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24 Abs. 1 AufenthG ist in den Fällen des Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 einschlägig. Zwar ist in diesen Fällen eine (direkte) Anwendung durch die Mitgliedstaaten nicht zwingend; Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 gibt aber verbindlich vor, dass dieser Personengruppe Schutz im Sinne der Richtlinie 2001/55/EG zu gewähren ist.
Der Begriff des Herkunftslands in Art. 2 Abs. 2 und 3 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 bezieht sich auf andere Drittstaaten als den, in dem die zur Feststellung des Massenzustroms von Vertriebenen führende Vertreibung stattgefunden hat (hier die Ukraine).
Ob Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 voraussetzt, dass nicht nur der Familienangehörige, sondern auch der Staatsangehörige nach Buchstabe a, von dem das Recht abgeleitet wird, aus der Ukraine vertrieben worden ist, erscheint offen.
Zur Relevanz des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 Abs. 1 GrCh) und des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) im Rahmen der allgemeinen Interessenabwägung nach § 80 Abs. 5 VwGO, wenn im Hauptsacheverfahren gegebenenfalls eine Vorlage an den EuGH erforderlich ist.
Die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wird zurückgewiesen.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren 18 B 1063/23 wird abgelehnt.
Ziffer 2. des angefochtenen Beschlusses wird geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage 5 K 4268/23 wird hinsichtlich Ziffer 1. der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 20. Juli 2023 wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens 18 B 1063/23 sowie des erstinstanzlichen Verfahrens 5 L 1495/23. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens 18 E 674/23 trägt der Antragsteller; außergerichtliche Kosten dieses Verfahrens werden nicht erstattet.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren 18 B 1063/23 auf 2.500,- Euro festgesetzt.
G r ü n d e
2I. Die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bleibt erfolglos.
3Der Antragsteller hat insoweit schon deshalb keinen Anspruch auf Prozesskostenhilfe, weil er bis zum Abschluss dieses Verfahrens durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 11. September 2023 nicht wie erforderlich dargetan hat, dass er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 114, 117 ZPO). Nach § 117 Abs. 2 ZPO sind dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe eine Erklärung der Partei über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und Lasten) sowie entsprechende Belege beizufügen. Da das Bundesministerium der Justiz Vordrucke für die Erklärung eingeführt hat, muss sich die Partei ihrer bedienen (§ 117 Abs. 4 ZPO, PKHFV vom 6. Januar 2014, BGBl. I S. 34).
4Bei einem anwaltlich vertretenen Antragsteller muss dabei nicht auf das verfahrensrechtliche Erfordernis des § 117 Abs. 2 und 4 ZPO hingewiesen werden.
5Vgl. BFH, Urteil vom 17. Januar 2001 – XI B 76-78/00 u. a. –, juris, Rn. 8; OVG NRW, Beschluss vom 27. Oktober 2022 – 18 E 473/22 –, juris, Rn. 5 m. w. N.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 23. April 2019 – 11 S 2127/18 –, juris, Rn. 4.
6Ausgehend hiervon kam die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht in Betracht, weil der Antragsteller bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens keine formularmäßige Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt hatte.
7II. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren 18 B 1063/23 liegen nicht vor, weil der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren keine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 114, 117 ZPO).
8III. Die Beschwerde gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.
9Die Beschwerde ist zulässig. Dem Antragsteller fehlt insbesondere nicht das Rechtsschutzbedürfnis.
10Zwar war die – durch die allein streitgegenständliche Ziffer 1 der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 20. Juli 2023 – zurückgenommene Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG nur bis zum 4. März 2024 befristet. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 Ukraine-Aufenthaltserlaubnis-Fortgeltungsverordnung (UkraineAufenthFGV) gelten jedoch Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 24 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz, die am 1. Februar 2024 gültig waren, einschließlich ihrer Auflagen und Nebenbestimmungen bis zum 4. März 2025 ohne Verlängerung im Einzelfall fort.
11Die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers war zwar am 1. Februar 2024 wegen ihrer (sofort vollziehbaren) Rücknahme vom 20. Juli 2023 nicht mehr gültig. Entsprechend bestimmt § 2 Abs. 2 Satz 1 UkraineAufenthFGV (als Verordnungsregelung ggf. nur deklaratorisch), dass die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes zur Beendigung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, insbesondere nach § 51 des Aufenthaltsgesetzes, und zu Beschränkungen des Aufenthaltsrechts unberührt bleiben. So lassen gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer (etwaigen) aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung und eines sonstigen Verwaltungsaktes (hier der Rücknahme), der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt. Eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts tritt (nur dann) nicht ein, wenn der Verwaltungsakt durch eine behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung aufgehoben wird (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG),
12vgl. Nds. OVG, Beschlüsse vom 12. Mai 2022 – 13 PA 138/22 –, juris, Rn. 6 f., und vom 9. Juni 2021 – 13 ME 587/20 –, juris, Rn. 24; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11. Mai 2021 – 11 S 2891/20 –, juris, Rn. 12; Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum AufenthG, II-§ 84 Rn. 86 und II-§ 81 Rn. 129 f.; s. auch OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Juni 2024 – 18 B 45/24 –, n. v., S. 4, vom 19. August 2022 – 17 B 605/22 –, juris, Rn. 7, und vom 20. Dezember 2018 – 18 B 1083/17 –, juris, Rn. 12,
13was hier (bisher) nicht geschehen ist.
