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Eine Wohnsitzverpflichtung nach § 12a Abs. 3 Satz 1 AufenthG setzt voraus, dass die Wohnsitznahme die Erreichung aller drei Integrationskriterien der Nummern 1 bis 3 der Vorschrift (Versorgung mit angemessenem Wohnraum, Erwerb ausreichender mündlicher Deutschkenntnisse und Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) erleichtern kann; dies ist nicht der Fall, wenn eines dieser Kriterien bereits erfüllt ist.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe:
2Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
3Die Beschwerdebegründung, auf deren Prüfung der Senat sich nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigt es nicht, Ziffer 2 des angefochtenen Beschlusses zu ändern und den Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage 5 K 1065/24 gegen die Wohnsitzauflage des Antragsgegners vom 22. Januar 2024 abzulehnen.
4Das Verwaltungsgericht hat dem sinngemäßen Antrag des Antragstellers,
5die aufschiebende Wirkung der Klage 5 K 1065/24 gegen die Wohnsitzauflage des Antragsgegners vom 22. Januar 2024 anzuordnen,
6stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Wohnsitzauflage erweise sich als materiell rechtswidrig, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 12a Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Nach dieser Vorschrift sei kumulativ eine zu erwartende Erleichterung der Erreichung aller drei Integrationskriterien des angemessenen Wohnraums, ausreichender mündlicher Deutschkenntnisse und der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erforderlich, um eine Wohnsitzauflage zu rechtfertigen. Dies ergebe sich vor allem aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift sowie dem späteren (erfolglosen), sich eben gerade zu dieser Frage verhaltenden Änderungsvorschlag des Bundesrats. Ein solches Verständnis sei zudem nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geboten. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass eine Wohnsitzauflage nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Einschränkung der durch Art. 33 Richtlinie 2011/95/EU gewährleisteten Freizügigkeit darstelle und mithin nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgehen dürfe. Der Antragsteller habe vor Erlass der Wohnsitzauflage seine der Anforderung des § 12a Abs. 3 Satz 1 Ziffer 2 AufenthG entsprechenden ausreichenden mündlichen Deutschkenntnisse durch Vorlage eines Sprachzertifikats nachgewiesen. Mithin fehle es an der kumulativen Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift.
7Das Beschwerdevorbringen des Antragsgegners stellt diese Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Frage.
8Nach § 12a Abs. 3 Satz 1 AufenthG kann ein Ausländer, der der Verpflichtung nach § 12a Absatz 1 AufenthG unterliegt, zur Förderung seiner nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland innerhalb von sechs Monaten nach Anerkennung oder erstmaliger Erteilung der Aufenthaltserlaubnis verpflichtet werden, längstens bis zum Ablauf der nach Absatz 1 geltenden Frist seinen Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen, wenn dadurch 1. seine Versorgung mit angemessenem Wohnraum, 2. sein Erwerb ausreichender mündlicher Deutschkenntnisse im Sinne des Niveaus B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen und 3. unter Berücksichtigung der örtlichen Lage am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert werden kann.
9Die Beschwerdebegründung erschüttert nicht die Begründung des Verwaltungsgerichts, wonach nach dieser Vorschrift eine zu erwartende Erleichterung der Erreichung aller drei Integrationskriterien des angemessenen Wohnraums, ausreichender mündlicher Deutschkenntnisse und der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit kumulativ vorliegen muss, um eine Wohnsitzauflage zu rechtfertigen. Die in der Beschwerdebegründung geäußerte Rechtsauffassung, die „Forderung des Gesetzgebers, dass alle drei in Abs. 3 speziell aufgeführten Integrationsaspekte kumulativ zu berücksichtigen sind,“ bedeute lediglich, dass keiner dieser Aspekte bei der Frage, ob eine Wohnsitzzuweisung gerechtfertigt sei, außer Acht gelassen werden dürfe, überzeugt angesichts des Wortlauts der Vorschrift, der Begründung des Gesetzentwurfs sowie der erfolglosen Änderungsbemühung des Bundesrats nicht.
