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Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Die am 00.00.1992 geborene Klägerin ist ägyptische Staatsangehörige arabischer Volkszugehörigkeit und nach eigenen Angaben orthodoxe Christin. Sie reiste mit einem von der Deutschen Botschaft in Kairo ausgestellten Touristen-Visum, das vom 22. Dezember 2019 bis zum 4. April 2020 gültig war, am 15. Januar 2020 per Direktflug von Hurghada über den Flughafen Köln-Bonn in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Klägerin hatte sich bereits vom 9. August bis 6. September 2018 mit gültigem Touristenvisum in Deutschland aufgehalten.
3Bei ihrer Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 10. Juli 2020 gab die Klägerin an, sie habe in Ägypten zuletzt in Hurghada zusammen mit ihren Eltern und einer Schwester gelebt. Sie habe einen Universitätsabschluss in Betriebswirtschaftslehre und bis zuletzt in einem Reisebüro gearbeitet. Sie habe Ägypten verlassen, weil ein Mann muslimischer Religionszugehörigkeit mit ihr habe zusammenleben wollen. Sie habe dies nicht gewollt. Der Mann habe sie verfolgt, belästigt, bedroht und sie entführen wollen. Die Frau des Mannes habe sie geschlagen. Sie habe sich nicht sicher gefühlt. Ein Wohnungswechsel mit der Familie innerhalb Hurghadas und Anzeigen bei der Polizei hätten keine Wirkung gezeigt.
4Durch Bescheid vom 1. September 2020 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.), auf Asylanerkennung (Ziffer 2.) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3.) ab. Ferner stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 4.). Weiter forderte es die Klägerin mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen zur Ausreise auf und drohte ihr bei Nichtbefolgung der Ausreiseaufforderung die Abschiebung mit dem vorrangigen Zielstaat Ägypten an (Ziffer 5.). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6.). Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Asylanerkennung schieden aus, weil die angegebene Verfolgung, sexuelle Belästigung und Bedrohung durch einen Mann keine Verfolgungshandlung in Verbindung mit einem der Verfolgungsgründe des § 3b AsylG sei. Eine Beschneidung drohe der Klägerin schon nach eigenen Angaben bei einer Rückkehr nach Ägypten nicht. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Zwar sei die befürchtete unmenschliche Behandlung seitens eines Nachbarn ein drohender ernsthafter Schaden. Es könne dahingestellt bleiben, ob der ägyptische Staat schutzbereit sei, weil die Klägerin jedenfalls auf die Inanspruchnahme internen Schutzes in Marsa Alam verwiesen werden könne. Dort lebe ein Bruder, der sie nötigenfalls auch aufnehmen und unterstützen könne, so dass sie dort in der Lage sein werde, ihr Existenzminimum zu sichern. Aus diesem Grund lägen auch keine Abschiebungsverbote vor.
5Die Klägerin hat am 10. September 2020 beim Verwaltungsgericht Aachen Klage erhoben. Zur Begründung hat sie ergänzend vorgetragen, sie habe in Deutschland einige Zeit in einer außerehelichen Beziehung gelebt. Dies führe im Falle ihrer Rückkehr zu einer Verfolgung durch ihre Familie. Auch ein Aufenthalt in einem anderen Landesteil sei ihr nicht möglich, weil sie zum Abschluss eines Mietvertrages die Unterschrift eines Ehemannes oder ihres Vaters benötige.
6Die Klägerin hat beantragt,
7die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 1. September 2020 zu verpflichten, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen,
8hilfsweise, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
9weiter hilfsweise, ihr den subsidiären Schutz zuzuerkennen,
10weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen.
11Die Beklagte hat schriftsätzlich unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 17. August 2022 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 1. September 2020 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die auf die Anerkennung als Asylberechtigte gerichtete Klage sei verfristet. Die Klägerin habe aber einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Sie werde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Ägypten wegen ihres Geschlechts verfolgt werden. Sie sei insoweit vorverfolgt ausgereist. Es stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass ein muslimischer Mann in Hurghada mit ihr eine Beziehung habe eingehen wollen. Sie sei von ihm verfolgt und belästigt worden und insofern unmittelbar von Entführung, Zwangsheirat, Zwangskonversion zum Islam und sexueller Gewalt in der erzwungenen Ehe bedroht. Die von ihr geschilderten Handlungen knüpften an das Geschlecht an. Sie sei als Zugehörige zur sozialen Gruppe der Frauen verfolgt worden. Es lägen keine stichhaltigen Gründe vor, die gegen eine erneute Verfolgung der damit als vorverfolgt ausgereist anzusehenden Klägerin sprächen. Sie habe keine interne Fluchtalternative, weil bei geschlechtsspezifischen Verfolgungsgründen eine interne Ausweichmöglichkeit innerhalb Ägyptens keine realistische Option sei. Die Gefahr erneuter Verfolgung drohe ihr auch im Familienverband.