14Allerdings ist nach der Senatsrechtsprechung hinsichtlich einer sofort vollziehbaren Rücknahme eines Aufenthaltstitels als vollziehbarkeitsbegründender Maßnahme der Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft.
15Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Dezember 2018 – 18 B 1083/17 –, juris, Rn. 15.
16Der erstrebte Suspensiveffekt hätte nämlich ein umfassendes Vollziehungsverbot zur Folge. Aufgrund dessen dürfen aus dem angefochtenen Verwaltungsakt während der Dauer der aufschiebenden Wirkung keine Rechtsfolgen gezogen werden, die der Vollziehung des Verwaltungsakts dienen, sofern diese Maßnahmen den Bestand oder die Rechtmäßigkeit des ergangenen Verwaltungsakts voraussetzen. Dieser weite Begriff der Vollziehung erfasst jegliches Gebrauchmachen von dem Verwaltungsakt, jegliche Verwirklichung seines materiellen Regelungsgehalts, gleichgültig, ob diese Verwirklichung durch die erlassende oder eine andere Behörde erfolgt, ob sie freiwillig oder zwangsweise geschieht, es einer behördlichen Ausführungsmaßnahme bedarf oder die Rechtswirkung durch den Verwaltungsakt selbst eintritt. Die aufschiebende Wirkung untersagt jedermann, aus dem angefochtenen Verwaltungsakt unmittelbare oder mittelbare, tatsächliche oder rechtliche Folgerungen gleich welcher Art zu ziehen. Der erlassenden Behörde ist es deshalb vor (erneutem) Eintritt der Vollziehbarkeit untersagt, dem Bürger die ausgesprochene Regelungswirkung entgegenzuhalten
17Vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11. Mai 2021 – 11 S 2891/20 –, juris, Rn. 13 f.
18Dem Rechtsschutzbedürfnis steht auch nicht entgegen, dass die in Ziffer 4. der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 20. Juli 2023 verfügte Abschiebungsandrohung im Eilverfahren nicht Streitgegenstand ist. Bei Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis entfällt die für eine rechtmäßige Abschiebung erforderliche Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht (§ 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 AufenthG).
19Angesichts der im Falle der Aufhebung der streitgegenständlichen Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 UkraineAufenthFGV eintretenden automatischen Verlängerung der Geltungsdauer dieses Aufenthaltstitels war zur Wahrung des Rechtsschutzbedürfnisses die Stellung eines individuellen Verlängerungsantrags bis zum 4. März 2024 nicht erforderlich.
20Die Beschwerde ist auch begründet.
21Das Verwaltungsgericht hat den Antrag,
22die aufschiebende Wirkung der Klage 5 K 4268/23 gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 20. Juli 2023 bezüglich Ziffer 1. wiederherzustellen,
23abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers, von der sofortigen Vollziehung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens verschont zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Rücknahme der dem Antragsteller nach § 24 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis falle zu Lasten des Antragstellers aus. Die Ordnungsverfügung des Antragsgegners erweise sich als offensichtlich rechtmäßig, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 und 4 VwVfG NRW lägen vor. Insbesondere sei die dem Antragsteller für den Zeitraum vom 10. August 2022 bis zum 4. März 2024 erteilte Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG rechtswidrig erteilt worden. Die Voraussetzungen für die Erteilung hätten nicht vorgelegen. Der Antragsteller falle zunächst nicht in den Anwendungsbereich des § 24 Abs. 1 AufenthG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 lit. c) des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (nachfolgend Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382). Selbst wenn der Antragsteller als Ehegatte einer ukrainischen Staatsangehörigen und damit gemäß Art. 2 Abs. 4 lit. a) Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 als Familienangehöriger i. S. d. Art. 2 Abs. 1 lit. c) einzustufen wäre, mangele es an der weiteren Voraussetzung nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, dass die Ehefrau des Antragstellers als die ukrainische Staatsangehörige, von der der Schutz abgeleitet werde, am oder nach dem 24. Februar 2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte aus der Ukraine vertrieben worden sei. Die Ehefrau halte sich nach dem Vortrag des Antragstellers seit Ausbruch des Krieges durchgängig in der Ukraine auf. Zudem sei der Antragsteller auch nicht von § 24 Abs. 1 AufenthG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 erfasst, nach dem Drittstaatsangehörige mit ukrainischem unbefristeten Aufenthaltstitel vorübergehend schutzberechtigt sein sollen. Er habe sich – anders als nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift verlangt – bereits nicht vor Kriegsbeginn (rechtmäßig) in der Ukraine aufgehalten. In Folge dessen komme es nicht darauf an, ob der Antragsteller sicher und dauerhaft in sein Herkunftsland zurückkehren könne. Schließlich habe der Antragsgegner das ihm nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
24Die dargelegten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat sich nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, gebieten es, unter Änderung der Ziffer 2. des angefochtenen Beschlusses die aufschiebende Wirkung der Klage 5 K 4268/23 gegen Ziffer 1. der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 20. Juli 2023 wiederherzustellen. Die Erfolgsaussichten der in der Hauptsache erhobenen Klage sind offen (dazu 1.). Bei der deshalb gebotenen, von den Erfolgsaussichten losgelösten Folgenabwägung überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse (dazu 2.).
