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Der nationale Gesetzgeber hat ohne Verstoß gegen Unionsrecht von einer Regelung abgesehen, wonach die Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen stets sofort vollziehbar ist. Den Behörden und Gerichten ist es nicht gestattet, ohne Weiteres diese gesetzgeberische Entscheidung unbeachtet zu lassen.
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der gegen die im Schlussbescheid der Antragsgegnerin vom 8.11.2022 in Gestalt ihres Widerspruchsbescheids vom 8.2.2023, soweit ein Betrag von 84.746,34 Euro zur Rückzahlung festgesetzt worden ist, erhobenen Klage 19 K 873/23 (VG Gelsenkirchen) durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 28.9.2023 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 21.186,59 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
2Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet.
3Das Verwaltungsgericht hat dem sinngemäßen Antrag des Antragstellers,
4die aufschiebende Wirkung der Klage 19 K 873/23 gegen den Schlussbescheid der Antragsgegnerin vom 8.11.2022 in Gestalt ihres Widerspruchsbescheids vom 8.2.2023 wiederherzustellen, soweit darin ein Betrag von 84.746,34 Euro zur Rückzahlung festgesetzt worden ist,
5stattgegeben. Es hat zur Begründung ausgeführt, die gebotene Interessenabwägung falle zugunsten des Antragstellers aus. Es fehle an einem besonderen, über das allgemeine Interesse an der Vollziehung eines rechtmäßigen Verwaltungsakts hinausgehenden Vollzugsinteresse, welches für die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO erforderlich sei. Ein solches ergebe sich nicht schon aus dem Umstand, dass die Gewährung des zurückgeforderten Teils der Zuwendung gegen Unionsrecht verstoße. Denn ein entsprechender Rückforderungsbeschluss der Europäischen Kommission liege nicht vor. Auch folge ein besonderes Vollzugsinteresse nicht aus dem Effizienzgebot („effet utile“) oder dem Gebot zur Vermeidung unzulässiger Wettbewerbsvorteile.
6Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt keine andere Entscheidung.
7I. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Antragsgegnerin vom 10.8.2023 ist schon formell rechtswidrig, weil sie dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht genügt.
81. Die Pflicht, das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen, soll vorrangig die Behörde mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG zwingen, sich des Ausnahmecharakters der Vollziehungsanordnung bewusst zu werden und die Frage des Sofortvollzugs besonders sorgfältig zu prüfen. Daneben hat die Begründungspflicht den Zweck, den Betroffenen über die für die Behörde maßgeblichen Gründe ihrer Entscheidung zu informieren und in einem möglichen Rechtsschutzverfahren dem Gericht die Erwägungen zur Kenntnis zu bringen. Hierzu bedarf es regelmäßig der Darlegung besonderer Gründe, die über die Gesichtspunkte hinausgehen, die den Verwaltungsakt selbst rechtfertigen. Zu fordern ist eine schlüssige, konkrete und substantiierte Darlegung der wesentlichen Erwägungen, warum aus Sicht der Behörde gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist und das Interesse des Betroffenen am Bestehen der aufschiebenden Wirkung ausnahmsweise zurückzutreten hat. Geringere Begründungsanforderungen gelten ausnahmsweise in Fällen besonderer Dringlichkeit, etwa bei Verfügungen, die sich durch Zeitablauf erledigen, oder dann, wenn – wie häufig im Gefahrenabwehrrecht – aus Sicht der Behörde nur die Anordnung der sofortigen Vollziehung erheblichen Gefahren oder der Begehung von Straftaten vorbeugen kann. In solchen Fällen reicht es aus, wenn diese besonderen Gründe, die sich aus der Begründung des zu vollziehenden Verwaltungsakts ergeben können, benannt werden und deutlich gemacht wird, dass sie ein solches Gewicht haben, das ein besonderes öffentliches Interesse gerade an der sofortigen Vollziehung zu belegen fähig ist. Ob die Begründung die Anordnung der sofortigen Vollziehung auch inhaltlich trägt, bedarf im Rahmen des formellen Begründungserfordernisses nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO keiner Entscheidung. Dem formellen Begründungserfordernis wird aber nur dann Rechnung getragen, wenn dargelegt wird, dass im konkreten Einzelfall die Realisierung eines Rückzahlungsanspruchs zumindest gefährdet wäre.
9Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4.12.2020 – 4 VR 4.20 –, juris, Rn. 10, vom 31.1.2002 – 1 DB 2.02 –, juris, Rn. 7, und vom 18.9.2001 – 1 DB 26.01 –, juris, Rn. 6 f.; OVG NRW, Beschluss vom 5.9.2023 – 4 B 362/23 –, juris, Rn. 2 f., m. w. N.
102. Diesem Maßstab wird die hier vorliegende Begründung nicht gerecht. Sie fußt nur auf abstrakten Erwägungen, die von der unzutreffenden rechtlichen Prämisse ausgehen, die Antragsgegnerin sei nach Unionsrecht zwingend gehalten, die Beihilfe unter Anordnung der sofortigen Vollziehung zurückzufordern, und stellt den deshalb auch hier erforderlichen konkreten Einzelfallbezug gerade nicht her.
11Die Antragsgegnerin hat in der Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung ausgeführt, bei der Entscheidung habe sie das Interesse des Antragstellers gegen das öffentliche Interesse abgewogen. Dabei habe sie berücksichtigt, dass der Antragsteller ein nachvollziehbares Interesse daran habe, die Zahlung des Rückforderungsbetrags erst nach Entscheidung über die von ihm erhobene Klage zu leisten. Diesem Interesse stehe jedoch das Interesse der öffentlichen Hand an der Sicherung der Forderung sowie Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber, zu Unrecht gezahlte Beihilfen sofort und tatsächlich zurückzufordern. Bei der Zuwendung handele es sich um eine Beihilfe im Sinne der Art. 107, 108 AEUV. Diese sei wegen der Überschreitung der von Art. 31 Nr. 4 der Verordnung (EU) Nr. 651/2014 (Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung [AGVO]) vorgesehenen maximalen Beihilfeintensität von 50 % der beihilfefähigen Kosten in Höhe des Rückforderungsbetrags zu Unrecht gewährt worden. Der Umgang mit zu Unrecht gewährten Beihilfen sei in der Bekanntmachung der Kommission über die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen (2019/C 247/01) geregelt. Wegen der Festlegung unter Nr. 2.5 dieser Bekanntmachung habe sie alle verfügbaren erforderlichen Schritte zu ergreifen, um eine sofortige Rückzahlung zu erreichen, und deshalb die sofortige Vollziehung des Rücknahmebescheids anzuordnen.
12Diesen Ausführungen fehlt der nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nötige Einzelfallbezug, weil sich ihnen keine Anhaltspunkte dafür entnehmen lassen, dass die Realisierung des in Rede stehenden Rückzahlungsanspruchs aus der insoweit maßgeblichen Sicht der Antragsgegnerin im konkreten Einzelfall zumindest gefährdet wäre. Die einzelfallbezogenen Begründungsanforderungen sind auch nicht deshalb abgesenkt, weil durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung erheblichen Gefahren oder der Begehung von Straftaten vorgebeugt werden soll. Ohne Bestehen solcher Gefahren hält sich die Antragsgegnerin vielmehr schon bei einer zu Unrecht gewährten Beihilfe generell unionsrechtlich für verpflichtet, die sofortige Vollziehung anzuordnen. Der Sache nach beruht die Anordnung daher letztlich nur auf diesen generellen, allein die Rückforderung selbst rechtfertigenden Gründen, ohne dass die Annahme der Antragsgegnerin zutrifft, sie sei nach Unionsrecht zwingend gehalten, die Beihilfe unter Anordnung der sofortigen Vollziehung zurückzufordern. Eine unionsrechtlich begründete Pflicht eines Mitgliedstaats zur Anordnung der sofortigen Vollziehung im Rahmen der Rückforderung europarechtswidriger Beihilfen kann sich nur aus verbindlichen Rechtsakten der Europäischen Union oder der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergeben. Das ist jedoch auch mit Blick auf die Wertungen der Rückforderungsbekanntmachung der Kommission sowie des verbindlichen Unionsrechts einschließlich des Effektivitätsgebots („effet utile“) und auf unberechtigte Wettbewerbsvorteile nicht der Fall.
