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1. Das Tragen eines Kopftuchs als Ausdruck einer individuellen Glaubensüberzeugung in einer gerichtlichen Verhandlung durch eine ehrenamtliche Richterin stellt eine gröbliche Verletzung der sich aus § 2 Abs. 1 JNeutG NRW ergebenden Amtspflicht i. S. v. § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO dar.
2. Die Entbindung vom Amt einer ehrenamtlichen Richterin wegen eines solchen Pflichtverstoßes gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO kann im Einzelfall auch schon vor der ersten Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung erfolgen.
Frau I. T. , K.-straße 9, N., wird von dem Amt einer ehrenamtlichen Richterin beim Verwaltungsgericht Düsseldorf entbunden.
I.
2Frau T. wurde zur ehrenamtlichen Richterin beim Verwaltungsgericht Düsseldorf für die Amtsperiode ab Mai 2025 gewählt. Nachdem sie mitgeteilt hatte, dass sie ein Kopftuch trage, wies der Präsident des Verwaltungsgerichts sie darauf hin, dass das Tragen eines Kopftuchs aus Bekenntnisgründen während der Gerichtsverhandlungen gegen das staatliche Neutralitätsgebot in § 2 Abs. 1 Justizneutralitätsgesetz NRW (JNeutG NRW) verstoße, und bat um Mitteilung, ob sie bereit sei, während der Gerichtsverhandlungen auf das Tragen des Kopftuchs zu verzichten.
3Daraufhin übersandte Frau T. per E-Mail vom 7. Februar 2025 eine zusammenfassende Wiedergabe des Urteils des KG Berlin vom 9. Oktober 2012 - (3) 121 Ss 166/12 (120/12) -, wonach das Tragen eines religiös begründeten Kopftuchs keine Unfähigkeit zur Ausübung des Schöffenamts nach § 32 GVG begründen könne, sowie Hinweise auf weitere Gerichtsentscheidungen zu Schöffinnen mit Kopftuch. Frau T. erklärte weiter, dass sie, wenn das Verwaltungsgericht damit einverstanden sei, das Amt dankend annehme, ansonsten könne sie dieses nicht antreten.
4Mit Schreiben vom 13. Februar 2025 wies der Präsident des Verwaltungsgerichts Frau T. erneut darauf hin, dass das Tragen eines Kopftuchs während einer Gerichtsverhandlung gegen das staatliche Neutralitätsgebot verstoße. Weiter erläuterte er, die E-Mail vom 7. Februar 2025 lege nahe, dass sie auf das Tragen eines Kopftuchs während einer Gerichtsverhandlung nicht verzichten wolle. Für den Fall, dass sie dazu doch bereit sei, bat er um Mitteilung bis zum 26. Februar 2025 und kündigte an, andernfalls ihre Entbindung vom Amt der ehrenamtlichen Richterin zu beantragen.
5Nachdem hierauf keine Reaktion erfolgt war, hat der Präsident des Verwaltungsgerichts mit Schreiben vom 4. März 2025 beantragt, Frau T. von ihrem Amt zu entbinden. Diese erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme in dem vor dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen eingeleiteten Verfahren.
6II.
7Der Antrag des gemäß § 24 Abs. 3 Satz 1 VwGO antragsbefugten Präsidenten des Verwaltungsgerichts, die ehrenamtliche Richterin I. T. von dem Amt einer ehrenamtlichen Richterin beim Verwaltungsgericht N. gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO zu entbinden, ist begründet.
8Nach § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ist ein ehrenamtlicher Richter von seinem Amt zu entbinden, wenn er seine Amtspflichten gröblich verletzt hat. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Zu den Amtspflichten für ehrenamtliche Richter gehört die Neutralitätspflicht des § 2 Abs. 1 JNeutG NRW (dazu 1.). Die Nichtbeachtung dieser Amtspflicht durch das Tragen eines Kopftuchs als Ausdruck einer individuellen Glaubensüberzeugung in der gerichtlichen Verhandlung stellt eine gröbliche Verletzung der Amtspflicht dar (dazu 2.). Vor einer Amtsentbindung ist die ehrenamtliche Richterin T. nicht durch Festsetzung eines Ordnungsgeldes zur Befolgung der Amtspflicht anzuhalten (dazu 3.).
91. Für die ehrenamtliche Richterin gilt u. a. die Amtspflicht aus § 2 Abs. 1 JNeutG NRW.
10Amtspflichten sind solche Pflichten eines ehrenamtlichen Richters, die sich auf das ehrenamtlich ausgeübte Richteramt beziehen und in innerem Zusammenhang mit diesem stehen.
11Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Oktober 2022 ‑ 16 F 6/22 ‑ (n. v., S. 1 des Beschlusses); VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 31. Oktober 2024 - 1 S 1430/24 -, juris, Rn. 20.