251. Die Erfolgsaussichten der Klage 5 K 4268/23 können im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht hinreichend sicher beurteilt werden. Die von dem Verwaltungsgericht angenommene offensichtliche Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers vermag der Senat nicht festzustellen.
26Gemäß § 48 Abs. 1 VwVfG NRW kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Satz 1). Dabei darf ein Verwaltungsakt, der – wie vorliegend – ein Recht oder einen rechtlichen erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden. Nach Absatz 4 ist die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme von Tatsachen zulässig, die die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes rechtfertigen.
27Ob die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG am 25. August 2022 rechtswidrig gewesen ist, ist derzeit nicht abschließend festzustellen. Diese wäre vielmehr zu Recht erteilt worden, falls dem Antragsteller – der i. S. d. § 24 Abs. 1 AufenthG seine Bereitschaft erklärt hat, im Bundesgebiet aufgenommen zu werden – nach dieser Vorschrift auf Grund eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union gemäß der Richtlinie 2001/55/EG vorübergehender Schutz zu gewähren war. Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2001/55/EG wird das Bestehen eines Massenzustroms von Vertriebenen durch Beschluss des Rates festgestellt. Der Beschluss ergeht nach Satz 2 mit qualifizierter Mehrheit und muss nach Abs. 3 Satz 2 Buchstabe a u. a. die Beschreibung der spezifischen Personengruppen beinhalten, denen vorübergehender Schutz gewährt wird. Den von dem Ratsbeschluss nach Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG erfassten Personengruppen ist durch die Mitgliedstaaten verbindlich vorübergehender Schutz zu gewähren.
28Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2023 – 18 B 285/23 –, juris, Rn. 20 ff., m. w. N.
29Gemäß Art. 8 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2001/55/EG treffen die Mitgliedsstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit die Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, für die gesamte Dauer des Schutzes über einen Aufenthaltstitel verfügen.
30Dem Antragsteller kann ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus § 24 Abs. 1 AufenthG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c (dazu a.) oder Art. 2 Abs. 2 (dazu b.) des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 zugekommen sein. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kommt eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 1 Buchstabe b AEUV nicht in Betracht (dazu c.).
31a. Ob der Antragsteller Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 unterfällt, erscheint offen.
32Nach Art. 2 Abs. 1 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 gilt eben dieser für die folgenden Gruppen von Personen, die am oder nach dem 24. Februar 2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte aus der Ukraine vertrieben wurden: a) ukrainische Staatsangehörige, die vor dem 24. Februar 2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten, b) Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine, die vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine internationalen Schutz oder einen gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben, und c) Familienangehörige der unter den Buchstaben a und b genannten Personen.
33Eine Vertreibung des Antragstellers selbst infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte i. S. d. Art. 2 Abs. 1 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382, der insoweit auf den 24. Februar 2022 als auch die Zeit danach abstellt, dürfte auf der Grundlage seines Vorbringens jedenfalls im Eilverfahren hinreichend wahrscheinlich sein. Der Antragsteller hat vorgetragen, er habe sich nach seiner Wiedereinreise in die Ukraine im August 2022 in Lwiw aufgehalten, wo es zu Bombardierungen gekommen sei; es sei ihm geraten worden, die Stadt zu verlassen. Eine Einschränkung der Vertreibung auf bestimmte Landesteile,
34vgl. hierzu: Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 24 AufenthG Rn. 20,
35oder qualifizierte Anforderungen an die Kausalität finden sich im Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 nicht.
