nur 3,00 m, so dass eine Bebauung aus bauordnungsrechtlichen Gesichtspunkten und damit im Sinne einer öffentlich-rechtlichen Sicherung ausgeschlossen sei, zumal sie auch nur mit gemeinsamer Zustimmung erfolgen könne. Zudem sei aus zivilrechtlicher Sicht zu beachten, dass die Rechtsverhältnisse an den jeweiligen Gartenflächen des Flurstücks 315 wie diejenigen an einem real geteilten Grundstück anzusehen seien. Auf einen solchen Fall fänden die Vorschriften des Landesnachbarrechts analoge Anwendung. Daraus ergebe sich ein Anspruch gegen die Kläger auf Bewilligung einer Abstandsflächenbaulast bezogen auf die ihrer Alleinnutzung zugewiesene Fläche Zug um Zug gegen die Bewilligung einer identischen Baulast durch sie, die Beigeladenen.
26Die Berichterstatterin des Senats hat die Örtlichkeit am 30.9.2024 in Augenschein genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die darüber gefertigte Niederschrift und die Lichtbilder Bezug genommen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge und Planurkunden der Beklagten Bezug genommen.
28Entscheidungsgründe:
29Die zulässige Berufung der Kläger ist begründet.
30Die Klage ist zulässig und begründet.
31I. Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 11.4.2019 verstößt gegen die Kläger schützende Bestimmungen.
321. Sie ist mit der maßgeblichen Fassung des § 6 BauO NRW (dazu a)) nicht vereinbar (dazu b)), nachträgliche Änderungen zugunsten der Beigeladenen sind nicht eingetreten (dazu c)).
33a) Maßgeblich ist § 6 BauO NRW in der Fassung zum Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung (im Folgenden BauO NRW a. F.).
34Für die Prüfung eines nachbarrechtlichen Aufhebungsanspruchs ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung maßgeblich. Nachträgliche Änderungen sind nur insoweit zu berücksichtigen, als sie für den Bauherrn günstig sind.
35Vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 23.4.1998 - 4 B 40.98 -, BauR 1998, 995 = juris Rn. 3, und vom 22.4.1996 - 4 B 54.96 -, BRS 58 Nr. 157 = juris, Rn. 4, OVG NRW, Urteil vom 15.7.2013 - 2 A 969/12 -, juris, Rn. 47 f.
36b) Das Vorhaben der Beigeladenen hält die gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW a. F. erforderlichen Abstandsflächen auf dem Flurstück 740 (dazu aa)) in einer Tiefe von 3,00 m (dazu bb)) nicht ein.
37aa) Das Vorhaben der Beigeladenen erfordert nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW a. F. Abstandsflächen.
38Diese müssen grundsätzlich vollständig auf dem Grundstück selbst liegen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 BauO NRW a. F.). Dies ist hier nicht der Fall. Auf den Abstand von 7,50 m zwischen den bestehenden Bebauungen auf dem Grundstück der Beigeladenen einerseits und dem der Kläger andererseits kommt es insoweit nicht an.
39Ein Fall, in dem ausnahmsweise auch ein anderes Flurstück für die Abstandsflächen in Anspruch genommen werden könnte, liegt nicht vor.
40(1) Die über das Flurstück 740 hinausgehenden Abstandsflächen liegen nicht auf einer öffentlichen Verkehrs-, Grün- oder Wasserfläche im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW a. F. Das Flurstück 315 ist im Bebauungsplans 40.K4. in der Fassung der Vereinfachten 2. Änderung als „private Grünfläche als Gemeinschaftsanlage“ festgesetzt.