13Eine Pflicht zur sofortigen Rückforderung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ergibt sich gerade nicht aus der Bekanntmachung der Europäischen Kommission 2019/C 247/01 vom 23.7.2019. Unter Nr. 2 ihrer Einführung ist als Ziel der Bekanntmachung angegeben, die Verfahren und Vorschriften der Europäischen Union für die Rückforderung staatlicher Beihilfen zu erläutern und darzulegen, wie die Kommission mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeitet, um zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten ihre Pflichten aus dem Recht der Europäischen Union erfüllen. Die Bekanntmachung, die keine verbindliche Rechtsnorm des Unionsrechts darstellt, richtet sich dabei an die Behörden der Mitgliedstaaten, die für die Umsetzung der Beschlüsse zuständig sind, mit denen die Kommission die Rückforderung staatlicher Beihilfen anordnet. Auch Art. 16 der Verordnung (EU) Nr. 2015/1589 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV stellt nur, wenn auch nach Art. 288 AEUV in jedem Mitgliedstaat unmittelbar verbindliche, Maßgaben für die Rückforderung von Beihilfen auf, wenn ein Rückforderungsbeschluss der Kommission vorliegt. Ein solcher ist im vorliegenden Fall gerade nicht gegeben. Diese Unterscheidung von Rückforderungen mit und ohne Kommissionsbeschluss ebnet die Antragsgegnerin in ihrer Argumentation ohne ausreichend belastbare Gründe ein und gibt dem Unionsrecht so einen Inhalt, den es nicht hat.
14Soweit das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 23.4.1998 – 3 C 15.97 – und der Gerichtshof der Europäischen Union in seinen Urteilen vom 20.3.1997 – C-24/95 – und vom 5.10.2006 – C-232/05 –, auf die sich die Antragsgegnerin berufen hat, ein Gebot der (auch sofortigen) Befolgung von Kommissionsentscheidungen angenommen hat, selbst wenn solche Vorschriften des nationalen Rechts dem entgegenstehen, deren Anwendung eine gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebene (unverzügliche) Rückforderung praktisch unmöglich macht, sind diese Annahmen maßgeblich auf die tatsächliche Wirksamkeit von verbindlichen und bestandskräftig gewordenen Kommissionsentscheidungen über die Rückforderung von Beihilfen gestützt, gegen die vor Gerichten der Europäischen Union unmittelbar hätte geklagt werden können. Dies rechtfertigt unionsrechtlich in bestimmten Fallkonstellationen auch die Annahme einer Pflicht zur „unverzüglichen“ Rückforderung, die in Art. 14 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 659/1999 (heute Art. 16 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 2015/1589) für Kommissionsentscheidungen unmittelbar in jedem Mitgliedstaat verbindlich vorgesehen ist.
15Vgl. BVerwG, Urteil vom 23.4.1998 – 3 C 15.97 –, BVerwGE 106, 328 = juris, Rn. 20 ff., 27 a. E., und EuGH, Urteil vom 20.3.1997 – C-24/95 –, ECLI:EU:C:1997:163, juris, Rn. 22 ff., 34 (jeweils zur Ausschlussfrist nach § 48 Abs. 4 VwVfG); EuGH, Urteil vom 5.10.2006 – C-232/05 –, ECLI:EU:C:2006:651, juris, Rn. 42 ff., 55 (zur sofortigen Vollziehung trotz aufschiebender Wirkung eines nationalen Rechtsbehelfs).