14Zur Begründung ihrer vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Berufung trägt die Beklagte vor, die eine ägyptische Frau in Anknüpfung an ihr Geschlecht treffende Verfolgung sei keine solche wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Frauen in Ägypten würden von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als andersartig betrachtet. Es sei nicht ersichtlich und werde vom Verwaltungsgericht auch nicht begründet, aus welchen Gründen bei etwa der Hälfte der Bevölkerung eine deutlich abgegrenzte Identität, die als solche von der sie umgebenden Gesellschaft wahrgenommen werde und wegen der Andersartigkeit zu einer Schutzlosigkeit bzw. Verfolgungsmaßnahmen führe, anzunehmen sein solle. Frauen würden trotz unbestreitbarer Ungleichbehandlung und Diskriminierung gegenüber Männern in Ägypten nicht als „gesellschaftlicher Fremdkörper“ eingestuft. Vielmehr setze sich die Zivilgesellschaft in Ägypten für Frauenrechte ein und es sei in den letzten Jahren eine gesellschaftliche Diskussion um Frauen in der ägyptischen Öffentlichkeit entfacht worden. Trotz eines gesellschaftlich vorherrschenden konservativen Rollenbildes seien Frauen auch im öffentlichen Leben präsent. Zudem ließen sich dem individuellen Vorbringen der Klägerin keine konkreten Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass eine Verfolgung vorliege.
15Die Beklagte beantragt,
16das Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen vom 17. August 2022 zu ändern und die Klage abzuweisen.
17Die Klägerin beantragt,
18die Berufung zurückzuweisen,
19hilfsweise, zum Beweis der Tatsache
20- dass insbesondere christliche Frauen in Ägypten sexuellen Übergriffen und Entführungen ausgesetzt sind und der Staat diesen Übergriffen nicht nachgeht, eine Auskunft des Auswärtigen Amtes einzuholen,
21- dass Christinnen aus Ägypten in Ägypten dort nach außen eindeutig identifizierbar sind und dadurch erhöhter Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt sind, eine Auskunft des Auswärtigen Amtes einzuholen,
22hilfsweise, die Klägerin als Partei zu ihrem Verfolgungsschicksal zu vernehmen, soweit der Senat den Ausführungen der Klägerin in der ersten Instanz und bei der Beklagten nicht zu folgen vermag.
23Zur Begründung verweist sie auf die Entscheidungen des EuGH vom 16. Januar 2024 - C-621/21 - sowie vom 4. Oktober 2024 - C-608/22, C-609/22 -. Die von ihr geschilderte Verfolgung sei eine geschlechtsspezifische, wobei die maßgebliche soziale Gruppe die der christlichen Frauen sei. Es werde verwiesen auf einen Bericht auf der Internetseite www.idea.de unter dem Titel „Ägypten: Entführte 19-jährige Christin ist wieder frei“ vom 30. April 2024; es gebe 100 Berichte dieser Art von entführten Christinnen.
24Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug genommen.
25Entscheidungsgründe:
26Die Berufung der Beklagten, über die im Einverständnis der Beteiligten die Vorsitzende als Berichterstatterin entscheidet (§ 125 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 87a Abs. 2, 3 VwGO), hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
27Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes vom 1. September 2020 ist rechtmäßig (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat in dem für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG (I.). Die hilfsweise begehrte Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG scheidet aus (II.). Ebenso wenig besteht ein Anspruch auf die weiter hilfsweise begehrte Feststellung des Vorliegens eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder nach § 60 Abs. 7 AufenthG (III.). Auch die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes (IV.) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot sind nicht zu beanstanden (V.).
28I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
29Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GK), wenn er sich (1.) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (2.) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a)) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
30Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Diese Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein flüchtlingsrechtlich geschütztes Rechtsgut voraus.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 ‑ 10 C 52.07 ‑, juris Rn. 22.
32Die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe werden in § 3b AsylG konkretisiert. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten und in § 3b AsylG konkretisierten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG beschriebenen Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne „wegen“ eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Diese Zielgerichtetheit muss nicht nur hinsichtlich der durch die Verfolgungshandlung bewirkten Rechtsgutverletzung, sondern auch in Bezug auf die Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG, an die die Handlung anknüpft, anzunehmen sein.
33Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 37.18 ‑, juris Rn. 12, m. w. N.
34Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, i. S. d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
35Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer ‑ bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr ‑ die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Im Fall der Vorverfolgung greift aber die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde beziehungsweise von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.
36Vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 15 f., vom 19. April 2018 ‑ 1 C 29.17 ‑, juris Rn. 14 f., vom 1. Juni 2011 ‑ 10 C 25.10 -, juris Rn. 22, und vom 27. April 2010 ‑ 10 C 5.09 ‑, juris Rn. 20 ff.
37Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
38Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 15.
39Nach diesen Maßstäben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist nicht anzunehmen, dass ihr bei einer Rückkehr nach Ägypten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im dargestellten Sinne droht.
401. Die Klägerin hat nach Überzeugung des Gerichts nicht vor ihrer Ausreise Verfolgung erlitten und deshalb Ägypten verlassen.
41a. Das geschilderte individuelle Verfolgungsschicksal ist nicht glaubhaft.
42Die Klägerin hat sich darauf berufen, ein Mann muslimischer Religionszugehörigkeit habe sie verfolgt, belästigt, bedroht und sie entführen wollen, weil er mit ihr ‑ gegen ihren Willen - habe zusammenleben wollen. Das diesbezügliche Vorbringen bei der Anhörung durch das Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts ist unglaubhaft, weil es in erheblichem Maße ungereimt, unauflösbar widersprüchlich sowie massiv gesteigert ist. Dies gilt auch für die in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung erstmals von der Klägerin geltend gemachten Umstände, sie habe in ihrer Familie wie in einem Käfig gelebt und ihr Vater habe ihre Beschneidung gewollt.
43Unauflösbar widersprüchlich und ungereimt ist zunächst die Schilderung des angeblichen ersten Entführungsversuchs. Beim Bundesamt hatte die Klägerin erklärt, sie sei beim Arzt gewesen, habe auf der Straße ein Auto gesehen, das sie beobachtet habe, auf ihren Anruf hin sei ihre Schwester gekommen, sie seien dann zu einem Polizisten in der Nähe gegangen, was das Auto gesehen habe und deshalb weggefahren sei. Demgegenüber hat sie den Vorfall in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung gänzlich anders geschildert. Ihre Schwester spielt darin ebensowenig eine Rolle wie ein Polizist. Nunmehr hieß es, sie sei während eines Arztbesuchs aus einem Auto heraus beobachtet worden, weshalb sie sich nach Rücksprache mit der Ärztin länger in der Praxis aufgehalten habe, auf dem Rückweg sei ihr jemand zu nah gekommen, sie habe dann ein Taxi angehalten und sei damit nach Hause gefahren. Abgesehen davon, dass man aus der bloßen Beobachtung aus einem Auto heraus noch nicht auf eine beabsichtigte Entführung schließen kann, sind die Schilderungen, wie es der Klägerin gelungen sein will, diese zu verhindern, in keiner Weise in Einklang zu bringen. Dies wäre aber zu erwarten gewesen, weil diese Umstände die zentrale Frage betreffen, wie die Klägerin sich aus einer geschilderten bedrohlichen Situation befreit haben will.
44Auch den angeblichen zweiten Entführungsversuch schildert die Klägerin in erheblichem Maße ungereimt. Schon das Vorbringen beim Bundesamt ist inkonsistent. Zunächst hat die Klägerin angegeben, an dem Tag, als sie das Formular für ihr Visum ausgefüllt habe, sei sie mit ihrer Schwester unterwegs gewesen, als der Mann sie bedroht, an ihrer Kette gezogen und Spray in ihr Gesicht gesprüht habe. Er habe sie dann zu einem Auto gezogen. Als die Schwester geschrien habe, seien Leute zu ihnen gekommen. Im weiteren Verlauf der Anhörung hat die Klägerin ausgeführt, sie sei an dem Tag, als sie das Formular für das Visum ausgefüllt habe, beim Arzt gewesen und habe gemerkt, dass hinter ihr ein langsam fahrendes Auto gewesen sei, das sie beobachtet habe. Schließlich hat sie angegeben, der Vorfall habe sich vor dem Supermarkt ereignet, wo ihre Schwester etwas eingekauft habe. Wegen des Sprays sei sie so gut wie ohnmächtig gewesen und sei erst zu Hause wieder aufgewacht. Das Vorbringen in der mündlichen Verhandlung weist hierzu weitere Widersprüche auf und ist zudem erheblich gesteigert. Die Klägerin hat nunmehr angegeben, ein Auto sei am Auto ihrer Schwester vorbeigefahren, ein Mann habe die Tür des Autos geöffnet und sie, die Klägerin, mit einem Spray besprüht. Ferner habe er gesagt: „Die gehört zu uns. Das geht euch nichts an.“ Ihr Vater habe den Vorfall auch mitbekommen. Außerdem sei sie kollabiert und ins Krankenhaus gekommen. In zeitlicher Hinsicht ist das Vorbringen ebenfalls erheblich widersprüchlich. Der bei der Anhörung beim Bundesamt mehrfach erwähnte Tag, an dem sie das Formular für das Visum ausgefüllt habe, ist ausweislich der Anhörung der 13. November 2019 gewesen. Dazu zeitlich passend will die Klägerin im Dezember 2019 Strafanzeige erstattet haben. Demgegenüber hat sie in der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht angegeben, das letzte Problem, das sie in Ägypten mit diesem Mann gehabt habe, sei im Juni 2019 gewesen, das sei der erwähnte zweite Entführungsversuch gewesen.