41Es handelt sich auch nicht deshalb um eine öffentliche Verkehrsfläche, weil das Flurstück 315 - wie von der Beklagten vorgetragen - als Wirtschaftsweg zur dauerhaften Pflege und Unterhaltung der dort anzupflanzenden Bäume und Unternutzung anzusehen wäre. Eine solche Nutzung ist den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht zu entnehmen, vielmehr sieht der Plan an anderen Stellen öffentliche Wegeflächen vor, während das Flurstück 315 (nur) als private Grünfläche festgesetzt ist. Darauf, ob das Flurstück einen „nach außen gestülpten Wohnbereich“
42- vgl. zu diesem Begriff OVG Lüneburg, Beschluss vom 9.9.2004 - 1 ME 194/04 -, BauR 2005, 372 = juris, Rn. 12 -
43darstellt, kommt es daher in diesem Zusammenhang nicht an.
44(2) Eine analoge Anwendung des § 6 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW a. F. auf private Grünflächen kommt nicht in Betracht. Es fehlt jedenfalls an der dafür erforderlichen vergleichbaren Interessenlage, denn anders als bei einer öffentlichen Grünfläche ist bei einer privaten Grünfläche das dauerhafte Ausbleiben einer anderweitigen Bebauung nicht hinreichend gesichert. Eine entsprechende Festsetzung im Bebauungsplan kann grundsätzlich jederzeit geändert werden.
45Vgl. etwa Kockler in Spannowsky/Saurenhaus, BauO NRW, Stand: 1.7.2024, § 6 Rn. 53; Kamp/Henkel in Schönenbroicher/Kamp/Henkel, BauO NRW, 2. Auflage, § 6 Rn. 135 f.
46Nichts anderes ergibt sich aus der Entscheidung des erkennenden Gerichts vom 6.10.1999 - 7 B 1766/19 -. Sie betraf eine private Verkehrsfläche, der rein tatsächlich eine notwendige Erschließungsfunktion zukam und die insoweit einer öffentlichen Verkehrsfläche im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW vergleichbar war. Eine solche Vergleichbarkeit mit einer öffentlichen Verkehrs- oder Grünfläche ist hinsichtlich des Flurstücks 315 mangels dauerhafter Sicherung der Zweckbestimmung nicht gegeben.
47(3) Es liegt auch keine öffentlich-rechtliche Sicherung im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 3 BauO NRW a. F. vor, insbesondere haben die Kläger keine entsprechende Baulast übernommen. Eine solche öffentlich-rechtliche Sicherung ergibt sich auch nicht aus der - wie dargelegt veränderlichen - Festsetzung einer privaten Grünfläche durch den Bebauungsplan Nr. 40.K4. oder aus der faktischen „Realteilung“ des Flurstücks durch die Einbeziehung in die jeweiligen Gartenbereiche.
48bb) Die Tiefe der Abstandsflächen beträgt 3,00 m (§ 6 Abs. 5 Satz 1 BauO a. F.)
49Der Bebauungsplan Nr. 40.K4. setzt keine von dieser Tiefe der Abstandsflächen abweichenden Maße fest.
50Die diese Möglichkeit ausdrücklich vorsehende Regelung des § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB wurde erst durch das Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte vom 21.12.2006 (BGBl. I, 3316) mit Wirkung zum 1.1.2007 und damit nach dem Inkrafttreten des Bebauungsplans Nr.40.K4. in seiner ursprünglichen Fassung eingeführt.
51Eine sinngemäße Festsetzung gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB dahingehend, dass durch die Kombination von Baugrenzen bzw. -fenstern, der Festsetzung der privaten Grünflächen und deren Zuordnung zu den angrenzenden Baufeldern entweder die Tiefe der Abstandsflächen verkürzt oder die Inanspruchnahme der privaten Grünflächen für Abstandsflächen zugunsten von Vorhaben auf den angrenzenden Flurstücken gestattet werden sollte, ist - ungeachtet der Frage einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage - weder den textlichen oder zeichnerischen Festsetzungen noch der Planbegründung zu entnehmen. Ausführungen zu Abstandsflächen sind darin nicht enthalten. Zur Nutzung der privaten Grünflächen heißt es, die Grünordnungsfestsetzungen bezweckten die Durchgrünung des Plangebiets, die Ausbildung eines zusammenhängenden öffentlichen und privaten Grünsystems, die Förderung der Aufenthaltsqualität für die Bewohner, einen weitgehenden Ausgleich des Eingriffs innerhalb des Plangebiets, die Verbesserung des Wohnklimas, Luftreinigung und CO²-Minderung sowie die Umsetzung von Gestaltungsqualitäten.
