Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Dieses und das erstinstanzliche Urteil sind wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Eigenen Angaben zufolge reiste der am 00.00.1975 in Jhang/Pakistan geborene Kläger ohne Papiere am 10.4.2012 nach Deutschland ein und beantragte am 16.4.2012 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Er gab dabei an, er sei pakistanischer Staatsangehöriger punjabischer Volkszugehörigkeit und Angehöriger der Ahmadiyya. Zum Beleg seiner Zugehörigkeit zu der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft legte er eine unter dem 00.6.2012 gefertigte Bescheinigung der Ahmadiyya Muslim Jamaat e. V., Frankfurt a. M., vor, wonach er seit Geburt Mitglied der Ahmadiyya Muslim Jamaat sei.
3Zur Begründung seines Asylantrags führte er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 2.5.2012 aus: Er habe bereits in England, wo er sich von Januar 2011 bis Februar 2012 aufgehalten habe, ein Asylverfahren betrieben, was negativ verlaufen sei. Seine Personalpapiere befänden sich noch dort. In seiner Heimat habe er sich zuletzt unter der Anschrift Haus-Nr. 00/00 X. Rabwah, Chiniot, Punjab aufgehalten. Seine 1982 geborene Ehefrau heiße U. X., er habe sie am 00.00.2004 in Rabwah geheiratet, sie wohne noch unter der genannten Anschrift. Er habe zwei Kinder, F. K. N., geboren 00.00.2005, und D. P., geboren 00.00.2008. Seine Eltern hießen O. E. und G. Q., sein Vater sei bereits verstorben. Sein Großvater namens A. E. sei ebenfalls verstorben. In England hielten sich ein Bruder und eine Schwester auf, in Kanada ein Bruder. Der Rest der Familie lebe in Pakistan. Er habe in Pakistan das Studium der Mathematik und Statistik abgeschlossen, danach im Lebensmittelgeschäft seiner Familie gearbeitet. Er habe Pakistan am 22.1.2011 verlassen und sei nach England geflogen. Nach Abschluss des dortigen Asylverfahrens sei er über Belgien nach Deutschland gekommen, wo er sich seit dem 10.4.2012 aufhalte. Aus Pakistan sei er geflohen, weil er der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya angehöre. Er habe einer Abteilung der Ahmadiyya vorgestanden, die in Afrika Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen und ähnliches betreibe. Er sei dafür zuständig gewesen, Krankenhäuser mit entsprechenden Gerätschaften zu versorgen. Diese Organisation heiße Tahrīk-i-Jadīd, seine Abteilung habe Majlis Nuṣrat Jahān geheißen. Er habe auch die Buchhaltung gemacht. Wegen dieser Tätigkeit habe er viel nach Lahore reisen müssen. Auf einer dieser Reisen habe er im Juli 2009 eine Person namens H. E. kennengelernt. Mit ihm habe er auch über die Ahmadiyya-Gemeinschaft gesprochen, wobei dieser großes Interesse gezeigt habe. H. E. habe ihn vor etwa anderthalb Jahren vier bis fünf Mal zuhause besucht, habe aber auch Kontakt zu einem anderen Ahmadiyya-Mitglied gehabt. Er habe wohl die Religion wechseln wollen. Zuletzt habe er H. E. am 15.12.2010 an einer Bushaltestelle in Lahore getroffen. Sie seien zusammen zurückgefahren. Wegen eines Busschadens hätten sie aussteigen müssen. H. E. habe ihm dann angeboten, mit ihm in einem von ihm herbeigerufenen PKW nach Hause zu fahren. Es sei bereits dunkel gewesen. In dem Auto habe sich auch ein sunnitischer Priester befunden, der ihn nach etwa zehn bis 15 Minuten Fahrzeit gefragt habe, wer er sei. Er habe dem Priester vertraut, weil auch H. E. ihm wohl vertraut habe. Deswegen habe er alles erzählt, habe aber zuvor nicht gewusst, dass es sich um einen sunnitischen Priester handle. Danach habe der Fahrer des PKW eine Pistole, eine dritte Person ein Messer hervorgeholt. Sie hätten alles über seine Arbeit wissen wollen, er habe aber nichts darüber sagen wollen und mit ihnen gekämpft. Er habe die Autotür öffnen und aus dem PKW fliehen können. Die neben ihm sitzende Person sei ebenfalls aus dem Auto herausgefallen. Auf der Straße sei er beschossen worden, habe aber mit Hilfe von zwei Leuten auf einem Motorrad fliehen können. Sie hätten ihn zu einem Krankenhaus gebracht, wo ihm von den Ärzten ein Attest wegen des Überfalls durch eine terroristische Vereinigung ausgestellt worden sei. Am nächsten Tag habe er bei der Polizeibehörde Anzeige erstatten wollen, habe aber mitbekommen, dass der sunnitische Priester eine halbe Stunde nach ihm bei der Polizei eingetroffen sei und sich mit der Polizei besprochen habe. Deshalb habe er von einer Anzeige abgesehen. Etwa 22 Tage später sei er von einem Freund auf einen Zeitungsartikel aufmerksam gemacht worden, in dem ihm vorgeworfen worden sei, über seinen Glauben zu predigen. Zwei oder drei Tage später seien zwei Personen zu seinem Haus gekommen, hätten den Hund vergiftet und seiner Frau gedroht, die gesamte Familie zu töten. Danach sei er untergetaucht und habe auf Anraten seiner Familie das Land verlassen. Seine Frau und seine Kinder lebten jetzt in Karachi bei ihren Eltern. Er habe seine Familie nicht mitnehmen können, weil diese ihm gesagt habe, er solle sein Leben retten.
4Mit Bescheid vom 17.9.2014 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Anerkennung als Asylberechtigter sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen, und forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Pakistan auf, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Zur Begründung führte es ‒ abgesehen von der Ablehnung einer Gruppenverfolgung für Ahmadis aus Pakistan ‒ aus, dass der Vortrag des Klägers bereits deshalb widersprüchlich sei, weil er ‒ obwohl gläubiger Muslim ‒ seine besonders schutzbedürftige Familie in der Heimat zurückgelassen und über Probleme wegen ihrer Glaubenszugehörigkeit nichts berichtet habe. Der Bescheinigung der Ahmadiyya Muslim Jamaat werde kein großer Beweiswert zugemessen, weil die Informationsbeschaffung der Organisation nicht eindeutig und die Fälschungsanfälligkeit für aus Pakistan beschaffte Dokumente hoch sei. Die Probleme des Klägers hätten eher im wirtschaftlichen Bereich gelegen.
5Mit seiner Klage hat der Kläger unter Bezugnahme auf die mit Zeitungsartikeln belegte neuere Entwicklung in Pakistan geltend gemacht, er übe seine Religion im Bundesgebiet auch öffentlich aus, weil es Teil seiner religiösen Identität sei, sich zu seinem Glauben zu bekennen, ihn zu praktizieren und über ihn zu informieren.
6Der Kläger hat eine Bescheinigung der Ahmadiyya Muslim Jamaat e. V., Frankfurt a. M., vom 00.10.2014 vorgelegt, wonach er gemäß dem Bericht der Zentrale in Pakistan gebürtiges Mitglied der Gemeinde sei. Er habe in Pakistan guten Kontakt zur Gemeinde gepflegt, regelmäßig an den Gemeindeveranstaltungen teilgenommen und seine Mitgliedsbeiträge ordnungsgemäß entrichtet. Er sei in Pakistan zuständig für die Finanzen in der lokalen Jugendorganisation gewesen. Er sei Mußi. Auch in Deutschland besuche der Kläger regelmäßig die Moschee und nehme an den örtlichen sowie zentralen Gemeindeveranstaltungen teil. Er entrichte seine Mitgliedsbeiträge ordnungsgemäß und sei zuständig für audiovisuelle Medien in seiner lokalen Gemeinde.
7Weiterhin hat er vorgetragen, ihm könne nicht entgegengehalten werden, dass er seine Frau und seine Kinder in Pakistan zurückgelassen habe. Zum einen hätten die Gegner es in erster Linie auf ihn abgesehen und gegen ihn Anzeige erstattet, über die dann in der Presse berichtet worden sei. Zum anderen sei seine Familie nach Karachi umgezogen. Zudem hätte eine gemeinsame Ausreise aus Pakistan enorme Kosten verursacht. Die Familie habe sein Leben retten wollen. Er sei ein aktives und bekennendes Mitglied der Ahmadiyya-Gemeinschaft. Er habe in Pakistan leitende Funktionen in seiner örtlichen Gemeinschaft innegehabt. Er praktiziere seinen Glauben auch im Bundesgebiet aktiv. Als Mußi habe er ein Vermächtnis zugunsten der Ahmadiyya-Gemeinde abgegeben, das ihn zur Zahlung eines erhöhten Mitgliedsbeitrags und zu einem religiös vorbildlichen Lebenswandel verpflichte. Er setze sich auch öffentlich für seinen Glauben und seine Gemeinde ein, er habe an einer Baumpflanzaktion, Silvesterreinigungsaktionen und verschiedenen Jugendveranstaltungen etc. teilgenommen.
8Mit Schriftsatz vom 6.5.2015 hat er Kopien der Geburtsurkunden seiner Kinder F. K. N. und D. P. vorgelegt, in denen als Religionszugehörigkeit der Kinder jeweils „Ahmedi“ eingetragen ist.
9Auf gerichtliche Nachfrage hat der Kläger zum Beleg des in der Anhörung geschilderten Vorfalls mit Schriftsatz vom 16.6.2015 Kopien von Beglaubigungen einer „complaint“ nach Section 298-C, 324 PPC des Mulvi. S. E. vom 24.12.2010 an den Court of Judicial Magistrate Chiniot, einer Zeugenliste des Vorgenannten, zweier Gerichtsvermerke und eines Berichts des Casualty Medical Officer des District Head Quarter Hospital auf einem Vordruck des „Govt Of Punjab Health Depatment“ vom 15.12.2010 sowie die Kopie eines Berichts der Zeitung „Daily Business Report“ nebst Übersetzung vorgelegt. Das Auswärtige Amt hat auf gerichtliche Nachfrage zur Echtheit der „complaint“ und des Berichts des Krankenhauses unter dem 3.11.2015 mitgeteilt, dass das Dokument über die „complaint“ nach Nachforschungen am Bezirksgericht Chiniot eine Fälschung sei. Es entspreche nicht den üblicherweise verwendeten Vordrucken und verschleiere bewusst Fakten, wie den Namen des zuständigen Richters und des Gerichts. Weiter gebe es weder ein Datum der Registrierung noch der Entscheidung. Der im Dokument genannte Rechtsanwalt habe bestätigt, dass er diese „complaint“ nicht anhängig gemacht habe. Die vorgelegte Bescheinigung des Krankenhauses stimme mit dem Original überein, das in den Registern des Krankenhauses hinterlegt sei.
10Hierauf hat der Kläger im Januar 2016 unter Vorlage von zwei Schreiben eines Anwaltsbüros aus Chenab Nagar vom 4.3.2011 und 21.6.2011 vorgetragen, dass die „complaint“ gegen ihn sehr wohl bei Gericht registriert und im Jahr 2011 auch noch anhängig gewesen sei; auch der Krankenhausbericht sei echt. Unter Vorlage eines Schreibens der Ahmadiyya Muslim Association UK vom 21.2.2011, in dem auf mögliche Abweichungen zwischen einer mündlichen und einer künftigen schriftlichen Bestätigung ihres Hauptquartiers hingewiesen worden ist, hat er vorgetragen, dass er von September 2002 bis Januar 2011 als „full-time administrative clerk“ im Hauptquartier der Ahmadiyya Gemeinde in Rabwah beschäftigt gewesen sei, zuletzt seit April 2006 mit der Abordnung in Afrika im Department Majlis Nusrat Jehan. Er praktiziere seinen Glauben aktiv im Bundesgebiet, leite des Öfteren die täglichen Gebete in dem Gebetszentrum in Isselburg und fungiere auch bei speziellen Gebeten als Vorbeter. Weiter engagiere er sich bei Versorgungsarbeiten in der Gemeinde und an Bücherständen sowie Flugblattaktionen. Bei der Nationalversammlung (Jalsa Salana) 2015 sei er als Helfer im Bereich Sicherheit tätig gewesen. Er sei eine religiös geprägte Persönlichkeit, die es als einen Teil ihrer Identität ansehe, mit dem Glauben auch in die Öffentlichkeit hineinzuwirken.
11In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger ausgeführt:
12Autor des Schreibens, das Gegenstand der Auskunft des Auswärtigen Amts gewesen sei, sei der Rechtsanwalt des sunnitischen Priesters, der die Anzeige gegen ihn erstattet habe. Sein eigener Anwalt habe Erkundigungen bei Gericht eingeholt und ihm mitgeteilt, dass ein Beschwerdeverfahren anhängig sei. Was aus diesem Verfahren geworden sei, wisse er nicht. Seine Familie sei inzwischen nach Karachi umgezogen. Er selbst habe gegen den sunnitischen Priester keine Anzeige erstattet, weil die Polizei verbündet sei und selbst Straftaten begehe. Er möchte Gerechtigkeit erfahren und auch, dass seine Familie nachkomme. Er habe Unterlagen über sein Asylverfahren in England, diese befänden sich bei ihm zuhause. Er habe die Unterlagen auch seinem Rechtsanwalt in Deutschland übergeben. Während seines Verfahrens in England habe er Unterlagen seines Rechtsanwalts aus Pakistan angefordert. Diese seien jedoch erst nach seiner Anhörung eingetroffen, woraufhin letztlich eine negative Entscheidung gegen ihn ergangen sei.
13Zu seinem Verfolgungsschicksal hat er in der mündlichen Verhandlung vorgetragen: Es seien Personen zu ihnen gekommen. Vorher sei ihr Hund vergiftet worden. Diese Personen hätten seiner Frau, die hinter der verschlossenen Tür gestanden habe, gesagt, dass er auf dieselbe Weise vergiftet werden würde. Bei der Anhörung habe er nicht gesagt, dass seine Frau und seine Kinder auch bedroht worden seien. Er selbst sei direkt von diesen Personen bedroht worden, damit auch indirekt seine Familie. Nach seiner Ausreise sei seine Familie nicht bedroht worden. Sie sei nach Karachi gezogen. Er wisse nicht, wie der Vorfall mit dem sunnitischen Priester in die Presse gelangt sei, wahrscheinlich habe der Priester dies selbst veranlasst.
14Er hat unter Bezugnahme auf die Klageschrift beantragt,
15die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 5 ihres Bescheides vom 17.9.2014 zu verpflichten festzustellen, dass die Flüchtlingseigenschaft vorliegt,
16die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG i. V. m. § 4 Abs. 1 AsylG vorliegen,
17die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
18Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf die Gründe des angefochtenen Bescheids schriftsätzlich beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dem Kläger sei die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Er sei unverfolgt ausgereist. Gegenteiliges folge nicht aus seiner Mitgliedschaft in der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft. Zwar würden die Ahmadis durch eine speziell gegen sie gerichtete Gesetzgebung diskriminiert und seien Übergriffen seitens extremer religiöser Gruppierungen ausgesetzt. Jedoch könne nicht davon ausgegangen werden, dass für jeden einzelnen Ahmadi konkret die Gefahr bestehe, verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Vielmehr lebe der weitaus größte Teil der Ahmadis friedlich mit den muslimischen Nachbarn zusammen. Verfolgungsrelevante individuelle Umstände lägen nicht vor. Dem Kläger sei nicht abzunehmen, dass er wegen seiner Religionszugehörigkeit relevante Probleme in Pakistan gehabt habe. Hinsichtlich der behaupteten ausreisebegründenden Ereignisse habe er unrichtige Tatsachen vorgetragen. Sein durch anwaltliche Schreiben belegter Vortrag sei durch die Auskunft des Auswärtigen Amtes widerlegt worden. Der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung mit seinem Vorbringen zu diesen Ereignissen einen unglaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Der unwahre Vortrag betreffe den Kernbereich des klägerischen Vorbringens. Seine religiöse Betätigung in Deutschland werte das Gericht als auf die Anerkennung als Flüchtling gerichtet. Daran anknüpfend seien weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylVfG noch Anhaltspunkte für Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gegeben.
21Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht der Kläger unter Bezugnahme auf sein Vorbringen erster Instanz und im Zulassungsverfahren geltend, er sei eine religiös geprägte Persönlichkeit, habe seinen Glauben in Pakistan engagiert gelebt und sei dort für die Ahmadiyya-Gemeinde tätig gewesen. Ebenso lebe er seinen Glauben aktiv im Bundesgebiet. Er habe 2019 in Iserlohn an einem spirituellen Trainingsprogramm der dortigen Ahmadiyya-Moschee, im Oktober und Dezember 2019 an Flyerverteilaktionen seiner Gemeinde in Wesel und Moers teilgenommen. Im Januar 2020 habe er in Bocholt an der Silvesterreinigungsaktion seiner Gemeinde und im Juni 2020 an einer Flyerverteilaktion im Kreis Borken teilgenommen. Konkrete Anhaltspunkte für die Einschätzung, er praktiziere seinen Glauben in Deutschland ausschließlich aus asyltaktischen Gründen, habe das Verwaltungsgericht nicht benannt. Unter Vorlage einer Bescheinigung der Ahmadiyya Muslim Jamaat e. V., Frankfurt a. M., vom 00.00.2024 bekräftigt er nochmals, dass er ein Mußi sei, der örtlichen Gemeinde als Zuständiger für die religiöse Erziehung in der lokalen Seniorenorganisation diene und bei sozialen sowie karitativen Aktivitäten helfe.