45Weitere unauflösbare Widersprüche im Vorbringen der Klägerin betreffen den geschilderten Umgang ihrer Familie mit ihr sowie ihre Ausreise aus Ägypten. In der erstinstanzlichen Verhandlung hat die Klägerin geschildert, als „das Problem“ angefangen habe, sei das Vertrauen zwischen ihr und der Familie verloren gegangen. Die Familie habe sich in alles eingemischt, ihr Bruder habe sie erziehen wollen und sie deshalb einmal geschlagen, alle ihre Sachen zerstört und alle Sachen verbrannt. Sie habe wie in einem Käfig gelebt, ihre Meinung nicht äußern und keinen Kontakt mit anderen haben dürfen. Sie habe auf Drängen ihres Bruders ihre Arbeit niedergelegt und sei zu Hause geblieben. Damit ihr Charakter nicht mehr so wild sei, habe ihr Vater ihre Beschneidung gewollt. Ihre ältere Schwester sei auch beschnitten. Freunde hätten ihr bei der Ausreise geholfen. All dies ist mit den Erklärungen der Klägerin in der Bundesamtsanhörung nicht ansatzweise in Einklang zu bringen, sondern in zahlreichen zentralen Punkten, etwa was die Frage der Beschneidung oder ihre Lebensverhältnisse vor der Ausreise betrifft, unauflösbar widersprüchlich und massiv gesteigert. Die dortigen Angaben der Klägerin lassen in keiner Weise auf ein schlechtes Verhältnis zu ihrer Familie schließen. Die Klägerin hat in der Bundesamtsanhörung etwa ausgeführt, die Eltern hätten nicht mehr gewusst, was sie wegen der Verfolgung durch den Mann noch hätten machen sollen. Auch habe sie im Zusammenhang mit einem Vorfall mit ihrem Vater über eine Anzeige gesprochen, die sie dann am nächsten Tag erstattet habe. Ihre Mutter habe das Gespräch mit der Mutter des Mannes gesucht. Sie habe Sport im Fitnessstudio getrieben, womit sie habe aufhören müssen, weil der Mann ihr dort Probleme gemacht habe. Bis zu ihrer Ausreise bzw. bis zum 20. Dezember 2019 habe sie gearbeitet. Sie sei nicht beschnitten, weil das bei ihnen als Christen nicht üblich sei. Ihre Familie sei auch dagegen und weder ihre Mutter noch ihre Schwester sei beschnitten. Ihr habe auch weder damals eine Beschneidung gedroht noch sei dies heute der Fall. Um ihre Ausreise habe sie sich alleine gekümmert, dabei habe ihr niemand geholfen. Letzteres ist im Übrigen auch damit nicht in Einklang zu bringen, dass die Klägerin dem Bundesamt eine Reisebestätigung eines deutschen Reisebüros vorgelegt hat, die an einen Herrn K. F. in H. adressiert ist. Ihre schriftliche Erklärung im Berufungsverfahren, sie kenne die Person nicht und habe ihr Flugticket bei einem Reisebüro in Hurghada gebucht, ist nicht ansatzweise nachvollziehbar.
46b. Die vorstehend beschriebenen zahlreichen unauflösbaren Widersprüche und erheblichen Ungereimtheiten zugrunde gelegt, bedurfte es keiner weiteren Aufklärung durch erneute Anhörung der Klägerin in zweiter Instanz.