10Das Verwaltungsgericht geht zutreffend davon aus, dass bereits der Wortlaut auf das Erfordernis der zu erwartenden Erleichterung der Erreichung aller drei Integrationskriterien hindeutet. Die Wohnsitzverpflichtung kann ergehen, „wenn dadurch“ die – durch ein Komma bzw. ein „und“ miteinander verknüpften – Integrationskriterien der Nummern 1 bis 3 der Vorschrift erleichtert werden. Dies stellt für sich genommen bereits deutlich heraus, dass die Bedingungen des Konditionalsatzes – hier die Voraussetzungen der Nummern 1 bis 3 – alle erfüllt sein müssen, um das behördliche Handeln zu ermöglichen.
11Vgl. VG Stuttgart, Beschluss vom 27. Juni 2019 – 8 K 2485/19 –, juris, Rn. 11; VG Arnsberg, Urteil vom 16. Mai 2018 – 10 K 1190/17 –, juris, Rn. 39 f., 45; Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Werkstand März 2024, II-12a Rn. 33; Röcker, in: Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 12a Rn. 38; so im Ergebnis bereits: OVG NRW, Urteil vom 4. September 2018 – 18 A256/18 –, juris, Rn. 45 bis 47.
12Der Antragsgegner behauptet lediglich das Gegenteil, wenn er ausführt, diese konditionale Verknüpfung des Erfordernisses der nachhaltigen Integration mit den in den Nummern 1 bis 3 aufgeführten kumulativ zu berücksichtigenden integrationspolitischen Belangen gebe (nur) das Prüfprogramm für die Integrationsprognose vor, ohne zwingende Tatbestandsvoraussetzungen für die Einzelfallentscheidung vorzugeben. Wie sich dies – im Gegensatz zu den Ausführungen des Verwaltungsgerichts – mit dem Wortlaut der Vorschrift verträgt, legt der Antragsgegner entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO bereits nicht dar. Darüber hinaus lässt der Wortlaut der Vorschrift nicht – wie mit der Beschwerde geltend gemacht – ansatzweise erkennen, dass lediglich eine „Berücksichtigung aller Aspekte“ im Rahmen der – erst bei Vorliegen des Tatbestands möglichen – Ermessensentscheidung gewollt ist.
13Dass die Gesetzgebungshistorie des § 12a Abs. 3 Satz 1 AufenthG für die vom Antragsgegner vertretene Auslegung spreche, wonach die Kriterien Wohnraum, Sprache, Ausbildung und Arbeitsmarkt als Belange für eine nachhaltige Integrationsförderung lediglich bei der Ermessensentscheidung über eine Wohnsitzauflage allesamt zu berücksichtigen seien, nicht aber bereits auf Tatbestandsebene kumulativ vorliegen müssten, behauptet die Beschwerdebegründung, zeigt dies jedoch ebenfalls nicht auf. Soweit der Antragsgegner die Ausführungen des Senats in dem vorgenannten Urteil vom 4. September 2018 – 18 A 256/18 –, (juris, dort Rn. 45) als Beleg für seine Rechtsauffassung heranziehen will, übersieht er, dass sich diese zu der „tatbestandskonkretisierende[n] und ermessenslenkende[n] Vorgabe“ auf die (unwirksame) Norm des § 5 Abs. 4 AWoV, nicht aber auf § 12a Abs. 3 AufenthG bezogen.
14In der Begründung des Entwurfs des Integrationsgesetzes (BGBl. I 2016, 1939), mit dem in Art. 5 Nr. 3 § 12a AufenthG eingeführt worden ist, heißt es zu der – insoweit auch durch spätere Änderungen nicht maßgeblich abgeänderten – Fassung des Abs. 3, es werde eine Rechtsgrundlage für eine integrationspolitisch zu begründende Zuweisung geschaffen, wenn die Wahrung der wesentlichen integrationspolitischen Belange Wohnraum, Sprache und Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erleichtert werden kann.