22Der Kläger beantragt,
23das auf die mündliche Verhandlung vom 4.3.2016 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Münster abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 5 ihres Bescheides vom 17.9.2014 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
24hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutz zuzuerkennen,
25höchsthilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
26Die Beklagte beantragt,
27die Berufung zurückzuweisen.
28Sie führt ergänzend aus, der Kläger könne sich nicht auf Grund seiner Zugehörigkeit zu der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft auf eine Gruppenverfolgung in Pakistan berufen. Die Bevölkerungszahl in Pakistan werde auf über 230 Millionen Menschen geschätzt, davon seien 96 % Muslime. Verlässliche Angaben zu der Zahl der Ahmadis in Pakistan gebe es nicht. Die Ahmadiyya-Gemeinschaft werde von der Mehrheitsrichtung der Muslime und nach der pakistanischen Verfassung nicht als muslimisch anerkannt, sondern als religiöse Minderheit betrachtet. Die konkret auf sie zielenden Strafvorschriften des Pakistanischen Strafgesetzbuches würden immer wieder zum Anlass genommen, um persönliche Streitigkeiten auszutragen oder die Ahmadis unter Druck zu setzen. Die Ahmadis würden häufig lange Zeit als Angeklagte in Haft verbringen, zu einer Verurteilung mit Hinrichtung sei es bislang jedoch noch nie gekommen. Die Vorschriften würden nicht ausschließlich auf Ahmadis angewandt, auch Christen und Muslime befänden sich unter den Angeschuldigten. Neben den staatlichen Restriktionen komme es immer wieder zu Übergriffen von Privaten gegen Ahmadis, vor denen die Polizei keinen ausreichenden Schutz gewähre. Für eine Annahme der Gruppenverfolgung fehle jedoch die entsprechende Verfolgungsdichte unter Berücksichtigung der Angriffe auf Ahmadis und ihrer Anzahl von drei bis vier Millionen Menschen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass der weitaus größte Teil der Ahmadis friedlich mit den muslimischen Nachbarn zusammenlebe.
29Auf entsprechendes Amtshilfeersuchen hat das Auswärtige Amt unter dem 20.6.2022 zu dem in England geführten Asylverfahren mitgeteilt, dass der Kläger am 22.1.2011 auf dem Luftweg in das Vereinigte Königreich eingereist sei und einen Asylantrag gestellt habe, der am 14.2.2011 abgelehnt worden sei. Hiergegen habe der Kläger unter dem 8.3.2011 erfolgreich Rechtsmittel eingelegt, gegen das wiederum der Staatssekretär des Innenministeriums Rechtsmittel eingelegt und vor dem Upper tribunal am 1.7.2011 obsiegt habe. Anträge des Klägers auf Zulassung eines weiteren Rechtsmittels seien abgelehnt worden. Er sei ab dem 24.4.2012 als flüchtig geführt worden. Auf Nachfrage hat der Kläger unter anderem die gerichtlichen Entscheidungen zu seinem in England geführten Asylverfahren vorgelegt. Aus diesen Unterlagen ergibt sich Folgendes:
30Schon im Juni 2009 hatte der Kläger, dessen Bruder nach seinen Angaben Präsident einer lokalen britischen Ahmadi-Gemeinde gewesen sei, zunächst erfolglos ein Visum zur Einreise nach Großbritannien beantragt und nach erfolgreicher Anfechtung der Ablehnungsentscheidung im September 2010 schließlich erhalten. Vom 22.10.2010 bis zur Rückkehr nach Pakistan am 14.11.2010 hatte er sich als Besucher in Großbritannien aufgehalten. Nach seiner erneuten Einreise hatte der Kläger im englischen Asylverfahren im Januar und Februar 2011 angegeben, dass er seit September 2002 in der Hauptverwaltung der Ahmadiyya Muslim Jamaat mit 500 bis 600 Mitarbeitern in Rabwah (Tahrīk-i-Jadīd, Anjuman, Ahmadia) tätig gewesen sei, dort zuletzt im Bereich der Hilfe für Krankenhäuser und Schulen in Afrika. Im Rahmen seiner Tätigkeit sei er häufiger in das ca. 150 km entfernte Lahore gefahren, um den Transport verschiedener medizinischer Gerätschaften zu organisieren. Der ihm bereits bekannte Geschäftsinhaber aus Lahore habe ihm dort einen Mann namens H. E. vorgestellt, der ebenfalls aus seiner Gegend in Chiniot gekommen sei. Sie seien zusammen mit dem Bus zurückgereist und er habe auf dessen Wunsch und Interesse während der ca. zweieinhalbstündigen Fahrt über Ahmadis erzählt. Er habe ihn vor eineinhalb Jahren bzw. zweieinhalb Monate vor dem fluchtauslösenden Vorfall im Dezember 2010 kennengelernt. H. E. habe ihn drei- bis viermal in Rabwah besucht und er habe ihn mit allen heiligen Orten der Ahmadis bekannt gemacht. H. E. habe bei seinem letzten Besuch vor etwa zweieinhalb Monaten den Wunsch geäußert, zu den Ahmadis zu konvertieren. Am 15.12.2010 habe er H. E. an der Bushaltestelle in Lahore getroffen. Bei der gemeinsamen Rückfahrt habe es eine Buspanne gegeben und H. E. habe ihn während der Wartezeit auf einen Ersatzbus zur Mitfahrt in einem herbeigerufenen Auto eingeladen. Während der Fahrt habe H. E. ihm den weiteren Mitfahrer auf dem Beifahrersitz, B. S. E., als „ihren Mulvi“ vorgestellt. Er habe diesem Mitfahrer auf seine Nachfragen erzählt, er arbeite für die Ahmadi-Organisation und lebe in Rabwah, was der Mitfahrer bereits gewusst habe. Als dieser nähere Details über seine Tätigkeit habe wissen wollen, die der Kläger nicht habe nennen wollen, habe der rechts neben ihm sitzende Mitfahrer ein Messer gezückt und der Fahrer eine Pistole. Er habe geschrien und versucht, die Tür zu öffnen. Sie hätten begonnen, ihn zu schlagen, um Informationen über die für die Organisation arbeitenden Ärzte zu erhalten. Er habe erkannt, dass sie ihn entweder töten oder entführen wollten, und die Autotür öffnen können, so dass H. E. und er aus dem Fahrzeug herausgefallen seien. Er sei weggelaufen, wobei er noch einen Schuss gehört habe, und von zwei Motorradfahrern, die zufällig vorbeigekommen seien, gerettet und zum Krankenhaus gebracht worden. Dort sei er behandelt worden, wobei der Arzt ihm gesagt habe, dass es sich um eine polizeiliche Angelegenheit handele und er einen Bericht schreiben werde. H. E. habe er nie wiedergesehen. Am nächsten Tag sei er zusammen mit seinem Bruder zur Polizei gegangen, wo man ihn habe warten lassen. Etwa eine halbe Stunde später sei B. S. E. dort auch erschienen und habe mit den Beamten geredet und getuschelt. Deshalb seien sein Bruder und er wieder gegangen; sie hätten erkannt, dass sie nichts hätten ausrichten können. Seinem Arbeitgeber habe er von dem Vorfall nicht berichtet, weil er seinen Beruf nicht habe verlieren wollen. 20 bis 22 Tage später hätte ein guter Freund ihm einen Zeitungsartikel gezeigt, in dem es um ihn gegangen sei. Auf Hinweis eines bei Gericht arbeitenden Freundes sei er zum Gericht gegangen und habe dort den Bericht erhalten, von dem in der Zeitung die Rede gewesen sei. Alternativ sei sein Freund zum Gericht gegangen und habe eine Kopie des Berichts erhalten. Alternativ habe er seinen Anwalt gebeten, das Dokument vom Gericht zu holen, um nicht selbst ergriffen zu werden. Zwei Tage später habe er festgestellt, dass jemand seinen Hund getötet habe, während er zu Haus gewesen sei. Seine Frau habe ihm am selben Tag nach seiner Rückkehr von der Arbeit berichtet, dass einige Unbekannte während seiner Abwesenheit nach ihm gesucht und gesagt hätten, dass er wie sein Hund getötet werde. Da sie einen Schleier getragen habe, habe sie nicht gewusst, wie viele Männer gekommen seien und wie sie ausgesehen hätten. Er habe sich danach versteckt gehalten und Pakistan fünf bis sechs Tage später in Richtung Großbritannien am 22.1.2011 verlassen. Bis dahin habe er keine Pläne gehabt, das Land zu verlassen. Seit seiner Kindheit bis zu dem Vorfall am 15.12.2010 habe er nie einen Kampf oder Streit mit irgendjemandem gehabt. Anderweitige Probleme habe er nicht gehabt. Sein Leben sei nur wegen seiner Zugehörigkeit zu den Ahmadis in Gefahr, nur wegen seines Glaubens. Bis zu dem kürzlichen Vorfall habe er in Pakistan nichts zu befürchten gehabt. Bei einer Rückkehr nach Pakistan fürchte er sich vor H. E. und Mulvi. S. E..
31Im weiteren Verlauf des britischen Asylverfahrens hatte der Kläger angegeben, er habe bereits 2001 in Lahore direkt nach seiner Ausbildung eine Arbeitsstelle angetreten, die ihm, nachdem seine religiöse Zugehörigkeit bekannt geworden und er von Arbeitskollegen beschimpft und angegriffen worden sei, gekündigt worden sei. Ebenso habe er damals seine Mietwohnung verlassen müssen, weil eine Reihe bewaffneter Männer nach ihm gefragt habe. Danach habe er eine Zeit in dem Geschäft seines Vaters in Karachi gearbeitet. Auch dort sei seine Religionszugehörigkeit bekannt geworden, er sei auf Veranlassung eines islamischen Gelehrten (Mulvi) von der Polizei verhaftet und nur gegen Kaution wieder entlassen worden. Deswegen habe er Karachi verlassen und sei nach Rabwah gezogen. Später habe er erfahren, dass seine Familie in Karachi große Probleme gehabt habe.
32Im Rahmen der Ablehnung des Asylantrags war zugestanden worden, dass der Kläger ein Ahmadi von Geburt sei, ihm war jedoch weder seine Arbeitstätigkeit für die Ahmadis noch der Vorfall vom 15.12.2010 geglaubt worden. Die vorgelegten Dokumente waren als falsch erachtet worden. Das Upper Tribunal führte nach erneuter Anhörung in der Rechtsmittelentscheidung aus, dass dem Kläger der Vorfall vom 15.12.2010 nicht geglaubt werden könne. Die Schilderung erscheine schon von ihrem Ablauf her nicht glaubhaft, der Kläger habe praktisch keine näheren Kenntnisse über H. E. gehabt, bevor er ihn in die Ahmadiyya-Gemeinde in Rabwah eingeführt habe. Nicht ersichtlich sei, weshalb H. E. nach mehreren anderen Gelegenheiten seine Absicht, den Kläger zu entführen bzw. zu ermorden, von dem Zufall einer Buspanne habe abhängig machen sollen. Die vorgelegten Unterlagen könnten das Geschehen angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, auf Grund der hohen Korruption in Pakistan gefälschte Dokumente zu erhalten, nicht belegen. Angesichts dessen gehe der Richter davon aus, dass der Kläger eine Geschichte, die zu seiner Tätigkeit für die Ahmadiyya-Religionsgemeinschaft in Rabwah passe, erfunden habe. Ebenso wenig riskiere der Kläger angesichts seiner wenig herausragenden Tätigkeit und Position für die Religionsgemeinschaft bei einer Rückkehr asylrelevante Repressalien. Laufende Ermittlungen gegen ihn könnten nicht überzeugend belegt werden. Er habe Pakistan nicht wegen erlittener Verfolgung verlassen, sondern um ein besseres Leben zu erlangen. Gegen diese Entscheidung beantragte der Kläger unter dem 26.7.2011 vergeblich die Zulassung der Berufung beim Berufungsgericht (Court of Appeal) wegen Rechtsfehlern in der Bewertung der zum Beleg des Verfolgungsschicksals vorgelegten Unterlagen, der Hinweise der „country guidance“ zur Beurteilung der Verfolgungsgefahr für Ahmadis in Pakistan und der Beurteilung seines erhöhten Risikos.
33Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 28.1.2025 informatorisch angehört. Wegen seiner Angaben wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
34Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, des von der Beklagten über den Kläger geführten sowie des von der Ausländerbehörde des Kreises Borken beigezogenen Verwaltungsvorgangs und der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse, insbesondere derjenigen, die der Senat im Verfahren 4 A 2467/15.A gewonnen hat, verwiesen.
35Entscheidungsgründe:
36Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat seine Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17.9.2014 ist rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (unter A.), noch auf Gewährung subsidiären Schutzes (unter B.) oder Feststellung von Abschiebungsverboten (unter C.). Die Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtmäßig (unter D.).
37A. Nach den geltenden rechtlichen Maßstäben (unter I.), insbesondere unter Berücksichtigung einer Verfolgung aus religiösen Gründen (unter II.) unterliegt der Kläger allein wegen seiner Zugehörigkeit zu der Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya keiner flüchtlingsrelevanten Verfolgung in Pakistan. Eine solche ergibt sich auch nicht aus der vorgetragenen Verfolgungsgeschichte des Klägers oder aber, weil es sich bei ihm um einen bekennenden Ahmadi handeln könnte, für den die öffentliche Glaubensausübung unverzichtbar ist (unter III.).
38I. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist nach § 77 Abs. 1 AsylG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, mithin das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2.9.2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 25.10.2024 (BGBl. I Nr. 332), ‒ AsylG ‒ und das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz ‒ AufenthG ‒) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.2.2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 25.10.2024 (BGBl. I Nr. 332). Diese Bestimmungen beruhen auf der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9, ber. ABl. 2017 L 167 vom 30.6.2017, S. 58, nachfolgend RL 2011/95/EU).
39Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Buchst. a AsylG ist ‒ im Einklang mit dem unionsrechtlichen und dem internationalen Flüchtlingsrecht ‒ ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) – Genfer Flüchtlingskonvention (GK) –, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – vgl. zur Definition dieser Begriffe § 3b Abs. 1 AsylG – außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
40Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten zunächst Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) – EMRK – keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), ferner Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG).
41Vgl. BVerwG, Urteile vom 19.1.2023 ‒ 1 C 35.21 ‒, juris, Rn. 19, und vom 4.7.2019 ‒ 1 C 33.18 ‒, juris, Rn. 10 f.
42§ 3a Abs. 2 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlungen beispielhaft u. a. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden sowie unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung. Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
43In die nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG und Art. 9 Abs. 1 Buchst. b RL 2011/95/EU erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z. B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2011/95/EU entspricht.
44Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 36.
45Zu dem Verfolgungsgrund der Religion im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG hat das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2013 unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich sowie konkret in Bezug auf die Verfolgungsgefahr von Ahmadis in Pakistan Folgendes ausgeführt:
46„2.3 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat auf Vorlage des Senats durch Urteil vom 5. September 2012 (– Rs. C-71/11 und C-99/11 –, ABl EU 2012, Nr. C 331, 5 = juris, Rn. 57 ff.) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden können.
472.3.1 Der Gerichtshof sieht in dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten (EuGH a.a.O. Rn. 57). Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar (Rn. 58). Zunächst muss es sich um eine Verletzung dieser Freiheit handeln, die nicht durch gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Grundrechtsausübung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GR-Charta gedeckt ist. Weiterhin muss eine schwerwiegende Rechtsverletzung vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (Rn. 59). Das setzt nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie voraus, dass die Eingriffshandlungen einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf (Rn. 61).
482.3.2 Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Der Gerichtshof hält es mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht für vereinbar, die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach zu beurteilen, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift (Rn. 62 f.). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an der vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung für den Flüchtlingsschutz (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 ‒ BVerwG 1 C 9.03 ‒ BVerwGE 120, 16 <19 ff.>) nicht mehr fest. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (Rn. 65 mit Verweis auf Rn. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts).
49Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, richtet sich danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Der Gerichtshof verwendet in der verbindlichen deutschen Sprachfassung des Urteils (vgl. Art. 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012, ABI L 265/1 vom 29. September 2012) zwar nur den Begriff ‚verfolgt‘, ohne dies ausdrücklich auf eine strafrechtliche Verfolgung zu beziehen. Es wäre jedoch zirkulär, den Begriff der ‚asylerheblichen Verfolgung‘ durch ‚Verfolgung‘ zu definieren. Dafür spricht zudem ein Vergleich der deutschen mit der französischen, englischen und italienischen Fassung des Urteils. In allen drei zum Vergleich herangezogenen Sprachfassungen ist von strafrechtlicher Verfolgung die Rede. Darüber hinaus ist auch die im Fall der Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der (physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten.
502.3.3 Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Das ergibt sich insbesondere aus der Aussage des Gerichtshofs in Rn. 69, dass schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen kann, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z. B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an.
51Diesem Verständnis der Entscheidung, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem Ausländer bei ‚Ausübung dieser Freiheit‘ (Rn. 67 und 72) bzw. der ‚religiösen Betätigung‘ (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Denn damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut der entsprechenden Vorlagefragen 2a und 3 des Senats auf, ohne dass darin eine notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten (so auch Lübbe, ZAR 2012, 433 <437>). Diese Erstreckung auch auf einen erzwungenen Verzicht entspricht dem Verständnis des britischen Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) in seinem Grundsatzurteil vom 14. November 2012 (- MN and others [2012] UKUT 00389(IAC) Rn. 79) betreffend die religiöse Verfolgung von Ahmadis in Pakistan und dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom betreffend die Verfolgung wegen Homosexualität vom 7. Juli 2010 (HJ <Iran> <FC> <Appelat> v. Secretary of State for the Home Department [2010] UKSC 31 Rn. 82). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an seiner vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 a.a.O.) nicht mehr fest.
