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Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Antragsteller darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Antragsgegner zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Der Antragsteller wohnt in der Stadt H.. Diese liegt im Kreis H., der in östlicher Richtung an den Kreis K. angrenzt. Er wendet sich gegen die in der letzten Juniwoche im Jahr 2020 im Kreis H. im Zuge der Corona-Pandemie geltenden, gegenüber der Coronaschutzverordnung verschärften Kontaktbeschränkungen sowie die Untersagung der Nutzung bestimmter Angebote, insbesondere solcher zur Freizeitgestaltung.
3In einem Schlachtbetrieb in C. im Kreis K. häuften sich ab Mitte Juni 2020 positive Testergebnisse auf SARS-CoV-2. Sowohl der Kreis K. als auch der Kreis H. erließen unter dem 20. Juni 2020 jeweils gegenüber allen in diesem Schlachtbetrieb tätigen Personen, die in dem jeweiligen Kreis wohnhaft waren, sowie deren Haushaltsangehörigen eine Allgemeinverfügung, wonach diese sich bis zum 2. bzw. 3. Juli 2020 in häusliche Absonderung begeben mussten (vgl. Allgemeinverfügung zur Absonderung in häusliche Quarantäne zum Schutz der Bevölkerung des Kreises H. vor der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 gegenüber allen im Betrieb der Firma P. am Standort In der Mark 2, C. tätige Personen, abrufbar unter https://www.pdf, sowie Allgemeinverfügung zur Absonderung in sogenannter häuslicher Quarantäne, abrufbar unter https://www..
4Stand 22. Juni 2020 waren von 6.853 vorliegenden Testergebnissen von Beschäftigten in diesem Betrieb 1.553 positiv.
5Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen erließ am 23. Juni 2020 die Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 in Regionen mit besonderem Infektionsgeschehen (Coronaregionalverordnung - CoronaRegioVO) (GV. NRW. S. 450a). Diese lautete auszugsweise:
6„§ 1
7Grundsätze, Geltungsbereich
8(1) Aufgrund eines besonderen Infektionsgeschehens, das sich unter anderem durch eine Zahl von mehr als 50 Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohner eines Kreises beziehungsweise einer kreisfreien Stadt innerhalb einer Woche auszeichnet, gelten in den nachfolgend genannten Gebieten die in den folgenden Vorschriften geregelten Abweichungen von den Regelungen der Coronaschutzverordnung vom 10. Juni 2020 (GV. NRW S. 382a).
9(2) Diese Verordnung gilt bis auf Weiteres ausschließlich für das Gebiet der Kreise K. und H..
10§ 2
11Verhaltenspflichten im öffentlichen Raum, Personengruppen
12(1) Abweichend von § 1 Absatz 2 der Coronaschutzverordnung dürfen im Geltungsbereich dieser Verordnung mehrere Personen im öffentlichen Raum nur zusammentreffen, wenn es sich
131. ausschließlich um Verwandte in gerader Linie, Geschwister, Ehegatten, Lebenspartnerinnen und Lebenspartner sowie in derselben häuslichen Gemeinschaft lebende Personen,
142. um nur zwei Personen,
153. um die Begleitung minderjähriger und unterstützungsbedürftiger Personen,
164. um zwingend notwendige Zusammenkünfte aus betreuungsrelevanten Gründen
17handelt. Umgangsrechte sind uneingeschränkt zu beachten.
18(2) Soweit Regelungen der Coronaschutzverordnung und der Anlage zur Coronaschutzverordnung auf die in § 1 Absatz 2 der Coronaschutzverordnung genannten Gruppen Bezug nehmen, sind dies im Geltungsbereich dieser Verordnung nur die in Absatz 1 genannten Gruppen.
19§ 3
20Unzulässigkeit von Angeboten, Tätigkeiten, Einrichtungen und besonderen Zusammenkünften
21Abweichend von den §§ 3 bis 15 der Coronaschutzverordnung sind im Geltungsbereich dieser Verordnung zusätzlich zu den bereits nach der Coronaschutzverordnung unzulässigen Angeboten, Tätigkeiten, Einrichtungen und besonderen Zusammenkünften unzulässig:
221. Konzerte und Aufführungen in geschlossenen Räumen von Theatern, Opern- und Konzerthäusern, Kinos und anderen öffentlichen oder privaten (Kultur-)Einrichtungen,
232. der Betrieb von Museen, Kunstausstellungen, Galerien, Schlössern, Burgen, Gedenkstätten und ähnlichen Einrichtungen, soweit er sich auf geschlossene Räume bezieht,
243. Sportangebote in geschlossenen Räumen einschließlich Fitnessstudios,
254. die Ausübung von Kontaktsportarten auch im Freien,
265. das Betreten von Sportanlagen durch Zuschauer,
276. der Betrieb von Bars und die Bewirtung an Theken in Gaststätten,
287. der Betrieb von Indoorspielplätzen,
298. der Betrieb von Schwimmbädern, Saunen und vergleichbaren Wellnesseinrichtungen, auch in Verbindung mit Beherbergungsbetrieben,
309. der Betrieb von Spielhallen, Wettbüros und ähnlichen Einrichtungen,
3110. das Picknicken und Grillen im öffentlichen Raum,
3211. Versammlungen und Veranstaltungen, die nicht der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Daseinsfür- und -vorsorge (insbesondere politische Veranstaltungen von Parteien, Aufstellungsversammlungen zu Wahlen und Vorbereitungsversammlungen dazu sowie Blutspendetermine) zu dienen bestimmt sind oder bei denen es sich nicht um Sitzungen von rechtlich vorgesehenen Gremien öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Institutionen, Gesellschaften, Gemeinschaften, Parteien oder Vereine oder um Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz handelt,
3312. Feste im Sinne des § 13 Absatz 5 und 5a der Coronaschutzverordnung,
3413. Reisebusreisen und sonstige Gruppenreisen mit Bussen,
3514. Tagesausflüge, Ferienfreizeiten, Stadtranderholungen und Ferienreisen für Kinder und Jugendliche, sofern die örtlich zuständige untere Gesundheitsbehörde diese nicht ausdrücklich genehmigt hat; dabei kann auch eine vorherige Testung der Teilnehmenden auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zur Bedingung gemacht werden.
36(…)“
37Diese Verordnung wurde durch Art. 1 der Verordnung zur Änderung der Coronaregionalverordnung vom 24. Juni 2020 (GV. NRW. S. 450b) geändert, wobei hierdurch keine Bestimmungen betroffen waren, gegen die der Antragsteller sich mit dem vorliegenden Verfahren wendet.
38§ 1 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vom 10. Juni 2020 (GV. NRW. S. 382a), auf den § 2 Abs. 1 CoronaRegioVO Bezug nimmt, lautete:
39„§ 1
40Verhaltenspflichten im öffentlichen Raum, Personengruppen
41(1) Jede in die Grundregeln des Infektionsschutzes einsichtsfähige Person ist verpflichtet, sich im öffentlichen Raum so zu verhalten, dass sie sich und andere keinen vermeidbaren Infektionsgefahren aussetzt.
42(2) Mehrere Personen dürfen im öffentlichen Raum nur zusammentreffen, wenn es sich
431. ausschließlich um Verwandte in gerader Linie, Geschwister, Ehegatten, Lebenspartnerinnen und Lebenspartner,
442. ausschließlich um Personen aus maximal zwei verschiedenen häuslichen Gemeinschaften,
453. um die Begleitung minderjähriger und unterstützungsbedürftiger Personen,
464. um zwingend notwendige Zusammenkünfte aus betreuungsrelevanten Gründen oder
475. in allen übrigen Fällen um eine Gruppe von höchstens zehn Personen
48handelt. Satz 1 Nummer 1 und 3 bis 5 gilt unabhängig davon, ob die Betroffenen in häuslicher Gemeinschaft leben; Umgangsrechte sind uneingeschränkt zu beachten.
49(3) Andere Ansammlungen und Zusammenkünfte von Personen im öffentlichen Raum sind bis auf weiteres unzulässig; ausgenommen sind:
501. unvermeidliche Ansammlungen bei der bestimmungsgemäßen Verwendung zulässiger Einrichtungen (insbesondere bei der Nutzung von Beförderungsleistungen des Personenverkehrs sowie seiner Einrichtungen),
512. die Teilnahme an nach dieser Verordnung zulässigen Veranstaltungen und Versammlungen,
523. zulässige sportliche Betätigungen sowie zulässige Angebote der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit,
534. zwingende Zusammenkünfte zur Berufsausübung im öffentlichen Raum.
54Die besonderen Regelungen der Coronabetreuungsverordnung insbesondere für den Betrieb von Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflegestellen und Schulen bleiben unberührt.“
55Diese Bestimmung wurde ergänzt durch § 2 Abs. 1 CoronaSchVO, wonach außerhalb der nach § 1 CoronaSchVO zulässigen Gruppen im öffentlichen Raum zu allen anderen Personen grundsätzlich ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten ist, soweit in der Coronaschutzverordnung nichts anderes bestimmt ist.
56Am 26. Juni 2020 hat der Antragsteller den vorliegenden Normenkontrollantrag und einen Eilantrag gemäß § 47 Abs. 6 VwGO (13 B 926/20.NE) gestellt. Das Eilverfahren haben die Beteiligten übereinstimmend für erledigt erklärt, es ist mit Beschluss vom 20. Juli 2020 eingestellt worden.
57Die streitgegenständliche Verordnung ist gemäß ihrem § 5 mit Ablauf des 30. Juni 2020 außer Kraft getreten.