36Offen ist, ob der Antragsteller in den persönlichen Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 fällt.
37Nach Art. 2 Abs. 4 Buchstabe a Alt. 1 gilt für die Zwecke des Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c der Ehegatte als Teil einer Familie einer in Abs. 1 Buchstaben a oder b genannten Person. Gemäß dem einleitenden Satz des Art. 2 Abs. 4 muss die Familie bereits vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine anwesend und aufhältig gewesen sein.
38Der Antragsteller ist ausweislich der als Ablichtung nebst beglaubigter Übersetzung vorgelegten ukrainischen Heiratsurkunde (Bl. 100 f. der erstinstanzlichen Gerichtsakte) seit dem 20. Juni 2018 mit einer ukrainischen Staatsangehörigen verheiratet. Ob Art. 2 Abs. 4 Buchstabe a Alt. 1 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 allein das formale Bestehen einer Ehe ausreichen lässt oder eine tatsächlich gelebte eheliche Lebensgemeinschaft voraussetzt, kann an dieser Stelle offenbleiben. Dass letztere hier zwischen dem Antragsteller, der sich vom 13. Juni 2021 bis zum 4. August 2022 in Libyen aufgehalten hat – nach eigenen Angaben, um dort seinen Medizinabschluss anerkennen zu lassen und einen praktischen Teil der Ausbildung in einer Kinderklinik zu absolvieren –, und seiner Ehefrau, die weiterhin in der Ukraine aufhältig ist, nicht mehr besteht, kann nicht positiv festgestellt werden. Der Antragsteller ist nach seinem Vorbringen und ausweislich der in seinem Pass befindlichen Ein- und Ausreisestempel im August 2022 zunächst in die Ukraine zurückgereist. Er hat vorgetragen, dort wegen Kriegshandlungen nicht zu seiner Ehefrau gelangt zu sein, die sich in der Ukraine um ihre kranke Mutter kümmern müsse und deshalb nicht ausreisen könne. Mit der Ehefrau stehe er aber, belegt mit Bildschirmablichtungen einer Messenger-App, im fortlaufenden Kontakt. Die näheren tatsächlichen Umstände bedürfen ggf. der Aufklärung im Hauptsacheverfahren.
39Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts in seinem Beschluss vom 11. September 2023 kann nicht eindeutig davon ausgegangen werden, dass Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 nur dann einschlägig ist, wenn nicht nur der Familienangehörige selbst, sondern auch der ukrainische Staatsangehörige nach Buchstabe a, von dem das Recht abgeleitet wird, aus der Ukraine vertrieben worden ist.
40Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 nimmt zunächst die unter den Buchstaben a und b genannten Personen in Bezug. Nach den Aufzählungszeichen a und b werden jeweils nur bestimmte Personengruppen – so unter a die ukrainischen Staatsangehörigen, die vor dem 24. Februar 2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten – angeführt. Der unter Buchstabe c verwendete Terminus der „unter den Buchstaben a und b genannten Personen“ lässt sich sprachlich mithin (auch) so verstehen, dass er sich nur auf die unmittelbar zuvor genannten Personengruppen beziehen soll. Hierfür könnte auch der Bezug auf die „genannten“ Personen sprechen, der keine unmittelbare Verknüpfung zu dem Einleitungssatz des Art. 2 Abs. 1 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 herstellt. Auch gilt nach diesem Einleitungssatz der Beschluss für „die folgenden Gruppen von Personen“, soweit diese die weiteren, erst nachfolgend genannten Bedingungen erfüllen.
41Gleichwohl kann Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c mit dem Verwaltungsgericht auch so verstanden werden, dass die Bezugnahme auf die unter den Buchstaben a und b genannten Personen das im Einleitungssatz „vor die Klammer gezogene“ Erfordernis des Vertriebenseins mitumfasst, so dass auch Familienangehörige jeweils vertrieben worden sein müssen.
42In diesem Sinne auch: Hess. VGH, Beschluss vom 17. Mai 2023 – 3 B 1948/22 –, juris, Rn. 12 und 15; beide Varianten als sprachlich möglich erachtend: VG Greifswald, Urteil vom 1. August 2023 – 2 A 404/23 HGW –, juris, Rn. 25.
43Auch die von dem Verwaltungsgericht angeführte Mitteilung der Kommission zu operativen Leitlinien für die Umsetzung des Durchführungsbeschlusses 2022/382 des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (ABl. 2022, C 126 I/1 – dort auf Seite 5 unter Buchstabe a): „Die folgenden Personengruppen gelten als Familienangehörige im Sinne des Ratsbeschlusses: a) der Ehegatte der Person, der vorübergehender Schutz gewährt wird…“) – könnte dahingehend zu verstehen sein, dass nur die Familienangehörigen von selbst vertriebenen ukrainischen Staatsbürgern vorübergehenden Schutz erlangen können.