12Zu diesen Amtspflichten zählt auch die in § 2 Abs. 1 JNeutG NRW normierte Pflicht u. a. für ehrenamtliche Richterinnen und Richter, in der gerichtlichen Verhandlung keine wahrnehmbaren Symbole oder Kleidungsstücke zu tragen, die bei objektiver Betrachtung eine bestimmte religiöse, weltanschauliche oder politische Auffassung zum Ausdruck bringen.
13Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 10. Dezember 2020 ‑ 5 S 20.2456 ‑, juris, Rn. 2 ff., zur vergleichbaren Pflicht in Art. 11 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 15 Satz 3 Halbs. 2 BayRiStAG.
14Der Senat hält das in § 2 Abs. 1 JNeutG NRW enthaltene Verbot für ehrenamtliche Richterinnen, in der gerichtlichen Verhandlung ein Kopftuch als Ausdruck einer individuellen Glaubensüberzeugung zu tragen, nicht für verfassungswidrig,
15so auch OLG Hamm, Beschluss vom 11. April 2024 ‑ III-5 Ws 64/24 -, juris, Rn. 6 (zu Schöffinnen); VG Arnsberg, Beschluss vom 9. Mai 2022 ‑ 2 L 102/22 ‑, juris, Rn. 27 ff. (zu Rechtsreferendarinnen); von Zons, NVwZ 2025, 220 (224) (zu Schöffinnen); Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 24 Rn. 3; zur vergleichbaren Pflicht in Art. 11 Abs. 2 Satz 1 BayRiStAG ebenso Bay. VerfGH, Entscheidung vom 14. März 2019 - Vf. 3-VII-18 -, juris, Rn. 15 ff., und Bay. VGH, Beschluss vom 10. Dezember 2020 ‑ 5 S 20.2456 ‑, juris, Rn. 3; die Verfassungswidrigkeit eines Kopftuchverbots nehmen an z. B. Muckel, NWVBl. 2020, 224 (227 ff.); Brosius-Gersdorf/Gersdorf, NVwZ 2020, 428 (432) (zu Rechtsreferendarinnen, Richterinnen und Staatsanwältinnen); Payandeh, DÖV 2018, 482 (488) (zu Richterinnen); Bader, NJW 2007, 2964 (2965 f.) (zu Schöffinnen); zweifelnd Wißmann, ZRP 2019, 218 (220),
16und sieht daher keinen Anlass für ein Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG. Das Verbot ist auch unter Berücksichtigung des Schutzes der Religions(ausübungs)freiheit durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und der Gleichbehandlungsgebote in Art. 3 GG verfassungsgemäß. Für die Beurteilung der tatsächlichen Gegebenheiten und Entwicklungen, von der abhängt, ob Werte von Verfassungsrang eine Regelung rechtfertigen, die Richter (einschließlich der ehrenamtlichen Richter) und weitere Justizangehörige aller Bekenntnisse zu äußerster Zurückhaltung in der Verwendung von Kennzeichen mit religiösem Bezug verpflichtet, verfügt der Landesgesetzgeber über eine Einschätzungsprärogative. Er hat mit § 2 Abs. 1 JNeutG NRW eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage geschaffen, um das normative Spannungsverhältnis zwischen der positiven Religionsfreiheit der von dem Verbot betroffenen ehrenamtlichen Richterinnen einerseits und den verfassungsrechtlich gleichermaßen geschützten Grundsätzen der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates (Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 136 Abs. 1 und 4, Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG) und der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sowie möglichen Kollisionen mit der negativen Religionsfreiheit Dritter (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) andererseits unter Berücksichtigung des Toleranzgebots aufzulösen.
17Vgl. zu entsprechenden gesetzlichen Verboten anderer Bundesländer: BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/17 -, juris, Rn. 85 ff., 101; Bay. VerfGH, Entscheidung vom 14. März 2019 - Vf. 3-VII-18 -, juris, Rn. 24 ff.; siehe zur Begründung des Justizneutralitätsgesetzes NRW LT‑Drs. 17/3774, S. 9 ff., 12 f.
182. Das Tragen eines Kopftuchs als Ausdruck einer individuellen Glaubensüberzeugung in einer gerichtlichen Verhandlung durch die ehrenamtliche Richterin T. stellt eine gröbliche Verletzung der sich aus § 2 Abs. 1 JNeutG NRW ergebenden Amtspflicht i. S. v. § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO dar.
19Die Verletzung einer Amtspflicht ist gröblich, wenn der Betreffende den ihm als ehrenamtlichem Richter obliegenden Pflichten in derart schwerwiegender Weise zuwiderhandelt, dass er sich als ungeeignet für die Ausübung des Amtes erweist. Die Gröblichkeit einer Amtspflichtverletzung kann aus dem besonderen Gewicht des einzelnen Pflichtenverstoßes oder aus der Häufigkeit der Pflichtenverstöße folgen. Den ehrenamtlichen Richter muss an dem Pflichtverstoß grundsätzlich ein Verschulden in dem Sinne treffen, dass er sein Fehlverhalten trotz Kenntnis von der konkreten Pflicht fortsetzt, also vorsätzlich handelt oder in ungewöhnlich hohem Maße die erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
20Vgl. VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 31. Oktober 2024 - 1 S 1430/24 -, juris, Rn. 20, und vom 27. Juli 2023 - 1 S 886/23 -, juris, Rn. 2; OVG NRW, Beschluss vom 6. Oktober 2022 - 16 F 6/22 - (n. v., S. 2 des Beschlusses), jeweils m. w. N.; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 26. August 2013 - 2 BvR 225/13 -, juris, Rn. 11.