47aa. Der Umstand, dass in der persönlichen Ladung der Klägerin ‑ anders als von ihrem Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung dargestellt - gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 VwGO ihr persönliches Erscheinen angeordnet worden ist, sie aber zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, weil ihr Prozessbevollmächtigter das nicht für erforderlich hielt, hindert das Gericht nicht an einer Entscheidung in der Sache. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens erfolgt nicht im Interesse der betroffenen Beteiligten, sondern im Interesse des Gerichts an der Sachaufklärung. Wird die mündliche Verhandlung ungeachtet des Nichterscheinens durchgeführt, liegt darin die Aufhebung der Anordnung des persönlichen Erscheinens.
48Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Februar 2018 ‑ 2 B 63.17 -, juris Rn. 10 ff.; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 95 Rn. 10; Bamberger, in: Wysk, VwGO, 4. Auflage 2025, § 95 Rn. 15; Garloff, in: BeckOK VwGO, Stand 1. Juli 2023, § 95 Rn. 11.
49Hiervon ausgehend kann ohne Anberaumung eines neuen Termins zur mündlichen Verhandlung und Anhörung der Klägerin entschieden werden. Aus den vorstehend ausgeführten Gründen lässt sich die zur Entscheidung des Falles notwendige Überzeugung auf andere Weise gewinnen. Die Klägerin ist sowohl beim Bundesamt als auch erstinstanzlich umfangreich angehört worden. Mit Blick auf die dabei zutage getretenen erheblichen, nicht auflösbaren Widersprüche bedurfte es keiner weiteren Aufklärung. Zudem war die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vertreten, der Gelegenheit hatte, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern. Dass er hierzu wegen des Ausbleibens der Klägerin nicht in der Lage gewesen wäre, hat er nicht, etwa durch einen Vertagungsantrag, geltend gemacht.
50bb. Eine andere Betrachtung ist auch nicht deshalb geboten, weil das Verwaltungsgericht, anders als der Senat, das Vorbringen der Klägerin zu ihrer Belästigung und Bedrohung durch einen muslimischen Nachbarn nach deren Anhörung für glaubhaft gehalten hat.
51Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung selbstständig würdigen. Dies gilt auch im Asylverfahren, in dem sich der Kläger typischerweise in Beweisnot befindet, was sein individuelles Verfolgungsschicksal angeht. Auch hier ist es nicht ausgeschlossen, dass dem schriftlich festgehaltenen Vorbringen des Asylbewerbers bereits wegen gravierender Widersprüche, erheblicher Ungereimtheiten oder dem völligen Fehlen der erforderlichen Substantiierung jede Glaubhaftigkeit abzusprechen ist. In einem solchen Fall darf sich das Tatsachengericht auch ohne eigene persönliche Anhörung des Klägers die Überzeugung bilden, dass das behauptete Verfolgungsgeschehen nicht der Wahrheit entspricht. Von der erneuten Anhörung des Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für diese Beurteilung auf den persönlichen Eindruck ankommt.
52Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 5. Juni 2013 - 5 B 11.13 u.a. -, juris Rn. 12, vom 10. Mai 2002 - 1 B 392.01 -, juris Rn. 3 ff., vom 28. April 2000 - 9 B 137.00 -, juris Rn. 2, und vom 14. Juni 1999 ‑ 7 B 47.99 -, juris Rn. 5.
53Hiervon ausgehend bedurfte es keiner erneuten Anhörung im Berufungsverfahren. Die Klägerin ist bereits erstinstanzlich angehört worden. Aus den oben ausgeführten Gründen ist ihr Vorbringen wegen nicht auflösbarer Widersprüche zum Vorbringen beim Bundesamt sowie aufgrund zahlreicher Unstimmigkeiten und massiver Steigerungen unglaubhaft. Auf die Beurteilung der durch einen persönlichen Eindruck zu ermittelnden Glaubwürdigkeit der Klägerin kommt es nicht mehr an. Auf diese hat auch das Verwaltungsgericht nicht abgestellt, sondern darauf verwiesen, „jedenfalls“ der Sachverhalt zur Verfolgung und Belästigung durch einen muslimischen Mann stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, denn die Aussage habe schon beim Bundesamt zahlreiche Realkennzeichen enthalten, ihr Vorbringen sei im Kerngeschehen logisch konsistent, sie habe ihren Vortrag im Einklang mit dem übrigen Vorbringen widerspruchsfrei ergänzt und dieser sei inhaltlich konstant gewesen mit der Aussage gegenüber dem Bundesamt. Diese Einschätzung teilt der Senat aus den oben ausgeführten Gründen nach Würdigung der protokollierten Aussagen nicht.