44Im Sinne der Auslegung des Verwaltungsgerichts kann schließlich Erwägungsgrund 11 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 zu verstehen sein. Dieser spricht zunächst von der Bedeutung der Wahrung des Familienverbandes und der Vermeidung einer Situation, in der für einzelne Familienmitglieder ein unterschiedlicher Schutzstatus gilt. Hierzu nimmt dieser Erwägungsgrund Bezug auf Familienangehörige „dieser Personen“, womit solche gemeint sind, die infolge der militärischen Invasion vertrieben worden sind.
45Als fraglich erweist sich zudem, ob der Antragsteller das hinsichtlich Art. 2 Abs. 1 lit. c des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 relevante, in Art. 2 Abs. 4 aufgeführte Merkmal der Anwesenheit und des Aufenthalts der Familie in der Ukraine vor dem 24. Februar 2022 erfüllt.
46Nach Art. 2 Abs. 1 Buchstaben a und b des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 gilt der Beschluss nur für Gruppen von Personen, die vor dem 24. Februar 2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten bzw. vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine internationalen Schutz oder einen gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben. Eine vergleichbare Einschränkung enthält Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c nicht. Indes sieht Art. 2 Abs. 4 vor, dass für die Zwecke des Abs. 1 Buchstabe c die im folgenden aufgezählten Personen nur dann als Teil einer Familie gelten, sofern die Familie bereits vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine anwesend und aufhältig war. Vor diesem Hintergrund ist es jedenfalls nicht eindeutig, ob bei einem Ehepaar, bei dem ein Ehepartner in der Ukraine verblieben ist, der andere (mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, wie der Antragsteller) aber für längere Zeit in ein Drittland ausgereist ist, die Familie in diesem Sinne noch in der Ukraine „anwesend und aufhältig“ war.
47Vgl. zu dieser Frage Dietz, NVwZ 2022, 505, 507 f. (auf den „Hauptwohnsitz“ abstellend); s. auch VG Göttingen, Beschluss vom 20. November 2023 – 1 B 157/23 –, juris, Rn. 11 (abstellend auf das Bestehen der Familie in der Ukraine vor dem 24. Februar 2022).
48Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass Art. 2 Abs. 4 im Gegensatz zu Abs. 1 Buchstabe a nicht nur den Aufenthalt, sondern eben zusätzlich die Anwesenheit der Familie in der Ukraine erfordert. Zugleich setzt Art. 2 Abs. 4 ein Leben innerhalb des Familienverbandes aber nur in den Fällen des Buchstaben c voraus, nicht aber bei den unter den Buchstaben a und b genannten Personen.
49Vgl. auch: VG Greifwald, Urteil vom 1. August 2023 – 2 A 404/23 HGW –, juris, Rn. 26.
50Hierauf dürfte es jedenfalls dann ankommen, wenn das Kriterium der Anwesenheit und des Aufenthalts der Familie in der Ukraine „vor dem 24. Februar 2022“ so zu verstehen ist, dass damit die Zeit unmittelbar vor dem Kriegsbeginn, nicht aber (viele) Monate zuvor erfasst sein soll (vgl. hierzu die Ausführungen unter b.). Der Antragsteller, dem am 13. Mai 2021 eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine ausgestellt worden ist, hat sich, wie ausgeführt, zwischen dem 13. Juni 2021 und dem 4. August 2022 nicht in der Ukraine, sondern in Libyen aufgehalten.
51b. Die Rücknahme der nach § 24 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers wäre auch rechtswidrig, wenn dieser Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 unterfällt.
52§ 24 Abs. 1 AufenthG ist in den Fällen des Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 einschlägig. Nach der Rechtsprechung des Senats erfasst der Geltungsbereich des § 24 Abs. 1 AufenthG (nur) solche Ausländer, denen – vorbehaltlich der nationalen Erklärung der Aufnahmekapazität – auf Grund eines Beschlusses des Rates nach Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG verbindlich vorübergehender Schutz gewährt worden ist.
53Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2023 – 18 B 285/23 –, juris, Rn. 19 und 33 f.
54Gemäß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2001/55/EG wird in allen Mitgliedstaaten der vorübergehende Schutz gemäß dieser Richtlinie zugunsten der Vertriebenen, die Gegenstand des Beschlusses (i. S. d. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie, hier des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382) sind, eingeführt. Zwar ist in den Fällen des Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 eine (direkte) Anwendung dieses Beschlusses durch die Mitgliedstaaten nicht zwingend; diese können alternativ einen angemessenen Schutz nach ihrem nationalen Recht anwenden. Nichtsdestotrotz gibt Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 für die Mitgliedstaaten verbindlich vor, dass dieser Personengruppe Schutz im Sinne der Richtlinie 2001/55/EG zu gewähren ist.
