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Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 17. Mai 2023 ‑ 19 L 1079/23.A ‑ wird teilweise geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage VG Düsseldorf 19 K 3009/23.A (OVG NRW 9 A 1927/24.A) gegen die in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2023 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
2Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO hat Erfolg.
3Das Oberverwaltungsgericht ist für die Entscheidung über den Antrag zuständig. Nach Eingang des Antrags auf Zulassung der Berufung in dem zugehörigen Hauptsacheverfahren (VG Düsseldorf 19 K 3009/23.A, OVG NRW 9 A 1927/24.A) ist es das Gericht der Hauptsache (vgl. § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO).
4Keiner Entscheidung bedarf, ob vorliegend die Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gegeben sind. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 17. Mai 2023 ‑ 19 L 1079/23.A - ist jedenfalls von Amts wegen gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 5. April 2023 anzuordnen. Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die Entscheidung über einen Eilantrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit von Amts wegen nach pflichtgemäßer Ermessensausübung ohne weitere Voraussetzung - also insbesondere ohne veränderte Umstände im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO - ändern, wenn das Gericht zu einer anderen Beurteilung der Rechtslage gekommen ist oder die frühere Interessenabwägung nachträglich als korrekturbedürftig einstuft.
5Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 26. März 2018 ‑ 1 VR 1.18 ‑, juris Rn. 6, und vom 10. März 2011 ‑ 8 VR 2.11 ‑, juris Rn. 7 f.; OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2020 - 10 B 312/20 -, juris Rn. 4; Bay. VGH, Beschluss vom 27. September 2019 ‑ 13a AS 19.32891 ‑, juris Rn. 13.
6Das ist hier der Fall.
7Das Bundesamt hat den am 4. Oktober 2022 gestellten Asylantrag des Antragstellers als Zweitantrag nach § 71a Abs. 1 Satz 1 AsylG eingestuft und die mit der Ablehnung des Antrags als unzulässig verbundene Abschiebungsandrohung auf § 71a Abs. 4 Satz 1 i. V. m. § 34 Abs. 1 AsylG gestützt. Der Antragsteller habe bereits in Griechenland erfolglos einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt; das Verfahren sei dort abgeschlossen.
8Der Antragsteller hat mit seinem Zulassungsantrag im Hauptsacheverfahren als grundsätzlich bedeutsam die von dem Verwaltungsgericht verneinte Frage aufgeworfen,
9„ob Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU in Verbindung mit Art. 2 lit. q) dieser Richtlinie dahingehend auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein in diesem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen ist, wenn ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz von dem anderen Mitgliedstaat bestandskräftig als unbegründet abgelehnt wurde - zumindest dann, wenn die wesentlichen Gründe für die Ablehnung im anderen Mitgliedstaat im Rahmen des Zweitantragsverfahrens gar nicht bekannt sind“.
10Diese im vorliegenden Fall entscheidende Frage ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) bislang nicht entschieden.
11Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 26; EuGH, Urteil vom 22. September 2022 - C-497/21 -, juris Rn. 36 f., ausdrücklich nur zu dem Fall eines früheren, von den Behörden Dänemarks, das nicht „vollwertiges“ Mitglied des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und nicht an die RL 2011/95/EU und RL 2013/32/EU gebunden ist, abgelehnten Antrags, und zuvor Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 -, juris Rn. 30, ausdrücklich zu dem Fall, in dem ein früherer Antrag in einem Drittstaat, der Vertragspartei des Übereinkommens zwischen der Europäischen Union, Island und Norwegen ist, gestellt worden ist; siehe zum Streitstand allgemein etwa Müller/Münch, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, AsylG § 71a Rn. 5 ff.
12Die Europäische Kommission hat in einem früheren Verfahren vor dem EuGH die Auffassung vertreten, dass der weitere Antrag auf internationalen Schutz nur dann als „Folgeantrag“ eingestuft werden könne, wenn er in demjenigen Mitgliedstaat gestellt werde, dessen zuständige Stellen einen früheren Antrag desselben Antragstellers mit einer bestandskräftigen Entscheidung abgelehnt hätten.
13Vgl. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 -, juris Rn. 29.
14Das Verwaltungsgericht Minden hat mit Beschluss vom 28. Oktober 2022 - 1 K 1829/21.A -, juris, diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der Generalanwalt ist zwar in seinen Schlussanträgen in der dortigen Rechtssache - C-123/23 - zu dem Ergebnis gelangt, dass Art. 33 Abs. 2 lit. d) i. V. m. Art. 2 lit. q) RL 2013/32/EU dahin auszulegen sei, dass diese Vorschriften zugrunde gelegt werden könnten, wenn ein anderer Mitgliedstaat als der Mitgliedstaat, der die bestandskräftige Entscheidung über einen früheren Antrag der betreffenden Person auf internationalen Schutz erlassen habe, der für die Prüfung eines neuen Antrags dieser Person zuständige Mitgliedstaat werde. Der zuständige Mitgliedstaat könne den neuen Antrag auf der Grundlage dieser Bestimmungen mit der Begründung als unzulässig ablehnen, dass er einen „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 lit. q) der Richtlinie darstelle und das Asylverfahren über den früheren Antrag der betreffenden Person bereits durch eine bestandskräftige Entscheidung in diesem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen worden sei (Rn. 62 ff., 116, VI. 2.). Eine Entscheidung des EuGH in der Rechtssache - C-123/23 - steht allerdings noch aus.
15Vor diesem Hintergrund schließt sich der Senat der Auffassung anderer Senate des Oberverwaltungsgerichts an, dass sich die Frage nach einer mitgliedstaatübergreifenden Anwendbarkeit des § 71a AsylG auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des EuGH jedenfalls nicht ohne weiteres (als „acte clair“) im Sinne des Verwaltungsgerichts beantworten lassen dürfte.
16Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 10. Januar 2023 - 19 B 1030/22.A -, juris Rn. 5, vom 31. März 2022 - 1 B 375/22.A -, juris Rn. 9, vom 17. Januar 2022 - 13 B 829/21.A -, n. v., Seite 2 f. des Beschlusses, und vom 9. Dezember 2021 - 17 B 1728/21.A -, juris Rn. 6.
17Hiervon ausgehend bewertet der Senat im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers höher als das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Abschiebungsandrohung.
18Die Kostenentscheidung folgt aus den § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
19Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).