522.3.4 Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu erfüllen, von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (Rn. 70). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z. B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.2). Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (so auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11, Rn. 82).
53Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit sieht der Gerichtshof den Umstand an, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (Rn. 70). Denn der Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet (Rn. 71). Dabei bestätigt der EuGH die Auffassung des Senats, dass es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers ankommt, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 2010 ‒ BVerwG 10 C 19.09 ‒ BVerwGE 138, 270 Rn. 43). Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z. B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist.
54Der vom EuGH entwickelte Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nach dem Verständnis des Senats nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste (vgl. zu den strengeren Maßstäben der Rechtsprechung zur Gewissensnot von Kriegsdienstverweigerern: Urteil vom 1. Februar 1982 ‒ BVerwG 6 C 126.80 ‒ BVerwGE 64, 369 <371> m. w. N.). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen ‒ jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat ‒ nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (so schon Beschluss vom 9. Dezember 2010 a. a. O. Rn. 43).
55Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. Bei Ahmadis aus Pakistan ist zunächst festzustellen, ob und seit wann sie der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehören. Hierbei dürfte sich die Einholung einer Auskunft der Zentrale der Glaubensgemeinschaft in Deutschland anbieten, die ihrerseits auf die Erkenntnisse des Welt-Headquarters in London ‒ insbesondere zur religiösen Betätigung des Betroffenen in Pakistan ‒ zurückgreifen kann (so auch das britische Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14. November 2012 a. a. O. Leitsatz 5). Nähere Feststellungen über die religiöse Betätigung eines Ausländers vor seiner Ausreise verringern auch das Risiko einer objektiv unzutreffenden Zuordnung zu einer Glaubensgemeinschaft (s. a. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2012, S. 14). Zusätzlich kommt die Befragung eines Vertreters der lokalen deutschen Ahmadi-Gemeinde in Betracht, der der Asylbewerber angehört. Schließlich erscheint im gerichtlichen Verfahren eine ausführliche Anhörung des Betroffenen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in aller Regel unverzichtbar. Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Kläger seinen Glauben in Pakistan nicht in einer in die Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, sind die Gründe hierfür aufzuklären. Denn der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung erfolgte. Ergibt die Prüfung, dass der Kläger seinen Glauben in Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in Pakistan der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist, es sei denn, der Betroffene kann gewichtige Gründe hierfür vorbringen. Praktiziert er seinen Glauben hingegen in entsprechender Weise, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen.
562.3.5 Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann aber nur dann als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden, wenn der Asylbewerber ‒ über die soeben genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte hinaus ‒ bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.“
57Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 ‒ 10 C 23.12 ‒, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 22 ff.
58Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr die genannten Gefahren auf Grund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
59St. Rspr. vgl. BVerwG, Urteile vom 4.7.2019 ‒ 1 C 33.18 ‒, juris, Rn. 15, vom 1.6.2011 ‒ 10 C 25.10 ‒, BVerwGE 140, 22 = juris, Rn. 22, 24, m. w. N., vom 20.2.2013 ‒ 10 C 23.12 ‒, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32, und vom 5.11.1991 ‒ 9 C 118.90 ‒, BVerwGE 89, 162 = juris, Rn. 17.
60Bereits wegen eines relevanten Verfolgungsgrunds Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU privilegiert.
61Vgl. BVerwG, Urteil vom 4.7.2019 ‒ 1 C 33.18 ‒, juris, Rn. 16, sowie zur gleichlautenden Regelung in Art. 4 Abs. 4 der RL 2004/83/EG BVerwG, Urteil vom 1.6.2011 ‒ 10 C 25.10 ‒, BVerwGE 140, 22 = juris, Rn. 22, und Beschluss vom 6.7.2012 – 10 B 17.12 –, juris, Rn. 5, im Anschluss an EuGH, Urteil vom 2.3.2010 – C-175/08 u. a., Abdulla u. a. –, ECLI:EU:C:2010:105, juris, Rn. 94.
62Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Heimatland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung.
63Vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 – 10 C 5.09 –, BVerwGE 136, 377 = juris, Rn. 23, und vom 18.2.2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300 = juris, Rn. 15.
64Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
65vgl. BVerwG, Urteile vom 4.7.2019 ‒ 1 C 33.18 ‒, juris, Rn. 18 ff., und ‒ 1 C 31.18 ‒, juris, Rn. 20 ff., m. w. N.,
66ist es in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess Aufgabe des Tatsachengerichts, den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, dazu von Amts wegen die erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und sich eine eigene Überzeugung zu bilden (§§ 86 Abs. 1 Satz 1, 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Hierzu muss es die Prognosetatsachen ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau bewerten und sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung bilden. Die Überzeugungsgewissheit gilt nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu seiner persönlichen Sphäre zuzurechnenden Vorgängen, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden Beurteilung der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat. Diese ergeben sich vor allem aus den zu diesem Staat vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für diese Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Auf der Basis der so gewonnenen Prognosegrundlagen hat das Tatsachengericht bei der Erstellung der Gefahrenprognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden zu befinden. Diese in die Zukunft gerichtete Projektion ist als Vorwegnahme zukünftiger Geschehnisse typischerweise mit Unsicherheiten belastet. Zu einem zukünftigen Geschehen ist nach der Natur der Sache immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage möglich, hier am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Auch wenn die Prognose damit keines „vollen Beweises“ bedarf, ändert dies nichts daran, dass sich der Tatrichter gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO bei verständiger Würdigung der (gesamten) Umstände des Einzelfalls auch von der Richtigkeit seiner ‒ verfahrensfehlerfrei ‒ gewonnenen Prognose einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung die volle Überzeugungsgewissheit zu verschaffen hat. Im Rahmen dieses für die Entscheidungsfindung vorgegebenen Beweismaßes sind dabei auch (widerlegliche oder unwiderlegliche) tatsächliche Vermutungen, Beweiserleichterungen oder Beweislastregelungen heranzuziehen.
67Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.3.2021 – 1 B 2.21 –, juris, Rn. 8, m. w. N.
68Aus den in Art. 4 RL 2011/95/EU sowie den §§ 15 und 25 AsylG geregelten gesteigerten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Antragstellers folgt, dass es auch unter Berücksichtigung dieser Vorgaben Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Es ist daran festzuhalten, dass er dazu unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern hat, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u. a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.
69Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17.8.2010 – 8 A 4063/06.A –, juris, Rn. 33 f., m. w. N. aus der früheren höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Asylrecht.
70Die Gefahr einer den Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus begründenden Verfolgung kann sich nicht nur aus gegen den Betroffenen selbst gerichteten Maßnahmen (Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsschutzrelevanten Merkmals verfolgt werden, das der Betreffende mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (sog. Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt grundsätzlich eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. „Referenzfälle“ flüchtlingsrelevanter Verfolgung sowie ein „Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung“ sind im Rahmen der anzustellenden hinreichend verlässlichen Prognose gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung. Hängt die Verfolgungsgefahr von dem willensgesteuerten Verhalten des Einzelnen – etwa der verbotenen Ausübung des Glaubens in der Öffentlichkeit – ab, so ist für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben trotz der Verbote in gefahrdrohender Weise – regelmäßig in der Öffentlichkeit – praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Besteht für die – möglicherweise zahlenmäßig nicht große – Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, kann daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe derer, für die diese gefahrauslösenden Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen Identität darstellen und in diesem Sinne unverzichtbar sind, von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist.
71Vgl. St. Rspr. BVerwG, Urteile vom 22.5.2019 ‒ 1 C 11.18 ‒, juris, Rn. 24 f., vom 20.2.2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 33, vom 21.4.2009 – 10 C 11.08 –, juris, Rn. 13 ff., und vom 5.7.1994 – 9 C 158.94 –, BVerwGE 96, 200 = juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.
72Die Umstände, unter denen das Gericht die Überzeugung davon gewinnt, ob der Schutzsuchende eine verfolgungsträchtige religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, sind grundsätzlich einer abstrakt-generellen Verallgemeinerung nicht zugänglich. Es handelt sich stets um eine Frage des jeweiligen Einzelfalls.
73Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3.4.2020 ‒ 2 BvR 1838/15 ‒, juris, Rn. 26 ff., 34.
74Die Verwaltungsgerichte dürfen dabei weder eine inhaltliche „Glaubensprüfung“ noch eine Bewertung des Glaubens des Einzelnen oder der Lehre der Glaubensgemeinschaft vornehmen. Demgegenüber gehört die Frage, ob und bejahendenfalls welche Aspekte einer Glaubensüberzeugung oder Glaubensbetätigung in einem hinreichenden Maße für die religiöse Identität des individuellen Schutzsuchenden prägend sind oder nicht, und die damit angesprochene Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen, zu dem von dem Verwaltungsgericht überprüfbaren Sachvortrag des jeweiligen Asylbewerbers.
75Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3.4.2020 ‒ 2 BvR 1838/15 ‒, juris, Rn. 30 f.
76Die mit dieser Besonderheit des Erfordernisses einer Einzelfallprüfung im Fall geltend gemachter religiöser Verfolgung heranzuziehenden Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind hinsichtlich der erforderlichen „Verfolgungsdichte“ prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen zu erlangen ist (vgl. § 3c AsylG).
77Vgl. BVerwG, Urteile vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 –, BVerwGE 126, 243 = juris, Rn. 21 ff., und vom 5.7.1994 – 9 C 158.94 –, BVerwGE 96, 200 = juris, Rn. 20.
78Bei der Rechtsfigur der Gruppenverfolgung handelt es sich aber ohnehin lediglich um ein Hilfsmittel, um Rückschlüsse auf die individuelle Verfolgungsgefahr für den jeweiligen Ausländer nicht (oder nicht nur) aus seinem persönlichen Schicksal, sondern aus Maßnahmen gegen die ganze Gruppe zu ziehen, der der Asylbewerber angehört. Sie stellt sich somit lediglich als eine Beweiserleichterung und nicht etwa als Beweisverschärfung dar.
79Vgl. BVerwG, Urteile vom 22.5.2019 – 1 C 11.18 –, juris, Rn. 25, und vom 5.11.1991 – 9 C 118.90 –, BVerwGE 89, 162 = juris, Rn. 16.
80Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgt nach § 3e AsylG dann nicht, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Ob einem Ausländer in einem anderen Landesteil keine für den internationalen Schutz relevanten Gefahren drohen, ist regelmäßig nur dann entscheidungserheblich, wenn die in einem anderen Landesteil drohenden Gefahren nicht von dem Staat ausgehen. Erwägungsgrund 27 Satz 2 RL 2011/95/EU geht davon aus, dass bei staatlicher Verfolgung eine Vermutung dafür bestehen soll, dass dem Antragsteller kein wirksamer Schutz zur Verfügung steht. Geht eine Gefahrenlage im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 AsylG von einem anderen Akteur, etwa einer Partei oder Organisation, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrscht, aus (§ 3c Nr. 2 AsylG) und besteht sie nur in einem Teil seines Herkunftslandes, setzt der Verweis auf einen anderen Landesteil als Ort des internen Schutzes voraus, dass dem Ausländer dort nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut eine für internationalen Schutz beachtliche Gefahrenlage droht.
81Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.2.2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300 = juris, Rn. 14.
82II. Die für die rechtliche Beurteilung zu berücksichtigenden allgemeinen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisse über flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung aus religiösen Gründen bezogen auf Ahmadis in Pakistan stellen sich wie folgt dar:
831. Zum Hintergrund der Situation der Ahmadis in Pakistan hatten sowohl der Hessische Verwaltungsgerichtshof,
84Urteil vom 31.8.1999 ‒ 10 UE 864/98.A ‒, juris, Rn. 30 ff.,
85als auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg,
86Urteil vom 12.6.2013 ‒ A 11 S 757/13 ‒, juris, Rn. 58 ff.,
87das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
88„Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza S. K. (1835 – 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in K. lediglich einen Reformer im Sinne eines ‚wieder neubelebten‘ Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte ‚gesetzgebende‘ Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
89Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der dortigen Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar [Chenab Nagar ‒ Anmerkung des Senats] (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).“
90Vgl. ergänzend ausführlich zur Entstehungsgeschichte sowie zu den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die Ahmadis in Pakistan auch die sehr aufschlussreiche Darstellung im Judgement Sheet des Islamabad High Court vom 4.7.2018, W.P. No. 3862, 3847, 3896 & 4093/2017, Rn. 22 – 54, wonach der Religionsgründer im Gewand der Religion Interessen des britischen Imperialismus im indischen Subkontinent und darüber hinaus verfolgt, insbesondere Propaganda gegen den „Jihad“ betrieben haben soll, der die indischen Moslems motiviert habe, sich gegen den britischen Kolonialismus zu erheben, und dessen Anhänger zunehmend einflussreiche Positionen eingenommen sowie die Integrität des Islamischen Staates unterlaufen haben sollen.
912. Verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis sind aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht zu ermitteln. Die genannten Zahlen schwanken zwischen 400.000 und 5 Millionen.
92Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (Lagebericht Pakistan) vom 8.8.2022, Stand: Juni 2022, S. 11 ‒ mittlerweile schränkt das Auswärtige Amt seine Angabe auf etwa 0,2 % der Gesamtbevölkerung ein: Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 21.10.2024, Stand: Juli 2024, S. 14; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Pakistan, Version 6, vom 20.7.2023, S. 81; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 79.
93Der Islamabad High Court erhielt auf Anordnung im Jahr 2018 folgende Bevölkerungszahlen der Ahmadiyya: 104.244 (Zensus 1981), 286.212 (Zensus 1998). Zum Stichtag des Zensus 1981 bestand die Gesamtbevölkerung laut amtlicher Statistik noch aus 84.253.644, nach dem Zensus 1998 aus 132.352.279 Personen, von denen 1981 also 0,12 % und 1998 0,22 % angegeben hatten, Ahmadis zu sein.
94Vgl. Islamabad High Court, Judgement Sheet vom 4.7.2018, W.P. No. 3862, 3847, 3896 & 4093/2017, Rn. 6, 77; UK Border Agency, Country of Origin Information Report, Pakistan, 18.1.2010, S. 104, Rn. 19.52; Pakistan Statistical Year Book 2007, Table 16.16, Population Distribution by Religion, 1998 Census, https://www.pbs.gov.pk/publication/pakistan-statistical-year-book-2007; sowie Area & Population of Administrative Units (1998), 1951 – 1998 Censuses, https://www.pbs.gov.pk/content/area-population-aadministrative-units.
95Ausweislich der Volkszählung in Pakistan im Jahr 2017 betrug die Zahl derjenigen, die sich als den Ahmadis zugehörig erklärt hatten, 191.737 Personen und damit nur noch 0,09 % der pakistanischen Bevölkerung von insgesamt 207.684.626 [im Jahr 2023 241.499.431] Personen. Quellen zufolge boykottierten schon seit 1974 viele Ahmadis den Zensus, weil sie sich seitdem nicht mehr als Muslime registrieren lassen dürfen. Außerdem wird berichtet, dass sich viele Ahmadis aus Sorge vor Repressalien öffentlich nicht als solche zu erkennen geben.
96Vgl. Pakistan Bureau of Statistics, Pakistan National Census Report 2017, S. 177 (Table 9), abgerufen am 11.9.2023 unter: https://www.pbs.gov.pk/sites/default/files/population/census_reports/ncr_pakistan.pdf sowie Announcement of Results of 7th Polulation and Housing Census-2023, https://www.pbs.gov.pk/sites/default/files/population/2023/Pakistan.pdf; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Pakistan, Version 6, vom 20.7.2023, S. 81 ff.; die Zahl der Ahmadis in Pakistan wurde obergerichtlich bei Inkrafttreten der Anti-Ahmadi-Strafgesetzgebung zu Beginn der 1980er Jahre noch auf 1 bis 2 Millionen geschätzt, siehe dazu Hess. VGH, Urteil vom 5.12.1994 – 10 UE 77/94 –, juris, Rn. 28.
97Nach neueren vorsichtigen Schätzungen der Ahmadiyya Muslim Jamaat leben in Pakistan ca. 400.000 bis 500.000 Ahmadis, die aktiv ihren Glauben praktizieren.
98Vgl. UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan,1/2017, S. 28, Fn. 184; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 79; mit 500.00 bis 600.000 hat das Auswärtige Amt auf gerichtliche Anfrage kürzlich eine geringfügig höhere Zahl von in Pakistan lebenden Ahmadis mitgeteilt: Auskunft an das OVG NRW vom 20.2.2023, S. 11, Frage 29; ähnlich bereits UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 32.
99Die meisten Ahmadis leben im Punjab. Chenab Nagar (= Rabwah) gilt als Hauptort ihrer Gemeinschaft, dort sind ca. 90 bis 95 % der etwa 80.000 Einwohner zählenden Stadt Ahmadis. Die weiteren Hauptansiedlungsorte für Ahmadis sind Sialkot, Quetta, Multan, Rawalpindi, Karachi, Lahore und Faisalabad.
