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1. Es bleibt offen, ob das bundesrechtliche Regelungssystem zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Verkehrssicherheit, die von einem Fahrerlaubnisinhaber als Führer eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr ausgehen, als abschließende Regelung die Anwendung der ordnungsbehördlichen Generalermächtigung des § 14 Abs. 1 OBG NRW ausschließt.
2. Eine (konkrete) Gefahr i. S. d. § 14 Abs. 1 OBG NRW liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall bei ungehindertem Geschehensablauf in überschaubarer Zukunft mit einem Schaden für die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann.
Von einem einmaligen Verkehrsverstoß (hier: betreffend unnötigen Lärm und vermeidbare Abgasbelästigungen) in der Vergangenheit kann nicht ohne weiteres auf eine künftige Schutzgutgefährdung geschlossen werden. Denn es gibt keinen Erfahrungssatz, dass ein von der Polizei ertappter „Verkehrssünder“ sich generell unbelehrbar zeigt und von den ihm angedrohten Bußgeldern, Fahrverboten und Punkten unbeeindruckt bleibt (wie Bay. VGH, Urteil vom 26.1.2009 - 10 BV 08.1422 -).
3. Zu den Anforderungen an die Bestimmtheit einer Ordnungsverfügung, durch die dem Adressaten Verhaltensweisen im Zusammenhang mit sog. „Posing“ untersagt werden sollen.
Das Verfahren wird eingestellt.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 1. September 2022 ist wirkungslos.
Die Beklagte trägt die Kosten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Berufungsverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
2Das Verfahren ist in entsprechender Anwendung der §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, nachdem der Kläger und die Beklagte den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben. Zur Klarstellung ist das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts für wirkungslos zu erklären (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz ZPO).
3Zuständig ist gemäß §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 87a Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3 VwGO der Berichterstatter, da die Entscheidung noch im vorbereitenden Verfahren zu treffen ist. Der Begriff des „vorbereitenden Verfahrens“ ist entsprechend dem Sinn und Zweck des § 87a VwGO, das Gericht als Spruchkörper von Nebenentscheidungen zu entlasten, weit zu verstehen. Allein durch die Anberaumung des Verhandlungstermins endet das vorbereitende Verfahren noch nicht.
4Vgl. Peters, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 87a Rn. 4; Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: Januar 2024, § 87a VwGO Rn. 9, jeweils m. w. N.
5Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Nach dieser Regelung hat das Gericht bei Erledigung der Hauptsache nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. In der Regel sind entsprechend dem Grundsatz des § 154 Abs. 1 VwGO dem Beteiligten die Verfahrenskosten aufzuerlegen, der ohne Eintritt des erledigenden Ereignisses voraussichtlich unterlegen wäre. Der in § 161 Abs. 2 VwGO zum Ausdruck kommende Grundsatz der Prozesswirtschaftlichkeit befreit das Gericht allerdings davon, allein für die Kostenentscheidung nach Hauptsachenerledigung noch schwierige oder grundsätzliche Rechtsfragen zu klären.
6Vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. November 2012 ‑ 3 C 24.12 ‑, juris Rn. 2.
7Vorliegend entspricht es der Billigkeit, die Kosten der Beklagten aufzuerlegen, weil sie voraussichtlich ohne den Eintritt des erledigenden Ereignisses unterlegen gewesen wäre.
8Die Klage richtete sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 2021. Dieser enthielt unter Ziffer 3 eine Befristung bis zum 30. Juni 2024 und hat sich folglich mit Ablauf seiner Geltungsdauer durch Zeitablauf erledigt (§ 43 Abs. 2 VwVfG NRW). Bis zum Eintritt dieses erledigenden Ereignisses hätte die Klage voraussichtlich Erfolg gehabt, da der Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 2021 aus den bereits in dem rechtlichen Hinweis des Senats vom 29. April 2024 genannten Gründen rechtswidrig gewesen sein dürfte.