58Zur Begründung seines Normenkontrollantrags führt der Antragsteller aus: Die Regelungen in der Coronaregionalverordnung hätten in seine Grundrechte auf Freizügigkeit, seine allgemeine Handlungsfreiheit und das Elternrecht eingegriffen sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt. Die Verhaltenspflichten im öffentlichen Raum und die Kontakteinschränkungen für bestimmte und größere Personengruppen seien mit Blick auf die parallel angeordneten Schließungen von Kindertagesstätten für Familien mit kleinen Kindern, wie seine, die damals 4 Jahre bzw. 9 Monate alt gewesen seien, besonders schwerwiegend gewesen, weil damit z. B. eine Betreuung der Kinder durch Nachbarn untersagt worden sei. Auch sei ihm in der fraglichen Zeit verboten gewesen, mit Freunden Kinos und Gaststätten mit Bewirtung an der Theke sowie mit seinen Kindern Indoorspielplätze und Schwimmbäder zu besuchen. Die Erstreckung der Regelungen auch auf den Kreis H. sei unverhältnismäßig gewesen, weil im Kreis H. die Infektionszahlen äußerst niedrig gewesen seien, insbesondere deutlich niedriger als im Kreis K.. Zehn Städte bzw. Gemeinden des Kreises H. seien von Infektionen kaum oder gar nicht betroffen gewesen. Auch habe es im Kreis H. kaum oder gar keine Wohnungen gegeben, die von Beschäftigten des P.-Betriebs und ihren Familien bewohnt worden seien. Dem seuchenrechtlichen Effektivitätsgedanken sei maßgeblich bereits durch die „Allgemeinverfügung zur Absonderung in sog. häuslicher Quarantäne zum Schutz der Bevölkerung des Kreises H. vor der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2“ vom 20. Juni 2020, der Schließung von Kindertagesstätten und Schulen im Zeitraum vom 25. bis 30. Juni 2020 sowie der Schließung des betroffenen Schlachtbetriebs genüge getan worden. Der Erlass der Allgemeinverfügungen sei allerdings verhältnismäßig spät erfolgt. Ein früheres Eingreifen wäre effektiver gewesen. Die streitgegenständlichen Maßnahmen seien demgegenüber erst erlassen worden, als dies nicht mehr notwendig gewesen sei, weil die Infektionszahlen bereits sanken. Die Anordnung flächendeckender Infektionsschutzmaßnahmen allein in Orientierung an kreisfreien Städten und ganzen Landkreisen erweise sich als rechtlich nicht haltbar, da kommunale Grenzziehungen, und zwar auch solche nach der letzten kommunalen Neugliederung im Land Nordrhein-Westfalen häufig auf kommunalpolitischen Kompromissen, Zufälligkeiten und topografisch sinnvollen Abgrenzungen beruhten, die seuchenrechtlich nichts hergäben. Sinnvoller wäre gewesen, einen Radius um den betroffenen Schlachtbetrieb zu ziehen und für die in diesem räumlichen Bereich liegenden Gemeinden verschärfte Infektionsschutzmaßnahmen anzuordnen. Die Erstreckung der Coronaregionalverordnung auf den gesamten Kreis H. habe zu einer unterschiedslosen Stigmatisierung aller Bewohner dieses Kreises geführt. Dies zeige sich an den in sechs Bundesländern ausgesprochenen Beherbergungsverboten für alle Einwohner der Kreise H. und K. sowie der im Bundesland N. für diese angeordneten 14-tägigen Quarantäne nach Einreise. Davon seien auch er und seine Familie betroffen gewesen, weil sie auf F. in G., N., einen Campingplatz gebucht hätten. Im Übrigen erschließe sich nicht, warum der Kreis H. als einziger an den Kreis K. angrenzender Kreis in die Geltung der Maßnahmen einbezogen worden sei, alle anderen Nachbarkreise hingegen nicht.
59Der Antragsteller beantragt,
60festzustellen, dass § 2, § 3 Nrn. 1, 6, 7 und 8, 1. Alt. der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 in Regionen mit besonderem Infektionsgeschehen vom 23. Juni 2020 (GV. NRW. S. 450a), geändert durch Art. 1 der Änderungsverordnung vom 24. Juni 2020 (GV. NRW. S. 450b), unwirksam waren, soweit sie für den Kreis H. galten.
61Der Antragsgegner beantragt,
62den Antrag abzulehnen.
63Er führt aus: Der Antrag sei unbegründet. Die streitgegenständlichen Regelungen seien insbesondere verhältnismäßig gewesen. Die Coronaregionalverordnung habe mit dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung sowie dem Erhalt der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und insbesondere der medizinischen Versorgung einen legitimen Zweck verfolgt. Nachdem das Infektionsgeschehen in Nordrhein-Westfalen insgesamt deutlich zurückgegangen sei und Infektionsschutzmaßnahmen gelockert worden seien, habe es nach einem Ausbruchsgeschehen in einem Schlachtbetrieb in C. in den Kreisen K. und H. eine besonders problematische Infektionsentwicklung mit sprunghaft angestiegenen 7-Tage-Inzidenzen über 50 je 100.000 Einwohner gegeben, auf die in Anlehnung an den Beschluss von Bund und Ländern vom 6. Mai 2020 sofort vor Ort mit Beschränkungen habe reagiert werden müssen, um ein neues flächendeckendes Infektionsgeschehen zu verhindern und die bisherigen Erfolge im Kampf gegen das Virus zu sichern. Es sei zu befürchten gewesen, dass infizierte Mitarbeiter des Schlachtbetriebs, von denen nach damaligen – allerdings unsicheren – Erkenntnissen des Kreises K. 225 im Kreis H. gelebt hätten, das Virus auf andere Einwohner auch des Kreises H. übertragen hätten. Zur Erreichung des Zwecks sei die Verordnung mit Blick auf die Übertragung des Virus durch Tröpfchen und Aerosole geeignet gewesen.
64Die Regelungen seien auch erforderlich gewesen. Die im Kreis K. und Kreis H. erlassenen Allgemeinverfügungen seien allein zur Erreichung dieses Zwecks nicht gleich geeignet gewesen. Von Beginn der ersten Testungen von Mitarbeitern des Schlachtbetriebs bis zum Geltungsbeginn der Allgemeinverfügungen seien fünf Tage vergangen, an denen sich die Mitarbeiter und alle übrigen Einwohner des Kreises K. unter Beachtung der Vorschriften der damals geltenden Coronaschutzverordnung über den Kreis K. hinaus bewegen und Freizeitangebote hätten wahrnehmen können. Zudem sei die Arbeitnehmerstruktur in dem Schlachtbetrieb intransparent gewesen. Ein Teil der Beschäftigten sei in verschiedenen Betrieben eingesetzt worden, auch hätten einige Beschäftigte zwischen verschiedenen Massenunterkünften in unterschiedlichen Gemeinden gewechselt. Personenorientierte Einzelmaßnahmen hätten deswegen nicht effektiv durchgesetzt werden können. Das Infektionsgeschehen sei über die Grenzen des Kreises K. hinausgetreten, auch im Kreis H. seien die Infiziertenzahlen angestiegen. Das unklare Infektionsgeschehen habe es nicht als gleich geeignet erscheinen lassen, den Anwendungsbereich der Coronaregionalverordnung nur auf bestimmte Städte innerhalb des Kreises H. zu beschränken. Dagegen habe auch gesprochen, dass bestimmte Angebote, Tätigkeiten und Einrichtungen üblicherweise auch durch Bürgerinnen und Bürger der Nachbarkommunen genutzt würden. Der Verordnungsgeber sei im Rahmen seiner Regelungsprärogative zu Recht davon ausgegangen, dass ein Kreisgebiet eine sachlich sinnvolle Abgrenzungseinheit sei. Dieses sei für die Menschen sowohl in sozialer als auch in administrativer Hinsicht ein Bezugsraum. Auch seien einheitliche Regelungen für ein gesamtes Kreisgebiet für die Bevölkerung hinreichend bestimmbar und umsetzbar, wohingegen eine Betroffenheit einzelner Kleingemeinden zu erheblichen Unsicherheiten mit Blick auf den Geltungsbereich hätte führen können.
65Die streitgegenständlichen Regelungen seien zudem angemessen gewesen. Sie hätten im Kreis H. nur für einen kurzen Zeitraum von einer Woche gegolten. Die parallel durchgeführte umfangreiche Testung der Bevölkerung habe zur Schaffung einer belastbaren Datenlage als Grundlage für weitere infektionsschutzrechtliche Maßnahmen beigetragen. Die Einschränkungen der privaten Freizeitgestaltung hätten nur für Aktivitäten in geschlossenen Räumen gegolten, entsprechende Aktivitäten im Freien seien zulässig gewesen. Die Kontaktbeschränkungen des § 2 CoronaRegioVO hätten zudem ausschließlich Zusammenkünfte im öffentlichen Raum betroffen und weiterhin Treffen in häuslicher Umgebung und Zusammenkünfte im familiären Umfeld (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 CoronaRegioVO) erlaubt. Auch Treffen mit einzelnen Freunden im öffentlichen Raum seien möglich gewesen, sodass durchaus noch die Pflege sozialer Kontakte gewährleistet gewesen sei.
66Die Regelungen hätten auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen, indem sie für den Kreis H., nicht aber in weiteren Regionen Nordrhein-Westfalens gegolten hätten. Zum Erlasszeitpunkt habe die Testung der Bevölkerung in den Kreisen K. und H. noch angedauert, sodass das Ausmaß der Verbreitung und die Betroffenheit der jeweiligen kreisangehörigen Städte und Gemeinden noch nicht sicher zu beurteilen gewesen seien. Aufgrund dessen sei es sachlich gerechtfertigt gewesen, dass der Verordnungsgeber zur effektiven Unterbindung weiterer Infektionen und um Zeit für weitere Aufklärungsmaßnahmen zu gewinnen, kurzfristig die im Vergleich zum restlichen Bundesland strengeren Maßnahmen auf ein gesamtes Kreisgebiet ausgeweitet habe.
67Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens und des korrespondierenden Eilverfahrens 13 B 926/20.NE, die vom Antragsgegner übersandten Verwaltungsvorgänge sowie die mit Verfügung vom 28. April 2025 zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen Bezug genommen.
68Entscheidungsgründe:
69Der Normenkontrollantrag hat keinen Erfolg.
70A. Er ist zulässig.
71I. Der Antrag ist gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a JustG NRW statthaft. Bei der Coronaregionalverordnung handelt es sich um eine im Rang unter dem Landesgesetz stehende andere Rechtsvorschrift, für deren Überprüfung das Oberverwaltungsgericht in einem Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO zuständig ist. Der Antragsteller konnte die begehrte Feststellung, dass die angegriffenen Normen unwirksam waren, auch nur hinsichtlich des Kreises Warendorfs beantragen. Sein Antrag ist auf eine im Rahmen der Normenkontrolle mögliche Teilkassation der angegriffenen Vorschriften (und nicht eine Normergänzung) gerichtet, wobei der angegriffene Teil abgrenzbar und klar definiert ist.
72Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Juni 2023 - 13 D 293/20.NE -, juris, Rn. 30 ff., m. w. N.
73II. Der Antragsteller ist antragsbefugt (vgl. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO), weil er hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch die angegriffenen Rechtsvorschriften bzw. deren Anwendung in einer eigenen Rechtsposition verletzt worden ist.
74Vgl. dazu z. B. BVerwG, Beschluss vom 17. Juli 2019 - 3 BN 2.18 -, juris, Rn. 11.
75Hierfür genügt, dass sich die angegriffenen Regelungen jedenfalls auf sein Recht auf selbstbestimmte Gestaltung des Familienlebens aus Art. 6 Abs. 1 GG (Kontaktbeschränkungen) und seine allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG (Kontaktbeschränkungen sowie Schließungen von Einrichtungen zur Freizeitgestaltung) auswirken konnten. Nicht ersichtlich ist allerdings, dass die streitgegenständlichen Regelungen – anders als der Antragsteller meint – ihn in seinem Freizügigkeitsrecht aus Art. 11 Abs. 1 GG verletzt haben könnten. Freizügigkeit im Sinne des Art. 11 Abs. 1 GG bedeutet das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen. Hierzu zählt die Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Wohnsitznahme und die Freizügigkeit zwischen Ländern, Gemeinden und innerhalb einer Gemeinde.
76Vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2013 - 1 BvR 3139/08 u. a. -, juris, Rn. 253, m. w. N.
77Der eigenständige Schrankenvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG, der Beschränkungen nur aus besonders gewichtigen Anlässen erlaubt, indiziert, dass Art. 11 Abs. 1 GG nur Verhaltensweisen erfasst, die sich als Fortbewegung im Sinne eines Ortswechsels qualifizieren lassen und dadurch eine über die insbesondere durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte körperliche Bewegungsfreiheit hinausgehende Bedeutung für die räumlich gebundene Gestaltung des alltäglichen Lebenskreises haben.
78Vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. März 2008 - 1 BvR 1548/02 -, juris, Rn. 25, m. w. N.
79Die grundgesetzlich geschützte Freizügigkeit ist mithin nicht im Sinne einer allgemeinen räumlich-körperlichen Bewegungsfreiheit zu verstehen.
80Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020 ‑ 13 B 911/20.NE -, juris, Rn. 65; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 23. März 2020 - OVG 11 S 12/20 -, juris, Rn. 6.
81Nach dieser Maßgabe ist weder nachvollziehbar vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Regelungen in der Coronaregionalverordnung den Antragsteller möglicherweise in seinem Recht auf Freizügigkeit beeinträchtigten. Soweit der Antragsteller moniert, dass für ihn als Einwohner des Kreises H. in sechs Bundesländern ein Beherbergungsverbot und bei einer Einreise nach N. für ihn eine 14-tätige Quarantäneanordnung gegolten hätte, kann offenbleiben, ob hierdurch in sein Freizügigkeitsrecht eingegriffen wurde. Denn diese Beschränkungen ordnete nicht die Coronaregionalverordnung an, sondern es handelte sich um eigenständige Regelungen anderer Bundesländer in Reaktion auf das Ausbruchsgeschehen in C..
82III. Der Zulässigkeit des Antrags steht nicht entgegen, dass die angegriffenen Vorschriften nicht mehr in Kraft sind. Der Antragsteller hat ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung, dass die angegriffenen Verordnungsregelungen unwirksam gewesen sind.
83Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Die Gerichte sind verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten und den Zugang zu den eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen und bei Erledigung des Verfahrensgegenstandes einen Fortfall des Rechtsschutzinteresses anzunehmen. Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung aber fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht trotz Erledigung unter anderem dann fort, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann.
84Vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2023 - 3 CN 4.22 -, juris, Rn. 16, und vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 13 f., m. w. N.
85Danach ist ein schützenswertes Interesse des Antragstellers an der nachträglichen gerichtlichen Klärung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verordnungsregelungen anzuerkennen. Die in den Coronaverordnungen enthaltenen Ge- oder Verbote sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie typischerweise auf kurze Geltung angelegt sind mit der Folge, dass sie regelmäßig außer Kraft treten, bevor ihre Rechtmäßigkeit in Verfahren der Hauptsache abschließend gerichtlich geklärt werden kann.
86Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10. Februar 2022 ‑ 1 BvR 1073/21 -, juris, Rn. 25, vom 15. Juli 2020 - 1 BvR 1630/20 -, juris, Rn. 9, und vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 990/20 -, juris, Rn. 8.
87Dies trifft auch auf die streitgegenständlichen Regelungen in der Coronaregionalverordnung zu, die lediglich bis zum 30. Juni 2020 galten.
88Zudem macht der Antragsteller Beeinträchtigungen seiner grundrechtlichen Freiheiten geltend, die ein Gewicht haben, das die nachträgliche Klärung der Rechtmäßigkeit der Verordnungsregelung rechtfertigt. Kontaktbeschränkungen sind mit Blick auf die daraus resultierenden Einschränkungen möglicher Sozialkontakte hinreichend gewichtig.
89Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 11 und 14.
90Nach dem Vorbringen des Antragstellers hat ferner die Untersagung der Nutzung verschiedener Freizeitangebote erheblich in seine private Lebensgestaltung eingegriffen, so dass auch insoweit ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung fortbesteht.
91Vgl. insoweit auch BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 14.
92B. Der Normenkontrollantrag ist unbegründet.
93Das Normenkontrollverfahren hat die Funktion, eine allgemeinverbindliche gerichtliche Entscheidung über die Gültigkeit einer im Range unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschrift herbeizuführen. Deswegen sind auf einen zulässigen Normenkontrollantrag hin nicht nur mögliche Verletzungen der Rechte des Antragstellers zu prüfen, sondern die Vereinbarkeit der Vorschrift mit höherrangigem Recht insgesamt.
94Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Juli 1989 - 4 N 3.87 -, juris, Rn. 26 f.; OVG NRW, Urteil vom 29. Mai 2024 - 13 D 261/20.NE -, juris, Rn. 46.
95Hiernach hat der Antragsteller keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung, dass § 2 und § 3 Nr. 1, 6, 7 und 8, 1. Alt. CoronaRegioVO unwirksam waren. Die Regelungen beruhten auf einer verfassungskonformen Ermächtigungsgrundlage (I.) und waren formell (II.) und materiell (III.) rechtmäßig.
96I. Rechtsgrundlage für die streitgegenständlichen Regelungen ist § 32 Satz 1 und 2 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045) in der durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) geänderten Fassung (im Folgenden: IfSG), die zum 28. März 2020 in Kraft getreten ist.
97Nach § 32 Satz 1 IfSG werden die Landesregierungen ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Die Landesregierungen können gemäß § 32 Satz 2 IfSG die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen nach Satz 1 der Vorschrift durch Rechtsverordnung auf andere Stellen übertragen.
98Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann die zuständige Behörde unter den Voraussetzungen von Satz 1 Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. Die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) und der Unverletzlichkeit der Wohnung werden insoweit eingeschränkt (§ 28 Abs. 1 Satz 4, § 32 Satz 3 IfSG).
99Die Voraussetzungen, unter denen nach diesen Vorschriften Ge- und Verbote zur Bekämpfung einer übertragbaren Krankheit erlassen werden können, lagen vor (1.). Die infektionsschutzrechtliche Generalklausel ermächtigte auch zum Erlass von Maßnahmen gegenüber der Allgemeinheit (2.). Ferner handelte es sich um eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage, die sowohl den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots als auch denen des Parlamentsvorbehalts als einer Ausformung des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips genügte (3.).
1001. Voraussetzung für den Erlass von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden (vgl. § 2 Nr. 4 bis 7 IfSG) oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war. Diese Voraussetzung lag zum maßgeblichen Zeitpunkt vor. Bei der Coronavirus-Krankheit COVID-19 handelt es sich um eine übertragbare Krankheit gemäß § 2 Nr. 3 IfSG.
101Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 20.
102Zum streitgegenständlichen Zeitpunkt bei Erlass der Coronaregionalverordnung am 23. Juni 2020 wurden in Nordrhein-Westfalen, trotz eines erheblichen Rückgangs des Infektionsgeschehens, weiterhin u. a. hieran erkrankte Personen festgestellt.
103Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Stand 23. Juni 2020, abrufbar unter
104https://www.rki.de/DE/Themen/Infektionskrankheiten/Infektionskrankheiten-A-Z/C/COVID-19-Pandemie/Situationsberichte/Maerz-Aug_2020/2020-06-23-de.pdf?__blob=publicationFile&v=1.
1052. Regelungen zur Beschränkung von Kontakten und zur Schließung von Einrichtungen und Betrieben, die unabhängig von einem Krankheits- oder Ansteckungsverdacht an jeden im Geltungsbereich der Verordnung gerichtet sind, können notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne von § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sein.
106Vgl. eingehend: BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 21 ff.
1073. Die infektionsschutzrechtliche Generalklausel des § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG war eine verfassungsgemäße Grundlage für die streitgegenständlichen Verbote. Die Generalklausel genügte beim Erlass dieser Verordnung sowohl den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) als auch denen des Parlamentsvorbehalts als einer Ausformung des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips. Sie reichte als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage auch für Kontaktbeschränkungen und flächendeckende Schließungen von Einrichtungen aus.
108Vgl. grundlegend dazu BVerwG, Urteile vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 38 ff. (für Zeitraum Mitte April bis Anfang Mai 2020), und vom 16. Mai 2023 - 3 CN 6.22 -, juris, Rn. 34 ff., m. w. N. (für Zeitraum Ende Oktober bis Mitte November 2020).
109Nichts anderes gilt für die Vorschriften in der Coronaregionalverordnung, die die Regelungen der Coronaschutzverordnung regional begrenzt wegen eines besonderen Infektionsgeschehens modifizierten.
110II. Die Coronaregionalverordnung ist formell ordnungsgemäß zustande gekommen. Insbesondere war das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen für ihren Erlass zuständig. § 32 Satz 1 IfSG in der seinerzeit maßgeblichen Fassung ermächtigte die Landesregierungen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Diese Ermächtigung konnten die Landesregierungen nach Satz 2 der Vorschrift auf andere Stellen übertragen. Von dieser Befugnis hat die nordrhein-westfälische Landesregierung durch § 10 IfSBG-NRW in der Fassung vom 14. April 2020 – ein verordnungsvertretendes Gesetz i. S. v. Art. 80 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 GG – Gebrauch gemacht.
111III. Die angegriffenen Regelungen waren materiell rechtmäßig. § 2 (1.) und § 3 Nr. 1, 6, 7 und 8, 1. Alt. CoronaRegioVO (2.) waren mit höherrangigem Recht vereinbar.
1121. Die in § 2 Abs. 1 CoronaRegioVO im Vergleich zur Coronaschutzverordnung verschärften Kontaktbeschränkungen sowie die durch § 2 Abs. 1 CoronaRegioVO im Vergleich zu § 1 Abs. 2 CoronaSchVO bezüglich des Personenkreises erweiterten Mindestabstandsgebote standen mit Art. 6 GG und Art. 2 Abs. 1 GG (a.) sowie Art. 3 Abs. 1 GG (b.) im Einklang.
113a. § 2 CoronaRegioVO griff in den Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG, nicht aber in das spezifische Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG ein (aa). Ferner begründeten die Regelungen einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG (bb). Diese Eingriffe waren verfassungsrechtlich gerechtfertigt (cc).
114aa. Der Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG erfasst die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern, unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind. Der Schutz erstreckt sich zudem auf weitere spezifisch familiäre Bindungen, wie sie zwischen erwachsenen Familienmitgliedern und zwischen nahen Verwandten auch über mehrere Generationen hinweg bestehen können. Das Familiengrundrecht gewährleistet auch die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden. Dementsprechend gibt Art. 6 Abs. 1 GG Ehegatten das Recht, über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei zu entscheiden. Beide Grundrechte gewährleisten ein Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen.
115Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 -, juris, Rn. 108, m. w. N.