100Vgl. Austrian Red Cross, ACCORD, Pakistan, COI Compilation, April 2024, S. 51; Australian Government, Department of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report, Pakistan, 20.2.2019, S. 39, Rn. 3.114; Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 8.8.2022, Stand: Juni 2022, S. 11; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the international Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 28 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Pakistan, Version 6, vom 20.7.2023, S. 81; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 71.
1013. Die rechtliche Lage stellt sich in Pakistan für Ahmadis wie folgt dar:
102Der Islam wurde in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist zwar nach Art. 20 der Verfassung garantiert, steht allerdings unter dem Vorbehalt des Gesetzes, der öffentlichen Ordnung und der Moral („Subject to law, public order and morality“).
103Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 21.10.2024, Stand: Juli 2024, S. 12; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Pakistan, Version 6, vom 20.7.2023, S. 72 f.; ACCORD, Pakistan: Religious Minorities, März 2021, S. 15 f.; UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 10.
104Zudem wurden die Ahmadis nach erheblichen Unruhen im Land unter dem öffentlichen Druck der islamischen Mehrheitsbewegung durch eine – von einigen Enthaltungen abgesehen – einstimmig beschlossene Verfassungsänderung von 1974 ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit qualifiziert. Nach intensiven Anhörungen und Debatten hierüber hatte der seinerzeitige Premierminister das Problem der Zugehörigkeit der Ahmadis zum muslimischen Glauben in einer historischen Rede vor der Nationalversammlung als das komplexeste und schwierigste Problem bezeichnet, mit dem sich das Parlament seit der Staatsgründung zu befassen hatte, das jedes Haus, jedes Dorf und jeden Einzelnen im Land betreffe und im Lauf der Zeit zunehmend komplex geworden sei. Seit dieser Verfassungsänderung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetentums Mohammeds glaubt bzw. wer auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
105Vgl. EASO COI Meeting Report Pakistan, Februar 2018, Anm. 2.3, zitiert nach: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 7.5.2018, S. 16; Islamabad High Court, Judgement Sheet vom 4.7.2018, W.P. No. 3862, 3847, 3896 & 4093/2017, Rn. 39 f.
106Die Qualifizierung als Nicht-Muslime hat bereits unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren und nur Personen auf diesen Listen wählen können. Um hingegen ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidliche Erklärung zur Finalität des Prophetentums Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Als einzige religiöse Minderheit sind Ahmadis seit Jahren nicht im Parlament vertreten, weil sie sich selbst als Muslime verstehen und deshalb nicht für die Listenplätze der Parteien für nichtmuslimische Minderheiten kandidieren. Generell boykottieren sie Wahlen regelmäßig und in erheblichem Umfang. Dies führt unter anderem dazu, dass die Ahmadis selbst in der Stadt Chenab Nagar (= Rabwah), in der sie ungefähr 95 % der Einwohner ausmachen, weder im Gemeinderat vertreten sind noch Staatsbedienstete stellen.
107Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 21.10.2024, Stand: Juli 2024, S. 14; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Pakistan, Version 6, vom 20.7.2023, S. 82; U. S. Department of State, Pakistan 2022 Human Rights Report vom 20.3.2023, S. 40; UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 31 f.; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 73 ff.; Asian Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan, 2013, S. 39; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 3.0, Juni 2018, S. 47, Rn. 10.2.2.
108Weiterhin hat die von den Ahmadis nicht akzeptierte Qualifizierung als Nicht-Muslime Konsequenzen im strafrechtlichen Bereich. Die unter britischer Federführung zur Verhinderung religiöser Gewalt eingeführten Blasphemiegesetze wurden in den Jahren ab 1980 ergänzt um Strafnormen, die sich zum Teil direkt gegen Ahmadis richten.
109Vgl. UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 10 f.
110Namentlich drei 1984 eingeführte Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuchs befassen sich speziell mit den Ahmadis und dienen gewissermaßen der Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung.
111Section 298-B lautet:
112„(1) Wer als Angehöriger der Qadiani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis‘ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
113(a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des Heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ameer-ul Mumineen‘, ‚Khalifa-tul-Mumineen‘, ‚Khalifa-tul-Muslimeen‘, ‚Sahaabi‘ oder ‚Razi-Allah-Anho‘ bezeichnet oder anredet;
114(b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des Heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ummul-Mumineen‘ bezeichnet oder anredet;
115(c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie (Ahle-bait) des Heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ahle-bait‘ bezeichnet oder anredet;
116(d) sein Gotteshaus als ‚Masjid‘ bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
117(2) Wer als Angehöriger der Qadiani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis‘ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als ‚Azan‘ bezeichnet oder den ‚Azan‘ so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
118Section 298-C lautet:
119„Wer als Angehöriger der Qadiani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis‘ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
120Section 295-C schließlich hat folgenden Wortlaut:
121„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des Heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
122Vgl. Peter Jacob, Blasphemie – Vorwürfe und Missbrauch, Die pakistanischen Blasphemiegesetze und ihre Folgen, missio-Bericht 2012, S. 17 f., Rn. 2.5; siehe auch ACCORD, Pakistan: Religious Minorities, März 2021, S. 17 ff.
123Kurz nach Inkrafttreten dieser Anti-Ahmadiyya-Gesetzgebung wurden nach Feststellungen des Islamabad High Court die Bezeichnungen der Gebetsstätten der Ahmadis als Moscheen beseitigt, muslimische Gebetsrufe eingestellt und die Literatur der Ahmadis aus öffentlichen Bibliotheken entfernt. Viele Ahmadis gingen in den Untergrund oder verließen das Land, um in westlichen Ländern Asyl zu beantragen.
124Vgl. Islamabad High Court, Judgement Sheet vom 4.7.2018, W.P. No. 3862, 3847, 3896 & 4093/2017, Rn. 41 f.
125Soweit nach dem Wortlaut von Section 295-C des pakistanischen Strafgesetzbuchs statt der Todesstrafe auch eine lebenslange Freiheitsstrafe in Betracht kommt, hat der Federal Shariat Court im Jahr 1990 entschieden, dass bei Vorliegen des Tatbestands die Todesstrafe verpflichtend zu verhängen sei.
126Vgl. amnesty international, As Good As Dead, The Impact of the Blasphemy Laws in Pakistan, London 2016, S. 18, Rn. 1.2.
127Grundsätzlich hat der Supreme Court in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 eine frühere Rechtsprechung von 1978 fortgeführt und bestätigt, dass eine individuelle und gemeindebezogene Religionsfreiheit für jeden Bürger gelte, sowohl für Muslime als auch für Nicht-Muslime. Von Art. 20 der Verfassung werde auch die aktive private und öffentliche Religionsausübungsfreiheit sowie das Recht abgedeckt, seine Religion bei anderen zu verbreiten.
128Vgl. EASO COI Meeting Report Pakistan, Februar 2018, Anm. 2.3, zitiert nach: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 7.5.2018, S. 16; UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 10.
129Gestützt auf den Verfassungsvorbehalt der öffentlichen Ordnung („public order“) hat der Supreme Court aber kürzlich eine frühere ständige Rechtsprechung seit dem Jahr 1993 bekräftigt, wonach die Bestrafung der Delikte nach Section 298‑B und 298‑C des Strafgesetzbuchs nicht gegen die Verfassung verstoße, insbesondere nicht gegen die in Art. 20 der Verfassung gewährleistete Religionsfreiheit, weil das danach verbotene Verhalten von Ahmadis religiöse Gefühle der muslimischen Mehrheit verletze, wodurch Feindseligkeiten ausgelöst sowie Leben und Eigentum der Bevölkerung schwer bedroht würden. Nur solche religiösen Praktiken würden von Art. 20 der Verfassung geschützt, die integraler und wesentlicher Teil der Religion seien. Dazu gehöre die öffentliche oder öffentlich wahrnehmbare Glaubensausübung der Ahmadis nicht, während sie nicht gehindert seien, ihren Glauben privat auszuüben. Während der Supreme Court der Auffassung des vorinstanzlich befassten Lahore High Court entgegengetreten war, bereits das bloße Lesen der Kalima (des islamischen Glaubensbekenntnisses) oder des Heiligen Korans durch einen Nicht-Moslem/Ahmadi müsse nach Section 295‑B oder 295‑C des Strafgesetzbuchs mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder gar der Todesstrafe sanktioniert werden, bestanden aus Sicht des Supreme Court keine Einwände dagegen, ein Strafverfahren nach Section 298-B und 298-C des Strafgesetzbuchs mit einer Höchststrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe zu führen gegen Ahmadis, die ihre Gebetsstätte unter anderem mit der Aufschrift sha´air-e-Islam an den Wänden wie eine Moschee eingerichtet und darin Kopien des Heiligen Korans aufbewahrt hatten und deren Gebetsstätte in einer Stromrechnung als Moschee bezeichnet war.
130Vgl. Supreme Court of Pakistan, Judgement vom 12.1.2022, Crl.P.916-L/2021, Rn. 2, 7 ff., 13 f., 16; zu dieser schon zuvor zunehmend verbreiteten Betrachtungsweise sowie zur früheren Entscheidung des Supreme Court zur Vereinbarkeit der Anti-Ahmadi-Gesetzgebung von 1984 mit der Verfassung aus dem Jahr 1993: ACCORD, Pakistan: Religious Minorities, März 2021, S. 15 f. und 23, sowie EASO COI Meeting Report Pakistan, Februar 2018, Anm. 2.3, zitiert nach: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 7.5.2018, S. 16.
131Durch dieses höchstrichterlich seit langem gebilligte Verfassungsverständnis werden Ahmadis auf Grund der vornehmlich gegen muslimisches Verhalten durch sie gerichteten Strafbestimmungen daran gehindert, ohne Verfolgungsrisiko ihre Religion auszuüben, im privaten oder öffentlichen Rahmen zu beten, religiöse Lehren zu verbreiten sowie religiöse Materialien zu veröffentlichen und zu verteilen. Die Strafnormen verbieten es ihnen auch, ihren Gründer als Propheten, ihre heiligen Personen mit ihren religiösen Anreden und ihre Gottesdienstorte als Moscheen zu bezeichnen, außerdem die traditionelle islamische Form des Grußes und den islamischen Gebetsruf (Azan) zu verwenden und ihren eigenen Gebetsruf als Azan zu bezeichnen. Schon die Benutzung von Beinamen, Beschreibungen und Titeln, die für gewisse heilige Persönlichkeiten und Orte bestimmt sind, ist danach unter Strafdrohung von bis zu drei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe verboten.
132Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 21.10.2024, Stand: Juli 2024, S. 13; UK, Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 24; UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 30; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 7.5.2018, S. 4.
1334. Diese rechtlichen Vorgaben und der praktische Stellenwert, der ihnen verbreitet zukommt, haben erhebliche Auswirkungen auf das tägliche Leben der Ahmadis in Pakistan, die sich ihrem Glaubensverständnis entsprechend als Muslime verstehen und nach islamischen Glaubensregeln leben, ohne dies gegenüber der Öffentlichkeit zu verstecken. Die repressiven und diskriminierenden Gesetze fördern gemeinsam mit staatlich sanktionierten diskriminierenden Praktiken eine Kultur der religiösen Intoleranz und Straflosigkeit. Der überwiegende Teil der pakistanischen Gesellschaft unterstützt die Blasphemiegesetzgebung, die auch Rückwirkungen auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung hat. Eine Änderung ist seitens der pakistanischen Regierung nicht angedacht. Blasphemievorwürfe werden immer wieder zum Anlass oder Vorwand für Mob-Gewalt oder Mordanschläge genommen. So sind Mitglieder der Ahmadiyya Missbrauch, Gewalt einschließlich Tötungen, Drangsalierung und Einschüchterung durch Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Anschuldigungen von Blasphemie gegen Ahmadis haben in den vergangenen Jahren zu Massenausschreitungen, zur Zerstörung von Gotteshäusern und Friedhöfen der Ahmadis und zu Tötungen geführt. Koran-Inschriften in den Gebetshäusern der Ahmadis, ihre Minarette sowie Grabinschriften mit Koran-Zitaten werden häufig nach Beschwerden radikaler Mullahs von der Polizei entfernt. Die rechtlichen Vorgaben und ständigen tatsächlichen Übergriffe erzeugen nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat bei jedem Ahmadi ein dauerhaftes Gefühl der Angst.
134Vgl. UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 31 ff., S. 22, Rn. 214; EASO, Herkunftsländerinformationen Pakistan, Länderüberblick, August 2015, S. 91 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 7.5.2018, S. 7 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Pakistan, Version 6, 20.7.2023, S. 83 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 21.10.2024, Stand: Juli 2024, S. 13 f.; Human Rights Watch, World Report 2020, – Pakistan, S. 2; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 79, und Verfolgung von Ahmadis in Pakistan, Bericht, März 2024.
135Allein dass ein Ahmadi einen nach Mehrheitssicht muslimischen Namensbestandteil führt, hat immer wieder drastische Konsequenzen: Kürzlich wurde ein Anwalt, der Mitglied der Ahmadiyya Muslim Jamaat ist, von Gegnern überfallen und verprügelt. Die Polizei schützte ihn nicht, sondern nahm stattdessen – wie bereits im Jahr zuvor – erneut eine Strafanzeige gegen ihn wegen seines muslimischen Namens auf, dessen Führung ihm als Ahmadi unter Strafandrohung verboten sei, und verhaftete ihn nunmehr auch. Nach Angaben der Glaubensgemeinschaft handelt es sich dabei nicht um einen Einzelfall.
136Vgl. Ahmadiyya Muslim Jamaat, Pressemitteilung vom 27.4.2023, Ahmadi-Anwalt wegen „muslimischen Namens“ verhaftet!; UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 30 f., Fußnote 198; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 7.5.2018, S. 4.
137Auch wurden nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat nachweislich 13 Ahmadis verhaftet, weil sie der religiösen Tradition des Tieropfers zum islamischen Opferfest in ihren eigenen vier Wänden nachgehen wollten.
138Vgl. Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 79.
139Ein als Erleichterung der Wahlteilnahme für Ahmadis empfundener Gesetzesentwurf wurde 2017 durch islamistische Gruppen verhindert.
140Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7.5.2018, S. 6.
141Im Nachgang zu diesem gescheiterten Gesetzesvorhaben forderte der Islamabad High Court in seiner Entscheidung vom 4.7.2018, um eine Nationale ID-Karte, einen Pass, eine Geburtsurkunde und einen Eintrag in eine Wählerliste zu erhalten sowie in staatliche oder halbstaatliche Institutionen eingestellt zu werden, müsse jeder Antragsteller einen Eid auf der Grundlage der Verfassungsbestimmung abgeben, wonach Ahmadis keine Muslime seien, die National Database and Registration Authority (NADRA) müsse eine Zeit festlegen, innerhalb derer Bürger ihre Personenstandsangaben, namentlich zur Religion, korrigieren oder ändern könnten. Dem Parlament und der Regierung gab der High Court auf, gesetzliche Korrekturen vorzunehmen bzw. geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um gesetzlich und auch tatsächlich sicherzustellen, dass für den Islam und für Muslime verwendete Begriffe von Minderheiten nicht mehr verwendet würden, um ihre Identität zu verschleiern oder zu anderen Zwecken. Es dürfe auch nicht mehr möglich sein, seine Identität durch falsche Personenstandsangaben zu verstecken. Den Gründen für die alarmierenden Unterschiede in der Bevölkerungsstatistik zu Ahmadis, die bei der NADRA verfügbar sei, und zu Zahlen, die im Rahmen der kürzlich durchgeführten Volkszählung in diesem Zusammenhang erhoben worden seien, müsse dringend nachgegangen werden.
142Vgl. Islamabad High Court, Judgement Sheet vom 4.7.2018, W.P. No. 3862, 3847, 3896 & 4093/2017, Rn. 82.
143In dem genannten Judgement Sheet des Islamabad High Court kommt der entscheidende Richter nach einer beachtenswerten Auseinandersetzung mit den historischen, religiösen und rechtlichen Gegebenheiten zu Ergebnissen, die für das Verständnis der tatsächlichen Situation der Ahmadis und die ihnen gerade in den letzten Jahren zunehmend entgegengebrachten Feindseligkeiten in Pakistan erhebliche Bedeutung haben. Danach wird den Ahmadis von einflussreichen Gruppen und Vertretern der religiösen Mehrheit seit langem nicht allein die Verunglimpfung des Islams, sondern zugleich durch die Ablehnung der durch die Verfassung zugewiesenen Minderheitenrolle Illoyalität und umstürzlerisches Verhalten gegen den Staat vorgeworfen. So sei den Ahmadis in Pakistan die gleiche Rolle wie den Zionisten in England und Amerika zugeschrieben worden, sie hätten sich in konspirativer Weise hohe Positionen in der Verwaltung erschlichen, ohne dem Staat gegenüber loyal zu sein. Der Gründer der Bewegung sei von imperialistischen Kräften unterstützt worden, um die islamische Einheit zu zerstören und Schande über den Islam zu bringen.
144Vgl. Islamabad High Court, Judgement Sheet vom 4.7.2018, W.P. No. 3862, 3847, 3896 & 4093/2017, Rn. 26 ff., 34 und 38.
145Die Ahmadis hätten die ihnen durch die Verfassung nunmehr vorgegebene Rolle als nicht-muslimische Minderheit in Illoyalität zum Staat nicht akzeptiert, die staatliche Einordnung als Minderheit torpediert und es sei zu der schockierenden Anzahl von über 10.000 Übertritten aus dem Islam zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya gekommen. Im übergeordneten Staatsinteresse könne nicht länger geduldet werden, dass „Qadianis“ Schlüsselpositionen in Ämtern, Justiz, Militär und anderen sensiblen und wichtigen Institutionen einnähmen und ihre wirkliche Religion verheimlichten. Jeder Staatsbürger müsse wissen, welcher Religion Inhaber solcher Positionen angehörten. Da die Regierung dies sicherzustellen versäumt habe, sei sie hierzu gerichtlich anzuhalten.