52c) Nachträgliche Änderungen der dargestellten Rechtslage zugunsten der Beigeladenen sind nicht eingetreten; insbesondere die Regelungen des § 6 Abs. 2 BauO NRW sind im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats unverändert.
53II. Die danach rechtswidrige Baugenehmigung vom 11.4.2019 verletzt die Kläger auch in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
54Sie sind Miteigentümer des Flurstücks 315. Dessen Inanspruchnahme für Abstandsflächen ohne ihre Zustimmung schränkt sie in der Nutzung dieses Flurstücks ein.
55Nichts anderes ergibt sich daraus, dass die Beigeladenen ebenfalls Miteigentümer des Flurstücks 315 sind. Es handelt sich nicht um eine Streitigkeit im Verhältnis der Miteigentümer untereinander, in dem nachbarliche Abwehrrechte ggf. ausgeschlossen sind.
56Vgl. Hoppenberg/Paar/Schäfer, in Hoppenberg/de Witt, Handbuch des öffentlichen Baurechts, Stand: Februar 2024, H. Öffentlich-rechtlicher Nachbarschutz, Rn. 38, unter Bezugnahme auf BVerwG, Beschluss vom 27.4.1988- 4 B 67.88 -, BauR 1988, 586 = juris, Rn. 3.
57Auf eine tatsächliche Beeinträchtigung der Kläger durch das Vorhaben der Beigeladenen kommt es nicht an.
58Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte u. a., BauO NRW, Stand: September 2024, § 6 Rn. 79 m. w. N.
59Daher vermag auch die von den Beigeladenen hervorgehobene faktische „Realteilung“ des Flurstücks durch die Einbeziehung in die jeweiligen Gartenbereiche eine Rechtsverletzung nicht auszuschließen.
60Eine Rechtsverletzung der Kläger ist auch nicht mit Blick auf die vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegte Rechtsprechung u. a. des erkennenden Gerichts ausgeschlossen,
61vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 6.10.1999 - 7 B 1766/99 -, n. v., und vom 30.9.1996 - 10 B 2276/96 -, juris, Rn. 5 ff., OVG Lüneburg, Beschluss vom 9.9.2004 - 1 ME 194/04 -, BauR 2005, 372 = juris, Rn. 10 ff.;
62wonach die Erstreckung von Abstandsflächen auf private Wegeflächen regelmäßig keinen Abwehranspruch des Eigentümers auslöst, weil die Schutzzwecke des § 6 BauO NRW einem solchen Grundstück nicht zugutekommen. Unabhängig davon, ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist,
63vgl. etwa mit Bedenken auch VG Köln, Beschluss vom 5.9.2007 - 2 L 944/07 -, juris, Rn. 15 ff.,
64findet sie auf eine private Grünfläche schon mit Blick auf deren Aufenthaltsfunktion keine Anwendung.
65III. Dem Anfechtungsbegehren der Kläger stehen auch keine sonstigen Gründe entgegen. Es ist weder rechtsmissbräuchlich (dazu 1.) noch mit Blick auf die Möglichkeit der Erteilung einer Abweichung von den Vorgaben des § 6 Abs. 1 BauO NRW durch die Beklagte ausgeschlossen (2.).
661. Ein dem Anfechtungsbegehren entgegenstehender Rechtsmissbrauch ist nicht anzunehmen. Ein solcher könnte in Betracht kommen, wenn die Abstandsfläche etwa nur um wenige Millimeter verkürzt ist, es dem Bauherrn also möglich ist, durch geringfügige Veränderungen das Vorhaben so abzuwandeln, dass es vom Nachbarn hingenommen werden muss, ohne dass hierdurch ein faktisch wahrnehmbarer Vorteil für den Nachbarn entsteht.
67Vgl. etwa OVG NRW, Urteil vom 14.1.1994 - 7 A 2002/92 -, NVwZ-RR 1885, 187, 189, m. w. N.