54cc. Der auf eine Parteivernehmung der Klägerin gerichtete Hilfsbeweisantrag wird abgelehnt, weil der Sachvortrag der Klägerin in nicht auflösbarer Weise widersprüchlich ist.
55Die Vernehmung eines Beteiligten nach § 96 VwGO ist auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nur subsidiär zulässig. Die Parteivernehmung dient als letztes Hilfsmittel zur Aufklärung des Sachverhalts, wenn trotz Ausschöpfung aller anderen Beweismittel noch Zweifel bestehen. Sie kann unterbleiben, wenn nichts an Wahrscheinlichkeit für die Behauptung der Partei erbracht ist.
56Vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juni 2013 - 5 B 11.13 u. a. -, juris Rn. 11.
57Die Pflicht der Gerichte zur Sachaufklärung findet ihre Grenze dort, wo das Vorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zur weiteren Sachaufklärung bietet. Tatsachengerichte müssen deshalb Beweisanträgen nicht nachgehen, wenn der Tatsachenvortrag zum Verfolgungsschicksal in wesentlichen Punkten unplausibel oder in nicht auflösbarer Weise widersprüchlich ist.
58Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. November 2007 - 5 B 172.07 -, juris Rn. 3, m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 9. September 2021 - 6 A 860/21.A -, juris Rn. 20, und vom 16. Mai 2018 ‑ 13 A 1190/18.A -, juris Rn. 10.
59Ein solcher Fall ist aus den oben ausgeführten Gründen hier gegeben.
60c. Fehlt es schon an einer Verfolgungshandlung, kommt es auf die im Zulassungsbeschluss formulierte - vom Verwaltungsgericht bejahte - Grundsatzfrage, ob Frauen in Ägypten eine bestimmte soziale Gruppe - mit deutlich abgegrenzter Identität, weil von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet - darstellen und deshalb die eine ägyptische Frau in Anknüpfung an ihr Geschlecht treffende Verfolgung eine solche wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ist,
61vgl. dazu grundsätzlich EuGH, Urteile vom 11. Juni 2024 - C-646/21 -, juris Rn. 33 ff. (Irak), und vom 16. Januar 2024 - C-621/21 -, juris Rn. 49 ff. (Türkei),
62nicht mehr an. Entsprechendes gilt für die vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin in der Berufungsverhandlung gebildete, enger eingegrenzte Gruppe der christlichen Frauen.
632. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass in der Zwischenzeit Gründe eingetreten sind, die es rechtfertigten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von begründeter Furcht vor Verfolgung im Falle der Rückkehr der Klägerin nach Ägypten auszugehen.
64Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.
65Das Vorbringen der Klägerin, ihr drohe wegen einer in Deutschland geführten außerehelichen Beziehung Verfolgung durch ihre Familie, ist nicht glaubhaft.
66Auch insoweit sind die Schilderungen unauflösbar widersprüchlich und in erheblichem Maße gesteigert. Bei ihrer Anhörung beim Bundesamt am 10. Juli 2020, also etwa ein halbes Jahr nach der Einreise, hat die Klägerin keinerlei Angaben gemacht, die auf ein schlechtes Verhältnis zur Familie schließen ließen. Sie hat angegeben, in Deutschland zu sein, weil ihr Bruder hier sei. Sie habe per Messenger Kontakt mit ihrer Familie in Ägypten. Bei der Anhörung durch das Verwaltungsgericht hat sie dann - erheblich gesteigert - angegeben, als ihr Vater erfahren habe, dass sie nach Deutschland gegangen sei, habe er sie umbringen bzw. dies im Falle einer Rückkehr tun wollen. Sie habe keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie. Dieser sei abgebrochen, als ihr Bruder herausgefunden habe, dass sie nach Deutschland gekommen sei. Im weiteren Verlauf der Anhörung durch das Verwaltungsgericht hat sie überdies damit unvereinbar angegeben, sie habe ihrer Mutter gesagt, dass sie einen Verlobten habe.
67Dass der Klägerin wegen einer in Deutschland geführten außerehelichen Beziehung Gefahren vonseiten ihrer Familie drohen, hat lediglich ihr Prozessbevollmächtigter geltend gemacht. Die Klägerin selbst hat in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung auf Nachfrage dazu vorgebracht, ihre Familie wisse nicht von der längeren außerehelichen Beziehung, sie habe ihrer Mutter lediglich gesagt, er sei ihr Verlobter und sie wollten heiraten. Inzwischen sei sie getrennt. Die bloße Mutmaßung, wenn ihr Vater das „erfahren hätte, dass ich mit diesem Freund intim gewesen bin“, dann würde er sie umbringen, reicht für die Annahme einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgung nicht aus.