146Vgl. Islamabad High Court, Judgement Sheet vom 4.7.2018, W.P. No. 3862, 3847, 3896 & 4093/2017, Rn. 5 ff., 8, 77, 81 f.
147Aus den verschiedenen Gutachten der ausweislich der Entscheidungsgründe zu Rate gezogenen muslimischen Rechtsgelehrten, deren Auffassungen insoweit der Sache nach übereinstimmen, wird sehr deutlich, dass den Ahmadis, die als Nicht-Muslime kein Recht hätten, sich als Muslime auszugeben und ausschließlich Muslimen zustehende Rechte auszuüben sowie Pflichten nachzukommen, verbreitet eine hochgradige Illoyalität gegenüber dem Staat sowie mangelnder Respekt gegenüber islamischen Ritualen vorgehalten wird. Demgegenüber wird es übereinstimmend als Verantwortlichkeit des islamischen Staats angesehen, zum Schutz der öffentlichen Ordnung die islamische Ideologie zu schützen und zu verteidigen.
148Vgl. Islamabad High Court, Judgement Sheet vom 4.7.2018, W.P. No. 3862, 3847, 3896 & 4093/2017, Rn. 10 ff.; siehe hierzu auch Schweizerische Flüchtlingshilfe: Pakistan, Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7.5.2018, S. 16.
149Eines der Hauptziele der Scharia sei der Schutz des Glaubens und daneben der Lebensschutz. Ein der Scharia verpflichteter Staat müsse zum Schutz des Glaubens und der Muslime ein Auge auf Nicht-Muslime und deren Gemeinschaften haben und dadurch sicherstellen, dass es zu keiner Verschwörung gegen die überwiegend muslimische Mehrheit kommen könne.
150Vgl. Islamabad High Court, Judgement Sheet vom 4.7.2018, W.P. No. 3862, 3847, 3896 & 4093/2017, Rn. 12.
151In Ausübung dieser Aufgabe sei es 1984 zu der Ordinance XX gekommen, mit der Section 298-B in das pakistanische Strafgesetzbuch eingeführt worden sei, um das Entstehen antiislamischer Aktivitäten zu verhindern.
152Vgl. Islamabad High Court, Judgement Sheet vom 4.7.2018, W.P. No. 3862, 3847, 3896 & 4093/2017, Rn. 40.
153Wenngleich derzeit nicht feststellbar ist, ob die Regierung der Forderung einer eindeutigen Identifizierung aller Bürger hinsichtlich ihrer Religionszugehörigkeit nachgekommen ist,
154vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG NRW vom 20.2.2023, S. 8, Frage 21; Deutsches Orient Institut, Auskunft an das OVG NRW vom 14.10.2021, Frage 21,
155führte die NADRA im Dezember 2018 eine neue Praxis ein, um sicherzustellen, dass alle Antragsteller ihre religiöse Identität erklären, wenn sie neue Ausweisdokumente beantragen. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur für die nationale Identitätskarte, die benötigt wird, um einen Führerschein zu erwerben, eine Steuernummer zu erhalten, für Wahlen registriert zu werden, sich um eine Arbeitsstelle zu bewerben, ein Bankkonto zu eröffnen, eine SIM-Karte zu bekommen, Wasser-, Strom- oder Gasverträge zu schließen, Landbesitz oder Fahrzeuge zu erwerben und Zugang zu Bildungsorganisationen zu erlangen. Seit Oktober 2016 besteht zudem in ganz Pakistan die Verpflichtung, eine Kopie der nationalen Identitätskarte zur behördlichen Anmeldung an einem neuen Wohnort vorzuweisen. Auch die Erklärung eines Glaubenswechsels vom Islam zu einer anderen Religion, die bis zu der Entscheidung des Islamabad High Court ausweislich der darin ausgewerteten Angaben der NADRA möglich war, ist seit Dezember 2018 nicht mehr vorgesehen.
156Vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 27 ff.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG NRW vom 20.2.2023, S. 8, Fragen 20 und 22; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Stuttgart vom 19.12.2018, Seite 1 f., zu den Fragen 2 und 3; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 46 ff., Fragen 13 ff., sowie S. 54 ff., Fragen 20 ff.; Deutsches Orient Institut, Auskunft an das OVG NRW vom 14.10.2021, Fragen 8, 11 und 20; U. S. Department of State, Pakistan 2020 International Religious Freedom Report, S. 15; ACCORD, Pakistan: Religious Minorities, März 2021, S. 59 f.
157Wer bei der NADRA eine nationale Identitätskarte beantragt, muss eine Erklärung zu seiner Religionszugehörigkeit abgeben, die sich hinsichtlich der Muslime und Nicht-Muslime unterscheidet, wobei Informationen über die Identität einer Person bereits in der Geburtsurkunde und in der sogenannten „B-Form“ zu finden sind. Ein Muslim erklärt und unterschreibt, dass er Muslim sei und an die vollständige und bedingungslose Finalität des Prophetentums des Propheten Mohammed glaube … sowie, dass er Mirza S. Ahmed Qadiani als einen falschen Propheten und seine der Lahorj- oder der Qadiani-Gruppe zugehörigen Anhänger als Nicht-Muslime betrachte. Ein Nicht-Muslim hat unter Eid zu erklären und unterschreiben, er sei kein Muslim und gehöre der Qadiani/Ahmadiyya Religion an. Die Religionszugehörigkeit ist bei der NADRA sowie auf dem elektronisch auslesbaren Chip der Identitätskarte verzeichnet. Einen Zugang zu dieser elektronisch auslesbaren Information haben nach Auskunft inoffizieller Quellen nur Bedienstete der NADRA; sie kann aber auch von der Polizei genutzt werden. Zudem liegen Berichte vor, wonach auf Grund der Erklärung zur Religionszugehörigkeit, die bei der NADRA abzugeben ist, Personen als Ahmadis identifiziert worden sind und in privaten Geschäftsbeziehungen soziale Stigmatisierungen erlitten haben.
158Vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 27 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG NRW vom 20.2.2023, S. 3 ff., Fragen 8 sowie 11 – 16; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 16 ff., Frage 11, und 47 ff., Fragen 14 –16; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7.5.2018, S. 6; U. S. Department of State, International Religious Freedom Report for 2020 Pakistan vom 12.5.2021, S. 9 f.
159Ähnliches gilt für die Beantragung des Passes, bei der die nationale Identitätskarte vorzulegen ist und die Personenstandsangaben dem staatlichen Register der NADRA entnommen werden. Die Antragsteller müssen ebenfalls die oben genannte Erklärung auf dem einheitlichen Formular abgeben. In den pakistanischen Pässen sind anders als bei Einführung maschinenlesbarer Pässe im Jahr 2005 mittlerweile Informationen zur Religionszugehörigkeit des Passinhabers enthalten. Vereinzelt sind Pässe an Antragsteller ausgestellt worden, die ihre Religionszugehörigkeit als „muslim“ angegeben, die grundsätzlich verpflichtende Erklärung aber nicht unterzeichnet haben.
160Vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 29 ff.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG NRW vom 20.2.2023, S. 3 ff.; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 14, Frage 8; UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 31 f.
161Das Auswärtige Amt sieht in dem Zwang, sich in der für die Beantragung von Identitätskarte und Pass notwendigen Erklärung für die Eigenschaft als Muslim oder aber Nicht-Muslim entscheiden zu müssen, eine Verletzung der verfassungsmäßigen und grundlegenden Rechte auf Religionsfreiheit.
162Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG NRW vom 20.2.2023, S. 4 f., Frage 8.
163Diese Erklärung hat für die Betroffenen weitreichende Folgen. Entscheiden sich Ahmadis, sich als Nicht-Muslime zu erklären, widersprechen sie ihrem Selbstverständnis als Mitglieder einer muslimischen Religionsgemeinschaft, versperren sich die Möglichkeit, die auch für sie religiös verpflichtende Pilgerreise nach Mekka zu unternehmen, und setzen sich zugleich mit der ‒ zumindest im Pass ‒ öffentlichen Bekanntgabe ihrer Zugehörigkeit zu der Ahmadiyya-Gemeinschaft der sozialen Stigmatisierung bis hin zu Repressalien und Verfolgung in Pakistan aus.
164Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG NRW vom 20.2.2023, S. 5 f., Frage 12; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 16, Frage 9, S. 23, Frage 12; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 30 f., Rn. 5.2.11.
165Entscheiden sie sich ihrem Selbstverständnis entsprechend, sich als Muslime zu erklären, so machen sie sich gemäß Section 298-C des pakistanischen Strafgesetzbuchs strafbar.
166Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG NRW vom 20.2.2023, S. 6, Frage 13; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 46, Frage 13.
167Neben den Konsequenzen der Entscheidung des Islamabad High Court für die Modalitäten zur Erlangung von Ausweisdokumenten und die Einschränkung der Möglichkeit, den Glauben zu wechseln, sind die Entscheidungsgründe ein prominentes Indiz dafür, dass es massive und wirkmächtige Bestrebungen mit erheblichen praktischen Folgen in verschiedenen Lebensbereichen gibt, um die Erkennbarkeit von Ahmadis mit staatlichen Instrumenten zu erzwingen, sowie dafür, dass die Anti-Ahmadiyya-Gesetzgebung auch tatsächliche Konsequenzen zu haben droht, sobald Ahmadis als solche erkennbar zu ihrem muslimischen Glauben stehen und ihn leben.
168Dementsprechend wird in verschiedenen Erkenntnisquellen berichtet, dass sich die Situation der Ahmadis in Pakistan in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert hat und sie mittlerweile selbst in Chenab Nagar (= Rabwah) unter konstanter Bedrohung und genereller Kriminalisierung leben. Von einer in letzter Zeit stark zugenommenen Zahl tödlicher Angriffe auf Mitglieder der Ahmadiyya-Gemeinde wurde berichtet. Der Daseinszweck von allein 84 von 247 aktuell tätigen Organisationen soll sich gegen religiöse Minderheiten einschließlich Schiiten, Ahmadi, Hindus oder Christen richten. Diese Gruppen beeinflussten zunehmend den politischen Mainstream.
169Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7.5.2018, S. 7 ff. und 11 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 35; U. S. Commission on international religious freedom, 2022 annual report, April 2022, S. 29; Australian Government, Department of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report, 20.2.2019, S. 41, Rn. 3.129 ff., 3.135, und vom 25.1.2022, S. 24, Rn. 3.43; Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF vom 3.6.2020; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 3.8.2022, S. 2 ff.; ACCORD, Pakistan: Religious Minorities, März 2021, S. 58 ff. und 64 ff.
170Regierungsvertreter und Politiker treten regelmäßig bei verschiedenen Konferenzen solcher Organisationen zur Finalität des Prophetentums auf, die geprägt sind unter anderem durch Gewaltaufrufe, Hass und Flüche gegen Ahmadis. Sowohl im Jahr 2019 als auch im Jahr 2020 ist es zu einer merkbaren Zunahme an rhetorischen Entgleisungen ‒ bis hin zu Mordaufrufen ‒ gegenüber den Anhängern der Ahmadiyya auch von Seiten hochrangiger Regierungsmitglieder gekommen.
171Vgl. UK, Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 49 f.; U. S. Department of State, 2019 Report on International Religious Freedom, Pakistan, S. 1; Bundesamt für Fremdenwesen Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Pakistan, Version 6, 20.7.2023, S. 83, unter Verweis auf Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 28.9.2021, S. 11; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 3.6.2020, S. 2.
172Auch werden Glaubensangehörige der Ahmadiyya zunehmend auf Druck religiöser Geistlicher und bestimmter religiöser Gruppen erfolgreich entsprechend der Forderung des Islamabad High Court aus gehobenen Positionen gedrängt. Sowohl in staatlichen Behörden als auch im Militär wurden Beförderungsmöglichkeiten für Ahmadis gedeckelt.
173Vgl. UK, Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 48 f.; Business recorder vom 9.11.2018: Islamabad High Court Bar Association urged Government not to appoint any Ahmadi as judge; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 23 ff.
174Die gegen die Ahmadis gerichtete Rhetorik sowohl islamistischer Gruppierungen als auch der Politik in ganz Pakistan, die ohne rechtliche Einschränkungen in den Medien propagiert wird, führt dazu, dass die Öffentlichkeit, und insbesondere die Jugend in Pakistan keine andere Realität mehr kennt. Anti-Ahmadi-Poster, ‑Banner und -Sticker werden frei auf öffentlichen Plätzen verteilt oder angebracht. Manche Ladeninhaber verbieten Ahmadis das Einkaufen in ihren Läden, vor dem Kauf von Produkten, die Ahmadis hergestellt haben, wird auf Schildern gewarnt. Ahmadis werden in der Schule, in den Universitäten und am Arbeitsplatz diskriminiert und schikaniert. Es kommt immer wieder zu Anti-Ahmadi-Demonstrationen. Ahmadis werden von radikalislamischen Gruppen zielgerichtet verfolgt und getötet.
175Vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 14 f., Rn. 2.4.23-25; Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 8.8.2022, Stand: Juni 2022, S. 11; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Pakistan, Version 6, vom 20.7.2023, S. 84; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes Pakistan Juli bis Dezember 2022 vom 1.1.2023, S. 3.
176Die Abgabe von Erklärungen zur Religionszugehörigkeit ist auch in weiteren Lebensbereichen verbreitet. Obwohl die pakistanische Verfassung eine Diskriminierung aus religiösen Gründen untersagt, müssen etwa Schülerinnen und Schüler staatlicher Schulen sowie Studentinnen und Studenten staatlicher Universitäten bei Eintritt eine Erklärung abgeben, wonach sie als Muslime an die Finalität des Prophetentums Mohammeds glauben, Ahmadis können nur zugelassen werden, wenn sie nicht beanspruchen, Muslime zu sein. Nicht-Muslime müssen sich ihre Religion zusätzlich von dem lokalen Leiter ihrer religiösen Gemeinschaft bestätigten lassen.
177Vgl. U. S. Department of State, Pakistan 2021 International Religious Freedom Report, S. 9; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 4.0, März 2019, S. 47, Rn. 10.1.2.
178Darüber hinaus fragen einige Arbeitgeber die Religionszugehörigkeit ihrer Arbeitnehmer ab.
179Vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 3.0, Juni 2018, S. 47, Rn. 10.2.1
180Zu der am 5.5.2020 gegründeten Nationalen Kommission für Minderheiten wurden Mitglieder der Ahmadiyya nach Protesten islamischer Gruppen nicht eingeladen. Die Ahmadis müssten zunächst die Verfassung und insbesondere ihre Rolle als Nicht-Muslime akzeptieren, bevor sie ihre verfassungsmäßigen Rechte geltend machen könnten.
181Vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 48 ff., U. S. Department of State, Pakistan 2020 International Religious Freedom Report, S. 21, ebenso ACCORD, Pakistan, Religious Minorities, März 2021, S. 61; ebenso Auswärtiges Amt, Lageberichte Pakistan vom 21.10.2024, Stand Juli 2024, S. 12.
182Die Regierung der Provinz Punjab, der größten Provinz des Landes, setzte eine Vielzahl von Maßnahmen gegen den Glauben der Ahmadiyya durch. Vor allem die seit 2021 bei Eheschließung zwischen Muslimen eingeforderte Erklärung zur Finalität des Prophetentums macht Ahmadis die nach ihren Glaubensgrundsätzen nach islamischem Recht durchzuführende Eheschließung de facto unmöglich.
183Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Pakistan, Version 6 vom 20.7.2023, S. 82; U. S. Department of State, Pakistan 2021 International Religious Freedom Report, S. 1, 17; Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 21.10.2024, Stand: Juli 2024, S. 13.
184Generell haben Ahmadis Schwierigkeiten, ihre Ehen bei den Behörden registrieren zu lassen, weil die Behörden einer Anwendung des muslimischen Familienrechts auf Ahmadis grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen.
185Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG NRW vom 20.2.2023, S. 8, Frage 22; U. S. Department of State, 2019 Report on International Religious Freedom: Pakistan, S. 10; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 31, Rn. 5.3.3; UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 32; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Pakistan, Version 6 vom 20.7.2023, S. 82.
186Insbesondere auf Grund der strengen Blasphemiegesetze geraten Ahmadis immer wieder in das Blickfeld der pakistanischen Behörden. Laut Auswärtigem Amt wurden schon im Jahr 2010 insgesamt 67 Strafverfahren nach Section 298-C gegen Ahmadis eingeleitet, die Angeklagten seien (Stand: 2012) überwiegend gegen Kaution freigekommen.
187Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 2.11.2012, Stand: September 2012, S. 13.
188Amnesty international ging im Jahr 2016 von einer Anzahl von 494 Blasphemieanzeigen gegen Ahmadis im Zeitraum von 1987 bis 2016 aus.
189Vgl. amnesty international, As Good As Dead, The Impact of the Blasphemy Laws in Pakistan, London 2016, S. 18, Rn. 1.3.
190Eine weitere Statistik auf der Webseite Persecutionofahmadis.org hat für die Zeit von 1984 bis 2023 insgesamt etwa 4.200 Fälle strafrechtlicher Verfolgung gegen Ahmadis wegen ihres Glaubens ausgewiesen.
