Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Ab dem 1. Januar 2019 bestehen ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel an dem der Berechnung der Aussetzungszinsen (§ 237 AO) zugrunde gelegten Zinssatz von 0,5 Prozent je Verzinsungsmonat (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO).
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 10. Januar 2025 wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 26. September 2024 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 29. August 2024 wird insoweit angeordnet, als die geltend gemachten Aussetzungszinsen für den Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 23. Juli 2024 einen Zinssatz in Höhe von monatlich 0,15 % übersteigen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge tragen der Antragsteller zu 1/3 und die Antragsgegnerin zu 2/3.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 25.964,58 € festgesetzt.
G r ü n d e :
2Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 10. Januar 2025 hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.
3Die von dem Antragsteller dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 6 Satz 4 VwGO), ergeben, dass das Verwaltungsgericht den Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 26. September 2024 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 29. August 2024 insoweit anzuordnen, als die geltend gemachten Zinsen einen Zinssatz in Höhe von insgesamt 1,8 % (pro Jahr) für den Zeitraum vom 11. Februar 2016 bis 23. Juli 2024 übersteigen, zu Unrecht abgelehnt hat, soweit es den Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 23. Juli 2024 betrifft. Für den weiterhin streitgegenständlichen Zeitraum vom 11. Februar 2016 bis zum 31. Dezember 2018 zeigt der Antragsteller hingegen keine rechtlichen Bedenken gegen die Richtigkeit der Antragsablehnung durch das Verwaltungsgericht auf.
4I. Zur Begründung seiner ablehnenden Entscheidung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass der Antrag zwar zulässig, aber unbegründet sei, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides nicht bestünden. Die Frage, ob der in § 237 Abs. 1 AO i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO normierte Zinssatz von 0,5 % pro Monat für Aussetzungszinsen verfassungsgemäß sei, werde unterschiedlich beurteilt, sodass von einer offenen Rechtslage auszugehen sei. Dass der Bundesfinanzhof diese Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt habe, könne für sich genommen nicht zu einem Obsiegen des Antragstellers führen. Es sprächen, im Gegenteil, die besseren Gründe dafür, von der Verfassungsgemäßheit der Zinshöhe auszugehen. Soweit zur Begründung der Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe auf das Vorliegen einer strukturellen Niedrigzinsphase rekurriert werde, könne dies nicht durchgreifen, da der streitige Zeitraum zum Teil über den Zeitraum der Niedrigzinsphase hinausgehe. Im Übrigen sei mit dem Bundesverfassungsgericht von der Verfassungsgemäßheit des Zinssatzes auszugehen. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz liege im Vergleich zur sog. Vollverzinsung nach § 233a AO i. V. m. § 238 Abs. 1a AO nicht vor. Der Steuerpflichtige habe es im Fall der Aussetzung der Vollziehung selbst in der Hand, ob er einen entsprechenden Antrag stelle und damit den Zinstatbestand auslöse. Soweit es den Zeitraum vor dem 1. Januar 2019 betreffe, sei eine Ungleichbehandlung ohnehin nicht erkennbar, weil der Gesetzgeber die Zinsen im Fall der sog. Vollverzinsung erst ab dem 1. Januar 2019 auf 0,15 % pro Monat gesenkt habe. Schließlich könne dem Antragsteller einstweiliger Rechtsschutz auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens einer unbilligen Härte gewährt werden. Dass eine solche bestehe, habe der Antragsteller weder behauptet noch sei dies sonst ersichtlich.
5Mit seiner Beschwerdebegründung vom 7. Februar 2025 hat der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts im Wesentlichen eingewendet, dass von einer offenen Rechtslage nicht ausgegangen werden könne, weil eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsgemäßheit der Aussetzungszinsen bislang nicht vorläge, das Gericht diese Frage vielmehr offengelassen habe. Es sei dem Bundesfinanzhof in der Auffassung zu folgen, dass die Aussetzungszinsen in ihrer derzeitigen Höhe verfassungswidrig seien, weil eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung im Vergleich zu Steuerpflichtigen, die sog. Vollverzinsung schulden würden, vorläge. Soweit darauf verwiesen werde, dass der Steuerpflichtige es im Fall von Aussetzungszinsen selbst in der Hand habe, den Antrag zu stellen oder nicht, sei dies mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass eine Aussetzung der Vollziehung auch von Amts wegen verfügt werden könne. Ob dies geschehe, könne der Steuerpflichtige ebenso wenig beeinflussen wie die Dauer etwaiger behördlicher bzw. gerichtlicher Verfahren.