68Auch insoweit bedurfte es aus den bereits oben zur geltend gemachten Vorverfolgung ausgeführten Gründen keiner erneuten Anhörung der Klägerin und ist die hilfsweise beantragte Parteivernehmung wegen unauflösbar widersprüchlichen Vorbringens abzulehnen.
693. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich schließlich nicht daraus, dass die Klägerin als Frau bzw. christliche Frau von einer Gruppenverfolgung bedroht ist.
70a. Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet.
71Vgl. im Einzelnen BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 13 m. w. N.; OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2021 - 9 A 1489/20.A -, juris Rn. 41 ff.
72Für die Annahme, Frauen allgemein seien in Ägypten wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe von Verfolgung, also von Verfolgungshandlungen mit dem nach § 3a Abs. 1 AsylG (Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95) erforderlichen Schweregrad und der notwendigen Verfolgungsdichte, in Anknüpfung an das Geschlecht bedroht,
73vgl. dazu EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2024 - C-608/22, C-609/22 -, juris Rn. 31 ff. (Afghanistan),
74fehlen nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen jegliche Anhaltspunkte. Von einer Gruppenverfolgung ist im Übrigen auch das Verwaltungsgericht nicht ausgegangen.
75Frauen in Ägypten sind nach der Verfassung gleichberechtigt und auch im öffentlichen Leben präsent. Ungeachtet bestehender Diskriminierungen und der Gefahr von sexuellen Belästigungen oder Übergriffen kann nicht ansatzweise von einer Situation ausgegangen werden, die - vergleichbar mit den vom EuGH angenommenen Verhältnissen in Afghanistan - dazu führte, dass Frauen allgemein, ohne dass es der Prüfung der individuellen Situation bedürfte, allein aufgrund ihres Geschlechts der Gefahr von Verfolgungshandlungen mit dem erforderlichen Schweregrad ausgesetzt wären.
76Vgl. zur Lage der Frauen in Ägypten Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ägypten, 26. Januar 2022, S. 12 f.; USDOS, Egypt 2022 Human Rights Report, S. 55 ff.
77Die Situation der Frauen in Ägypten hat sich in den letzten Jahren weiter verbessert, es gibt erhebliche staatliche sowie nichtstaatliche Bemühungen um die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung von Frauen. Zur weiteren Begründung wird auf die Schriftsätze der Beklagten vom 21. September 2022 sowie vom 17. März 2025 und die darin genannten Erkenntnisse Bezug genommen.
78Inwieweit eine Frau von Diskriminierung und anderen Maßnahmen betroffen ist, hängt zudem vor allem von ihrer unmittelbaren Umgebung ab, ferner von der wirtschaftlichen Lage, dem Wohnort (städtisch/ländlich), der sozialen Schicht und dem Bildungsgrad.
79Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ägypten, 26. Januar 2022, S. 12.
80Hurghada, die maßgebliche Herkunftsregion der Klägerin, ist eine Großstadt und ein Tourismuszentrum am Roten Meer.
81Dass sich die Lage für die vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin in der Berufungsverhandlung gebildete eingegrenzte Gruppe christlicher Frauen anders darstellt, ist nach den vorgenannten Erkenntnisquellen nicht ersichtlich. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts in Ägypten keine Gruppenverfolgung koptischer Christen besteht.
82Vgl. OVG NRW, Urteil vom 3. März 2020 - 21 A 9207/17.A -, juris Rn. 48 ff.
83Dass sich die Lage seit diesem Urteil erheblich verändert, insbesondere verschlechtert hätte, ist nicht erkennbar.
84Vgl. aus jüngerer Zeit: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Ägypten - Glaubensfreiheit und Lage religiöser Minderheiten, Stand 01/2023, S. 2 f. und 8 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ägypten, 26. Januar 2022, S. 9 f.; USCIRF, Egypt.,Key findings, Annual Report 2023, S. 54; USDOS, 2022 Report on International Religious Freedom: Egypt, 9. Juni 2023; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ägypten, 29. August 2022, S. 21 ff.
85Dies wird auch von der Klägerin nicht geltend gemacht.