191Vgl. https://persecutionofahmadis.org/; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 54 f., und Version 3.0, Juni 2018, S. 38; siehe auch UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 30 f., Fußnote 198.
192Die NGO Commission on Social Justice berichtet, dass ein Drittel der insgesamt bis 2021 registrierten nahezu 2.000 Anzeigen wegen Blasphemie Ahmadis betrafen. Von 2019 bis einschließlich 2021 waren laut Berichten der Ahmadis 61 Ahmadis von Anklagen im Rahmen der Blasphemiegesetze betroffen. Laut Eigenangaben wurden allein 2021 über 100 Anzeigen gegen sie aus verschiedenen religiösen Gründen erstattet, darunter Vorwürfe wie Blasphemie, „sich als Muslime ausgeben“ oder das Predigen ihres Glaubens. Ebenfalls nach Eigenangaben der Ahmadiyya befanden sich Ende März 2022 sieben Ahmadis aus religiösen Gründen in Haft.
193Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Pakistan, Version 6, vom 20.7.2023, S. 83, m. w. N.; Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 21.9.2023, Stand: Juli 2023, S. 11; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 55.
194In der Regel werden die Strafverfahren gegen Ahmadis von islamistischen Gruppierungen in Gang gebracht. Ähnlich wie gegenüber Christen wird die Blasphemiegesetzgebung dazu benutzt, die Angehörigen dieser Minderheit aus den verschiedensten Motiven unter Druck zu setzen, die nur zum Teil einen religiösen Hintergrund haben.
195Vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte Pakistan vom 8.8.2022, Stand: Juni 2022, S. 11 f., und vom 20.10.2017, Stand: August 2017, S. 14; European Asylum Support Office, EASO Country of Origin Information Report Pakistan, Oktober 2018, S. 17; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation der Ahmadi, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 7.5.2018, S. 10; amnesty international, As good as dead, The impact oft he blasphemy laws in Pakistan, London 2016, S. 11; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Pakistan, Version 6, vom 20.7.2023, S. 82.
196Die Anschuldigungen, die meist auf vermeintlich blasphemische Äußerungen, Textnachrichten, Inhalte von sozialen oder Massenmedien, das Verteilen religiöser Schriften oder Bücher oder die „Schändung“ religiöser Texte gestützt werden, führen oftmals zu ‒ auch mit Bestechung forcierten ‒ Anzeigen bei der Polizei und zur Verhaftung der Beschuldigten. Die in 2004 erfolgte Änderung der Strafprozessordnung, wonach entsprechende Anzeigen vor der gerichtlichen Registrierung von einem leitenden Polizeibeamten untersucht werden müssen, war im Jahr 2015 noch kaum umgesetzt.
197Vgl. UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 17, Fußnote 103.
198Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam sind trotz Verbots weit verbreitet. Die Polizei ist häufig in die lokalen Machtstrukturen eingebunden und daher nicht in der Lage, unparteiliche Untersuchungen durchzuführen. So werden Strafanzeigen gar nicht erst aufgenommen oder Ermittlungen verschleppt. Die Verurteilungen, die erstinstanzlich vielfach ‒ auf Druck islamistischer Kräfte ‒ auf die Todesstrafe lauten, werden von Berufungsgerichten häufig wieder aufgehoben bzw. in lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt. Seit 2019 ist keine Todesstrafe mehr vollstreckt worden. Die Gesamtzahl der zum Tode Verurteilten in pakistanischen Gefängnissen lag Ende 2021 zwischen 3.800 und 4.200 Personen. Zuletzt warteten 30 bis 80 Personen, die wegen Blasphemie zum Tode verurteilt worden sein sollen, auf die Vollstreckung ihres Urteils. Die Zustände in den Gefängnissen sind auf Grund von Überfüllung, Überalterung der Gebäude, struktureller Probleme und Korruption generell unerträglich, Sprecher der Ahmadiyya-Gemeinschaft berichten darüber hinaus von einer zielgerichteten Misshandlung und Gewalt gegenüber der Ahmadiyya angehörenden Insassen.
199Vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte Pakistan vom 8.8.2022, Stand: Juni 2022, S. 4, 7, 10 und 18 f., vom 21.9.2023, Stand: Juli 2023, S. 18 sowie vom 21.10.2024, Stand: Juli 2024, S. 13; U. S. Department of State, Pakistan 2022 Human Rights Report vom 20.3.2023, S. 5 ff.
200Eine Anzahl der Ahmadis, die ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizieren, lässt sich allerdings wegen ihrer Kriminalisierung und allgemeinen Bedrohung nicht einmal ansatzweise bestimmen. Der Senat hat trotz intensiver Tatsachenermittlung auch diesbezüglich keine zahlenmäßige Größenordnung feststellen können. Während die Ahmadiyya Muslim Jamaat davon ausgeht, dass jeder gläubige Ahmadi, ca. 500.000 Menschen, seine Religion bereits deshalb in strafrechtlich verbotener Weise ausübt, weil er sich ‒ wie auch die übrigen Muslime ‒ an die Regeln des Korans hält,
201vgl. Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 79, Frage 30,
202hat das Auswärtige Amt ausschließlich die Zahl der in Pakistan lebenden Ahmadis mit 500.000 bis 600.000 Personen angegeben und auf Hinweise verwiesen, wonach seit Ende 2022 Ahmadis im Punjab verstärkt auf Grund von Blasphemievorwürfen verhaftet und angeklagt würden.
203Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG NRW vom 20.2.2023, S. 10 f., Frage 29; siehe auch Auswärtiges Amts, Lagebericht Pakistan vom 21.9.2023, Stand: Juli 2023, S. 11.
2042023 wurden mindestens sieben Personen auf Grund von Blasphemievorwürfen durch Einzelpersonen bzw. durch Mobgewalt ohne Gerichtsverfahren („extra-justiziell“) getötet.
205Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 21.10.2024, Stand: Juli 2024, S. 13.
206Das Deutsche Orient-Institut hat auf entsprechende Anfrage geantwortet, dass ihm ausreichende Informationen fehlten.
207Vgl. Deutsches Orient-Institut, Auskunft an das OVG NRW vom 14.10.2021, Frage 29.
208Dennoch lässt bereits die durch den Senat erfolgte Auswertung der aktuellen Erkenntnisse den ausreichend verlässlichen Schluss zu, dass Ahmadis, die ihren Glauben in Pakistan in strafrechtlich verbotener Weise praktizieren, indem sie sich ihrem Glaubensverständnis entsprechend als Muslime verstehen und nach islamischen Glaubensregeln leben, ohne dies gegenüber der Öffentlichkeit zu verstecken, bereits mit einem real erhöhten Verfolgungsrisiko rechnen müssen. Die im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Pakistan lebenden Ahmadis deutlich niedrigeren, im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung aber vergleichsweise hohen Zahlen einschlägiger strafrechtlicher Ermittlungsverfahren lassen angesichts der zahlreichen weithin bekannten massiven Risiken vor allem darauf schließen, dass die große Mehrheit der im Land verbliebenen Ahmadis aus Furcht vor Verfolgung ihre Glaubensausübung nach Möglichkeit nicht nach außen trägt. Die angesichts der unter Ahmadis bekanntermaßen real erhöhten Bedrohungslage realistischerweise nur geringe Zahl derer, die dennoch ihren muslimischen Glauben nach außen erkennbar leben, muss demgegenüber je nach Umfeld auch tatsächlich verstärkt damit rechnen, Opfer von gewaltsamen Übergriffen oder staatlicher Strafverfolgung einschließlich langjähriger Inhaftierungen unter unwürdigsten Haftbedingungen allein wegen ihrer Glaubensausübung zu werden. Die in den letzten Jahren festzustellende zunehmende Verschlechterung der Situation der Ahmadis in Pakistan ist mittlerweile selbst in Chenab Nagar (= Rabwah) durch Bedrohung und generelle Kriminalisierung durch eine Vielzahl aktiver radikaler Gruppierungen geprägt. Unter ihrem Druck werden immer wieder auch strafrechtliche Vorwürfe gegen Ahmadis wegen der bloßen Glaubensausübung nach Art der Muslime erhoben und bei der Polizei angezeigt, die Verhaftungen, Misshandlungen und Verurteilungen zu langjährigen Haftstrafen oder gar zum Tode zur Folge haben. Jedenfalls unter Berücksichtigung dieser verschärften Bedrohungslage ist der Senat nach Auswertung sämtlicher aktueller Erkenntnisse davon überzeugt, dass die Anti-Ahmadiyya-Gesetzgebung sowie die gesamtgesellschaftlich verbreitete feindliche Grundstimmung gegenüber Ahmadis mittlerweile nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu schwerwiegenden bereits flüchtlingsrechtlich relevanten Konsequenzen für diejenigen Ahmadis führen kann, die sich offen als Ahmadis bekennen und erkennbar als Muslime bezeichnen und deren Verhalten nach den Regeln des Korans öffentlich insbesondere auch Vertretern einer der vielen religiösen Gruppen bekannt wird, die offensiv für die Finalität des Prophetentums und die Reinheit des islamischen Glaubens eintreten. Selbst der vor einigen Jahren mit der Frage des „Vollzugsdefizits“ bezogen auf rechtliche Regeln, die Ahmadis betreffen, intensiv befasste Islamabad High Court hat auf der Grundlage seiner Ermittlungen nicht beanstandet, dass die Anti-Ahmadi-Gesetze unzureichend angewandt würden, sobald entsprechende Anzeigen bei der Polizei eingingen. Ein Vollzugsdefizit ist vom High Court in erster Linie insoweit gerügt worden, als zahlreiche Ahmadis in staatlichen Registern und Ausweispapieren nicht als solche verzeichnet seien und sich gegenüber staatlichen Stellen auch sonst nicht als Ahmadis zu erkennen gäben, weil viele von ihnen die ihnen von der Verfassung vorgegebene Zuordnung als „Nicht-Muslime“ nicht akzeptierten. Jemand, der allerdings offen als Ahmadi bekannt oder erkennbar ist und sich nach den Regeln des Korans verhält, wird in der pakistanischen Gesellschaft nach verbreiteter Erkenntnislage und selbst nach ständiger Rechtsprechung der höchsten Gerichte in Pakistan entsprechend der dort verbreiteten Rechtsüberzeugung so sehr als Gefahr für die öffentliche islamische Ordnung wahrgenommen, dass er je nach den Umständen des Einzelfalls ernsthaft und realistischerweise mit Anfeindungen, körperlichen Angriffen, Anzeigen bei der Polizei und Misshandlungen im Polizeigewahrsam rechnen muss, jedenfalls sobald sein muslimisches Verhalten in den Blick strenggläubiger Mullahs oder religiöser Gruppierungen gerät. Der Druck der für die Durchsetzung der Anti-Ahmadiyya-Gesetzgebung eintretenden religiösen Gruppen ist auch mit Blick auf im Allgemeinen wenig verlässliche Polizeistrukturen ganz regelmäßig so stark, dass selbst die seit vielen Jahren zum Schutz vor missbräuchlichen Falschanzeigen bestehende prozessuale Hürde immer wieder unbeachtet bleibt, entsprechende Anzeigen vor der gerichtlichen Registrierung von einem leitenden Polizeibeamten untersuchen zu lassen. Auf ein die Bedrohungslage nennenswert senkendes Vollzugsdefizit durch ineffiziente Polizeiarbeit deutet dies ebensowenig hin wie die bloße – keineswegs ganz geringe und zuletzt spürbar gestiegene – Zahl öffentlich bekannt gewordener Anzeigen, Verhaftungen und gewaltsamer Angriffe wegen der muslimischen Glaubensausübung durch Ahmadis. Diese fällt trotz der vom Senat angenommenen verbreiteten Bedrohungslage ohne Weiteres schlüssig erklärbar deshalb nicht noch höher aus, weil diese Bedrohung unter Ahmadis in Pakistan verbreitet zu einem – von der Rechtspraxis ausdrücklich erwarteten und schon seit 1984 auch tatsächlich verbreitet erfolgten – diskreten Umgang mit dem eigenen Glauben und einen Rückzug ins Private führt, jedenfalls sobald Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft oder gar radikaler Gruppierungen anwesend sind, was für Chenab Nagar (= Rabwah) während der regelmäßigen Anti-Ahmadi-Kundgebungen beispielhaft auch aktuell ausreichend dokumentiert ist.
209Selbst in Chenab Nagar (= Rabwah), ihrem geistigen Zentrum, das zu etwa 95 % von Ahmadis bewohnt ist, sind Ahmadis in ihrer Lebensweise ebenso eingeschränkt wie im übrigen Pakistan. Die Einschränkungen durch die Blasphemiegesetze gelten genauso wie im übrigen Pakistan, Versammlungen von mehr als 30 Personen sind ihnen untersagt, was unter anderem dazu geführt hat, dass sie in Pakistan ihre Jahresversammlung seit 1983 nicht mehr durchführen konnten. Die großen Anti-Ahmadi-Kundgebungen finden selbst in Chenab Nagar (= Rabwah) mehrfach im Jahr öffentlich statt. Als einzigen Schutz raten die Behörden der Bevölkerungsmehrheit in diesem Ort, ihre Geschäfte zu schließen und sich in ihren Häusern bzw. Wohnungen zu verbarrikadieren. Ahmadis können ihre Gebete in kleinen Gebetshäusern ausschließlich mit bewaffnetem Sicherheitspersonal verrichten. Der öffentliche Verkauf religiöser Literatur ist ihnen untersagt. Teilweise können Ahmadis, die als bekennende Ahmadis dort gesellschaftliche Aufmerksamkeit erlangt haben, selbst dann weiteren Anfeindungen nicht mehr entgehen, wenn sie sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen.
210Vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Pakistan: Ahmadis, Version 5.0, September 2021, S. 33 ff.; UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 33 f.; European Asylum Support Office, Herkunftsländerinformationen Pakistan, August 2015 S. 90; Deutsches Orient-Institut, Auskunft an das OVG NRW vom 14.10.2021, Fragen 4 und 25; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 76 f., Fragen 27 f.
2115. Suchen Ahmadis bei staatlichen Autoritäten um Schutz bzw. Hilfe gegen ungerechtfertigte Blasphemievorwürfe oder vor Bedrohungen, Verbrechen oder anderen Gewalttaten gegen sie, treffen sie regelmäßig auf ein Versagen der örtlichen Behörden und ein hohes Risiko einer willkürlichen Verhaftung auf der Grundlage einer konstruierten Strafanzeige. Zugleich verhindern Einschüchterungsversuche oder Druck auf die Behörden seitens fundamentalistischer Gruppen ein Einschreiten, Untersuchen oder Verfolgen religiös motivierter Gewalt gegen Ahmadis. Vielfach ist die Polizei selbst in die fundamentalistischen Gruppen verstrickt, so dass schutzsuchende Ahmadis in Polizeigewahrsam genommen werden und dort weitere Gewalt erfahren oder im Polizeigewahrsam nicht vor Gewalt von außerhalb geschützt sind.
212Vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance Pakistan: Ahmadis, Version 5.0 September 2021, S. 16, Rn. 2.5; UNHCR, Eligibility Guidelines für Assessing the International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, Januar 2017, S. 34 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse Pakistan vom 7.5.2018, S. 10 f.; Ahmadiyya Muslim Jamaat, Auskunft an das OVG NRW vom 4.8.2022, S. 77, Frage 28, zur Situation (selbst) in Rabwah.
213III. Ausgehend von den unter I. aufgeführten rechtlichen Maßstäben und unter Berücksichtigung der unter II. zusammengefassten allgemeinen Informationen über die Lage der Ahmadis im Herkunftsland Pakistan hat der Senat nicht die notwendige volle Überzeugung gewonnen, dass der Kläger allein auf Grund seiner Zugehörigkeit zu der Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya (unter 1.) oder auf Grund seines geschilderten Einzelschicksals (unter 2.) als vorverfolgt anzusehen ist. Ihm droht bei Rückkehr nach Pakistan auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgung aus religiösen Gründen (unter 3.).
2141. Unter Berücksichtigung der unter I. aufgeführten rechtlichen Maßstäbe unterliegen Ahmadis allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya keiner Gruppenverfolgung. Auch angesichts der allgemeinen Situation der Ahmadis zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung ist in Übereinstimmung mit dem vom Europäischen Gerichtshof entwickelten und vom Bundesverwaltungsgericht übernommenen rechtlichen Maßstab davon auszugehen, dass die an die öffentliche Glaubensbetätigung anknüpfende Verfolgung nur dann die erforderliche subjektive Schwere aufweist, wenn die Befolgung der bestimmten gefahrenträchtigen religiösen Praxis für den Einzelnen in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist.
215Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 ‒ 10 C 23.12 ‒, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 28 ff., unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 5.9.2012 ‒ Rs. C-71/11 und C-99/11 ‒, ABl. EU 2012, Nr. C 331,5 = juris, Rn. 57 ff.; so auch: OVG Rh.-Pf., Urteil vom 29.6.2020 ‒ 13 A 10206/20 ‒, juris, Rn. 46 ff.; Sächs. OVG, Urteil vom 29.8.2019 ‒ 3 A 770/17.A ‒, juris, Rn. 36; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 12.6.2013 ‒ A 11 S 757/13 ‒, juris, Rn. 57, und vom 15.8.2023 ‒ A 12 S 3509/20 ‒, juris, Rn. 187 ff.; OVG NRW, Urteil vom 21.9.2023 ‒ 4 A 2467/15.A ‒, juris, Rn. 199; Bay. VGH, Urteil vom 10.5.2022 ‒ 6 B 18.33216 ‒, juris, Rn. 24 ff.