55Nach Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 wenden die Mitgliedstaaten entweder diesen Beschluss oder einen angemessenen Schutz nach ihrem nationalen Recht auf Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine an, die nachweisen können, dass sie sich vor dem 24. Februar 2022 auf der Grundlage eines nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitels rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, und die nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückzukehren. Der Antragsteller besitzt die libysche Staatsangehörigkeit und ist daher Staatsangehöriger eines anderen Drittlandes als der Ukraine. Er ist zudem Inhaber einer „PERMANENT RESIDENCE PERMIT“ der Ukraine, ausgestellt am 13. Mai 2021. Seinem (unter Verweis auf Drittquellen erfolgten) Vortrag, dass allein die dem Nachweis dienende Karte, nicht aber die (Dauer-)Aufenthaltserlaubnis einer zeitlichen Befristung unterliege, ist der Antragsgegner nicht entgegengetreten. Ob dieser Aufenthaltstitel des Antragstellers nach ukrainischem Recht aufgrund der Länge seines Aufenthalts in Libyen erloschen ist, bedarf ggf. der Aufklärung im Hauptsacheverfahren.
56Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht abschließend zu klären ist zudem die Frage, in welchem Zeitraum bzw. an welchem Zeitpunkt vor dem 24. Februar 2022 sich eine in Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 genannte Person in der Ukraine aufgehalten haben muss. Der Wortlaut der Vorschrift enthält – wie auch bei Abs. 1 Buchstabe a und b – keine zeitliche Begrenzung. In der erwähnten Mitteilung der Kommission zu operativen Leitlinien für die Umsetzung des Durchführungsbeschlusses 2022/382 (ab Seite 5 unten) vertritt diese hinsichtlich der in Art. 2 Abs. 1 Buchstaben a und b genannten Gruppen eine zeitlich enge Definition. Danach solle etwa schon ein Urlaub oder ein Familienbesuch außerhalb der Ukraine bei Beginn der kriegerischen Handlungen einen Anspruch auf vorübergehenden Schutz ausschließen.
57Ob der Antragsteller nicht in der Lage ist, i. S. d. Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 sicher und dauerhaft in sein Herkunftsland zurückzukehren, kann im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ebenso wenig mit der erforderlichen Sicherheit geklärt werden.
58Der Senat versteht dabei diese Vorschrift ebenso wie Art. 2 Abs. 3 dahingehend, dass „ihr Herkunftsland“ in diesem Sinne nicht der Staat ist, in dem die zur Feststellung des Massenzustroms von Vertriebenen führende Vertreibung stattgefunden hat (hier die Ukraine). Insoweit ist der Begriff anders zu verstehen als in Art. 1 bzw. Art. 2 Buchstabe c) der Richtlinie 2001/55/EG; die dort in Bezug genommenen „Vertriebenen aus Drittländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können“, sind in diesem Sinne alle aus dem Herkunftsland infolge des bewaffneten Konflikts Vertriebenen, die nicht sicher dorthin zurückkehren können. Der Begriff des Herkunftslands in Art. 2 Abs. 2 und 3 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 bezieht sich demgegenüber auf Staatsangehörige anderer Drittstaaten als der Ukraine bzw. auf Staatenlose.
59Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 14. Oktober 2022 – 18 B 964/22 –, juris, Rn. 28 f. (auch zu dem von der Kommission angeführten Sonderfall von Personen, die dem Anschein nach eine sinnvollere Bindung zur Ukraine haben als zu ihrem Herkunftsland oder ihrer Herkunftsregion, so dass die Ukraine ihre Heimat sein könne).
60Dagegen, die Ukraine (generell) als Herkunftsland i. S. d. Art. 2 Abs. 2 (sowie Abs. 3) des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 anzusehen, spricht insbesondere, dass eine sichere und dauerhafte Rückkehr in die Ukraine nach den Wertungen und dem Sinn und Zweck des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 wegen des Kriegs in der Ukraine grundsätzlich nicht möglich ist. Entsprechend gründet gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2001/55/EG ein Beschluss des Rates, dass der vorübergehende Schutz beendet wird, auf der Feststellung, dass die Lage im Herkunftsland eine sichere, dauerhafte Rückkehr der Personen, denen der vorübergehende Schutz gewährt wurde, unter Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Nichtzurückweisung zulässt. Mithin liefe das Erfordernis, dass der Betreffende nicht in der Lage ist, sicher und dauerhaft in sein Herkunftsland oder seine Herkunftsregion zurückzukehren, bei einer Auslegung, dass dieses Herkunftsland die Ukraine ist, faktisch leer und würde diese ukrainischen Staatsangehörigen gleichstellen.