15Vgl. BT-Drs. 18/8615, S. 25.
16Diese Formulierung und Verbindung der drei Integrationsaspekte durch ein Komma bzw. die Konjunktion „und“ entspricht dem Wortlaut der Regelung. Zwar wäre die Gesetzesbegründung auch für eine andere Interpretation offen, die weiteren gesetzgeberischen Materialen weisen aber eindeutig auf ein kumulatives Verständnis: Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme,
17s. BR-Drs. 99/19 (Beschluss), dort S. 1 f.,
18zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Entfristung des Integrationsgesetzes,
19s. BT-Drs. 19/8692, zu Art. 1 Nr. 1 Buchst. c), S. 5,
20vorgeschlagen, in § 12a Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach den Wörtern „wenn dadurch“ das Wort „insbesondere“ einzufügen und in der Nr. 2 das Wort „und“ durch das Wort „oder“ zu ersetzen. Zur Begründung hat er angeführt, die Regelung des § 12a Abs. 3 AufenthG sei problematisch, da die Kriterien Wohnraumversorgung sowie Ausbildungs- und Arbeitsmarkt gegenläufig seien. Wo der Arbeitsmarkt günstig sei, sei der Wohnungsmarkt in der Tendenz eher angespannt und umgekehrt. Dadurch sei es oft nicht möglich, beide Kriterien kumulativ zu erfüllen, und es entstehe ein rechtliches Risiko. Die bisherigen Erfahrungsberichte wiesen darauf hin, dass eine nachhaltige Integration auch dann gefördert werden könne, wenn nicht zwingend alle drei Kriterien kumulativ vorlägen. Insofern bedürfe es einer flexibleren Ausgestaltung dieser Vorschrift.
21Dieser Vorschlag ist in der Gegenäußerung der Bundesregierung auf Ablehnung gestoßen. Sie hat sich dabei aber nicht auf die Auslegung der Vorschrift durch den Bundesrat bezogen, sondern hat darauf verwiesen, die Vorschrift setze die europarechtlichen Vorgaben des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 1. März 2016 (verbundene Rechtssachen C-443/14 und C-444/14) um. Artikel 33 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) sei so auszulegen, dass subsidiär Schutzberechtigten Wohnsitzauflagen nur aus integrationspolitischen Gründen erteilt werden dürften. Insoweit hebt die Stellungnahme der Bundesregierung hervor, eine nachhaltige Integration könne nach ihrer Überzeugung nur gelingen, wenn drei Grundvoraussetzungen – angemessener Wohnraum, Spracherwerb sowie Perspektiven hinsichtlich einer Erwerbstätigkeit – gegeben seien. Die Bundesregierung war der Auffassung, dass durch die vom Bundesrat vorgeschlagene Lockerung der Voraussetzungen ein (unnötiges) unionsrechtliches Risiko geschaffen würde.
22Vgl. BT-Drs. 19/9764, Seite 3.
23Auch die Bundesregierung ist in diesem Gesetzgebungsprozess also zum einen davon ausgegangen, dass für eine nachhaltige Integration die drei vorgenannten Voraussetzungen kumulativ erforderlich sind. Sie hat weiterhin gerade vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH die europarechtlichen Risiken einer Ausweitung des Anwendungsbereichs hervorgehoben. Mithin ist auch sie von einem derartigen kumulativen Verständnis der Tatbestandsvoraussetzungen ausgegangen.
24Dem setzt der Antragsgegner lediglich die Auffassung entgegen, aus dieser Formulierung lasse sich nicht herleiten, dass in jedem Einzelfall alle drei Belange jeweils für sich eine Wohnraumbeschränkung des einzelnen Ausländers erforderlich machten. Damit setzt er sich insbesondere aber nicht mit den Ausführungen zur unionsrechtlich erforderlichen Zurückhaltung bei der Beschränkung einer freien Wohnsitznahme auseinander.