68Ein solcher Fall liegt jedoch nicht vor, das Vorhaben der Beigeladenen wurde in einem Abstand von nur 1,5 m zum Flurstück 315 errichtet, die erforderlichen Abstandsflächen werden daher deutlich unterschritten.
69Ebenso wenig erscheint das Anfechtungsbegehren rechtsmissbräuchlich, weil die Kläger mit ihrem Gebäude selbst die Abstandsvorschriften nicht einhielten. Ihr Haus befindet sich in einem den Vorgaben des § 6 BauO NRW genügenden Abstand zur Grenze zum Flurstück 315.
702. Der Anspruch der Kläger auf Aufhebung der sie in ihren Rechten verletzenden Baugenehmigung vom 11.4.2019 ist auch nicht mit Blick auf die Möglichkeit der Erteilung einer Abweichung von den Vorgaben des § 6 BauO NRW ausgeschlossen.
71a) Der Aufhebungsanspruch der Kläger ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Beklagte die Baugenehmigung unmittelbar unter Zulassung einer Abweichung von § 6 BauO NRW zugunsten der Beigeladenen erneut erteilen müsste und sich das Begehren auf Aufhebung daher als eine unzulässige Rechtsausübung darstellte.
72Vgl. etwa OVG NRW, Urteil vom 17.3.2021 - 7 A 1791/19 - juris, Rn. 51 ff.
73Die Beigeladenen haben aus § 6 Abs. 13 i. V m § 69 BauO NRW in der im Zeitpunkt der Senatsentscheidung geltenden Fassung keinen Anspruch auf die Zulassung einer Abweichung von den Vorgaben des § 6 BauO NRW. Er ergibt sich insbesondere nicht aus § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauO NRW. Danach sind Abweichungen u. a. von § 6 BauO NRW bei bestehenden Anlagen zuzulassen zur Modernisierung von Wohnungen und Wohngebäuden, der Teilung von Wohnungen oder der Schaffung von zusätzlichem Wohnraum durch Ausbau, Anbau, Nutzungsänderung oder Aufstockung, deren Baugenehmigung oder die Kenntnisgabe für die Errichtung des Gebäudes mindestens fünf Jahre zurückliegt.
74§ 6 Abs. 13 Satz 2 und § 69 Abs. 1 Satz 5 BauO NRW lassen erkennen, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer solchen Abweichung nicht mehr auf die von der früheren ständigen Rechtsprechung der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts geforderten atypischen Grundstückssituationen beschränken wollte.
75Vgl. etwa zu § 69 BauO NRW a. F. OVG NRW, Beschlüsse vom 15.2.2016 - 10 A 414/15 -, BauR 2016, 1012 = juris, Rn. 9 f., vom 15.7.2015 - 7 B 420/15 -, juris, Rn. 15, und vom 24.9.2014 - 2 B 570/14 -, juris, Rn. 8, jeweils m. w. N.; zum neuen Recht: offen lassend OVG NRW, Beschluss vom 10.1.2023 - 10 B 1040/22 -, juris, Rn. 7 und Urteil vom 7.3.2024 - 10 A 2791/21 - juris, Rn. 64 ff., kritisch Hüwelmeier, in: Spannowsky/Saurenhaus, BauO NRW, Stand: November 2024, § 69 Rn. 25 ff.
76Zugleich zeigt § 69 Abs. 1 Satz 5 BauO NRW, dass es nach wie vor einer Atypik in Form eines Sonderinteresses bedarf, das im Fall von § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauO NRW aus der Absicht zur Modernisierung und Erweiterung bestehender Wohnungen bzw. Wohngebäude folgen soll.
77Vgl. auch ausführlich VG Düsseldorf, Urteil vom 8.10.2021 - 4 K 3119/20 -, juris, Rn. 84 ff.