61Darauf, dass Herkunftsland in diesem Sinne nicht die Ukraine ist, lässt auch der letzte Satz des Erwägungsgrunds 13 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 schließen. Danach soll den dort genannten Personen (entsprechend den in Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 aufgeführten) nach ihrer Ausreise aus der Ukraine durch die Mitgliedstaaten eine sichere Durchreise im Hinblick auf die Rückkehr in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion gewährleistet werden. Dafür, dass der Begriff in Art. 2 Abs. 2 und 3 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 unterschiedlich verwendet wird, bestehen grundsätzlich keine Anhaltspunkte. Von Entsprechendem geht auch die Kommission in ihrer erwähnten Mitteilung zu operativen Leitlinien (ABl. 2022, C 126 I/4) aus, in der sie hinsichtlich Art. 2 Abs. 2 und 3 Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 auf die Rückkehrmöglichkeit in das „eigene Herkunftsland“ verweist.
62Der Begriff der sicheren und dauerhaften Rückkehr ist weder in der Richtlinie 2001/55/EG noch im Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 definiert. Die Kommission bezeichnet in ihrer Mitteilung (ABl. 2022, C 126 I/4) diesen Maßstab als „Konzept sui generis“. Sie verweist auf Art. 2 Buchstabe c der Richtlinie 2001/55/EG und führt an, eine Unmöglichkeit für eine „sichere Rückkehr“ könne beispielsweise aus dem offensichtlichen Risiko für die Sicherheit der betroffenen Person aus bewaffneten Konflikten oder dauernder Gewalt, dokumentierten Gefahren der Verfolgung oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung resultieren. Zudem nimmt sie auf die in Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2001/55/EG niedergelegten Anforderungen für einen Beschluss zur Beendigung des vorübergehenden Schutzes Bezug. Für eine „dauerhafte“ Rückkehr solle die betreffende Person, so die Kommission, aktive Rechte in ihrem Herkunftsland oder ihrer Herkunftsregion in Anspruch nehmen können, damit sie Perspektiven für die Deckung ihrer Grundbedürfnisse in ihrem Herkunftsland/ihrer Herkunftsregion und die Möglichkeit der Reintegration in die Gesellschaft hat. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat hat in seinen Hinweisen zur Umsetzung des Durchführungsbeschlusses des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms im Sinne des Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (Schreiben vom 5. September 2022 in der Fassung vom 20. September 2022, S. 8) die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG könnten als Maßstab herangezogen werden.
63Vgl. dabei zum unionsrechtlichen Begriff der Dauerhaftigkeit: VG Darmstadt, Beschluss vom 10. Februar 2023 – 5 L 89/23.DA –, juris, Rn. 28.
64Ob der Antragsteller sicher und dauerhaft in dem vorgenannten Sinne nach Libyen zurückkehren kann, bedarf ggf. der weiteren Aufklärung im Hauptsacheverfahren. Dies betrifft zum einen die aktuelle allgemeine Lage dort, zum anderen die für den Antragsteller individuell bestehenden Möglichkeiten, sich etwa dort ein Auskommen zu verschaffen und so seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Dabei geht der Senat davon aus, dass die individuellen Umstände einer Person nicht nur gegen eine dauerhafte und sichere Rückkehr in das Herkunftsland sprechen können (nur diese Fallkonstellation erwähnt die Mitteilung der Kommission, ABl. 2022, C 126 I/4), sondern auch für eine solche Rückkehr. Dies kommt hier in Betracht, weil der Antragsteller sich offensichtlich freiwillig für einen erheblichen Zeitraum von über einem Jahr in Libyen aufgehalten hat, um dort u. a. einen praktischen Teil seiner ärztlichen Ausbildung zu absolvieren.
65Vgl. insoweit (betreffend den Fall eines abgeschlossenen Zahnmedizinstudiums in der Ukraine und der Rückkehrmöglichkeit in den Libanon): Sächs. OVG, Beschluss vom 6. September 2023 – 3 B 141/23 –, juris, Rn. 16 f., m. w. N. zur Berücksichtigung individueller Umstände.
66c. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sieht der Senat entgegen dem Antrag des Antragstellers von einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 1 Buchstabe b, Abs. 2 AEUV ab. Der damit einhergehende Zeitverlust widerspricht dem Wesen des gerichtlichen Eilverfahrens.
67So auch OVG NRW, Beschluss vom 23. Juli 2018 – 2 B 565/18 –, juris, Rn. 17.
68Eine Vorlagepflicht besteht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch für das letztinstanzliche Gericht dann nicht, wenn – wie hier – die Auslegung von Unionsrecht in Frage steht.