25Soweit die Beschwerdebegründung geltend macht, der Zweck des § 12a Abs. 3 Satz 1 AufenthG stehe dieser Auslegung entgegen, denn der Anwendungsbereich der Vorschrift würde ansonsten substantiell „eingeschränkt“, kann dies angesichts des eindeutigen Wortlauts der Norm und der Gesetzgebungsmaterialien nicht dazu führen, auf die Voraussetzung zu verzichten, dass jedes der in den Nummern 1 bis 3. genannten Tatbestandsmerkmale durch die Wohnsitzauflage erleichtert werden kann. Zwar verweist der Antragsgegner diesbezüglich im Ansatz zutreffend darauf, dass die einzelnen Integrationsbelange, die § 12a Abs. 3 Satz 1 AufenthG aufzählt, in einem Spannungsverhältnis stehen können. Hierauf hat auch der Bundesrat in seiner erwähnten Stellungnahme hingewiesen. Dieser Befund hat aber gerade nicht auf die von dem Antragsgegner geltend gemachte Auslegung, sondern lediglich zu einem (in der Folge nicht aufgegriffenen) Änderungsvorschlag geführt.
26Dass gemäß § 12a Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei der Entscheidung nach Satz 1 über eine Wohnsitzauflage zudem besondere örtliche, die Integration fördernde Umstände berücksichtigt werden können, insbesondere die Verfügbarkeit von Bildungs- und Betreuungsangeboten für minderjährige Kinder und Jugendliche, bedeutet nach dem Wortlaut und der Systematik der Vorschrift nicht, dass die in § 12a Abs. 3 Satz 1 AufenthG kumulativ enthaltenen Voraussetzungen nicht jeweils erfüllt sein müssen, sondern setzt dies voraus.
27Auch wenn, wie der Antragsgegner geltend macht, keine „idealtypische Erfüllung aller bezeichneten Kriterien“ erforderlich sein mag,
28vgl. auch VG Arnsberg, Urteil vom 16. Mai 2018 – 10 K 1190/17 –, juris, Rn. 50,
29legt er mit der Beschwerdebegründung nicht dar, weshalb dies vorliegend auf die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Wohnsitzverpflichtung führen sollte. Vielmehr ist nach den mit der Beschwerde nicht angegriffenen und deshalb der Beurteilung des beschließenden Gerichts nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO entzogenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts jedenfalls die Voraussetzung des § 12a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG hinsichtlich des Antragstellers nicht gegeben, weil dieser bereits über mündliche Deutschkenntnisse im Sinne des Niveaus B2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen verfügt. Ob dies tatsächlich der Fall ist, bedarf ggf. der weiteren Aufklärung im Hauptsacheverfahren. Insoweit weist der Senat lediglich darauf hin, dass das im Verwaltungsverfahren vorgelegte Sprachzertifikat (Bl. 139 der Beiakte 001) noch nicht die notwendige Sprachqualifikation als solche bestätigen dürfte. Vielmehr handelt es sich bei dem onSET-Zertifikat um den Beleg über einen Spracheinstufungstest, der ausweislich des Internetauftritts des Anbieters (https://www.onset.de/home/teilnehmende/) die allgemeinen Sprachkenntnisse misst und es so erleichtern soll, die Lerngruppe zu finden, die dem jeweiligen Sprachstand entspricht. Der Test wird (von einem Testzentrum aus) ausschließlich online durchgeführt, wobei keine mündlichen Sprachkenntnisse erhoben werden. Mithin dürfte seine Eignung für die Feststellung mündlicher Deutschkenntnisse i. S. d. § 12a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG fraglich erscheinen.
30Schließlich geht der Verweis des Antragsgegners auf Ausführungen des Verwaltungsgerichts Arnsberg im Urteil vom 26. Mai 2021 – 10 K 1572/19 – ins Leere, welche nur die – das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 12a Abs. 3 Satz 1 AufenthG voraussetzende – Ermessensausübung betrafen.
31Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
32Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
33Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. Juni 2014 – 18 E 606/14 –, juris, Rn. 3 bis 7.
34Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).