216Ebenso wenig lässt sich anhand der oben angeführten Informationen eine Gruppenverfolgung aller bekennenden Ahmadis feststellen.
217Abgesehen davon, dass sich weder eine auch nur schätzungsweise gesicherte Zahl von bekennenden Ahmadis ermitteln, noch dieser eine belegbare Zahl von Verfolgungshandlungen gegen Angehörige dieser Gruppe aus religiösen Gründen gegenüberstellen lässt,
218vgl. so schon: OVG Rh.-Pf., Urteil vom 29.6.2020 ‒ 13 A 10206/20 ‒, juris, Rn. 71 ff.,
219ist bereits höchstrichterlich geklärt, dass sich die erforderliche subjektive Schwere einer verfolgungsrelevanten Verletzung der Religionsfreiheit nicht unabhängig vom Einzelfall pauschal für alle Ahmadis bezogen auf die Eingriffshandlung – hier die Forderung nach einer eidlichen Erklärung, Nicht-Moslem zu sein – beurteilen lässt, sondern nur im Rahmen einer individuellen Prüfung der Verfolgungswahrscheinlichkeit.
220Vgl. so bereits OVG NRW, Beschluss vom 10.1.2025 – 4 A 550/22.A –, juris, Rn. 8 ff. 10, unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 ‒ 10 C 23.12 ‒, BVerwG146, 67 = juris, Rn. 28 ff.
221Schon deshalb verlangt auch die Einschätzung, ob es sich bei einem Ahmadi um ein von Verfolgung bedrohtes bekennendes Mitglied der Religionsgemeinschaft handelt, eine Einzelfallwertung, die sowohl die Einstellung und das Verhalten im Heimatland als auch im Aufnahmeland in Betracht ziehen muss, und sich bereits deshalb einer generalisierenden Einordnung als Untergruppe entzieht. Nur eine derartige Einzelfallbetrachtung ermöglicht die erforderliche Beurteilung, ob es für den jeweiligen Antragsteller identitätsprägend und in diesem Sinne unverzichtbar ist, seinen Glauben in einer in Pakistan strafrechtlich verbotenen Weise in der Öffentlichkeit zu zeigen bzw. aktiv zu leben.
222Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.8.2023 ‒ A 12 S 3509/20 ‒, juris, Rn. 193 ff., 200; siehe auch OVG NRW, Urteil vom 21.9.2023 ‒ 4 A 2467/15.A ‒, juris, Rn. 199; a. A. OVG Rh.-Pf., Urteil vom 29.6.2020 ‒ 13 A 10206/20 ‒, juris, Rn. 71 ff.; Sächs. OVG, Urteil vom 29.8.2019 ‒ 3 A 770/17.A ‒, juris, Rn. 37 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.6.2013 ‒ A 11 S 757/13 ‒, juris, Rn. 57 ff.
223Selbst wenn sich die Glaubensgemeinschaft der Ahmadis als eine werbende, in die Öffentlichkeit wirkende Gemeinschaft versteht, in der die Mission ein fester Bestandteil der Glaubenspraxis ist, hängen das Bekenntnis zum Glauben und dessen Ausübung sowie die hierauf beruhende Verfolgungsgefahr von der Überzeugung und vom hieran anknüpfenden Handeln des einzelnen Glaubensangehörigen ab. Maßgeblich ist, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob eine verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist.
224Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 ‒ 10 C 23.12 ‒, BVerwG146, 67 = juris, Rn. 29.
2252. Der Senat hat zunächst nicht die volle Überzeugungsgewissheit erlangt, dass der Kläger in Pakistan Verfolgung durch den pakistanischen Staat oder radikalislamische Muslime erlitten hat oder solche unmittelbar drohte.
226Der Senat ist ausgehend von den unter I. und II. genannten rechtlichen Maßstäben nicht davon überzeugt, dass der Kläger Pakistan aus Furcht vor weiteren Übergriffen seitens islamistischer Akteure gegen ihn als Ahmadi verlassen hat. Ihm ist nicht zu glauben, dass er in Pakistan wegen des von ihm geschilderten Vorfalls am 15.12.2010 verfolgt worden sein will. Auch in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren ist es dem Kläger nicht gelungen, einen in sich stimmigen, nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Lebenssachverhalt zu schildern, der eine konkrete flüchtlingsrelevante Bedrohung beachtlich wahrscheinlich erscheinen lässt. Vielmehr drängt sich auch auf Grund der nicht aufgelösten Widersprüche und Unschlüssigkeiten in seinen Angaben der Eindruck auf, dass sich der Kläger ausgehend von seiner Glaubenszugehörigkeit eine völlig unrealistische Verfolgungsgeschichte ausgedacht hat, um in Deutschland ein Bleiberecht zu erhalten.
227Der Kläger hat dem Senat bereits nicht die Überzeugung zu vermitteln vermocht, dass er als Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya seit Geburt (vgl. Bescheinigungen der Ahmadiyya Muslim Jamaat e. V., Frankfurt a. M., vom 00.00.2012, 00.00.2014 und 00.00.2024) beruflich in Chenab Nagar (Rabwah) in der Hauptverwaltung der Ahmadiyya in der Organisation Tahrīk-i-Jadīd und dort in der Abteilung Majlis Nuṣrat Jahān tätig gewesen ist. Weder die eingereichten Bescheinigungen der Ahmadiyya-Organisationen noch sein Vortrag lassen den Schluss zu, dass er tatsächlich im Dienst dieser Organisation gestanden haben und dort zuletzt als Buchhalter und Organisator medizinischer Geräte sowie Betreuer von Medizinern für den Einsatz in Afrika eingesetzt gewesen sein könnte. Ausschließlich in der auch auf Angaben des Bruders des Klägers beruhenden Bescheinigung der Ahmadiyya Muslim Association UK vom 21.2.2011 ‒ einer Organisation, die dem Bruder des Klägers auf Grund seiner leitenden Position in einer Gemeinde vertraut ‒ wurde auf der Grundlage einer lediglich telefonischen Rücksprache mit dem Hauptquartier in Rabwah davon berichtet, dass der Kläger von September 2002 bis Januar 2011 als „full-time administrative clerk“ (Verwaltungsangestellter in Vollzeit) im Hauptquartier der Ahmadiyya-Gemeinde in Rabwah beschäftigt gewesen sei. Diese Bescheinigung enthielt bereits den Hinweis, dass die angekündigte schriftliche Bestätigung der telefonisch erteilten Auskunft auf Grund der Zuständigkeit anderer Abteilungen Unterschiede zu der mündlichen Auskunft enthalten könnte. Die drei von der Ahmadiyya Muslim Jamaat e. V., Frankfurt a. M., ausgestellten Bescheinigungen vom 00.00.2012, 00.00.2014 und 00.00.2024 weisen ausschließlich die gebürtige Mitgliedschaft des Klägers in der Ahmadiyya Gemeinde sowie seine aktive Teilnahme am Gemeindeleben aus. Er habe der lokalen Jugendorganisation als Zuständiger für Finanzen gedient. Dagegen enthalten die Bescheinigungen keine Ausführungen dazu, dass der Kläger nicht nur ehrenamtlich, sondern sogar viele Jahre lang hauptamtlich für die Gemeinde tätig gewesen sein könnte. Dies deutet bereits darauf hin, dass sich das Hauptquartier der Ahmadiyya-Organisation in Rabwah außer Stande gesehen hat, die hauptamtliche Tätigkeit des Klägers schriftlich zu bestätigen, weil er sie tatsächlich gar nicht ausgeübt hat. Hierzu passt, dass der Kläger seine Tätigkeit nicht glaubhaft und lebensnah beschreiben konnte. Auch auf konkrete Nachfrage in der mündlichen Verhandlung hat er sich auf pauschale Angaben beschränkt, die sich im Wesentlichen allgemein zugänglichen Quellen entnehmen lassen und im Übrigen konstruiert erscheinen. Dass er mit dieser angeblichen Tätigkeit den Lebensunterhalt seiner Familie (zumindest teilweise) sichergestellt haben will, hat er ebenfalls nicht glaubhaft darlegen können. Während er ausweislich der englischen Bescheinigung und des Vortrags in der mündlichen Verhandlung hauptberuflich für die Ahmadiyya-Gemeinde tätig gewesen sein will, hatte er bei der Anhörung vor dem Bundesamt am 2.5.2012 auf die Frage nach seinem erlernten Beruf und seinem letzten Arbeitgeber noch ausschließlich angegeben, dass er im Familiengeschäft gearbeitet habe. Sie hätten ein Lebensmittelgeschäft betrieben und die Familie habe von dem Einkommen leben können. Sein Versuch, den Widerspruch damit zu erklären, dass sein Haupteinkommen aus der Gemeindetätigkeit untergegangen sein könne, dieses hätte auch nur zusammen mit den Einkünften aus dem Lebensmittelgeschäft zur Sicherung des Unterhalts der Großfamilie ausgereicht, kann angesichts der auch auf den letzten Arbeitgeber des Klägers bezogenen konkreten Fragestellung und eindeutigen damaligen Antwort nicht überzeugen, zumal der Kläger in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, selbst nur in jungen Jahren und einige Monate nach seinem Bachelor im Laden ausgeholfen zu haben.
228Ist mithin die hauptamtliche Tätigkeit des Klägers für die Ahmadiyya-Gemeinde nicht glaubhaft dargelegt, so fehlt bereits der Anknüpfungspunkt für den von ihm geschilderten Vorfall vom 15.12.2010, der Grund für seine Ausreise gewesen sein soll. Ungeachtet dessen hat der Kläger diesen Vorfall schon für sich genommen widersprüchlich und auch sonst nicht glaubhaft geschildert.
229Dies gilt bereits für seine Angaben, wie er H. E. kennengelernt und in seinen Glauben eingeführt haben will. Dass der Kläger sich gegenüber H. E., den er ausschließlich über die Vermittlung des Ladenbesitzers kennengelernt haben will, auf der Rückfahrt von Lahore in Richtung Rabwah derart weit geöffnet haben könnte, dass er ihm von seinem Glauben erzählt und damit sein Interesse geweckt habe, ist angesichts der kurzen Bekanntschaft, der Strafandrohungen für Missionierung sowie der allgemeinen Gefährdung der Ahmadis in einer ihnen feindlich gesinnten Gesellschaft absolut fernliegend. Der Kläger hat auch weder Einzelheiten zu diesem Bekannten zu erzählen vermocht noch einen nachvollziehbaren Grund für seine Annahme der Vertrauenswürdigkeit von H. E.. Seine Äußerung, er habe H. E. zu sich nach Hause in Rabwah eingeladen, mit heiligen Orten der Ahmadis bekannt gemacht und dieser habe ihn auch vier- bis fünfmal besucht, ist angesichts der weiteren Äußerungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat völlig lebensfern, er wisse ausschließlich, dass H. E. bei Hikmat (einem großen Unternehmen) gearbeitet habe, Adresse und Telefonnummer habe er von ihm jedoch nicht erhalten. Die ohne jeglichen erkennbaren Argwohn erfolgte Schilderung, der Kläger habe als Angehöriger der Ahmadiyya ‒ ohne jeglichen verlässlichen Vertrauensbeweis ‒ sein Haus für einen Nicht-Ahmadi geöffnet und ihm von seinem Glauben erzählt, lässt angesichts der unter II. ausführlich beschriebenen Gefährdungen für Ahmadis, auf die sich der Kläger in der mündlichen Verhandlung schon für den Zeitpunkt seiner Ausreise selbst berufen hat, durchgreifende Zweifel daran aufkommen, dass sein Leben in Pakistan tatsächlich von ihm schon damals bekannten und bestehenden Gefährdungen für Ahmadis in Pakistan geprägt war. Im englischen Asylverfahren hatte der Kläger noch angegeben, seit seiner Kindheit nie einen Kampf oder Streit mit irgendjemandem und bis zu dem angeblichen Vorfall am 15.12.2010 in Pakistan nichts zu befürchten gehabt zu haben. Hierzu im Widerspruch stehen spätere auch miteinander nicht in Einklang zu bringende und trotz mehrfacher Anhörung des Klägers jeweils vereinzelt gebliebene Schilderungen über lange zurückliegende und nach eigenem Bekunden sämtlich keinen Ausreiseentschluss auslösende angebliche Übergriffe in Lahore und Karachi sowie bei Einrichtung von Medical Camps auf dem Lande. Unabhängig davon, ob diese so stattgefunden haben, haben sie den nach eigenen Angaben in Pakistan im Wesentlichen unbehelligt gebliebenen Kläger jedenfalls nicht dahingehend sensibilisiert, dass seiner Familie und ihm bei der berichteten Öffnung seines Hauses für einen ihm praktisch unbekannten Nicht-Ahmadi angesichts der schon damals bestehenden Blasphemiegesetzgebung erhebliche Gefahren drohen konnten. Bereits die dabei aus allen Schilderungen seit seiner Ausreise aus Pakistan erkennbare Sorglosigkeit des Klägers lässt insoweit angesichts seiner eigenen sonstigen Schilderungen von Gefahren für Ahmadis in der mündlichen Verhandlung nicht auf tatsächlich erlebtes Geschehen schließen, sondern auf eine asyltaktische Schilderung eines konstruierten Ausgangspunkts für einen erfundenen Vorfall.
230Ebenso wenig ist die Schilderung des Vorfalls am 15.12.2010 selbst glaubhaft. Schon die Schilderung der Buspanne, der Mitnahme in einem PKW sowie des darin während der Fahrt erfolgten auch vom Fahrer ausgehenden Übergriffs mit Waffen und der nicht nachvollziehbaren Befreiung lässt jeden Realitätsbezug vermissen. Abgesehen davon ist nicht erklärlich, warum H. E., der den Kläger zuvor mehrfach privat besucht haben soll, bis zu einer zufälligen Buspanne zugewartet haben sollte, damit ein ihm bekannter Autofahrer und eine weitere Person vom Kläger während einer Autofahrt mit Waffengewalt Informationen im Beisein eines muslimischen Gelehrten erzwingen und ihn bedrohen können. Zudem waren die Angaben des Klägers widersprüchlich. Während er in der mündlichen Verhandlung berichtet hat, er sei bereits auf sein Zögern, die letztlich unbeantwortet gebliebene Frage nach seinem Namen und seiner Tätigkeit zu beantworten, mit einem Messer und einer Pistole bedroht worden, will er nach den vorangegangenen Schilderungen zunächst noch im Vertrauen auch auf die Frage zu seiner Tätigkeit für die Ahmadi-Organisation offen geantwortet und erst auf konkretere Fragen zu seiner Tätigkeit stutzig geworden sein. Dass derartige zentrale Geschehnisse eines das Verfolgungsgeschehen prägenden Vorfalls schon kurz darauf im englischen und im deutschen Asylverfahren unterschiedlich berichtet worden sind und schließlich in der mündlichen Verhandlung in einem entscheidenden Punkt gänzlich abweichend, deutet auch unter Berücksichtigung einer naturgemäß im Laufe der Jahre verblassenden Erinnerung nicht auf selbst erlebtes Geschehen hin.
231Auch das Geschehen um die Befreiung aus dem fahrenden Auto bleibt unkonkret, nicht nachvollziehbar, blass und inhaltsarm. Auf Frage, wie der Kläger es angesichts einer Bedrohung mit Messer und Pistole auf dem mittleren Sitz der Rückbank zwischen zwei Mitreisenden geschafft haben will, die Autotür zu öffnen und mit dem an der Tür sitzenden H. E. aus dem Auto zu fallen, lässt auch der Kläger dies wie ein Wunder erscheinen und äußert lediglich, dass Allah, der ihn habe beschützen wollen, einen Weg gefunden habe. Dies ersetzt jedoch nicht eine nachvollziehbare Schilderung und Erklärung des Vorfalls.
232Bezeichnend für die fehlende Glaubhaftigkeit seines Vortrags ist weiterhin, dass der Kläger ‒ obwohl ihm in der mündlichen Verhandlung ausreichend Zeit zur Schilderung des Vorfalls vom 15.12.2010 gegeben worden ist ‒ seine frühere Angabe, er sei nach seiner Flucht aus dem Auto beschossen worden, erst auf konkreten Vorhalt bestätigt und darauf verwiesen hat, dass er zwar einen Schuss gehört habe, jedoch nicht wisse, woher dieser gekommen sei.
233Selbst den Aufenthalt im Krankenhaus ‒ ohne dass es darauf ankommt, ob die Kleidung des Klägers blutverschmiert gewesen ist ‒ hat der Kläger im Widerspruch zu der vorgelegten Bescheinigung geschildert. Während er in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass ihm im Krankenhaus gesagt worden sei, er könne sich ein medizinisches Zertifikat ausstellen lassen, was er von einer anderen Abteilung erhalten werde, ist in der mit Schriftsatz vom 16.6.2015 vorgelegten Bescheinigung des Casualty Medical Officer die Rede von „Date & time of Report sent to Police immediately“ (Datum und Uhrzeit der Meldung unverzüglich an Polizei übermittelt).
234Voneinander abweichend hat der Kläger auch den Versuch geschildert, bei der Polizei gemeinsam mit seinem Bruder eine Anzeige zu erstatten. Während er in der mündlichen Verhandlung berichtet hatte, der Polizist habe mit jemandem telefoniert und dann habe er, der Kläger, durch das Fenster gesehen, dass der muslimische Geistliche auch da war, will er ausweislich seiner Aussage vor dem Bundesamt Zeuge eines in der mündlichen Verhandlung nicht erwähnten Gesprächs zwischen dem Polizeibeamten und dem muslimischen Geistlichen gewesen sein.