116In diese Rechte griffen die in § 2 Abs. 1 und 2 CoronaRegioVO erfolgten Verschärfungen der Kontaktbeschränkungen und des Mindestabstandsgebots ein. Die Regelung in § 2 CoronaRegioVO erschließt sich nur in Zusammenschau mit den in § 1 Abs. 2 CoronaSchVO geregelten landesweit geltenden Kontaktbeschränkungen. Nach diesen war ein Zusammentreffen im öffentlichen Raum auf bestimmte Personengruppen oder Zusammentreffen zu bestimmten Zwecken beschränkt, nämlich 1. ausschließlich Verwandte in gerader Linie, Geschwister, Ehegatten, Lebenspartnerinnen und Lebenspartner, 2. ausschließlich Personen aus maximal zwei verschiedenen häuslichen Gemeinschaften, 3. Zusammentreffen zwecks Begleitung minderjähriger und unterstützungsbedürftiger Personen, 4. zwingend notwendige Zusammenkünfte aus betreuungsrelevanten Gründen oder 5. in allen übrigen Fällen eine Gruppe von höchstens zehn Personen. § 2 Abs. 1 CoronaRegioVO beschränkte die Möglichkeiten eines zulässigen Zusammentreffens für den Anwendungsbereich der Verordnung, indem er diese auf Zusammentreffen begrenzte, bei denen es sich handelte um 1. ausschließlich Verwandte in gerader Linie, Geschwister, Ehegatten, Lebenspartnerinnen und Lebenspartner sowie in derselben häuslichen Gemeinschaft lebende Personen, 2. nur zwei Personen, 3. die Begleitung minderjähriger und unterstützungsbedürftiger Personen, 4. zwingend notwendige Zusammenkünfte aus betreuungsrelevanten Gründen, wobei Umgangsrechte uneingeschränkt zu beachten waren. Die Regelung verschärfte damit die nach der Coronaschutzverordnung für private Zusammenkünfte im öffentlichen Raum geltenden Vorgaben in erheblichem Maße, insbesondere, weil in Summe nur zwei statt zehn Personen aus verschiedenen häuslichen Gemeinschaften zusammentreffen durften, wenn es sich nicht um Verwandte in gerader Linie, Geschwister, Ehegatten, Lebenspartnerinnen und Lebenspartner handelte. Zwar erlaubte die Regelung nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 CoronaRegioVO das Zusammentreffen von Familienangehörigen in einer Vielzahl von Konstellationen. Allerdings war danach nicht das Zusammentreffen sämtlicher Personen, deren familiäre Bindungen nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sind, in frei gewähltem Maße möglich. Dies betraf insbesondere ein Zusammentreffen von Kindern mit beiden Elternteilen, wenn diese weder verheiratet waren, noch sämtlich in häuslicher Gemeinschaft lebten. Auch Begegnungen von Großfamilien über mehrere Generationen hinweg waren nicht erlaubt, wenn sie sich nicht auf eine Gruppe von ausschließlich in gerader Linie verwandte Personen bzw. Geschwister beschränkten.
117Vgl. dazu, dass auch intensive Familienbindungen zwischen nahen Verwandten in der Seitenlinie vom Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst sind: BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 2014 - 1 BvR 2926/13 -, juris, Rn. 23.
118In das spezifische nach Art. 6 Abs. 2 GG geschützte Elternrecht griffen die Regelungen darüber hinaus – anders als der Antragsteller meint – nicht ein. Dieses umfasst das Recht der Eltern zu entscheiden, ob und in welchem Entwicklungsstadium das Kind überwiegend von einem Elternteil allein, von beiden Eltern in wechselseitiger Ergänzung oder von einem Dritten betreut werden soll. Die Eltern bestimmen, vorbehaltlich des Art. 7 GG, in eigener Verantwortung insbesondere, ob und inwieweit sie andere zur Erfüllung des Erziehungsauftrags heranziehen wollen.
119Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 9. November 2011 ‑ 1 BvR 1853/11 -, juris, Rn. 12, und vom 10. November 1998 - 2 BvR 1057/91 u. a. -, juris, Rn. 63.
120Soweit der Antragsteller in diesem Zusammenhang vorträgt, er hätte seine Kinder wegen der Kontaktbeschränkungen nicht durch Nachbarn betreuen lassen können, trifft dies nicht zu. Denn die Kontaktbeschränkungen ermöglichten gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 CoronaRegioVO auch ein Zusammentreffen im öffentlichen Raum zwecks Begleitung minderjähriger und unterstützungsbedürftiger Personen. Eltern hatten damit weiterhin die Möglichkeit, auch dritten Personen, die mit den Kindern nicht i. S. v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 CoronaRegioVO verwandt sind, die (zeitweise) Betreuung zu überlassen, selbst wenn diese nicht im Privathaushalt, sondern im öffentlichen Raum erfolgen sollte.
121bb. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) schützt familienähnlich intensive Bindungen auch jenseits des Schutzes von Ehe und Familie. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die gesellschaftliche Realität heute vielfältige Formen der Partnerschaft und des persönlichen Miteinanders aufweist, die sich nicht stets den tradierten Figuren des Familienrechts zuordnen lassen. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleistet über familienähnliche Bindungen hinaus auch die Freiheit, mit beliebigen anderen Menschen zusammenzutreffen.
122Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 -, juris, Rn. 111 f.
123Durch die Kontaktbeschränkungen wurde in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit eingegriffen, allerdings nur in dessen Ausprägung als allgemeine Handlungsfreiheit. Denn die auf den öffentlichen Raum (vgl. § 2 Abs. 1 CoronaRegioVO und § 1 Abs. 2 CoronaSchVO) begrenzten Kontaktbeschränkungen verboten nicht schlechterdings Zusammenkünfte von Familien oder mit Freunden und Bekannten, sondern zwangen gegebenenfalls lediglich dazu, diese in den privaten Raum zu verlagern.
124cc. Diese Eingriffe waren verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Grundsätzlich können Eingriffe in das durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit gerechtfertigt werden. Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet die in ihm enthaltenen Grundrechte zwar vorbehaltlos, unterliegt aber verfassungsunmittelbaren Schranken.
125Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 -, juris, Rn. 116, m. w. N.
126Die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ist unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet, worunter alle Rechtsnormen zu verstehen sind, die formell und materiell mit der Verfassung im Einklang stehen.
127Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. März 1994 - 2 BvL 43/92 u. a. -, juris, Rn. 119 f.
128Diese Grundrechte konnten damit durch den auf Grundlage von § 32 Satz 1 und 2 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG – eines Gesetzes, das kompetenzgemäß erlassen und wie aufgezeigt den Anforderungen an den Vorbehalt des Gesetzes genügt – erlassenen § 2 Abs. 1 CoronaRegioVO beschränkt werden. Dieser stellte die verfassungsgemäße Konkretisierung der Schranke der betroffenen Grundrechte dar, weil er verhältnismäßig war.
129(1) Bei der Beurteilung der Frage, ob Infektionsschutzregeln zur Bekämpfung einer neuartigen globalen Pandemie einen legitimen Zweck verfolgen und hierzu geeignet, erforderlich und angemessen waren, kommt dem Verordnungsgeber ein Einschätzungsspielraum zu. Es ist zu überprüfen, ob die zugrundeliegenden Annahmen auf einer hinreichend gesicherten Grundlage beruhen. Je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter und den Möglichkeiten des Normgebers, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, kann die gerichtliche Kontrolle dabei von einer bloßen Evidenz- über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen. Geht es um schwerwiegende Grundrechtseingriffe, dürfen Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen grundsätzlich nicht ohne Weiteres zu Lasten der Grundrechtsträger gehen. Jedoch kann sich auch die Schutzpflicht des Staates auf dringende verfassungsrechtliche Schutzbedarfe beziehen. Sind wegen Unwägbarkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnislage die Möglichkeiten des Verordnungsgebers begrenzt, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, genügt es daher, wenn er sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung der ihm verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten orientiert. Liegen der gesetzlichen Regelung prognostische Entscheidungen zugrunde, kommt es nicht auf die tatsächliche spätere Entwicklung an, sondern lediglich darauf, ob die Prognose des Verordnungsgebers sachgerecht und vertretbar war. Voraussetzung dafür ist nicht, dass es – z. B. bei der Frage der Wirkung einer Maßnahme – hierfür zweifelsfreie empirische Nachweise gibt. Eine zunächst verfassungskonforme Regelung kann allerdings später mit Wirkung für die Zukunft verfassungswidrig werden, wenn ursprüngliche Annahmen nicht mehr tragen. Fehlt ein gesicherter Erkenntnisstand, kann sich die Einschätzungsprärogative des Verordnungsgebers mit der Zeit auch dadurch verengen, dass er nicht hinreichend für einen Erkenntnisfortschritt Sorge trägt. Je länger eine unter Nutzung von Prognosespielräumen geschaffene Regelung in Kraft ist und sofern der Verordnungsgeber fundiertere Erkenntnisse hätte erlangen können, umso weniger kann er sich auf seine ursprünglichen, unsicheren Prognosen stützen.
130Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 235, und vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, juris, Rn. 169 ff. (legitimer Zweck), Rn. 185 ff. (Eignung), Rn. 203 ff. (Erforderlichkeit); sowie dazu, dass diese Grundsätze auf den Verordnungsgeber zu übertragen sind: OVG NRW, Urteil vom 25. August 2022 - 13 D 29/20.NE -, juris, Rn. 160 ff. (für in der ersten Coronawelle erlassene Rechtsverordnungen); sowie für Rechtverordnungen aus der zweiten Welle: OVG NRW, Urteil vom 19. Juni 2023 - 13 D 293/20.NE -, juris, Rn. 156 ff., m. w. N.; OVG Bremen, Urteil vom 19. April 2022 - 1 D 126/21 -, juris, Rn. 94; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2020 - 1 BvR 1021/20 -, juris, Rn. 10; offengelassen, ob der Spielraum des Verordnungsgebers bei der Prognose der Wirkungen von Schutzmaßnahmen ebenso weit reicht wie der des Gesetzgebers bei der Prognose der Eignung der von ihm gewählten Maßnahmen: BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 2.21 -, juris, Rn. 18; offengelassen für Anfang 2022 erlassene Maßnahmen: VerfGH NRW, Beschluss vom 18. Februar 2022 ‑ 20/22.VB-2 -, juris, Rn. 70.
131Zum streitgegenständlichen Zeitpunkt waren wissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich der Wirkung von Infektionsschutzmaßnahmen auf der einen und deren negativer Auswirkungen auf der anderen Seite zwar umfassender als zum Beginn der ersten Welle, indes immer noch mit erheblichen Unsicherheiten insbesondere hinsichtlich ihres konkreten Einflusses auf die weitere Entwicklung der Infiziertenzahlen verbunden, die für den Verordnungsgeber ein Arbeiten mit Prognosen unvermeidbar machten. Dem fortgeschrittenen Erkenntnisstand war insoweit dadurch Rechnung zu tragen, dass der Verordnungsgeber gehalten war, diesen bei seinen Prognosen zu berücksichtigen.
132Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. Mai 2024 - 13 D 238/20.NE -, juris, Rn. 92 ff.
133Ob die Prognosen des Verordnungsgebers in der erforderlichen Weise auf tragfähigen tatsächlichen Annahmen beruhten und das Prognoseergebnis plausibel war, unterliegt dabei der verwaltungsgerichtlichen Prüfung.
134Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 59 (zur Eignung).
135Maßgebend ist die Erkenntnislage bei Erlass der Verordnung (ex-ante-Sicht). Im gerichtlichen Verfahren obliegt es dem Verordnungsgeber, Tatsachen und Erwägungen vorzutragen, die das Ergebnis seiner Prognose plausibel machen. Das Gericht hat nicht eigene prognostische Erwägungen anzustellen, sondern die Rechtmäßigkeit der Prognose des Verordnungsgebers zu überprüfen.
136Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 2.21 -, juris, Rn. 17.
137(2) Ausgehend davon waren die streitgegenständliche Verschärfung der Kontaktbeschränkungen und Erweiterung des Geltungsbereichs des Mindestabstandsgebots verhältnismäßig.
138(a) Eingriffe in Grundrechte können lediglich dann gerechtfertigt sein, wenn mit ihnen verfassungsrechtlich legitime Zwecke verfolgt werden. Die Annahme des Verordnungsgebers, dass eine Gefahrenlage für Leben und Gesundheit der Bevölkerung bestanden habe, die sein Handeln erforderlich machte, beruhte auf tragfähigen Einschätzungen. Er stützte sich dabei auf die Vereinbarung von Bund und Ländern im Beschluss der Telefonschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 6. Mai 2020.
139Abrufbar unter
140https://www.bundesregierung.de/resource/blob/976074/1750986/8689a57b635d9f2d602e94f94dd48c51/2020-05-06-mpk-beschluss-data.pdf?download=1,1.
