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Im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG) muss ein Einreise- und Aufenthaltsverbot stets mit einer Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie einhergehen.
Eine Abschiebungsandrohung, die kein Drittland i. S. v. Art. 3 Nr. 3 der Rückführungsrichtlinie als konkreten Zielstaat bezeichnet, ist keine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie.
Sog. inlandsbezogene Ausweisungen sind mit der Rückführungsrichtlinie vereinbar. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Ausländer bereits unabhängig von der Ausweisung ausreisepflichtig bzw. sein Aufenthalt illegal i. S. v. Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie ist.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 23. Mai 2022 teilweise geändert.
Die Klage wird abgewiesen, soweit der Kläger die Aufhebung der in Ziffer I der Ordnungsverfügung des Beklagten vom 16. Februar 2021 verfügten Ausweisung begehrt.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen unter Einbeziehung des rechtskräftigen Teils der erstinstanzlichen Kostenentscheidung der Kläger zu drei Viertel und der Beklagte zu einem Viertel. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über die Ausweisung des Klägers aus dem Bundesgebiet sowie die Befristung der Wirkung der Ausweisung auf 24 Monate ab dem Tag der Ausreise.
3Der am 1. März 1985 in Mailand, Italien, geborene Kläger ist ungeklärter Staatsangehörigkeit und Angehöriger der Volksgruppe der Roma. Er reiste erstmals im Oktober 1986 mit seiner Mutter – die zum damaligen Zeitpunkt jugoslawische Staatsangehörige war – in die Bundesrepublik Deutschland ein. Einen im November 1986 gestellten Asylantrag des Klägers und seiner Mutter lehnte das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 4. Juni 1987 als offensichtlich unbegründet ab. Die Stadt N. forderte die Mutter des Klägers mit Bescheid vom 15. Juli 1987 zur Ausreise auf und drohte ihr die Abschiebung an. Nach zwischenzeitiger Abwesenheit reiste der Kläger im November 1988 mit seiner Mutter erneut in das Bundesgebiet ein. In der Folge wurde er zunächst geduldet.
4Der Kläger besuchte ab dem August 1992 die Grundschule in I. , wiederholte die erste Klasse und wurde zum Schuljahr 1994/1995 in eine Sonderschule für lernbehinderte, für sprachbehinderte und für erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche umgeschult. Er verließ diese Schule im Sommer 2002 ohne Abschluss.
5Im Dezember 2002 wurde der Sohn N. des Klägers geboren, für den dieser im März 2003 die Vaterschaft anerkannte.
6Bereits im März 1996 hatte der Kläger erstmals eine Aufenthaltsbefugnis erhalten, die der Beklagte in der Folge bis zum 10. April 2003 verlängerte. Einen im Juni 2003 gestellten Antrag des Klägers auf Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 3. Februar 2004 ab. Zur Begründung führte er u. a. aus, dass ein Ausweisungsgrund vorliege. Der Kläger trete seit seinem 15. Lebensjahr strafrechtlich in Erscheinung. Er sei zudem nicht bereit, sich um eine Beschäftigung zu bemühen. Das Sozialamt der Stadt I. habe die Sozialhilfe eingestellt, weil er gemeinnützige Arbeit verweigert habe. Gegenüber dem Beklagten habe der Kläger zu erkennen gegeben, nicht arbeiten zu wollen. Danach wurde der Kläger geduldet.
7Im Februar 2007 beantragte der Kläger erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Der Beklagte teilte im November 2007 mit, die Bearbeitung des Antrags werde wegen laufender Strafverfahren des Klägers bis zu deren Abschluss gemäß § 79 Abs. 2 AufenthG ausgesetzt.
8Am 23. März 2012 erteilte der Beklagte dem Kläger eine bis zum 22. März 2013 gültige Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG, deren Verlängerung der Kläger am 19. März 2013 beantragte. In der Folgezeit erhielt der Kläger Fiktionsbescheinigungen, zuletzt mit einer Gültigkeit bis zum 23. Februar 2021. Danach wurde der Kläger wieder geduldet.
9Der Kläger ist ausweislich einer am 9. Juli 2024 eingeholten Auskunft aus dem Bundeszentralregister wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:
10Das Amtsgericht C. verurteilte ihn am 20. September 2012 (Az. ###) wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen.
11Am 16. Juli 2013 verurteilte ihn das Amtsgericht C. (Az. ###) wegen Diebstahls mit Waffen und Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten und zwei Wochen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Strafe wurde mit Wirkung vom 4. September 2015 erlassen.
12Am 14. Oktober 2015 verurteilte das Amtsgericht L. (Az. ###) den Kläger wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung und Hausfriedensbruch sowie versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen.