235Die Reaktion des Klägers auf die erfolglose Meldung des Vorfalls an die Polizei bleibt nicht nachvollziehbar und unverständlich. Wenn er und sein Bruder aus Sorge vor Repressalien von einer Anzeige tatsächlich Abstand genommen hätten, bliebe unschlüssig, dass der Kläger ‒ wie er in der mündlichen Verhandlung geschildert hat ‒ danach noch 20 bis 22 Tage normal weitergelebt und angesichts der aus der berichteten Bedrohung zu erwartenden Risiken für die bei der Organisation beschäftigten Ärzte nicht einmal seinen angeblichen Arbeitgeber, das Hauptquartier der Ahmadis in Rabwah, informiert haben will. Nervös sei er erst geworden, als ihm ein Freund von einem ihn betreffenden Zeitungsbericht erzählt und er diesen Bericht aufgefunden habe. Erst danach habe er sich bemüht, Informationen über das von dem muslimischen Gelehrten angeblich angestrengte gerichtliche Verfahren zu erhalten. In diesem Zusammenhang hat der Kläger außerdem widersprüchlich geschildert, wie er an diese Gerichtsinformationen gelangt sein will. Während er noch im englischen Asylverfahren davon gesprochen hatte, dass er selbst bzw. ein Freund die Informationen bei Gericht eingeholt habe, hat er in der mündlichen Verhandlung ‒ ebenso wie bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt ‒ darauf bestanden, dass (ausschließlich) ein befreundeter Anwalt eine Kopie der Anklage bei Gericht besorgt habe.
236In den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung fehlt völlig der noch im englischen Asylverfahren und auch bei der Anhörung beim Bundesamt geschilderte Vorfall um die Vergiftung des Familienhundes und die Drohung, dass auch der Kläger vergiftet werde. Diese (weitere) Bedrohung soll jedoch nach den Angaben des Klägers in der Anhörung beim Bundesamt gerade das auslösende Moment für sein Untertauchen und seinen Fluchtentschluss gewesen sein.
237Insgesamt erweisen sich die Schilderungen des Klägers zu seinem Verfolgungsgrund mithin als zu widersprüchlich und lebensfremd, als dass sie einem tatsächlichen Geschehen entsprechen könnten.
238Von mitentscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass der Kläger eine ihn betreffende Verfolgung durch eine gerichtliche Anklage, auf die er seine Verfolgungsgeschichte maßgeblich gestützt hat, nicht hat glaubhaft machen können. Vielmehr hat sich die unter dem 16.6.2015 dem Verwaltungsgericht vorgelegte „complaint under section 298-C, 324-C“ ‒ abgesehen davon, dass der darin geschilderte Sachverhalt weder zeitlich oder örtlich noch inhaltlich zu den Angaben des Klägers passt ‒ auf Nachforschung durch das Auswärtige Amt als Fälschung herausgestellt. Davon war nach umfassender Würdigung schon das Upper tribunal in seiner Entscheidung vom 27.6.2011 ausgegangen. Die „complaint“ entspricht nicht den üblicherweise verwendeten Vordrucken und verschleiert unzulässig Fakten, wie den Namen des zuständigen Richters und Gerichts. Weiter gibt es weder Datum der Registrierung noch der Entscheidung. Hinzu kommt, dass der in dem Dokument genannte Rechtsanwalt bestätigt hat, die Beschwerde nicht anhängig gemacht zu haben. Dieser Auskunft hat der Kläger keinen durchgreifenden Einwand entgegengesetzt. Weder die Bestätigung der (weiteren) Anhängigkeit der Beschwerde durch seinen pakistanischen Anwalt noch der Hinweis darauf, dass der vom Auswärtigen Amt befragte gegnerische Anwalt ihm mit seiner Antwort weiter habe schaden wollen, können die formellen Fehler und Ungereimtheiten des überprüften Dokuments erklären oder beseitigen, zumal der Kläger über keine offizielle Bestätigung verfügt und in Pakistan bekanntermaßen leicht fehlerhafte Dokumente zu bekommen sind.
239Insgesamt verbleibt es dabei, dass es dem Kläger nicht gelungen ist, einen in sich stimmigen, nachvollziehbaren Lebenssachverhalt zu schildern, der eine konkrete flüchtlingsrelevante Bedrohung vor seiner Ausreise zu belegen geeignet ist.
2403. Der Kläger hat dem Senat auch nicht die Überzeugung zu vermitteln vermocht, dass er die in Deutschland erfolgende öffentlich erkennbare, frei ausgeübte Betätigung seines Glaubens für sich selbst als innerlich verpflichtend zur Wahrung seiner religiösen Identität empfindet, so dass ein Verzicht hierauf bei einer Rückkehr nach Pakistan die Qualität einer Verfolgung erreicht.
241a) Dass der Kläger eine strafrechtlich relevante Religionsausübung in Pakistan als für seine religiöse Identität verpflichtend angesehen hat, hat er nicht glaubhaft gemacht. Nach der Niederschrift über die Anhörung durch das Bundesamt und dem gesamten weiteren Vorbringen des Klägers im Gerichtsverfahren ist nicht ausreichend deutlich geworden, dass die eingeschränkte Möglichkeit der öffentlichen Ausübung der Religion für den Kläger einen erheblichen inneren Konflikt bewirkt hat, weil es nach seiner religiösen Grundeinstellung geboten gewesen wäre, den Glauben in einer in Pakistan verbotenen Weise öffentlich zu leben. Der Kläger hat von sich aus nicht als Fluchtgrund angegeben, dass es ihm ein wichtiges Anliegen gewesen sei, seinen Glauben in einer Weise für jedermann offen erkennbar zu leben, die ihm in Pakistan nicht erlaubt gewesen sei. Vielmehr hat er seine Verfolgungsfurcht zunächst ausschließlich aus dem geschilderten Vorfall vom 15.12.2010 und seinen Folgen abgeleitet. Dies hatte er bereits bei seiner ersten Anhörung im englischen Asylverfahren auf die Frage bekräftigt, ob er sonstige Probleme (abgesehen von den an den Vorfall vom 15.12.2010 anknüpfenden) gehabt habe, und ergänzend ausgeführt, dass wegen seines Status als Ahmadi sein Leben in Gefahr sei und er keine persönlichen Beschwerden oder Streitigkeiten mit irgendjemandem habe. Es sei alles wegen seines Glaubens. Auch auf weitere insistierende Frage, ob es irgendetwas gebe, das seine Angst in Pakistan verstärkt habe, hat er erklärt „no, nothing at the moment that has happened recently“ (Nein, nichts im Moment, das in letzter Zeit passiert ist). Er fürchte sich vor H. E. und dem muslimischen Geistlichen, der ihn bedroht habe. Erst auf insistierende Nachfrage des erstinstanzlichen englischen Richters hat er von zwei Vorfällen vor vielen Jahren berichtet, die einmal während seiner Tätigkeit in einer Fabrik in Lahore, ein anderes Mal während seiner Tätigkeit in Karachi vorgefallen seien und beide Male nach Bekanntwerden seiner Glaubenszugehörigkeit zu erheblichen Schwierigkeiten mit Nicht-Ahmadis und dem Verlust seiner Arbeitsstelle geführt hätten. In seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 2.5.2012 hatte der Antragsteller nach Schilderung des Vorfalls am 15.12.2010 und der Folgen bejaht, dass dies seine vollständigen Asylgründe seien, er auch keine sonstigen Gründe habe. Seine Glaubensausübung bzw. seine innere Verpflichtung zur Glaubensausübung hatte er bis dorthin nicht einmal erwähnt. Dementsprechend hatte bereits das Bundesamt im ablehnenden Bescheid vom 17.9.2014 ausgeführt, dass der Kläger nicht habe überzeugend darstellen können, dass er seinem Glauben so eng verbunden sei und diesen in der Vergangenheit sowie auch gegenwärtig in einer Weise praktiziere, dass er im Falle einer Rückkehr nach Pakistan insbesondere von den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Erst im Klageverfahren hat der Kläger sodann vorgetragen, dass er es als einen Teil seiner Identität ansehe, mit dem Glauben auch in die Öffentlichkeit hineinzuwirken, ohne jedoch mitzuteilen, ob und inwieweit ihn der Verlust dieser Freiheit konkret treffen würde. So hat der Kläger keine individuellen Angaben zu seiner Religionsausübung in Pakistan und hierdurch ausgelösten Gefahren gemacht, sondern sich ausschließlich auf die Mitteilung des konkreten Fluchtanlasses beschränkt, den er als Beleg für seine glaubensbezogene Verfolgungsfurcht ansieht. Hinsichtlich seiner religiösen Betätigung in Pakistan hat die Ahmadiyya Muslim Jamaat in ihren Bescheinigungen ausschließlich angegeben, der Kläger habe guten Kontakt zur Gemeinde gepflegt, regelmäßig an den Gemeindeveranstaltungen teilgenommen und seine Mitgliedsbeiträge ordnungsgemäß entrichtet. Eine innere Haltung zur Religionsausübung oder gar das Gefühl einer inneren Verpflichtung zu einer öffentlich bemerkbaren Religionsausübung wurde daraus nicht deutlich. Was für ihn persönlich bei der Religionsausübung von besonderer Bedeutung ist, hat er nicht mitgeteilt. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger nicht nachvollziehbar schildern können, dass für ihn eine gefahrdrohende Glaubensausübung in Pakistan einer zwingenden inneren Verpflichtung entsprochen habe. Vielmehr hat er auf Nachfrage zunächst nur ausführlich die allgemeinen Auswirkungen des verschärften Vorgehens gegen Ahmadis auch in Rabwah dargelegt. Auf die Frage, was dies für ihn und seine Glaubensausübung bedeutet habe, hat er ausschließlich mit einer Gegenfrage geantwortet, ohne eine inhaltliche Antwort zu geben. Die ihm drohende Gefahr hält er für dieselbe, die allen Ahmadis in Pakistan gleichermaßen drohe. Ausgehend davon gewährt er selbst keine individuellen Einblicke in seine Glaubensüberzeugung, die Rückschlüsse auf eine zwingende innere Verpflichtung zu bestimmten verbotenen Glaubenshandlungen erlaubt. Erst auf weitere Nachfrage hat er zwei Vorfälle in seiner Jugendzeit benannt, die er aber selbst nicht als ausreiserelevant angesehen hat. Abgesehen davon, dass er nicht einmal mehr auf die im englischen Asylverfahren geschilderten Probleme in seinem Arbeitsumfeld in Lahore und Karachi zu sprechen gekommen ist, hat er mit seiner Bekundung, er habe gelernt, auf Beleidigungen ruhig zu reagieren, gezeigt, dass ihn diese Vorfälle weder in seiner Glaubensausübung beeinträchtigt noch in seiner religiösen Identität berührt haben. Zudem hat er nicht erkennen lassen, durch seine Art, die Botschaft nur gegenüber interessierten Personen zu verbreiten, in den letzten Jahren vor seiner Ausreise noch verfolgungsrelevante Probleme bekommen zu haben. Solche habe es insbesondere beim Austausch mit Freunden und Familienangehörigen über seinen Glauben nicht gegeben.
242Dass die Unterscheidung zwischen Ahmadis und Moslems für den Kläger nicht problematisch war, wird anhand seiner Antworten zur Beantragung der Identitätskarte und des Passes deutlich. Der Kläger hat bejaht, sowohl eine Identitätskarte als auch einen Pass in Pakistan besessen zu habe. Auf Nachfrage des Senats konnte er sich ausschließlich erinnern, dass er in das Formular „Ahmadi“ habe eintragen müssen. Von einer Verpflichtung, gleichzeitig leugnen zu müssen, dass er Muslim sei, und einer hieraus möglicherweise folgenden Gewissensnot, hat er hingegen nichts berichtet.
243Angesprochen auf die Situation seiner Familie in Karachi hat der Kläger, ohne sich anscheinend der Gefährlichkeit der Äußerungen seiner Ehefrau bewusst zu sein, angegeben, dass seine Frau auf konkrete Nachfrage nach dem Eintrag „Ahmedi“ in der Geburtsurkunde des Sohns den Lehrer angelogen und ihm erzählt habe, sie seien Moslems.
244Angesichts all dessen hat der Senat nicht den Eindruck gewonnen, dass der Kläger es in Pakistan für verpflichtend erachtet habe, seine Religion so auszuüben, dass er mit den die Ahmadis betreffenden Strafvorschriften in Konflikt hätte kommen können.
245b) Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht unter Würdigung der Aktivitäten des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland. Der Kläger hat ausgeführt, er besuche die Moschee regelmäßig und nehme an örtlichen wie überörtlichen Gemeindeveranstaltungen teil. Er entrichte seine Mitgliedsbeiträge ordnungsgemäß und sei zuständig für die Medien in seiner lokalen Gemeinde. Zudem sei er die Verpflichtung eines „Mußi“ eingegangen. Er habe an einer Baumpflanzaktion, Silvesterreinigungsaktionen und überörtlichen Jugendveranstaltungen teilgenommen. Er leite des Öfteren die täglichen Gebete im Gebetszentrum in Isselburg und fungiere häufiger als Vorbeter. Aus diesen Aktivitäten wird deutlich, dass der Kläger die Freiheit der Religionsausübung in Deutschland schätzt und nutzt. Dass diese Betätigung einer zwingenden, für ihn unverzichtbaren inneren Verpflichtung folgt, ist angesichts seiner Schilderungen über die vorangegangene Religionsausübung in Pakistan jedoch weder substantiiert vorgetragen noch sonst erkennbar geworden.
246Der Kläger hat dem Gericht auch nicht vermitteln können, dass die auf Grund der neuen Personenstandsgesetze entstandene Situation ihn nunmehr in einen inneren Konflikt wegen seiner Religion stürzen würde. So hat er dem Senat in der mündlichen Verhandlung seinen aktuellen Pass vorgelegt, in dem als Religion wieder „Ahmadiyya“ eingetragen ist. Schwierigkeiten bei der Passbeantragung hat er ebenso verneint wie eigene Probleme bei der Eintragung „Ahmadiyya“.
247B. An den Voraussetzungen des hilfsweise beantragten subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG fehlt es ebenfalls. Danach ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, wobei nach S. 2 als solcher die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts (Nr. 3) gilt. Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens und an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft der subsidiäre Schutz tritt. Für das Bestehen eines drohenden ernsthaften Schadens in diesem Sinne ist vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen nichts ersichtlich.
248C. Abschiebungsschutz nach nationalem Recht ist dem Kläger ebenfalls nicht zu gewähren. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 (1.) und Abs. 7 Satz 1 (2.) AufenthG liegen nicht vor.
2491. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist demnach hier zu verneinen, weil eine in diesem Fall allein in Betracht kommende Verletzung von Art. 3 EMRK nicht ersichtlich ist. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich nämlich weitgehend identisch mit dem Schutzbereich des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Daher scheidet bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig – so auch hier – aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus,
250vgl. BVerwG, Urteil vom 31.1.2013 ‒ 10 C 15.12 ‒, BVerwGE 146, 12 = juris, Rn. 36, zum unionsrechtlichen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG, der auf § 4 AsylG verweist.
251Als Auffangtatbestand kommt § 60 Abs. 5 AufenthG nur dann in Betracht, wenn die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung keinem der Akteure im Sinne von § 3c AsylG (i. V. m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) zugeordnet werden kann,
252vgl. BVerwG, Urteil vom 20.5.2020 ‒ 1 C 11.19 ‒, juris Rn. 12 f.,
253was hier weder ‒ auf konkrete Nachfrage ‒ glaubhaft vorgetragen noch sonst ersichtlich ist.
2542. Ebenso wenig ergibt sich für den Kläger ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
255a) Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt sind, schließen im Grundsatz die Berufung auf Satz 1 aus. Dazu zählen unzureichende allgemeine Lebensbedingungen wie eine schlechte Sicherheitslage, eine defizitäre Versorgungslage oder mangelhafte hygienische Verhältnisse, aber auch eine generell hohe Gewaltkriminalität oder Arbeitslosigkeit. Diese Gefahren sind in der Regel allein über Anordnungen der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigungsfähig (§ 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG). Dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan einer derart extremen allgemeinen Gefährdungslage ausgesetzt sein könnte, ist nicht vorgetragen und auch sonst nicht feststellbar.
256b) Sonstige individuelle Gründe für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat der Kläger auch auf konkrete Nachfrage hin nicht vorgetragen.
257D. Die unter Nr. 5 des angegriffenen Bescheides verfügte Abschiebungsandrohung mit Ausreiseaufforderung unter Fristsetzung von 30 Tagen ist rechtmäßig. Sie beruht auf § 34 Abs. 1 AsylG, dessen Voraussetzungen im Fall des Klägers, der nicht über einen Aufenthaltstitel verfügt, auch mit Blick auf die Anforderungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 vorliegen. Familiäre Bindungen stehen einer Abschiebung des Klägers nicht entgegen. Schützenswerte persönliche Bindungen im Bundesgebiet sind weder vorgetragen worden noch unabhängig hiervon ersichtlich.
258Einer Entscheidung der Beklagten über die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG bedurfte es gemäß § 104 Abs. 12 AufenthG nicht, weil der angefochtene Bescheid des Bundesamts vor dem 1.8.2015, nämlich am 17.9.2014, ergangen ist.
259Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 83b AsylG.
260Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
261Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nach § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.