141Danach sollte auf eine regionale Dynamik mit hohen Neuinfektionszahlen und schnellem Anstieg der Infektionsrate sofort vor Ort mit Beschränkungen reagiert werden, um neue flächendeckende Infektionsgeschehen zu verhindern und die bisherigen Erfolge im Kampf gegen das Virus zu sichern. Eine 7-Tage-Inzidenz von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner habe als Richtwert für besonders problematische Infektionsentwicklungen gedient. Eine regionale Begrenzung und Kontrolle des Infektionsgeschehens sei bei dauerhafter Überschreitung dieser Inzidenz nicht möglich gewesen.
142Unter Berücksichtigung dessen habe die streitgegenständliche Verordnung – wie der Antragsgegner in der Antragserwiderung erläutert – Neuinfektionen möglichst verhindern und die Verbreitung des Virus verlangsamen sollen, um Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und insbesondere die medizinische Versorgung in Krankenhäusern zu sichern. Zwar seien im Juni 2020 die Infektionszahlen insgesamt in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zum Frühjahr deutlich gesunken, weswegen Lockerungen von Infektionsschutzmaßnahmen erfolgt seien. Gleichzeitig habe auf regionale Infektionsgeschehen unmittelbar reagiert werden müssen, um neue „Wellenbewegungen“ sofort zu unterbinden und so ein Übergreifen auf weitere Kreise und die damit einhergehende Belastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Bei dem Ausbruchsgeschehen in C. habe es sich um ein dynamisches Infektionsgeschehen gehandelt, das sich insbesondere durch die sprunghaft angestiegenen Infektionszahlen im Kreis K. mit einer 7‑Tage-Inzidenz von 94 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner am 19. Juni 2020 gezeigt habe. Im Kreis H. sei die 7-Tage-Inzidenz seit dem 17. Juni 2020 stetig gestiegen und habe am 23. Juni 2020 ebenfalls die Grenze von 50 überschritten. Neben den in den Kreisen erlassenen Allgemeinverfügungen hätten die Regelungen dem effektiven Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung gedient. Es sei zu befürchten gewesen, dass infizierte Mitarbeiter des Schlachtbetriebs das Virus bereits vor der mit Allgemeinverfügung vom 20. Juni 2020 angeordneten häuslichen Absonderung an andere Personen ohne Betriebsbezug übertragen hätten. Dies habe nicht nur in Bezug auf Einwohner des Kreises K. gegolten, sondern auch des Kreises H., in dem nach damals verfügbarer Datenlage 225 Mitarbeiter des Schlachtbetriebs gelebt hätten. Angesichts der angestiegenen Infektionszahlen habe davon ausgegangen werden können, dass das Virus auch durch die allgemeine Mobilität und die Wahrnehmung von Freizeitangeboten in den Kreis H. hereingetragen worden sei.
143Diese Annahmen des Verordnungsgebers beruhten auf tragfähigen Grundlagen. Die vom Antragsgegner zugrundegelegten Infiziertenzahlen im maßgeblichen Zeitraum hat er jeweils in täglichen, zum Verfahren übersandten Lageberichten dokumentiert. Zum Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Verordnung am 23. Juni 2020 wies der Kreis K. eine 7-Tage-Inzidenz von 257 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner auf. Im Kreis H. lag diese bei 68. Demgegenüber lagen die 7-Tage-Inzidenzen der anderen Kreise und kreisfreien Städte in Nordrhein-Westfalen (nur mit der weiteren Ausnahme der Stadt I.) bei ≤ 18. Dies untermauert die Annahme des Verordnungsgebers, der Ausbruch im Kreis K. habe auf den Nachbarkreis H. übergegriffen und auch dort zu einem Ansteigen der Infiziertenzahlen geführt.
144Die Einschätzung des Verordnungsgebers zum Infektionsgeschehen im Allgemeinen sowie im Kreis K. und dem benachbarten Kreis H. im Besonderen deckt sich im Übrigen mit Erkenntnissen des Robert Koch-Instituts, die Verordnungsgeber und Gericht wie ein Sachverständigengutachten bei der Entscheidung berücksichtigen dürfen.
145Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 57.
146Nach diesen war die „erste Welle“ des Infektionsgeschehens mit SARS-CoV-2 zum maßgeblichen Zeitpunkt vorüber. Die Zahl der neu übermittelten Fälle war deutschlandweit rückläufig.
147Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID 19), Stand 23. Juni 2020, abrufbar unter
148https://www.rki.de/DE/Themen/Infektionskrankheiten/Infektionskrankheiten-A-Z/C/COVID-19-Pandemie/Situationsberichte/Maerz-Aug_2020/2020-06-23-de.pdf?__blob=publicationFile&v=1.
149Die 7-Tage-Inzidenz lag zum Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Verordnung bundesweit bei 4,7 Infizierten je 100.000 Einwohner, in Nordrhein-Westfalen bei 11 je 100.000 Einwohner. Es wurden weiterhin Ausbrüche in Alters- und Pflegeheimen sowie in Krankenhäusern gemeldet. Das Infektionsgeschehen war heterogen. Während ein Großteil der Stadt- bzw. Landkreise in Deutschland nur sehr wenige oder sogar keine Infektionsfälle meldeten, waren die 7-Tage-Inzidenzen in fünf Stadt- bzw. Landkreisen aufgrund lokal begrenzter Ausbrüche sehr hoch. Zu diesen gehörten – bedingt durch den Ausbruch im Schlachtbetrieb in C. – die Landkreise K. und H.. Mehr als eintausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Betriebs wurden (Stand 23. Juni 2020) positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Die geschätzten Reproduktionszahlen (R-Wert und 7-Tage R-Wert) lagen um 2 bzw. knapp darunter. Nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts sollte die Entwicklung in den nächsten Tagen weiter beobachtet werden, insbesondere in Bezug auf die Frage, ob es auch außerhalb der beschriebenen Ausbrüche zu einem weiteren Anstieg der Fallzahlen komme. Insgesamt ging das Robert Koch-Institut von einer sehr dynamischen Situation aus. Die Belastung für das Gesundheitswesen hing dabei maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen wie Isolierung, Quarantäne und physischer Distanzierung ab.
150Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID 19), Stand 23. Juni 2020, abrufbar unter
151https://www.rki.de/DE/Themen/Infektionskrankheiten/Infektionskrankheiten-A-Z/C/COVID-19-Pandemie/Situationsberichte/Maerz-Aug_2020/2020-06-23-de.pdf?__blob=publicationFile&v=1.
152Anders als der Antragsteller geltend macht, liegt auch nicht auf der Hand, dass das Infektionsgeschehen im Kreis H. zum Zeitpunkt des Verordnungserlasses ohnehin bereits wieder zurückging. Vielmehr zeigt die vom Antragsgegner am 11. April 2025 zur Akte gereichte Übersicht über die laborbestätigten SARS-CoV-2-Fälle in Nordrhein-Westfalen im maßgeblichen Zeitraum, dass die Anzahl der im Kreis H. täglich hinzukommenden Neuinfizierten schwankend war und bis zum Zeitpunkt des Verordnungserlasses keine klare sinkende Tendenz erkennen ließ (14. Juni: 5, 15. Juni: 5, 16. Juni: 0, 17. Juni: 6, 18. Juni: 51, 19. Juni: 8, 20. Juni: 49, 21. Juni: 0, 22. Juni: 0, 23. Juni: 20).
153(b) Die streitgegenständliche Verschärfung von Kontaktbeschränkungen war auch geeignet, um die aufgezeigten Zwecke zu verfolgen. Für die Eignung reicht es aus, wenn durch die Kontaktbeschränkungen der gewünschte Erfolg gefördert werden kann. Es genügt bereits die Möglichkeit, durch die Regelung den Normzweck zu erreichen. Die Eignung setzt insbesondere nicht voraus, dass es zweifelsfreie empirische Nachweise der Wirkung oder Wirksamkeit der Maßnahmen gibt.
154Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. -, juris, Rn. 185 f., m. w. N.
155Die Eignungsprognose des Verordnungsgebers muss allerdings auf tragfähigen tatsächlichen Annahmen beruhen und das Prognoseergebnis plausibel sein.
156Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 59.
157Dies war der Fall. Hauptübertragungsweg des SARS-CoV-2-Virus ist die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel – Tröpfchen oder Aerosole –, die beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen oder Niesen entstehen. Grundsätzlich ist die Wahrscheinlichkeit einer Exposition gegenüber infektiösen Partikeln jeglicher Größe im Umkreis von ein bis zwei Metern um eine infektiöse Person herum erhöht. Beim Aufenthalt in Räumen kann sich die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine größere Distanz erhöhen, insbesondere wenn der Raum klein und schlecht belüftet ist. Längere Aufenthaltszeiten und besonders tiefes oder häufiges Einatmen durch die exponierten Personen erhöhen die Inhalationsdosis. Durch die Anreicherung und Verteilung der Aerosole im Raum ist das Einhalten des Mindestabstands zur Infektionsprävention gegebenenfalls nicht mehr ausreichend. Übertragungen im Außenbereich kommen insgesamt selten vor und haben einen geringen Anteil am gesamten Transmissionsgeschehen. Bei Wahrung des Mindestabstands ist die Übertragungswahrscheinlichkeit im Außenbereich aufgrund der Luftbewegung sehr gering.
158Vgl. Robert Koch-Institut, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Ziffer 2: Übertragungswege, Stand 26. November 2021 (online nicht mehr verfügbar, den Beteiligten übersandt).
159Aus diesen Erkenntnissen folgt, dass durch Kontaktbeschränkungen und Mindestabstandsgebote – bzw. deren Verschärfung – eine Weiterverbreitung des Virus reduziert werden kann.
160Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, juris, Rn. 193.
161Der Verordnungsgeber ging zudem vertretbar davon aus, dass die Maßnahme trotz der Beschränkung ihrer Geltung auf den öffentlichen Raum zu einer Reduzierung infektionsträchtiger Kontakte führen könnte. Denn es bestand jedenfalls die Möglichkeit, dass die im öffentlichen Raum nicht zulässigen Kontakte nicht sämtlich in den privaten Raum verlagert werden, sondern – insbesondere soweit es geplante Zusammentreffen mit weniger engen Bezugspersonen betraf – während der Geltung der Maßnahme nicht stattfinden und auf einen späteren Zeitpunkt verschoben würden.
162(3) Die Verschärfung der Kontaktbeschränkungen war auch erforderlich. Grundrechtseingriffe dürfen nicht weitergehen, als es der Schutz des Gemeinwohls erfordert. Daran fehlt es, wenn ein gleich wirksames Mittel zur Erreichung des Gemeinwohlziels zur Verfügung steht, das den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet. Die sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahmen zur Zweckerreichung muss dafür in jeder Hinsicht eindeutig feststehen.
163Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. -, juris, Rn. 203, m. w. N.
164Die Einschätzung des Antragsgegners, die angegriffene Maßnahme sei während ihrer Geltungsdauer erforderlich gewesen, ist nicht zu beanstanden. Mildere, gleich geeignete Mittel sind nicht ersichtlich.