16Da die Rückforderung von Beihilfen auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich nach Maßgabe des einschlägigen nationalen Rechts stattfindet,
17vgl. EuGH, Urteil vom 20.3.1997 – C-24/95 –, ECLI:EU:C:1997:163, juris, Rn. 24,
18und bisher ausdrücklich nicht entschieden worden ist, ob der nationale Richter in bestimmten Fällen die Aussetzung der Vollstreckung von Zahlungsbescheiden bei Rechtsbehelfen anordnen kann, deren Rügen sich nicht auf eine Kommissionsentscheidung beziehen,
19vgl. EuGH, Urteil vom 5.10.2006 – C-232/05 –, ECLI:EU:C:2006:651, juris, Rn. 54,
20kann nicht davon ausgegangen werden, die auf sehr enge Fallgruppen beschränkte und als Ausnahme entwickelte unionsrechtliche Pflicht, Vorschriften des nationalen Rechts, die die Anwendung einer gemeinschaftsrechtlich verbindlichen bestandskräftigen Kommissionsentscheidung über eine (sofortigen) Rückforderung praktisch unmöglich machen würden, mit Blick auf den Effektivitätsgrundsatz und die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes vor europäischen Gerichten ausnahmsweise unbeachtet zu lassen, lasse sich auf noch nicht bestandskräftige Rückforderungen nationaler Behörden ohne Weiteres übertragen, die gewährte Beihilfen für unionsrechtswidrig halten. Die Möglichkeit vorrangigen Rechtsschutzes vor Gerichten der Europäischen Union, die es rechtfertigen kann, in ganz bestimmten Ausnahmefällen zur Durchsetzung verbindlicher Unionsrechtsakte über die sofortige und tatsächliche Vollstreckung bestandskräftiger Kommissionsentscheidungen entgegenstehende nationalstaatliche Schutzbestimmungen auf Grund des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet zu lassen,
21vgl. EuGH, Urteil vom 5.10.2006 – C-232/05 –, ECLI:EU:C:2006:651, juris, Rn. 49, 56 ff.,
22besteht bei Rückforderungen nationaler Behörden gerade nicht. Hier ist der Adressat der Rückforderungsentscheidung ausschließlich auf den nationalen Rechtsschutz mit den entsprechenden nationalen Rechtsschutzgarantien angewiesen. Eine durch verbindlichen Unionsrechtsakt angeordnete Pflicht zur Anordnung der sofortigen Vollziehung besteht hierfür ebenfalls nicht.
23Nichts anderes folgt daraus, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs einer nationalen Stelle, die feststellt, dass eine Beihilfe, die sie gewährt hat, nicht die Voraussetzungen nach Art. 108 Abs. 3 AEUV erfüllt, im Rahmen innerstaatlicher Ermächtigungsnormen obliegt, die rechtswidrig gewährte Beihilfe aus eigener Initiative zurückzufordern.
24Vgl. EuGH, Urteil vom 5.3.2019 – C-349/17 –, ECLI:EU:C:2019:172, juris, Rn. 83 ff., 92, 141; dem folgend OVG NRW, Urteil vom 6.3.2024 – 4 A 1581/23 –, juris, Rn. 64 ff., m. w. N.
25Aussagen zur aufschiebenden Wirkung nationalstaatlicher Rechtsbehelfe beziehungsweise zu einer möglicherweise unionsrechtlich begründeten Pflicht zur generellen Anordnung der sofortigen Vollziehung unabhängig von den Vorgaben der nationalen Rechtsordnung über einzelfallbezogene Begründungserfordernisse finden sich in diesem Zusammenhang allerdings gerade nicht. Nur bezogen auf – hier nicht in Rede stehende – anzeigepflichtige Beihilfemaßnahmen, die ohne die erforderliche Anzeige bei der Kommission durchgeführt worden sind, müssen die nationalen Gerichte zugunsten der Einzelnen nach ihrem nationalen Recht sämtliche Konsequenzen aus einer Verletzung des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV sowohl hinsichtlich der Gültigkeit der Durchführungsakte als auch hinsichtlich der Beitreibung der unter Verletzung dieser Bestimmung gewährten finanziellen Unterstützungen oder eventueller vorläufiger Maßnahmen ziehen, damit der Empfänger in der bis zur Entscheidung der Kommission noch verbleibenden Zeit nicht weiterhin frei über sie verfügen kann.