69Vgl. EuGH, Urteile vom 27. Oktober 1982 – 35/82, 36/82 – Morson und Jhanjan, juris, Rn. 8 f., und vom 24. Mai 1977 – C-107/76 – Hoffmann-LaRoche/ Centrafarm, juris, Rn. 5; Dörr, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 122; vgl. insoweit auch BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17. Januar 2017 – 2 BvR 2013/16 –, juris, Rn. 14 f.
70Ob im Hinblick auf die vorgenannten Fragestellungen ggf. im Hauptsacheverfahren eine Vorlage in Betracht kommt, bedarf hier keiner Entscheidung.
712. Bei der von den Erfolgsaussichten der Hauptsache losgelösten Folgenabwägung überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse.
72Hierbei sind das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 Abs. 1 GrCh) und das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) zu beachten.
73Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 Abs. 1 GrCh) ist einschlägig, weil die mit der angefochtenen Ordnungsverfügung zurückgenommene Aufenthaltserlaubnis, wie ausgeführt, womöglich das auf Unionsrecht beruhende Gebot der Gewährung vorübergehenden Schutzes (Art. 5 und 8 der Richtlinie 2001/55/EG, Art. 2 Abs. 1 bzw. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382) umsetzt; hinsichtlich des „Ob“ des Schutzes ist den Mitgliedstaaten insoweit ein Umsetzungsspielraum nicht eröffnet.
74Die Mitgliedstaaten haben bei der Anwendung und Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten, dass das in Art. 47 Abs. 1 GrCh verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt ist.
75Vgl. EuGH, Urteile vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe, C-752/18, juris, Rn. 34, und vom 29. Juli 2019, Torubarov, C-556/17, juris, Rn. 69, s. auch zu allgemeinen Anforderungen des effektiven Schutzes unionaler Rechte bereits: EuGH, Urteile vom 15. Januar 2013 – C-416/10 –, Križan, juris, Rn. 107, und vom 13. März 2007 – C-432/05 – Unibet, juris, Rn. 67 und 75.
76Dementsprechend gebietet es Art. 47 Abs. 1 GrCh hier angesichts der aufgezeigten, maßgeblich im Unionsrecht wurzelnden Unsicherheit, ob die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis rechtmäßig ist oder ob der Antragsteller (weiterhin) Anspruch auf vorübergehenden Schutz und einen Aufenthaltstitel in Deutschland hat, die aufschiebende Wirkung seiner Klage – wie (allein) beantragt – hinsichtlich der Rücknahmeentscheidung wiederherzustellen. Dabei ist maßgeblich auch auf die möglichen Folgen für den Antragsteller abzustellen, wenn dieser aufgrund der angegriffenen Ordnungsverfügung gezwungen wäre, nach Libyen auszureisen, dorthin aber keine sichere und dauerhafte Rückkehr i. S. d. Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 möglich sein sollte. Dem entgegenstehende erhebliche öffentliche Interessen sind nicht erkennbar. Der allgemeine Verweis des Antragsgegners auf Spezial- und Generalprävention genügt – insbesondere vor dem Hintergrund offener unionsrechtlicher Fragestellungen – hierfür nicht. Auch dem Bezug von Sozialleistungen vermag angesichts der offenen Rechtsfragen und der etwaigen Gefahren bei einer Rückkehr nach Libyen insoweit kein hinreichendes Gewicht zuzukommen.
77Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Den Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes müssen die Gerichte auch bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über den verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz Rechnung tragen, da dieser in besonderer Weise der Sicherung grundrechtlicher Freiheit dient. Dabei ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn sich die vorzunehmende Interessenabwägung in erster Linie an der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts orientiert.
78Stellt sich hierbei eine Frage, die im Hauptsacheverfahren gegebenenfalls eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union erfordert, so lassen sich weder ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit verneinen, noch kann die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bejaht werden. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen. In diesen Fällen kann eine Antragsablehnung mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nur dann Bestand haben, wenn dieser Umstand – über die notwendig nur vorläufige rechtliche Einschätzung des Gerichts hinausgehend – in die Abwägung des Bleibeinteresses des Antragstellers mit dem öffentlichen Vollzugsinteresse einbezogen wird.
79Vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17. Januar 2017 – 2 BvR 2013/16 –, juris, Rn. 17 f.
80Dies zugrunde gelegt ist derzeit auch nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nach den obigen Ausführungen dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers der Vorrang gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse einzuräumen.
81Die Kostenentscheidung folgt für das Verfahren 18 B 1063/23 aus § 154 Abs. 1 VwGO. Für das Verfahren 18 E 674/23 ergibt sich die Kostenfolge aus § 154 Abs. 2 sowie aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
82Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
83Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).