6Mit diesen Einwänden dringt der Antragsteller in der Sache in dem aufgezeigten Umfang durch.
7II. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag u.a. im – wie hier – Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung richtet sich bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten an § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO aus. Demnach soll die Aussetzung bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts i. S. d. § 80 Abs. 4 Satz 3 Var. 1 VwGO bestehen dabei grundsätzlich dann, wenn aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ein Erfolg des Widerspruchs bzw. der Klage wahrscheinlicher als ein Unterliegen ist.
8Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Oktober 2018 - 14 B 961/18 -, juris, Rdnr. 2, und vom 14. September 2017 - 14 B 939/17 -, juris, Rdnr. 2.
9Diese Grundsätze sind, wenn – wie hier – zur Begründung des Vorliegens ernstlicher Zweifel i. S. d. § 80 Abs. 4 Satz 3 Var. 1 VwGO die Grundgesetzwidrigkeit von Gesetzen im formellen Sinne, die den angefochtenen Bescheid stützen, geltend gemacht wird, zu modifizieren. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sind an die Nichtanwendung eines Gesetzes im formellen Sinn wegen Annahme seiner Grundgesetzwidrigkeit mit Blick auf das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts hohe Anforderungen zu stellen. Im Hauptsacheverfahren dürfen die Fachgerichte Folgerungen aus der von ihnen angenommenen Verfassungswidrigkeit erst ziehen, wenn diese vom Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG festgestellt ist. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gerät die entsprechende Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG demgegenüber in Konflikt mit der Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG. Die Lösung dieses Konflikts erfordert eine Abwägung der widerstreitenden Belange und einen optimierenden, verhältnismäßigen Ausgleich. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes können die Fachgerichte auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung, eine entscheidungserhebliche Norm sei grundgesetzwidrig, effektiven Rechtsschutz daher (nur) gewähren, wenn die Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen wird oder um einem endgültigen Rechtsverlust durch Eintritt vollendeter Tatsachen vorzubeugen.
10Vgl. BayVGH, Beschluss vom 13. Januar 2015 - 22 CS 14.2323 -, juris, Rdnr. Rn. 16 m.w.N.
11III. Gemessen an diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers zu Unrecht abgelehnt, soweit es den Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 23. Juli 2024 betrifft. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides der Antragsgegnerin vom 29. August 2024, soweit für diesen Zeitraum Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung (Aussetzungszinsen) mit einem monatlichen Zinssatz von mehr als 0,15 % – namentlich von 0,5 % – geltend gemacht werden.
121. Zwar sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erhebung von Aussetzungszinsen dem Grunde nach und insoweit zwischen den Beteiligten unstreitig für den gesamten entscheidungserheblichen Zeitraum vom 11. Februar 2016 bis zum 23. Juli 2024 erfüllt. In diesem Sinne hat der Antragsteller bereits Aussetzungszinsen für den gesamten genannten Zeitraum mit einem monatlichen Zinssatz von 0,15 % (und damit in Höhe von insgesamt 44.510,70 €) an die Antragsgegnerin entrichtet.
132. Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage sprechen nach Auffassung des Senats jedoch überwiegende Gründe dafür, dass die der Höhe der Zinserhebung zugrundeliegende Regelung des § 237 AO i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO insoweit nicht mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar und deshalb verfassungswidrig ist, als der monatliche Zinssatz 0,15 % übersteigt.
14a. Mit Beschluss vom 8. Juli 2021 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die sog. Vollverzinsung nach § 233a AO i. V. m. § 238 AO in Höhe von 0,5 % pro Monat umfassend und für alle Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist.
15Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14 -, juris.
16Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass die typisierende Festlegung eines Zinssatzes trotz grundsätzlicher Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen sei, wenn dieser Zinssatz unter veränderten tatsächlichen Bedingungen oder angesichts einer veränderten Erkenntnislage weder durch die maßstabsbildend zugrunde gelegten noch durch sonstige geeignete Kriterien getragen werde. Dies sei jedenfalls dann der Fall, wenn sich der Zinssatz im Laufe der Zeit als evident realitätsfern und damit als unverhältnismäßig erweise. Dies treffe auf den sog. Vollverzinsungszinssatz nach § 233a AO i. V. m. § 238 AO in Höhe von 0,5 % pro Monat für Verzinsungszeiträume ab einschließlich dem Jahr 2014 zu. Der Zinssatz sei in der genannten Höhe nicht mehr erforderlich, weil er aufgrund der anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase offensichtlich nicht mehr in der Lage sei, den durch eine späte(re) Heranziehung zur Steuer entstehenden potentiellen wirtschaftlichen Vorteil hinreichend abzubilden. Der Gesetzgeber stehe daher in der Pflicht, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, wobei das bisherige Recht, trotz festgestellter Verfassungswidrigkeit, aufgrund übergeordneter haushaltswirtschaftlicher Aspekte für bis in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume weiterhin anwendbar bleibe.
17b. In Umsetzung dieses Regelungsauftrags hat der Gesetzgeber mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12. Juli 2022 - BGBl. I 2022, S. 1142 - § 238 Abs. 1a AO neu geschaffen. Dieser sieht vor, dass die Zinsen in den Fällen des § 233a ab dem 1. Januar 2019 0,15 % für jeden Monat, das heißt 1,8 % für jedes Jahr betragen.
18Vgl. dazu BT-Drs. 20/1633, S. 10.
19Auf andere Verzinsungstatbestände nach der Abgabenordnung zulasten der Steuerpflichtigen, namentlich auf Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen, hat der Gesetzgeber die Neuregelung hingegen ausdrücklich nicht erstreckt.
20Vgl. dazu BT-Drs. 20/1633, S. 11.
21c. Der Bundesfinanzhof hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur sog. Vollverzinsung im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen aufgegriffen. Mit Vorlagebeschluss vom 8. Mai 2024 – VIII R 9/23 – hat er das dortige Revisionsverfahren ausgesetzt und im Wege der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob die Höhe der Aussetzungszinsen nach § 237 i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als der Zinsberechnung ein Zinssatz von 0,5 % Prozent pro Monat zugrunde gelegt wird.
22Zur Begründung hat der Bundesfinanzhof im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Aussetzungszinssatz in Höhe von 0,5 % monatlich in Zeiten einer strukturellen Niedrigzinsphase ebenfalls nicht erforderlich sei, um den durch die spätere Zahlung erhaltenen Liquiditätsvorteil abzuschöpfen. Zudem würde eine Belastung mit Aussetzungszinsen in Höhe von 0,5 % pro Monat zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Steuerpflichtigen führen. Jene Steuerpflichtigen, die Aussetzungszinsen schuldeten, würden gegenüber solchen, die Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO zu entrichten hätten, ungleich behandelt, weil der Zinssatz bei Letzteren ab dem 1. Januar 2019 lediglich 0,15 % monatlich betrage, bei Ersteren hingegen weiterhin 0,5 %. Gründe, die diese Zinsspreizung rechtfertigen könnten, seien schon am Willkürmaßstab gemessen nicht ersichtlich.
23d. Diesen überzeugenden Erwägungen des Bundesfinanzhofs schließt sich der Senat an. Legitimer Zweck der Zinserhebung ist die Abschöpfung des Liquiditätsvorteils, den Steuerpflichtige dadurch haben, dass fällige Steuern erst später gezahlt werden. Dieser Zweck erfordert aber für den Zeitraum verfestigter Niedrigzinsen vom 1. Januar 2014 bis Juli 2022 (Beginn der Inflationsbekämpfung durch die Europäische Zentralbank),
24siehe hierzu OVG NRW, Beschluss vom 9. Januar 2024 - 14 E 747/23 -, juris, Rdnr. 14,
25keinen Zinssatz von einem halben Prozent pro Monat (6 Prozent pro Jahr). Jedenfalls ist ein solcher Zinssatz zu dem genannten Zweck für den vorgenannten Zeitraum nicht angemessen.
26Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14 -, juris, Rdnr. 203 ff.; BFH, Beschluss vom 8. Mai 2024 - VIII R 9/23 -, juris, Rdnr. 107 ff.
27Ferner ist kein tragfähiger Grund ersichtlich, warum die Höhe der Aussetzungszinsen nach § 237 AO von der Höhe der Nachforderungszinsen nach § 233a i. V. m. § 238 Abs. 1a) AO abweichen sollte.