13Das Amtsgericht C. (Az. ###) verurteilte den Kläger am 22. Dezember 2015 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen.
14Am 24. Februar 2016 verurteilte das Amtsgericht L. (Az. ###) den Kläger wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG) zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen.
15Das Amtsgericht C. (Az. ###) verurteilte ihn am 10. August 2016 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis unter Einbeziehung der Entscheidungen des Amtsgerichts L. vom 24. Februar 2016 und des Amtsgerichts C. vom 22. Dezember 2015 zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen.
16Am 6. September 2016 verurteilte ihn das Amtsgericht C. (Az. ###) wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit vorsätzlichem Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen.
17Am 9. Dezember 2016 verurteilte das Amtsgericht C. (Az. ###) den Kläger wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in zwei Fällen zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen.
18Das Amtsgericht C. (Az. ###) verurteilte ihn am 23. Dezember 2016 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Kennzeichenmissbrauch und Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen.
19Am 11. Dezember 2017 verurteilte ihn das Amtsgericht C. (Az. ###) wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen.
20Am 13. Dezember 2017 verurteilte das Amtsgericht L. (Az. ###) den Kläger wegen Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
21Das Amtsgericht C. verurteilte den Kläger am 24. April 2018 (Az. ###) wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Bedrohung und Beleidigung zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen.
22Am 11. Juli 2018 verurteilte ihn das Amtsgericht L. (Az. ###) wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen.
23Am 18. Juli 2018 verurteilte ihn das Amtsgericht C. (Az. ###) wegen Urkundenfälschung und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlichem Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz und in einem weiteren Fall zugleich in Tateinheit mit Urkundenfälschung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Mit Urteil vom 21. Dezember 2018 verwarf das Landgericht L. (Az. ###) die Berufung des Klägers mit der Maßgabe, dass dieser unter Einbeziehung der Strafen aus den Urteilen des Amtsgerichts L. vom 13. Dezember 2017 und 11. Juli 2018 sowie aus dem Urteil des Amtsgerichts C. vom 24. April 2018 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit lief bis zum 20. Dezember 2021.
24Das Amtsgericht L. (Az. ###) erlegte dem Kläger am 14. Dezember 2018 wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen auf.
25Am 19. Februar 2020 verurteilte das Amtsgericht C. (Az. ###) den Kläger wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Auf Berufung der Staatsanwaltschaft änderte das Landgericht L. (Az. ###) die Entscheidung des Amtsgerichts C. mit Urteil vom 25. September 2020 dahingehend ab, dass die Strafvollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die vom Kläger eingelegte Revision verwarf das Oberlandesgericht L. (Az. ###) mit Beschluss vom 19. Februar 2021. Mit Beschluss vom 6. Dezember 2021 setzte das Landgericht C. nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haftstrafe die Vollstreckung des Strafrests aus dem Urteil des Amtsgerichts C. vom 19. Februar 2020 zur Bewährung aus und die Bewährungszeit auf drei Jahre fest. Am 15. Dezember 2021 wurde der Kläger aus der Strafhaft entlassen.
26Am 15. März 2021 hatte das Amtsgericht C. ein gegen den Kläger geführtes Strafverfahren wegen eines im April 2020 begangenen Diebstahls (Az. ###) im Hinblick auf das rechtskräftige Urteil des Landgerichts L. im Verfahren ### gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.
27Bereits mit Schreiben vom 27. August 2020 hatte der Beklagte den Kläger zu einer Ausweisung und Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis angehört.