26Vgl. EuGH, Urteile vom 5.3.2019 – C-349/17 –, ECLI:EU:C:2019:172, juris, Rn. 88 f., und vom 21.11.2013 – C-284/12 –, ECLI:EU:C:2013:755, juris, Rn. 29 ff.
27Auch wenn die nationalen Verwaltungsbehörden und die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden haben, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gehalten sind, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen,
28vgl. EuGH, Urteil vom 5.3.2019 – C-349/17 –, ECLI:EU:C:2019:172, juris, Rn. 91, m. w. N.,
29sind sie hierdurch „im Rahmen ihrer Zuständigkeit“ nicht von ihrer Pflicht entbunden, bei ihren Entscheidungen auch die Vorschriften ihrer nationalen Rechtsordnung zu beachten, soweit deren Anwendung eine gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebene Rückforderung nicht praktisch unmöglich macht und die Nichtanwendung nicht erforderlich ist, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Um den Wettbewerbsvorteil wirksam zu beseitigen, den der Empfänger einer unionsrechtswidrigen Beihilfe erlangt hat, bedarf es allerdings nicht notwendig einer sofortigen Rückforderung. Vielmehr ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geklärt, die Beseitigung dieses Wettbewerbsvorteils könne auch dadurch erfolgen, dass dem Beihilfeempfänger aufgegeben wird, für den gesamten Zeitraum, in dem er in den Genuss der (überzahlten) Beihilfe gekommen ist, Zinsen in Höhe eines Zinssatzes zu zahlen, der genauso hoch ist wie der, der angewendet worden wäre, wenn er den Betrag der in Rede stehenden Beihilfe während dieses Zeitraums auf dem Markt hätte leihen müssen.
30Vgl. EuGH, Urteil vom 5.3.2019 – C-349/17 –, ECLI:EU:C:2019:172, juris, Rn. 130 ff., 141.
31Danach ist aber nicht ersichtlich, weshalb das Effektivitätsgebot darüber hinaus generell gebieten sollte, das Erfordernis des § 80 Abs. 3 VwGO unbeachtet zu lassen, eine Anordnung der sofortigen Vollziehung grundsätzlich einzelfallbezogen zu begründen. Der nationale Gesetzgeber hat deshalb ohne Verstoß gegen Unionsrecht von einer Regelung abgesehen, wonach die Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen stets sofort vollziehbar ist. Den Behörden und Gerichten ist es nicht gestattet, ohne Weiteres diese gesetzgeberische Entscheidung unbeachtet zu lassen.
32II. Die im Weiteren gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO vorzunehmende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer sofortigen Vollziehung der Rückforderung in dem Schlussbescheid vom 8.11.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.2.2023 mit dem privaten Interesse des Antragstellers, von deren Vollzug einstweilen verschont zu bleiben, geht zu Lasten der Antragsgegnerin aus. Zwar erweist sich die Rückforderung bei der hier nur gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage als voraussichtlich rechtmäßig (dazu 1.). Ein darüberhinausgehendes öffentliches Interesse an der für diesen Einzelfall angeordneten sofortigen Vollziehung im Sinne einer besonderen Dringlichkeit ist hingegen weder dargetan noch ersichtlich (dazu 2.).