21Gemessen daran ist hier von einer gröblichen Verletzung der Amtspflichten der ehrenamtlichen Richterin T. gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO auszugehen. Das Tragen eines Kopftuchs ist für sie Ausdruck ihrer individuellen Glaubensüberzeugung. Trägt sie es in einer gerichtlichen Verhandlung, verstößt sie aber gegen ihre Amtspflicht aus § 2 Abs. 1 JNeutG NRW. Da dieser Vorschrift besondere Bedeutung zukommt, weil sie den insbesondere für Gerichtsverfahren zentralen Grundsatz der staatlichen Neutralität stärken soll, ist ein solches Verhalten der ehrenamtlichen Richterin – nach Belehrung durch den Präsidenten des Verwaltungsgerichts in Kenntnis dieser Amtspflicht – als gröbliche Verletzung der Amtspflichten i. S. v. § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO zu werten.
22Zwar hat sich die Amtspflicht für Frau T. bisher nicht in dem Sinne konkretisiert, dass sie sich unmittelbar vor der Teilnahme als ehrenamtliche Richterin an einer bestimmten Gerichtsverhandlung des Verwaltungsgerichts N. entscheiden musste, ob sie ihr Kopftuch trägt oder es ablegt. Dementsprechend hat Frau T. auch bisher nicht gegen diese Pflicht verstoßen. Da aber anzunehmen ist, dass sie das Tragen des Kopftuchs für sich aus religiösen Gründen als verpflichtend ansieht, ist unter Berücksichtigung ihres Schriftwechsels mit dem Präsidenten des Verwaltungsgerichts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie gegen ihre Amtspflicht aus § 2 Abs. 1 JNeutG NRW verstoßen wird, sobald sie als ehrenamtliche Richterin an einer gerichtlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht in der Amtsperiode ab Mai 2025 teilnehmen soll. Bei einer solchen Sachlage erscheint es hier als reine Förmelei, die auch mit Blick auf das öffentliche Interesse an einer möglichst reibungslosen Durchführung von Gerichtsverhandlungen weder der ehrenamtlichen Richterin noch den anderen Richtern und den Verfahrensbeteiligten beim Verwaltungsgericht N. zuzumuten ist, vor einer Amtsentbindung zu verlangen, dass sie gegen die Pflicht aus § 2 Abs. 1 JNeutG NRW zumindest einmal tatsächlich verstößt, indem sie – wie angekündigt – in der ersten Sitzung darauf besteht, ihr Kopftuch zu tragen.
23Vgl. zur Entbehrlichkeit, bestimmte Vorgaben einzuhalten, wenn dies im Einzelfall auf eine bloße Förmelei hinausliefe, z. B. BVerwG, Urteile vom 25. Januar 2023 - 6 A 1.22 -, juris, Rn. 29, vom 29. Juni 2022 - 6 C 11.20 -, juris, Rn. 14, vom 28. Oktober 2021 - 10 C 3.20 -, juris, Rn. 24, vom 24. März 2021 - 6 C 4.20 -, juris, Rn. 12, vom 22. März 2018 - 7 C 30.15 -, juris, Rn. 27, vom 18. April 1997 - 8 C 43.95 -, juris, Rn. 22, und vom 14. Dezember 1994 ‑ 11 C 22.93 ‑, juris, Rn. 9, sowie Beschluss vom 30. Juli 2020 ‑ 1 WB 28.19 ‑, juris, Rn. 25.
243. Es ist ferner nicht erforderlich, die ehrenamtliche Richterin vor einer Entbindung durch die Festsetzung eines Ordnungsgelds gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Erfüllung der Amtspflicht anzuhalten. Fraglich ist schon, ob ein solches Vorgehen mit der durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Religionsausübungsfreiheit vereinbar wäre. Jedenfalls verbietet es sich aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, weil nichts dafür ersichtlich ist, dass ein solches Ordnungsgeld Frau T. dazu veranlassen könnte, entgegen ihrer Glaubensüberzeugung zu handeln.
25Vgl. zu Fallgestaltungen, in denen die Festsetzung eines Ordnungsgelds entbehrlich ist: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 27. Juli 2023 ‑ 1 S 886/23 ‑, juris, Rn. 2; OVG S.‑A., Beschluss vom 10. Oktober 2011 - 1 P 147/11 -, juris, Rn. 6 ff.; siehe auch OVG NRW, Beschluss vom 11. Juni 1986 ‑ 16 E 14/86 ‑, NVwZ 1987, 233.
26Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 24 Abs. 3 Satz 3 VwGO).