165Der Antragsgegner durfte davon ausgehen, dass trotz der Regelungen der Allgemeinverfügungen der Kreise K. und H. vom 20. Juni 2020, in denen für Mitarbeiter des Schlachtbetriebs am Standort C. und deren Haushaltsangehörige eine Absonderung in häuslicher Quarantäne bis zum 2. bzw. 3. Juli 2020 angeordnet wurde, der vorübergehenden Schließung des betroffenen Schlachtbetriebs sowie der Schließungen von Kindertagesstätten und Schulen weitere Infektionsschutzmaßnahmen erforderlich waren. Der Verordnungsgeber sah die Gefahr, dass sich das Virus auch unter Personen, die nicht im Schlachtbetrieb gearbeitet haben, ausgebreitet haben könnte.
166Vgl. Spiegel, Rückkehr zu strengen Corona-Regeln in NRW, „Man kann das nicht dorfscharf machen“, 23. Juni 2020, abrufbar unter
167https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-ausbruch-bei-toennies-lockdown-auch-im-landkreis-warendorf-a-97981663-6a2e-4774-8ca9-891939568150.
168Deswegen sei ein „Ruhezustand“ erforderlich, um durch eine Ausweitung der Testungen diesbezüglich ein besseres Lagebild zu erhalten.
169Vgl. Erläuterung des damaligen Ministerpräsidenten Laschet zum Lockdown in K., Video abrufbar unter
170https://www.spiegel.de/politik/deutschland/laschet-verkuendet-lockdown-massnahmen-fuer-ganzen-kreis-guetersloh-a-ebee31df-b50c-4558-bd77-2a36574533fd; sowie zur Ausweitung der Testungen: Landesregierung aktiviert zweite Stufe des Lockdowns im Kreis K. und im Kreis H., Pressemitteilung vom 23. Juni 2020, abrufbar unter
171https://www.land.nrw/pressemitteilung/landesregierung-aktiviert-zweite-stufe-des-lockdowns-im-kreis-guetersloh-und-im,
172Der Antragsgegner führte zur Begründung für diese Befürchtung an, dass die Allgemeinverfügungen nicht unmittelbar mit den zur Feststellung des Ausbruchsgeschehens führenden ersten Testungen im Schlachtbetrieb in Kraft traten, sondern erst mehrere Tage später, in denen sich das Virus bereits hätte weiterverbreiten können. Die Streuung der Wohnorte der Beschäftigten sowohl im Kreis K. als auch im Kreis H. habe diese Gefahr verschärft. Ferner sei man davon ausgegangen, dass sich personenorientierte Einzelmaßnahmen, wie Absonderungsanordnungen, nicht effektiv kontrollieren ließen. Grund dafür sei, dass die Arbeitnehmerstruktur im Schlachtbetrieb intransparent gewesen sei. Die betroffenen Personen seien zum Teil in mehreren Betrieben tätig gewesen, einige hätten auch zwischen verschiedenen Massenunterkünften gewechselt.
173Die Einschätzung des Antragsgegners, dass die Allgemeinverfügungen sowie die Schließung des Schlachtbetriebs sowie von Kindertagesstätten und Schulen allein zur Kontrolle des Infektionsgeschehens nicht ausreichend gewesen seien, war von seinem Einschätzungsspielraum gedeckt. Die zugrundeliegende Prognose war vertretbar. Für die Befürchtung, bereits vor Erlass der Allgemeinverfügungen könne sich das Virus ausgebreitet haben, sprachen die zum Zeitpunkt des Erlasses der Allgemeinverfügungen bereits stark gestiegenen 7-Tage-Inzidenzen. Im Kreis K. war diese mit 94 je 100.000 Einwohner schon sprunghaft angestiegen, wobei wegen des Meldeverzugs angenommen wurde, dass diese noch höher lagen. Auch im benachbartem Kreis H. lag die 7-Tage-Inzidenz mit 27 deutlich über der aller sonstigen Kreise in Nordrhein-Westfalen – ein Hinweis darauf, dass auch in den Kreis H. Infektionen im Zusammenhang mit dem Ausbruch eingetragen worden waren. Es erschien möglich, dass sich die getesteten Personen und deren Kontaktpersonen vor der Anordnung der häuslichen Quarantäne frei im Kreis K. und H. bewegt und damit neue Infektionsketten in Gang gesetzt hatten. Zwar war auch bereits vor Erlass der Allgemeinverfügungen – wie sich aus dem vom Antragsgegner zur Akte gereichten „Lagebericht T.“ – ergibt, mündlich die Absonderung positiv getesteter Beschäftigter angeordnet worden. Diese Anordnungen wurden aber nicht konsequent befolgt. So verweist der „Lagebericht T.“ darauf, dass z. B. am 18. Juni 2020 noch 30 nachweislich positiv Getestete im Schlachtbetrieb identifiziert wurden (Gerichtsakte Bl. 170 f.). Hinzu kam die Schwierigkeit, die betroffenen Beschäftigten zu kontaktieren, um sie über ihre positiven Testergebnisse in Kenntnis zu setzen, weil zunächst nur unvollständige Adresslisten vorgelegt wurden.
174Vgl. Tagesschau, Corona-Ausbruch bei P. – Viele Infizierte, null Vertrauen, 20. Juni 2020, abrufbar unter
175https://www.html.
176Wie sich ebenfalls aus dem „Lagebericht T.“ ergibt, stellte sich die Kontaktpersonennachverfolgung mit Standardmitteln als nicht machbar heraus. Zu Beginn, während eines umrissenen Ausbruchs in der Rinderzerlegung, sei versucht worden, Einzelpersonen zusammen mit Dolmetschern zu Kontaktpersonen und Symptomen zu befragen. Die muttersprachlichen Dolmetscher hätten die Angaben allerdings als vielfach falsch eingeschätzt, da die Werkvertrags-Arbeitnehmer zu große Angst gehabt hätten, ihren Job zu verlieren. Die Annahme, dass die Gefahr der Weiterverbreitung des Virus durch die Streuung der Wohnorte der Beschäftigten auch im Kreis H. verschärft wurde, erscheint ebenfalls nachvollziehbar. Anders als der Antragsteller in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, konnte der Antragsgegner zum maßgeblichen Zeitpunkt des Verordnungserlasses auch unter Berücksichtigung der festgestellten Infizierten nicht davon ausgehen, dass ein Eintrag in die allgemeine Bevölkerung nicht erfolgt oder zu befürchten gewesen sei. Allein der Umstand, dass der weit überwiegende Teil der positiven Testergebnisse auf Betriebsangehörige zurückging, ließ nicht den zuverlässigen Schluss darauf zu, ein Übersprung des Infektionsgeschehens auf Personen ohne Betriebsbezug sei nicht erfolgt. Denn die positiven Testergebnisse resultierten aus den gezielt bei Betriebsangehörigen durchgeführten Testungen. Der durch die Maßnahmen herbeigeführte „Ruhezustand“ sollte dementsprechend mit einer massiven Ausweitung der Testungen auch für Personen ohne Bezug zum Schlachtbetrieb einhergehen,
177vgl. Landesregierung aktiviert zweite Stufe des Lockdowns im Kreis K. und im Kreis H., Pressemitteilung vom 23. Juni 2020, abrufbar unter
178https://www.,
179um festzustellen, ob bzw. in welchem Maße sich das Infektionsgeschehen auch in der übrigen Bevölkerung verbreitet hat. Zudem ergibt sich aus den vom Antragsgegner zur Akte gereichten Übersichten zu neu gemeldeten Infektionen und 7-Tage-Inzidenzen im Kreis H., Stand 19. Juni 2020, jeweils differenziert nach Infektionen insgesamt sowie solchen „ohne den Ausbruch P.“, dass ein gewisser Anstieg der Infiziertenzahlen sowie der 7-Tage-Inzidenz auch in der übrigen Bevölkerung zu beobachten war (Gerichtsakte Bl. 190 ff.).
180Unabhängig davon, dass dies keine Auswirkung auf die Rechtsmäßigkeit der hier streitgegenständlichen Maßnahmen haben dürfte, vermag der Senat – anders als der Antragsteller geltend macht – auch nicht zu erkennen, dass der Antragsgegner auf das Ausbruchsgeschehen offenkundig zu spät mit gezielten Maßnahmen reagiert hat und nur wegen dieses Versäumnisses der Erlass der streitgegenständlichen Verordnung mit flächendeckenden Maßnahmen für die Kreise K. und H. notwendig wurde. Nachdem im Schlachtbetrieb in C. ab dem 14. Juni 2020 sprunghaft steigende Infiziertenzahlen beobachtet wurden, wurden zunächst regionale Maßnahmen ergriffen, die ab dem 17. Juni 2020 (auch) mit dem Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales abgestimmt wurden, wie die Schließung des Betriebs, mündliche Quarantäneanordnungen sowie eine Wiederholung der Testungen der Beschäftigten. Anschließend wurde die Schließung von Schulen und Kindertageseinrichtungen angeordnet sowie am 20. Juni 2020 die Allgemeinverfügungen mit Absonderungsanordnungen erlassen. Dass diese Reaktionen jeweils vorwerfbar zu spät erfolgten, vermag der Senat nicht zu erkennen. Insoweit ist zum einen in Rechnung zu stellen, dass das Ausbruchsgeschehen bei der seinerzeit allgemein ruhigen Infektionslage seiner Art und seinem Ausmaß nach überraschend war. Zum anderen dürfte sich erst im Laufe der ersten Tage nach Feststellung der Häufungen positiver Testergebnisse gezeigt haben, dass die erprobten Maßnahmen bei Infektionen, also individuelle Absonderungsanordnungen und Kontaktnachverfolgung, mit Blick auf die besondere Arbeitnehmerstruktur im betroffenen Betrieb vorliegend nicht zuverlässig griffen.
181Der Antragsgegner hat seinen Einschätzungsspielraum auch nicht überschritten, indem er die Kontaktbeschränkungen auf den ganzen Kreis H. erstreckt hat. Zwar ereignete sich der Ausbruch auf dem Gebiet des Kreises K. und ausweislich der in den Verwaltungsvorgängen des Antragsgegners enthaltenen Karte zum Stand 21. Juni 2020 (Beiakte Heft 3, Bl. 21) waren insbesondere die Kommunen des westlichen Teils des Kreises H. hiervon nicht betroffen. Dementsprechend unterbreitete die Regierungspräsidentin der Bezirksregierung D., Frau O., in einer E-Mail vom 23. Juni 2020 den Vorschlag, die Maßnahmen nur auf die besonders betroffenen Kommunen Y., J., Q. und A. zu beschränken und der Kreisverwaltung hinsichtlich der weiteren Kommunen nur ein „enges Controlling“ aufzuerlegen. Mit der davon abweichenden Entscheidung, die Maßnahmen auf den gesamten Kreis H. zu erstrecken, hat der Antragsgegner allerdings seine Einschätzungsprärogative nicht überschritten.
182In der mündlichen Verhandlung erläuterte der Vertreter des Antragsgegners dazu, eine Regelung für einzelne Kommunen hätte eine sehr eingeschränkte Wirkung gehabt. Sowohl in sozialer als auch in administrativer Hinsicht sei ein Kreis bzw. eine kreisfreie Stadt der räumliche Bezugsraum für die dort lebenden Menschen. Es habe nahegelegen, dass Personen, die in einer von den Verordnungsregelungen betroffenen Stadt oder Gemeinde gelebt hätten, Angebote von Nachbarkommunen wahrgenommen oder sich dort mit anderen Personen getroffen hätten. Ferner habe die Gefahr bestanden, dass die Menschen räumlich zu kleinteilige Regelungen nicht hätten nachvollziehen können und dies die Befolgung der Vorgaben unterlaufen hätte. Auch die beobachtete kreisweite Veränderung von Unterbringungs- und Einsatzorten der Arbeitnehmer des Schlachtbetriebs hätte einer auf bestimmte Kommunen beschränkten Regelung entgegengestanden.