331. Die Rückforderung in dem Schlussbescheid vom 8.11.2022 in Höhe von 84.746,34 Euro findet ihre Rechtsgrundlage in der entsprechenden Anwendung von § 49a Abs. 1 VwVfG. Nach dieser Vorschrift sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen oder widerrufen worden oder infolge des Eintritts einer auflösenden Bedingung unwirksam geworden ist. Die zu erstattende Leistung ist durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen. § 49a Abs. 1 VwVfG ist aufgrund derselben Interessenlage zu den gesetzlich benannten Fällen entsprechend anzuwenden, wenn ein Verwaltungsakt, der eine Zuwendung zunächst nur vorläufig bewilligt hat, rückwirkend durch einen anderen Verwaltungsakt ersetzt wird, der die Zuwendung endgültig in geringerer Höhe festsetzt („Schlussbescheid“). Die Wirkung eines solchen Vorbehalts liegt gerade darin, dass die Behörde die vorläufige Regelung im Ausgangsbescheid durch die endgültige Regelung im Schlussbescheid ersetzen kann, ohne insoweit an die Einschränkungen der §§ 49, 48 VwVfG gebunden zu sein. Der Regelungsinhalt eines vorläufigen Ausgangsbescheids besteht insoweit darin, dass der Begünstigte die empfangene Zuwendung nur vorläufig bis zum Erlass der endgültigen Entscheidung behalten darf. Deshalb geht die Bindungswirkung eines solchen Verwaltungsakts nicht dahin, dass er eine Rechtsgrundlage für das endgültige Behalten der Zuwendung bildet. Das bedeutet, dass es bei der späteren endgültigen Regelung keiner Aufhebung der unter Vorbehalt ergangenen Bewilligung bedarf.
34Vgl. BVerwG, Urteile vom 23.1.2019 – 10 C 5.17 –, BVerwGE 164, 237 = juris, Rn. 24, vom 11.5.2016 – 10 C 8.15 –, juris, Rn. 11, und vom 19.11.2009 – 3 C 7.09 –, BVerwGE 135, 238 = juris, Rn. 14 ff., 16, m. w. N.; OVG NRW, Urteil vom 17.3.2023 – 4 A 1986/22 –, juris, Rn. 136.
35Mit Bescheid vom 4.7.2016 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 23.10.2020 wurden dem Antragsteller Zuwendungen in Höhe von bis zu 280.222,74 Euro aus dem ESF-Bundesprogramm „Fachkräfte sichern: weiter bilden und Gleichstellung fördern“ in Form einer Anteilfinanzierung nach Maßgabe eines verbindlichen Finanzierungsplans bewilligt. Dies entsprach in Anbetracht der geplanten zuwendungsfähigen Gesamtausgaben in Höhe von 560.445,48 Euro der gemäß Art. 31 Nr. 4 AGVO maximal zulässigen Beihilfeintensität von 50 %. Für den Fall der Verringerung der Beihilfeintensität war festgelegt, dass zusätzliche Eigenmittel eingebracht werden müssen, während eine Erhöhung der Beihilfeintensität im Projektverlauf nicht zu einer nachträglichen Erhöhung der Zuwendung führen sollte. Die Antragsgegnerin hat das Subventionsverhältnis zunächst durch den Zuwendungsbescheid geregelt, der aber hinsichtlich des genauen Förderbetrags unter den Vorbehalt der späteren Festsetzung gestellt und damit auf eine Ergänzung durch einen weiteren Verwaltungsakt angelegt gewesen sein dürfte, durch den die Zuwendung in den offen gehaltenen Punkten abschließend geregelt werden sollte. Nach Prüfung der Verwendungsnachweise erfolgte dementsprechend die verbindliche Festsetzung der Zuwendungen durch Schlussbescheid.