9Dabei bedarf es keiner Klärung, ob - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - das bundesrechtliche Regelungssystem zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Verkehrssicherheit, die von einem Fahrerlaubnisinhaber als Führer eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr ausgehen, als abschließende Regelung die Anwendung der ordnungsbehördlichen Generalermächtigung des § 14 Abs. 1 OBG NRW ausschließt. Bei der Frage der vom Verwaltungsgericht verneinten Anwendbarkeit des landesrechtlichen Gefahrenabwehrrechts handelt es sich ohnehin um eine grundsätzliche Rechtsfrage, die im Rahmen der Kostenentscheidung nach Erledigung der Hauptsache nicht zu klären ist.
10Ziffer 1 der Ordnungsverfügung vom 8. Juni 2021 dürfte aber jedenfalls deshalb rechtswidrig gewesen sein, weil - auch bei unterstellter Anwendbarkeit des landesrechtlichen Gefahrenabwehrrechts - die Tatbestandsvoraussetzungen des § 14 Abs. 1 OBG NRW nicht vorlagen.
11Nach dieser Vorschrift können die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Eine solche (konkrete) Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall bei ungehindertem Geschehensablauf in überschaubarer Zukunft mit einem Schaden für die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann. In tatsächlicher Hinsicht bedarf es in Abgrenzung zu einem bloßen Gefahrenverdacht einer genügend abgesicherten Prognose des drohenden Eintritts von Schäden.
12Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Juni 2004 - 6 C 21.03 -, juris Rn. 25 (allgemein zum Gefahrbegriff); OVG NRW, Urteil vom 22. Juni 2021 - 5 A 1386/20 -, juris Rn. 90.
13Unter Berücksichtigung des bisherigen Sachstands war eine konkrete Gefahr für ein von § 14 Abs. 1 OBG NRW erfasstes Schutzgut nicht zu erkennen. Zwar spricht Vieles dafür, dass der Kläger mit seinem Fahrverhalten am 28. Mai 2021 gegen § 30 Abs. 1 StVO verstoßen hat, indem er bei der Benutzung seines Fahrzeugs unnötigen Lärm und wohl auch vermeidbare Abgasbelästigungen hervorgerufen hat. Die Beklagte hat aber keine konkreten Umstände benannt - und diese sind auch nicht ersichtlich -, die darauf hindeuten würden, dass der Kläger in überschaubarer Zukunft wieder gegen § 30 Abs. 1 StVO verstoßen würde. Den Bescheid vom 8. Juni 2021 hat die Beklagte nach eigenen Angaben auf Grundlage des einmalig festgestellten Verstoßes gegen § 30 Abs. 1 StVO erlassen. Nähere Informationen zu der nach den Angaben in dem „Allgemeinen Bericht“ der Polizei vom 29. Mai 2021 über „Poserverhalten“ gefertigten Ordnungswidrigkeitenanzeige und zu weiteren Verkehrsverstößen des Klägers - die möglicherweise eine (Wiederholungs‑)Gefahr begründen könnten - lagen der Beklagten hingegen nicht vor. Dem Bescheid lässt sich schon nicht entnehmen, ob ihr die Erforderlichkeit einer Gefahrenprognose überhaupt bewusst war. Die Formulierung, dass es dem Kläger bei der Benutzung der fraglichen Straßen in Düsseldorf nicht um eine Verkehrsteilnahme, sondern um sonstige verkehrsfremde Zwecke gehe, lässt nicht erkennen, ob sie sich auf den festgestellten Verstoß in der Vergangenheit bezieht oder es sich um eine zukunftsorientierte Einschätzung handelt.
14Für letztere fehlte es hier aber jedenfalls an einer geeigneten Tatsachengrundlage. Von einem einmaligen Verkehrsverstoß betreffend unnötigen Lärm und vermeidbare Abgasbelästigungen in der Vergangenheit kann nicht ohne weiteres auf eine künftige Schutzgutgefährdung geschlossen werden. Denn es gibt keinen Erfahrungssatz, dass ein von der Polizei ertappter „Verkehrssünder“ sich generell unbelehrbar zeigt und von den ihm angedrohten Bußgeldern, Fahrverboten und Punkten unbeeindruckt bleibt. Vielmehr dürfte im Regelfall davon auszugehen sein, dass die im Straßenverkehrsrecht vorgesehenen Sanktionen den normalen Verkehrsteilnehmer so nachhaltig beeindrucken, dass er von der umgehenden Begehung erneuter Verkehrsverstöße absieht.
15Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 26. Januar 2009 - 10 BV 08.1422 -, juris Rn. 25 f.
16Anhaltspunkte für die Annahme, dass aufgrund des konkreten Verhaltens des Klägers eine gegenteilige Einschätzung begründet gewesen sein könnte, ergeben sich weder aus dem genannten Polizeibericht noch aus dem sonstigen Inhalt der Akten.
17Ziffer 1 der Ordnungsverfügung vom 8. Juni 2021 dürfte im Übrigen auch deshalb rechtswidrig sein, weil die dem Kläger untersagten Verhaltensweisen - was das Verwaltungsgericht ausdrücklich offen gelassen hat - nicht hinreichend bestimmt im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW sind.
18Der Adressat einer Ordnungsverfügung muss zum einen in die Lage versetzt werden, zu erkennen, was von ihm gefordert wird. Zum anderen muss der Verwaltungsakt geeignete Grundlage für Maßnahmen zu seiner zwangsweisen Durchsetzung sein können.
19Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Oktober 2013 - 8 C 21.12 - juris Rn. 13.
20Dem wird die Anordnung, laut der dem Kläger „das Verursachen unnötigen Lärms“, „verursacht zum Beispiel durch“ „unsachgemäße Benutzung des Fahrzeugs“, „Nichtbeachtung technischer Ausführungsvorschriften“, „Hochjagen des Motors im Leerlauf und beim Fahren in niedrigen Gängen (insbesondere Gasstoß)“ und „unnötig schnelles Beschleunigen des Fahrzeugs, namentlich beim Anfahren“, untersagt wird, nicht gerecht. So lässt sich ihr schon nicht entnehmen, ob ein Verstoß gegen das Verbot auch im Falle einer fahrlässigen Begehung oder nur im Zusammenhang mit zielgerichtetem „Posing“-Verhalten vorliegt. Die Angaben der Beklagten zur Reichweite des Verbots sind zudem widersprüchlich. Im Rahmen der Begründung der Ordnungsverfügung hat sie darauf abgestellt, dass nicht nur die bereits konkret bei dem Kläger beobachteten Verhaltensweisen, sondern „weitere ››szenetypische‹‹ verbotene Verhaltensweisen“ reglementiert werden sollten, die „nach polizeilicher Erfahrung im Kontext des sog. Auto-Posings typischerweise ebenfalls zu befürchten sind“. Wenn die Beklagte - nach Hinweis des Senats auf die mangelnde Bestimmtheit - erklärt, dass der Kläger aufgrund seines konkreten Verhaltens, so wie es von der Polizei beobachtet worden sei, hinreichend erkennen könne, welche konkreten Verhaltensweisen er zukünftig unterlassen solle, lässt sich dies nicht mit der beabsichtigten Erfassung auch sonstigen „szenetypischen“ Verhaltens in Einklang bringen.
21Mangels Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des § 14 Abs. 1 OBG NRW bedarf es keiner weiteren Ausführungen dazu, ob die Verfügung zu Ziffer 1. auch rechtswidrig war, weil das Verbot ermessensfehlerhaft begründet worden ist (vgl. § 40 VwVfG NRW).
22Die Anordnungen zu den Ziffern 3. und 4. des Bescheids vom 8. Juni 2021 dürften demnach ebenfalls rechtswidrig gewesen sein. Sie teilen das Schicksal der Ziffer 1.
23Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47, 52 Abs. 2 GKG. Die Zwangsgeldandrohung bleibt dabei nach Nr. 1.7.2 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 außer Betracht.
24Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO sowie §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).