183Diese Erwägungen sind rechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht hat zu dem durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 (BGBl. I 2021, S. 802) eingeführten § 28b IfSG (sog. Bundesnotbremse), der unter anderem die Geltung von Kontaktbeschränkungen abhängig von der 7‑Tage-Inzidenz für ganze Landkreise bzw. kreisfreie Städte anordnete, ausgeführt:
184„Da keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse über die genauen Umstände, die Orte und die Gelegenheiten von Übertragungen des Virus vorlagen, ist nicht sicher feststellbar, dass die Ziele des Gesetzes in gleich geeigneter Weise hätten erreicht werden können, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz auf kleinere räumliche Gebiete als die von Landkreisen oder kreisfreien Städten bezogen gewesen wäre, um die Anzahl der von den Kontaktbeschränkungen betroffenen Grundrechtsträger zu reduzieren. Es lagen keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass einer globalen Pandemie mit sehr dynamischer, örtlich wechselnder Ausbreitung im gesamten Bundesgebiet überhaupt kleinräumiger hätte begegnet werden können.“
185Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, juris, Rn. 213.
186Diesen Erwägungen schließt sich der Senat an. Sie sind auf die vorliegende Situation übertragbar. Nach dem Ausbruchsgeschehen stiegen die Infiziertenzahlen sprunghaft an, das Infektionsgeschehen erstreckte sich schnell auf verschiedene Kommunen sowohl im Kreis K. als auch im Kreis H.. Selbst wenn die Ursache für die regionale Zunahme des Infektionsgeschehens mit dem Ausbruch in C. bekannt und zu beobachten war, dass die Infiziertenzahlen insbesondere in angrenzenden Kommunen des Kreises Warendorfs anstiegen, der westliche Teil des Kreises indes nicht betroffen war, durfte der Antragsgegner eine kreisweite Regelung auch für den Kreis H. als erforderlich achten.
187Kritischer insoweit zur im Kreis K. geltenden Nachfolgeverordnung angesichts nicht mehr kreisweit hoher Neuinfektionszahlen: OVG NRW, Beschluss vom 6. Juli 2020 - 13 B 940/20.NE -, juris, Rn. 62 ff.
188Denn neben der vom Bundesverfassungsgericht für seine Feststellungen herangezogenen Eigenschaft des Virus, sich dynamisch zu verbreiten, sprach hierfür die seinerzeit bestehende Unsicherheit, ob sich das Virus (auch in räumlicher Hinsicht) bereits weiter ausgebreitet hatte, als dies die im Wesentlichen durch Testungen von Betriebsangehörigen ermittelten Infiziertenzahlen annehmen ließen. Für diese Befürchtung hat der Antragsgegner nachvollziehbar konkrete Umstände dargelegt, wie die intransparente Arbeitnehmerstruktur im Schlachtbetrieb, die gemeindeübergreifende Veränderung von Unterbringungs- und Einsatzorten der Betriebsangehörigen auch im Kreis H. und die nicht konsequent durchzusetzende Absonderung infizierter Personen. Dass der Antragsgegner, wie in der mündlichen Verhandlung erläutert, die Regelungen auf Kreisebene angeordnet hat, weil es sich bei einem Kreis um den in sozialer und administrativer Hinsicht maßgeblichen Bezugsraum für die dort lebenden Menschen handelt mit der Folge, dass diese auch kommunenübergreifend im Kreis mobil sind, erscheint vertretbar. Gleiches gilt für die Annahme, auf einzelne, teils sehr kleine Kommunen beschränkte Regelungen bürgen die Gefahr, dass sie für die Adressaten der Regelungen schwer nachvollziehbar erscheinen und deswegen nicht konsequent genug befolgt würden. Mit Blick darauf war der Antragsgegner auch nicht gehalten, den räumlichen Geltungsbereich der Verordnung, wie vom Antragsteller vorgeschlagen, anhand eines um den Ausbruchsort zu ziehenden Radius festzulegen.
189(4) Die streitgegenständliche Regelung war auch während ihrer gesamten Geltungsdauer verhältnismäßig im engeren Sinne. Die Angemessenheit und damit die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordert, dass der mit der Regelung verbundene Mehrwert für die Eindämmung des Infektionsgeschehens nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs steht. Es ist in diesem Fall aus den oben zum Einschätzungsspielraum gemachten Erwägungen Aufgabe des Verordnungsgebers, in einer Abwägung Reichweite und Gewicht des Eingriffs in Grundrechte einerseits und die Bedeutung der Regelung für die Erreichung legitimer Ziele andererseits gegenüberzustellen. Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden. Umgekehrt wird ein Handeln des Normgebers umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können.
190Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. -, juris, Rn. 216, m. w. N.
191Der Eingriff in die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG hatte zwar mit Blick auf die Beschränkung zulässiger Zusammenkünfte im öffentlichen Raum entweder nur auf enge Familienangehörige oder Personen aus demselben Haushalt (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 CoronaRegioVO) oder nur auf zwei Personen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 CoronaRegioVO) nicht nur unerhebliches Gewicht. Er wurde jedoch deutlich dadurch abgemildert, dass die Beschränkungen lediglich für Zusammenkünfte im öffentlichen Raum galten. Gemeinsame Treffen in Privatwohnungen waren damit unbeschränkt möglich. Ferner waren auch im öffentlichen Raum Zusammentreffen zu bestimmten Zwecken erlaubt. So waren nach § 2 Abs. 1 Satz 2 CoronaRegioVO Umgangsrechte uneingeschränkt zu beachten. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 CoronaRegioVO waren Zusammenkünfte zur Begleitung minderjähriger und unterstützungsbedürftiger Personen und nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 CoronaRegioVO zwingend notwendige Zusammenkünfte aus betreuungsrelevanten Gründen zulässig. Mit Blick darauf wäre es dem Antragsteller – anders als er vorträgt – auch nicht verwehrt gewesen, Hilfe der Nachbarn bei der Betreuung seiner Kinder in Anspruch zu nehmen. Auf der anderen Seite ist zwar zu berücksichtigen, dass das Eingriffsgewicht durch die zeitgleichen Eingriffe in weitere Grundrechte durch andere Infektionsschutzmaßnahmen, z. B. die Schließung von Freizeiteinrichtungen, verstärkt wurde, weil diese in ihrer Gesamtheit die Möglichkeiten zur Pflege sozialer Kontakte und zur Gestaltung der Freizeit erheblich beschränkten.
192Vgl. dazu, dass parallel geltende Maßnahmen das Eingriffsgewicht mitbestimmen: BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 -, juris, Rn. 223.
193Dennoch waren die durch § 2 Abs. 1 CoronaRegioVO bedingten Verschärfungen der Kontaktbeschränkungen gerechtfertigt, weil diese mit dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems Gemeinwohlbelangen von überragender Bedeutung dienten, zu deren Wahrung Handlungsbedarf bestand. Dies gilt insbesondere mit Blick darauf, dass seinerzeit zu befürchten war, dass die durch die im Frühjahr 2020 ergriffenen umfangreichen Infektionsschutzmaßnahmen erzielten Erfolge bei der Eindämmung des Infektionsgeschehens durch ein vom Ausbruch in C. ausgehendes dynamisches Ausbreiten von Infektionen wieder zunichtegemacht werden könnten. Dies hätte erneut eine Vielzahl von Personen den Gefahren durch eine SARS-CoV-2-Infektion aussetzen können,
194vgl. zu Manifestationen, Komplikationen und Langzeitfolgen einer COVID-Erkrankung sowie zum Risiko, daran zu versterben: Robert Koch-Institut, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Ziff. 9 und 13, Stand 26. November 2021 (online nicht mehr verfügbar, den Beteiligten übersandt).
195und ggf. wieder flächendeckende Infektionsschutzmaßnahmen erforderlich machen können. Zur Minimierung dieses Risikos war es angemessen, regional begrenzt mit verschärften Kontaktbeschränkungen mit einer Geltungsdauer von einer Woche zu reagieren, um die Ausbreitung des Virus nach dem Ausbruch weiter durch Testungen aufklären zu können.
196Vgl. zur Ausweitung der Testungen: https://www.land.nrw (freiwillige Reihentestungen); https://www.land.nrwTestungen in bestimmten Einrichtungen wie Pflegeeinrichtungen).
197b. Die Kontaktbeschränkungen aus § 2 Abs. 1 CoronaRegioVO standen auch im Einklang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Dieser gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Der allgemeine Gleichheitssatz verwehrt dem Normgeber allerdings nicht jede Differenzierung. Diese bedarf jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind.
198Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Februar 2012 - 1 BvL 14/07 -, juris, Rn. 40; BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2023 - 3 CN 6.22 -, juris, Rn. 75, m. w. N.
199Dieser Maßstab gilt für die normsetzende Exekutive entsprechend, wenn auch der dem Verordnungsgeber zukommende Gestaltungsspielraum nur in dem von der gesetzlichen Ermächtigungsnorm abgesteckten Rahmen gegeben ist (vgl. Art. 80 Abs. 1 GG).
200Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 1981 - 2 BvR 1067/80 -, juris, Rn. 27, m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 18. April 2024 - 3 CN 7.22 -, juris, Rn. 15.
201Davon ausgehend stellte es keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz dar, dass wegen der in C. festgestellten Masseninfektion mit dem Coronavirus für das benachbarte Kreisgebiet H., in dem die 7-Tage-Inzidenz im Anschluss an das Ausbruchsgeschehen stark angestiegen war, strengere Kontaktbeschränkungen galten als für andere Regionen Nordrhein-Westfalens. Die Ungleichbehandlung war infektiologisch gerechtfertigt. Sie knüpft an die unterschiedlichen Erkenntnislagen über die regionale Verbreitung des Virus innerhalb der Bevölkerung an. Es war unter Berücksichtigung der bestehenden Unsicherheiten und der hohen Infektiosität des Virus nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner örtlich begrenzt kurzfristig (strengere) Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des (potenziellen) Infektionsgeschehens ergriff, um Zeit für notwendige Aufklärungsmaßnahmen – etwa zur Durchführung von Massentests innerhalb der Bevölkerung – zu gewinnen, um anschließend auf belastbarer Grundlage über die weitere Vorgehensweise zu entscheiden.
202Vgl. bereits OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020 ‑ 13 B 911/20.NE -, juris, Rn. 151.
203Der Antragsgegner war dabei auch nicht gehalten, sämtliche Nachbarkreise des Kreises K. den strengeren Infektionsschutzmaßnahmen zu unterwerfen, sondern durfte nach dem Ausmaß des in den Nachbarkreisen festgestellten Infektionsgeschehens differenzieren. Dieses war im Kreis H. mit einer 7‑Tage-Inzidenz von 68 je 100.000 Einwohner zum Zeitpunkt des Verordnungserlasses deutlich größer als z. B. in der kreisfreien Stadt I. mit einer 7‑Tage-Inzidenz von 25 je 100.000 Einwohner. Die übrigen Nachbarkreise bzw. kreisfreien Städte wiesen noch geringere 7-Tage-Inzidenzen auf.