36Wegen des vorzeitigen Projektabbruchs ergab sich eine Überzahlung in Höhe der zurückgeforderten Summe. Denn tatsächlich wurden nur zuwendungsfähige Ausgaben in Höhe von 169.492,68 Euro getätigt, die bisher vollständig durch ausgezahlte ESF-Mittel gedeckt wurden. Daraus ergab sich aber eine unzulässige Beihilfeintensität von 100 %, sodass die Hälfte der gewährten Zuwendungen nicht mehr von der Freistellung gemäß der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung gedeckt war, was in der Folge einen Verstoß gegen die Art. 107, 108 AEUV bedeutet. Die Rückforderung dient dazu, diesen Unionsrechtsverstoß zu beseitigen, wozu der jeweilige Mitgliedstaat verpflichtet ist.
37Vgl. EuGH, Urteil vom 5.3.2019 – C-349/17 –, ECLI:EU:C:2019:172, juris, Rn. 83 ff., 89 ff.; dem folgend OVG NRW, Urteil vom 6.3.2024 – 4 A 1581/23 –, juris, Rn. 66, m. w. N.
38Für einen rechtsgültigen Rückforderungsverzicht durch das Bundesverwaltungsamt in dem Gespräch am 10.2.2017 bietet die im Eilverfahren maßgebliche Aktenlage keine hinreichenden Anhaltspunkte. Insoweit hat der Antragsteller lediglich eine interne E-Mail vorgelegt, in der nach dem damaligen Verständnis des Landesgeschäftsführers eine wohlwollende Prüfung der Zuwendungsfähigkeit der bis zur Beendigung des Projekts durch den plötzlichen Tod des Projektleiters entstandenen Kosten behördlich zugesagt worden sei und auf die eigentlich notwendige Kofinanzierung aus Teilnehmendeneinkommen verzichtet werde. Da es sich bei einem solchen Verzicht auf die bestandskräftig festgesetzte Höhe der Eigenmittel aber um eine schriftformbedürftige Zusicherung gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 VwVfG bezogen auf die noch ausstehende Schlussfestsetzung handeln dürfte, wäre eine entsprechende mündliche Erklärung jedenfalls unwirksam. Abgesehen davon könnte eine solche Erklärung kein Vertrauen des Antragstellers begründen, weil eine nationale Stelle, die unter rechtsfehlerhafter Anwendung der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung eine Beihilfe gewährt, kein berechtigtes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit dieser Beihilfe zugunsten des Empfängers begründen kann,
39vgl. EuGH, Urteil vom 5.3.2019 – C-349/17 –, ECLI:EU:C:2019:172, juris, Rn. 96 ff.; dem folgend OVG NRW, Urteil vom 6.3.2024 – 4 A 1581/23 –, juris, Rn. 62,
40und ein Verzicht eine Verletzung verbindlicher unionsrechtlicher Vorgaben über eine maximal zulässige Beihilfeintensität von 50 % zur Folge hätte.
412. Obwohl die streitgegenständliche Rückforderung sich im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtmäßig erweisen wird, ist ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer sofortigen Vollziehung der Rückforderung im Sinne einer besonderen Dringlichkeit weder dargetan noch ersichtlich. Effektiver Rechtsschutz hat auch die Aufgabe, irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, so weit wie möglich auszuschließen. Hieraus ergibt sich die verfassungsrechtliche Bedeutung des Suspensiveffekts einer Klage.
42Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19.6.1973 – 1 BvL 39/69 –, BVerfGE 35, 263 = juris, Rn. 36 f., vom 24.10.2003 – 1 BvR 1594/03 –, juris, Rn. 20 f., und vom 8.4.2010 – 1 BvR 2709/09 –, juris, Rn. 22.
43Die offensichtliche Rechtmäßigkeit der Grundverfügung allein kann deshalb die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht tragen. Die Anordnung einer sofortigen Vollziehung im Einzelfall nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO setzt vielmehr ein besonderes Interesse an der Vollziehung schon vor Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens voraus. Die Anordnung bezieht sich auf eine Besonderheit in zeitlicher Hinsicht und unterscheidet sich inhaltlich vom Interesse am Erlass des Grundverwaltungsakts.
44Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 5.11.2018 – 3 VR 1.18 –, juris, Rn. 24, und vom 13.12.2021 – 4 VR 2.21 –, juris, Rn. 11, 27; Bay. VGH, Beschluss vom 21.4.2021 – 12 CS 21.702 –, juris, Rn. 41 f., m. w. N.
45In der Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung hat die Antragsgegnerin, wie ausgeführt, ein überwiegendes Vollziehungsinteresse nicht aufgezeigt. Auch im Übrigen ist eine besondere Dringlichkeit nicht erkennbar. Eine solche ergibt sich in Fällen der Rückforderung überzahlter Zuwendungen nicht ohne Weiteres aus den Gründen für die Rückforderung an sich und dem hieraus folgenden Wettbewerbsvorteil.
46Überzahlte Zuwendungen sind zwar grundsätzlich geeignet, einen Wettbewerbsvorteil zu begründen. Allerdings kann der Wettbewerbsvorteil des Zuwendungsempfängers dadurch, dass er vorübergehend zinslos über Geldbeträge verfügen kann, die letztlich nicht bei ihm verbleiben, regelmäßig durch Verzinsung des Rückforderungsbetrags nach § 49a Abs. 3 Satz 1 VwVfG hinreichend ausgeglichen werden, sofern die Forderung durch Weiteres Zuwarten nach den Umständen des Einzelfalls nicht uneinbringlich zu werden droht. Im Falle unionsrechtswidriger Beihilfen sieht der Gerichtshof deshalb, wie ausgeführt, eine Pflicht zur Verzinsung des Rückforderungsbetrages vor, um unionsrechtswidrige Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen.
47Vgl. EuGH, Urteil vom 5.3.2019 – C-349/17 –, ECLI:EU:C:2019:172, juris, Rn. 130 ff.
48Die Prüfung der Zinserhebung hat die Antragsgegnerin in ihrem Schlussbescheid für die Zeit nach Eingang der Rückzahlung bereits angekündigt.
49Das Bestreben, das Fortbestehen eines durch Zinsen ausgleichsfähigen Wettbewerbsvorteils durch eine sofortige Rückforderung zu vermeiden, und das allgemein bestehende Risiko, einen eventuellen Rückforderungsanspruch letztlich nicht durchsetzen zu können, begründen kein überwiegendes Vollziehungsinteresse, sofern nicht im Einzelfall die Gefahr oder doch ein erhöhtes Risiko besteht, dass überzahlte Beihilfen gar nicht mehr zurückgezahlt werden können. Fiskalische Gründe können die Anordnung der sofortigen Vollziehung auch materiell allerdings rechtfertigen, wenn öffentliche Mittel im Fall der Erfolglosigkeit des Rechtsmittels in der Hauptsache offensichtlich nicht oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten wieder eingebracht werden könnten.
50Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.9.2001 – 1 DB 26.01 –, juris, Rn. 7.
51Solche Anhaltspunkte sind hier nicht ersichtlich. Zwar sind die gewährten Mittel wegen des unerwarteten frühzeitigen Todesfalls des Projektleiters vor der Möglichkeit, Teilnehmendeneinkommen erwirtschaften zu können, durch direkte Personal- und Sachausgaben vollständig verbraucht. Allerdings war der Antragsteller schon vor Auszahlung der bewilligten Mittel in der Lage, die Projektkosten zunächst selbst aufzubringen. Der bloße Umstand, dass er nach eigenen Angaben keine Rücklage gebildet hat, lässt die Rückzahlung nicht schon als so konkret gefährdet erscheinen, dass eine sofortige Rückforderung vor einer abschließenden Klärung im Hauptsacheverfahren geboten wäre. Da der Antragsteller allerdings mit einer Bestätigung der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Schlussbescheids im gerichtlichen Verfahren rechnen muss, kann eine baldige Rückzahlung zur Vermeidung weiterer Zinslasten in seinem eigenen Interesse liegen.
52Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
53Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
54Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).