86b. Die in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Anträge, zum Beweis der Tatsachen, „dass insbesondere christliche Frauen in Ägypten sexuellen Übergriffen und Entführungen ausgesetzt sind und der Staat diesen Übergriffen nicht nachgeht“, sowie „dass Christinnen aus Ägypten in Ägypten dort nach außen eindeutig identifizierbar sind und dadurch erhöhter Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt sind“, jeweils Auskünfte des Auswärtigen Amtes einzuholen, werden abgelehnt. Der Senat versteht die Hilfsbeweisanträge dahingehend, dass sie auf die Gewinnung von Erkenntnissen für eine Gruppenverfolgung gerichtet sind. Ist das geschilderte individuelle Verfolgungsschicksal - wie hier - nicht glaubhaft und damit eine Verfolgungshandlung zu verneinen, kommt es auf die unter Beweis gestellten Tatsachen insoweit jedenfalls von vornherein nicht entscheidungserheblich an. Diese können auch mit Blick auf eine Gruppenverfolgung als wahr unterstellt werden. Daraus ergibt sich nichts dafür, dass christliche Frauen allgemein - mit der erforderlichen Verfolgungsdichte - in Ägypten Verfolgungshandlungen mit dem erforderlichen Schweregrad zu erleiden drohen. Dies folgt im Übrigen auch weder aus dem vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin benannten Internetbericht zu zwei Einzelschicksalen noch aus dem pauschalen Hinweis, es gäbe hundert vergleichbare Berichte. Für die sich ohnehin erst bei der Bejahung einer Verfolgungshandlung stellende Frage, ob christliche Frauen eine soziale Gruppe ‑ mit deutlich abgegrenzter Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird - bilden, sind die unter Beweis gestellten Tatsachen unerheblich (§ 86 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO).
87II. Die Klägerin hat ferner keinen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG.
88Nach Satz 1 dieser Vorschrift ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, wobei nach Satz 2 als solcher die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3) gilt. Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens und an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft der subsidiäre Schutz tritt.
89Für das Bestehen eines drohenden ernsthaften Schadens in diesem Sinne ist vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen nichts ersichtlich.
90III. Die Klägerin hat ferner keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (dazu 1.) oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (dazu 2.) in Bezug auf Ägypten.
911. Für die Klägerin besteht nach den obigen Ausführungen keine Gefahr, bei einer Rückkehr nach Ägypten einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Das Vorbringen der Klägerin ist unglaubhaft. Es ist auch ansonsten kein Sachverhalt erkennbar, der ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründet.
922. Ein Verbot der Abschiebung der Klägerin folgt auch nicht aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
93Eine solche Gefahrenlage kann nicht wegen des von der Klägerin geltend gemachten Umstands angenommen werden, es sei ihr unmöglich, sich in einem anderen Landesteil niederzulassen und dort ihren Lebensunterhalt zu sichern. Nach den obigen Ausführungen ist das geschilderte Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft und ergibt sich damit kein Hinderungsgrund, wieder zu den Eltern bzw. in deren Wohnort zurückzukehren. Auch der Vortrag, aufgrund ihres Verhaltens in Deutschland wolle ihre Familie in Ägypten nichts mehr mit ihr zu tun haben und habe den Kontakt abgebrochen, ist, wie ausgeführt, unglaubhaft.
94IV. Die unter Ziffer 4 des angegriffenen Bescheides verfügte Abschiebungsandrohung mit Ausreiseaufforderung unter Fristsetzung von 30 Tagen ist rechtmäßig. Sie beruht auf § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG, dessen Voraussetzungen im Fall der Klägerin, die nicht über einen Aufenthaltstitel verfügt, auch mit Blick auf die Anforderungen der Nr. 4 vorliegen, und § 38 Abs. 1 AsylG. Schützenswerte familiäre Bindungen im Bundesgebiet sind weder vorgetragen worden noch ersichtlich.
95V. Das auf 30 Monate befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nicht zu beanstanden.
96Die Entscheidung, in Fällen fehlender Besonderheiten des Einzelfalls regelmäßig den Mittelwert der in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannten Frist von fünf Jahren anzusetzen, ist nicht zu beanstanden.
97Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 ‑ 1 C 47.20 ‑, juris Rn. 18.
98Besondere persönliche, insbesondere familiäre Belange, die eine kürzere Frist rechtfertigen könnten, hat die Klägerin nicht dargelegt; sie sind auch sonst nicht
99ersichtlich.
100Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
101Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen. Eine Zulassung der Revision nach § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG ist ebenfalls nicht veranlasst.