2042. Die Untersagung kultureller Veranstaltungen durch § 3 Nr. 1, des Betriebs von Bars und der Bewirtung an Theken in Gaststätten durch § 3 Nr. 6, des Betriebs von Indoorspielplätzen durch § 3 Nr. 7 und von Schwimmbädern durch § 3 Nr. 8, 1. Alt. CoronaRegioVO waren mit höherrangigem Recht vereinbar.
205a. Die Verbote griffen in die durch Art. 12 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG) geschützte Berufsfreiheit der Betreiber der betroffenen Einrichtungen sowie – beim Verbot kultureller Veranstaltungen – der von Künstlern und Darstellern ein, weil diese ihrer Berufsausübung nicht mehr oder nur noch eingeschränkt nachgehen konnten.
206Diese Eingriffe waren jedoch gerechtfertigt. Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG sind Eingriffe in die Berufsfreiheit nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung – und damit auch durch Rechtsverordnung, die ihrerseits auf einer hinreichenden, den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG genügenden Ermächtigung beruht – erlaubt. Welche Anforderungen an eine Rechtfertigung eines Eingriffs in die Berufsfreiheit zu stellen sind, ist von der Art des Eingriffs abhängig. Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit müssen nach der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Dreistufentheorie aufgrund einer kompetenzgemäß erlassenen Norm erfolgen, durch hinreichende, der Art der betroffenen Betätigung und der Intensität des jeweiligen Eingriffs Rechnung tragende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sein und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.
207Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. November 1998 - 1 BvR 2296/96 u. a. -, juris, Rn. 35, m. w. N.
208Dies war der Fall. Bei den vorliegenden Eingriffen handelte es sich nicht um Einschränkungen der Berufswahl, sondern um Berufsausübungsregelungen. Die Regelungen waren auf einen kurzen Zeitraum von einer Woche befristet. Der Umstand, dass sie zeitweise wie ein Berufsverbot wirkten, ist allerdings bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Auch dies zugrundegelegt waren die Eingriffe verhältnismäßig.
209aa. Wie bereits ausgeführt verfolgte der Verordnungsgeber mit den Maßnahmen der Coronaregionalverordnung den legitimen Zweck, vom Ausbruchsgeschehen in C. ausgehende weitere Neuinfektionen möglichst zu verhindern und die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, um Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und insbesondere die medizinische Versorgung in Krankenhäusern zu sichern.
210bb. Zur Erreichung dieses Ziels waren die streitgegenständlichen Untersagungen von Angeboten bzw. Einrichtungen ausgehend von den oben gemachten Feststellungen zur Übertragbarkeit des Virus geeignet. Denn beim Besuch der von den Untersagungen in § 3 Nr. 1, 6, 7 und 8, 1. Alt. CoronaRegioVO betroffenen Einrichtungen bzw. der Nutzung der von den Regelungen erfassten Angeboten kommt es typischerweise zu physischen Kontakten von Menschen, die potentiell infektionsträchtig sind. Werden diese durch Schließung der Einrichtungen bzw. Untersagung der Angebote reduziert, trägt dies zur Eindämmung bzw. Kontrolle des Infektionsgeschehens bei.
211Vgl. zur Gastronomie: BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2023 - 3 CN 6.22 -, juris, Rn. 62, und vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 70; zu kulturellen Veranstaltungen: OVG NRW, Beschluss vom 2. Februar 2021 - 13 B 1661/20.NE -, juris, Rn. 49; zu Schwimmbädern: OVG NRW, Urteil vom 26. November 2024 - 13 D 245/20.NE -, juris, Rn. 118 ff.
212Mit Blick darauf ist auch die Beschränkung gastronomischer Angebote in § 3 Nr. 6, 2. Alt. CoronaRegioVO durch ein Verbot der Bewirtung an Theken in Gaststätten geeignet, da dadurch Ansammlungen von Personen im Thekenbereich vermieden werden und eine Bewirtung der Gäste jeweils am Platz die Zahl räumlich engerer und damit besonders infektionsträchtiger Kontakte reduziert.
213cc. Die Regelungen waren erforderlich. Die Anwendung von Hygienekonzepten ist im Vergleich zu den streitgegenständlichen Maßnahmen zwar ein milderes Mittel, aber zur Eindämmung des Infektionsgeschehens nicht gleich geeignet. Denn verbleibende Infektionsrisiken durch das Aufeinandertreffen von Menschen bei dem Besuch von Einrichtungen oder der Nutzung von Angeboten werden durch diese Maßnahmen jedenfalls nicht verhindert.
214Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2024 - 13 D 238/20.NE -, juris, Rn. 165.
215Auch eine räumliche Beschränkung der Verbote auf die einzelnen Städte oder Gemeinden des Kreises H., in denen Infizierte festgestellt wurden, wäre aus den oben im Rahmen der Prüfung der Kontaktbeschränkungen angestellten Erwägungen nicht gleich geeignet. Bei der Nutzung von Freizeitangeboten gilt dies umso mehr, da bei diesen davon ausgegangen werden kann, dass sie nicht nur von Einwohnern der Gemeinde oder Stadt, in der diese sich befinden, genutzt werden.
216dd. Die Regelungen waren auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Zwar kamen die Verbote jedenfalls für die Anbieter, die nicht die Möglichkeit hatten, ihr Angebot ins Freie zu verlegen, einem zeitweisen Berufsverbot gleich und stellten damit einen nicht unerheblichen Eingriff in die Berufsfreiheit dar.
217Dennoch war der Eingriff zugunsten überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter gerechtfertigt. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Beschränkungen nach der Coronaregionalverordnung nur für einen kurzen Zeitraum von einer Woche galten. Die dadurch entstandenen finanziellen Einbußen dürften sich für die Anbieter damit noch in einem überschaubaren Ausmaß gehalten haben. Zwar ist zu berücksichtigen, dass bereits während der ersten Coronawelle im Frühjahr 2020 vergleichbare Einschränkungen – seinerzeit landesweit – galten.
218Vgl. dazu, dass bei der Bestimmung des Gewichts des Grundrechtseingriffs zeitlich vorausgehende, aber nicht nachfolgende Maßnahmen zu berücksichtigen sind: BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 -, juris, Rn. 79.
219Bei diesen war die öffentliche Hand aber bemüht, Existenzgefährdungen durch Hilfsprogramme abzuwenden und finanzielle Einbußen der Betroffenen jedenfalls zu reduzieren.
220Vgl. im Einzelnen zu den hierfür aufgesetzten Programmen und Regelungen: OVG NRW, Urteil vom 25. August 2022 - 13 D 29/20.NE -, juris, Rn. 230 ff.
221Der für die im Kreis H. ansässigen Betreiber durch die streitgegenständliche Regelung hinzukommende kurze Schließungszeitraum von einer Woche war mit Blick auf die mit der Regelung verfolgten hochrangigen Ziele, insbesondere die Verhinderung eines erneuten Ausbreitens des Infektionsgeschehens sowie der damit einhergehenden Gefahren für Leben und Gesundheit der Bevölkerung noch zumutbar, zumal auch während des streitgegenständlichen Zeitraums noch bestimmte finanzielle Hilfen in Anspruch genommen werden konnten.
222Vgl. etwa den vereinfachten Zugang zum Kurzarbeitergeld: https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2020/04/Inhalte/Kapitel-2b-Schlaglicht/2b-Mit-aller-Kraft-gegen-Corona-Krise_pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=3.; sowie Zuschüsse zur Deckung von Fixkosten durch die Überbrückungshilfe im Zeitraum Juni bis August 2020, https://www.ueberbrueckungshilfe-unternehmen.de/Content/Artikel/Ueberbrueckungshilfe-I/uebh-i-ueberblick.html-.
223Auch unter Berücksichtigung der Beeinträchtigung der durch die Berufsfreiheit ebenfalls geschützten Persönlichkeitsentfaltung im Bereich der individuellen Leistung und Existenzerhaltung,
224vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 1985 - 1 BvR 38/78 -, juris, Rn. 42, OVG NRW, Urteil vom 29. Mai 2024 - 13 D 238/20.NE -, juris, Rn. 200, m. w. N.,
225durfte der Verordnungsgeber in der konkreten Situation dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung Vorrang vor der Berufsfreiheit einräumen.
226b. Diese Wertung zugrundegelegt, verletzten die streitgegenständlichen Maßnahmen auch nicht das Eigentumsgrundrecht der Betreiber der von den Untersagungen betroffenen Einrichtungen aus Art. 14 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG). Selbst wenn man annähme, das Recht des eingerichteten und ausgeübten Gewerbetriebs falle in den Gewährleistungsgehalt der Eigentumsgarantie und in dieses werde durch die streitgegenständlichen Maßnahmen eingegriffen,
227vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 29. Mai 2024 ‑ 13 D 238/20.NE -, juris, Rn. 213 ff., m. w. N.,
228handelte es sich um rechtmäßige Inhalts- und Schrankenbestimmungen i. S. v. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, die auch ohne kompensatorische Ausgleichregelung rechtmäßig, insbesondere verhältnismäßig waren.
229Vgl. in diesem Zusammenhang dazu, dass vorübergehende Betriebsschließungen in der Coronapandemie kein gleichheitswidriges Sonderopfer begründeten: OVG NRW, Urteil vom 29. Mai 2024 - 13 D 238/20.NE -, juris, Rn. 213 ff.
230c. Der durch das Veranstaltungsverbot in § 3 Nr. 1 CoronaRegioVO hervorgerufene Eingriff in die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) werkschöpfender Künstler sowie derjenigen Personen, denen die Verfügungsgewalt über die betroffenen Einrichtungen zusteht und die dort Kunstwerke der Öffentlichkeit zugänglich machen wollen, etwa als (private) Betreiber von Theatern, Opern- und Konzerthäusern, Kinos oder anderen Kultureinrichtungen ist ebenfalls verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die Kunstfreiheit kann, wie andere vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, aufgrund von kollidierendem Verfassungsrecht beschränkt werden. Der Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen ist ein wichtiger Wert von Verfassungsrang, der eine Beschränkung der Kunstfreiheit rechtfertigt. Das Öffnungsverbot verfolgte legitime Zwecke und war hierzu aus den ausgeführten Erwägungen geeignet, erforderlich und angemessen.
231d. Die streitgegenständlichen Regelungen verletzten auch nicht das Grundrecht potentieller Besucher der geschlossenen Einrichtungen und untersagten Veranstaltungen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG in dessen Ausprägung als allgemeine Handlungsfreiheit. Sie griffen zwar in das Grundrecht ein, da entsprechende Veranstaltungen und Einrichtungen nicht besucht werden konnten. Dieser Eingriff war jedoch gerechtfertigt. Bei einer Abwägung mit dem durch die Maßnahmen verfolgten Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter musste das Interesse an der Teilnahme kultureller Veranstaltungen und Nutzung der weiteren Freizeitangebote aus den oben aufgezeigten Erwägungen vorübergehend zurücktreten.
232e. Die streitgegenständlichen Untersagungen verletzten aus den zu 1. b) gemachten Erwägungen auch nicht deswegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, weil sie im Kreis H. und (mit Ausnahme des Kreises K.) nicht im Rest des Landes Nordrhein-Westfalen galten.
233Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
234Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
235Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.