28Vgl. BFH, Beschluss vom 8. Mai 2024 - VIII R 9/23 -, juris, Rdnr. 124 ff.
29Insbesondere rechtfertigt der Umstand, dass die Verwirklichung des Zinstatbestandes auf einen Antrag des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist und insoweit eine Wahlmöglichkeit besteht, ob der Aussetzungszinssatz hingenommen oder ob die Steuerschuld unter ggf. erforderlicher Beschaffung zinsgünstiger Mittel beglichen wird, keine andere Bewertung. Unabhängig davon, dass eine Aussetzung der Vollziehung auch von Amts wegen verfügt werden und dem Steuerpflichtigen Aussetzungszinsen damit gegen seinen Willen „aufgedrängt“ werden können (§ 361 Abs. 2 Satz 1 AO), kann der Steuerpflichtige die Dauer der Aussetzung der Vollziehung und den damit verbundenen Verzinsungszeitraum nur begrenzt beeinflussen. Insbesondere in denjenigen Fällen, in denen der Steuerpflichtige an der sofortigen Zahlung des von der Vollziehung ausgesetzten Steuerbetrags – etwa aufgrund der enormen Höhe – gehindert ist, besteht eine Abhängigkeit des Steuerpflichtigen von der Dauer des Hauptsacheverfahrens (Einspruch, Klage) und damit von der Entscheidungsfindung durch die Finanzbehörden und die Gerichte (im hiesigen Verfahren ein Zeitraum von mehr als acht Jahren). Für den jeweiligen Antragsteller ist es dann weder vorhersehbar noch liegt es (allein) in seiner Hand, ob und in welchem Umfang Aussetzungszinsen anfallen, deren Höhe er bei anderweitiger Verwendung der Mittel in Zeiten struktureller Niedrigzinsen am Kapitalmarkt bei Weitem nicht erzielen könnte.
30Vgl. in diesem Sinne auch FG München, Beschluss vom 24. Juni 2024 - 7 V 11/24 -, juris, Rdnr. 68.
31Der Senat ist mit dem Bundesfinanzhof (a.a.O. Rdnr. 127) der Meinung, dass es mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu vereinbaren ist, Steuerpflichtige darauf zu verweisen, dass sie sich jederzeit durch Zahlung des ausgesetzten Betrages von der Zinslast befreien und dadurch zumindest im Ergebnis die Verzinsungspflicht beenden könnten. Die Steuerpflichtigen sollen nicht veranlasst werden, aus wirtschaftlichen Überlegungen auf einen ihnen zustehenden einstweiligen Rechtschutz zu verzichten. Außerdem können Ausweichoptionen von Grundrechtsträgern eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung allenfalls dann rechtfertigen, wenn das zugedachte Ausweichverhalten zweifelsfrei legal ist, keinen unzumutbaren Aufwand für den Steuerpflichtigen bedeutet und ihn auch sonst keinem nennenswerten finanziellen oder rechtlichen Risiko aussetzt.
32Vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2008 - 1 BvL 2/04 -, juris, Rdnr. 134.
33Letzteres kann nicht bei allen Steuerpflichtigen angenommen werden. Der Verzicht auf die Aussetzung der Vollziehung würde bedeuten, dass der Steuerpflichtige die geforderte Steuersumme sofort bezahlen muss. Selbst wenn der Steuerpflichtige die geforderte Summe ad hoc aufbringen könnte, würde ihm dies doch ggf. in erheblichem Umfang Liquidität entziehen, was zu einem wirtschaftlichen und damit auch finanziellen Risiko für den Steuerpflichtigen führen kann. Im vorliegenden Fall hätte der Antragsteller bei Verzicht auf die Aussetzung der Vollziehung ad hoc über 600.000,- € aufbringen müssen.
34Schließlich kann, so indes das Verwaltungsgericht, auch nicht entgegengehalten werden, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 8. Juli 2021 von der Verfassungsgemäßheit des Aussetzungszinssatzes ausgegangen sei. In dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht lediglich festgestellt, dass eine Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung auf die anderen Verzinsungstatbestände nach der Abgabenordnung zulasten der Steuerpflichtigen nicht in Betracht komme und „[…] die Teilverzinsungstatbestände einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung [bedürfen]“.
35Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14 -, juris, Rdnr. 243.
36Wie diese eigenständige Wertung auszusehen hat und welche Folgen sich daraus für die anderen Verzinsungstatbestände ergeben, hat es hingegen offengelassen.
373. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers bis zum 23. Juli 2024 entspricht der aktuellen Rechtslage. Denn der Gesetzgeber hat in dem mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12. Juli 2022 neu geschaffenen § 238 Abs. 1c AO vorgesehen, dass die Angemessenheit des Zinssatzes nach § 238 Abs. 1a unter Berücksichtigung der Entwicklung des Basiszinssatzes nach § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs wenigstens alle zwei Jahre zu evaluieren ist, wobei die erste Evaluierung spätestens zum 1. Januar 2024 zu erfolgen hatte. Diese erste Evaluierung hat den Gesetzgeber offenbar nicht dazu veranlasst, die Zinshöhe in § 238 Abs. 1a AO anzupassen. Damit bestehen im Hinblick auf den Vergleichsmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG die Folgen der strukturellen Niedrigzinsphase jedenfalls rechtlich in § 238 Abs. 1a und Abs. 1c AO fort.
384. Durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers wird, entsprechend den eingangs dargestellten Maßstäben, auch nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller, der, wie gezeigt, die Zinsen bereits anteilig entrichtet hat, sie in der vollen geltend gemachten Höhe – unterstellt, die Regelungen zur Aussetzungszinshöhe wären entgegen der Auffassung des Senats verfassungsgemäß – auch noch nach Abschluss des Verfahrens zahlen könnte. Dass in der Zwischenzeit auf Seiten der Antragsgegnerin schwere und unzumutbare Nachteil entstünden, ist weder vorgetragen worden noch ist dies sonst ersichtlich.
39IV. Soweit es den Zeitraum vom 11. Februar 2016 bis zum 31. Dezember 2018 betrifft, hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 26. September 2024 hingegen im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Insoweit bestehen keine ernstlichen Zweifel i. S. d. § 80 Abs. 4 Satz 3 Var. 1 VwGO an der Rechtmäßigkeit des Bescheides der Antragsgegnerin vom 29. August 2024.
401. In seinem Beschluss vom 8. Juli 2021 zur Verfassungswidrigkeit der sog. Vollverzinsung nach § 233a AO i. V. m. § 238 AO hat das Bundesverfassungsgericht zwar, wie dargelegt, festgestellt, dass eine Vollverzinsung in Höhe von 0,5 % pro Monat umfassend und für alle Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist.
41Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14 -, juris, Rdnr. 239.
42Allerdings hat es mit Blick auf die ansonsten bestehenden erheblichen haushaltswirtschaftlichen Unsicherheiten die Fortgeltung von § 233a AO i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für Verzinsungszeiträume vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2018 angeordnet, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet gewesen wäre, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen.
43Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14 -, juris, Rdnr. 249.
44Vor diesem Hintergrund kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Bundesverfassungsgericht in dem in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen nach § 237 AO i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO derzeit anhängigen konkreten Normenkontrollverfahren (Az.: 1 BvL 8/24) eine von diesen Maßstäben abweichende Entscheidung treffen wird. Vielmehr dürften überwiegende Gründe dafürsprechen, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn es die nach § 237 AO i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO zu erhebenden Aussetzungszinsen ebenfalls umfassend und für alle Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklären sollte, auch in diesem Fall eine Fortgeltung der bisherigen Regelungen bis zum 31. Dezember 2018 anordnen wird.
45Vgl. in diesem Sinne auch FG München, Beschluss vom 24. Juni 2024 - 7 V 11/24 -, juris, Rdnr. 79.
462. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers ist für den Zeitraum vom 11. Februar 2016 bis zum 31. Dezember 2018 auch nicht deshalb anzuordnen, weil die Vollziehung des angegriffenen Bescheides eine für ihn, den Antragsteller, unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte i. S. d. § 80 Abs. 4 Satz 3 Var. 2 VwGO zur Folge hätte. Dass dies der Fall wäre, hat er weder selbst behauptet noch ist dies ansonsten ersichtlich.
47V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 VwGO.
48VI. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 des Gerichtskostengesetzes - GKG - i. V. m. Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
49VII. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).