78Das Bestehen eines solchen Sonderinteresses genügt aber nicht schon für sich genommen, um den Anspruch auf Zulassung einer Abweichung zu begründen. Daneben müssen die Voraussetzungen des § 69 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 BauO NRW vorliegen. Danach können Abweichungen zugelassen werden, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des § 3 BauO NRW, vereinbar sind.
79Vgl. zur Anwendbarkeit dieser Voraussetzung OVG NRW, Urteil vom 7.3.2024 - 10 A 2791/21 -, BauR 2024, 1325 = juris, Rn. 52 ff.
80§ 6 BauO NRW dient der Gefahrenabwehr. Die Norm soll einen ausreichenden Sozialabstand sowie ein Mindestmaß an Belichtung und Belüftung sicherstellen und den vorbeugenden und abwehrenden Brandschutz sicherstellen.
81Vgl. Kockler, in Spannowsky/Saurenhaus, BauO NRW, Stand: November 2024, § 6 Rn. 1; Kamp/Henkel, in Schönenbroicher/Kamp/Henkel, BauO NRW, 2. Aufl. 2022, § 6 Rn. 1 ff. m. w. N.
82Dies zugrunde gelegt ist im streitgegenständlichen Einzelfall eine Abweichung von den Vorgaben des § 6 BauO NRW nicht mit öffentlichen Belangen vereinbar. Eine Reduzierung des an sich gebotenen Abstands von 3,00 m um 50 % auf vorliegend 1,50 m ist - ungeachtet des brandschutzrechtlichen Mindestabstands nach § 30 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BauO NRW von 2,50 m - jedenfalls mit einem Mindestmaß an Sozialabstand, Belichtung und Belüftung nicht vereinbar.
83Wie das Sonderinteresse des Bauherrn in Fällen des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauO NRW im Übrigen beschaffen sein müsste, um im Fall einer Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen nach § 69 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 BauO NRW eine Abweichung zu rechtfertigen, hatte der Senat daher vorliegend nicht zu entscheiden. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob ein solches Sonderinteresse auch unter Berücksichtigung des besonderen Gewichts, das § 69 Abs. 1 Satz 5 BauO NRW ihm einräumt, auch weiterhin eine - möglicherweise nicht zwingend grundstücksbezogene - atypische Konstellation erfordert, die der Gesetzgeber bei der differenzierten Ausgestaltung des § 6 BauO NRW nicht bedacht hat und in der die strikte Anwendung der Norm zu mit ihren Zwecken nicht zu vereinbarenden Ergebnissen führt,
84vgl. etwa befürwortend Hüwelmeier, in: Spannowsky/Saurenhaus, BauO NRW, Stand: November 2024, § 69 Rn. 26 f. und kritisch OVG NRW, Urteil vom 7.3.2024 - 10 A 2791/21 -, BauR 2024, 1325 = juris, Rn. 64 ff.
85Die Einhaltung des § 6 Abs. 1 BauO NRW führt auch im vorliegenden Einzelfall zu keiner offenbar nicht beabsichtigten Härte im Sinne von § 69 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 BauO NRW.
86b) Dem Aufhebungsanspruch der Kläger steht ferner nicht die Möglichkeit entgegen, dass die Beklagte nach § 69 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW zugunsten der Beigeladenen eine Abweichung von § 6 BauO NRW zulassen könnte.
87Dabei kann offen bleiben, ob die bloße Möglichkeit der Zulassung einer Abweichung ausreichend sein kann, um den Aufhebungsanspruch der Kläger auszuschließen.
88Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 14.8.2017- 2 B 1388/16 -, juris, Rn. 7 ff., und VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 18.10.2023 - 7 K 1178/20 -, juris, Rn. 37 ff.
89Denn vorliegend fehlt es - wie dargelegt - bereits an den tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung.
90Anderweitige rechtliche Ansatzpunkte für die Erteilung einer Abweichung zugunsten des Anbaus an der südwestlichen Ecke des Hauses der Beigeladenen sind weder aufgezeigt noch sonst ersichtlich.
91Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3 VwGO.
92Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO und §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
93Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision ergibt sich aus § 132 Abs. 2 VwGO; Zulassungsgründe sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.