28Mit Ordnungsverfügung vom 16. Februar 2021 wies der Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer I), befristete die Wirkung der Ausweisung auf 24 Monate ab dem Tag der Ausreise (Ziffer II), lehnte den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab (Ziffer III) und forderte den Kläger auf, sich um die Klärung seiner Staatsangehörigkeit und die Ausstellung eines Heimatpasses zu bemühen (Ziffer IV). Zur Begründung der Ausweisung führte er im Wesentlichen aus: Aufgrund der vom Kläger begangenen Straftaten bestehe ein schweres Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 9 AufenthG. Die Ausweisung sei aus spezialpräventiven Gründen erforderlich. Eine Wiederholungsgefahr sei zu bejahen, wobei angesichts der Verurteilungen des Klägers wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz, Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz, vorsätzlicher Körperverletzung sowie Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte geringere Anforderungen an den Grad der Wiederholungswahrscheinlichkeit zu stellen seien. Der Kläger habe sich auch durch die erheblichen Geldstrafen sowie die Bewährungsstrafen nicht davon abhalten lassen, wiederholt Straftaten zu begehen. Ein Bleibeinteresse gemäß § 55 AufenthG bestehe nicht. Der Besitz einer Fiktionsbescheinigung sei kein Besitz einer Aufenthaltserlaubnis i. S. d. § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Auch ein Bleibeinteresse i. S. v. § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG liege nicht vor; der Sohn N. des Klägers sei volljährig. Die Abwägung nach § 53 Abs. 2 AufenthG gehe zulasten des Klägers aus. Er sei zwar kurz nach seiner Geburt in das Bundesgebiet eingereist, zunächst aufgrund der ungeklärten Staatsangehörigkeit aber lediglich geduldet worden. Trotz wiederholter Aufforderungen habe er nichts unternommen, um seine Staatangehörigkeit aufzuklären oder Nachweise darüber zu erbringen, dass er staatenlos sei. Seit seiner Jugend sei er regelmäßig strafrechtlich in Erscheinung getreten, so dass trotz des langen Aufenthalts im Bundesgebiet von einer Integration nicht einmal im Ansatz die Rede sein könne. Die familiären Bindungen des Klägers seien ebenfalls als gering zu bezeichnen. Er lebe zwar mit seinem Sohn N. in familiärer Lebensgemeinschaft; dieser sei aber mittlerweile volljährig und nicht mehr auf die Hilfeleistung des Klägers angewiesen. Zudem sei auch dieser nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis und trotz seines jungen Alters bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten, so dass der Kläger offensichtlich keinen positiven Einfluss auf seinen Sohn ausüben könne. Eine wirtschaftliche Integration habe trotz des langen Aufenthalts im Bundesgebiet nicht stattgefunden. Obwohl er jung und gesund sei, habe sich der Kläger zu keinem Zeitpunkt die Mühe gemacht, seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu sichern, sondern beziehe durchgehend öffentliche Mittel. Eine Rückkehr in sein (noch zu klärendes) Heimatland sei für den Kläger auch mit Blick auf das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht unzumutbar. Da die Staatsangehörigkeit des Klägers noch nicht abschließend geklärt sei, sei noch keine Abschiebungsandrohung erlassen worden.
29Zur Begründung der Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Ziffer II der angegriffenen Ordnungsverfügung führte der Beklage im Wesentlichen aus, gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG sei gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen, das gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen sei. Die Frist beginne mit der Ausreise (§ 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG), über ihre Länge werde gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Für die Bestimmung der Dauer der Frist sei maßgebend, ob und ggf. wann der mit der Ausweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung verfolgte Zweck durch die vorübergehende Fernhaltung des Ausländers aus dem Bundesgebiet erreicht sei. Die Behörde habe auch dazu das Verhalten des Betroffenen zu würdigen und im Wege einer Prognose auf der Grundlage einer aktualisierten Tatsachenbasis die (Höchst-)Frist nach dem mutmaßlichen Eintritt der Zweckerreichung zu bemessen. Bei der Entscheidung seien – wie auch bei der Ausweisung – die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Hierzu werde auf die Ausführungen zu Ziffer I. verwiesen. Die Wirkung werde daher auf 24 Monate ab dem Tag der Ausreise befristet.
30Der Kläger hat am 24. März 2021 Klage erhoben. Zur Begründung der Klage hat er geltend gemacht, dass er faktischer Inländer sei. Die begangenen Straftaten seien nicht so schwerwiegend, dass sie eine Ausweisung aus dem Bundesgebiet rechtfertigen könnten. Seine Bleibeinteressen überwögen. Er habe fast sein gesamtes Leben im Bundesgebiet verbracht, hier die Schule bis zur 9. Klasse besucht und spreche nur Deutsch und Roma. Zu anderen Staaten habe er keinerlei Verbindung. Als Staatenloser könne er auch nicht in ein anderes Land abgeschoben werden. Er sei zudem Vater zweier deutscher minderjähriger Kinder, für die er das Sorgerecht ausübe.
31Der Kläger hat beantragt,
32die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 16. Februar 2021 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
33Der Beklagte hat beantragt,
34die Klage abzuweisen.
35Zur Begründung hat er im Wesentlichen auf die Ordnungsverfügung vom 16. Februar 2021 verwiesen und ergänzend vorgetragen, dass der Kläger derzeit auf Grund seiner nicht geklärten Identität nicht abgeschoben werden könne und daher auch keine Abschiebungsandrohung erlassen worden sei, ändere nichts an der Rechtmäßigkeit der Ausweisung. Hinsichtlich der beiden deutschen Kinder des Klägers, für die er angeblich das Sorgerecht ausübe, lägen dem Beklagten keine Erkenntnisse vor.
36Mit aufgrund mündlicher Verhandlung vom 23. Mai 2022 ergangenem Urteil hat das Verwaltungsgericht die Ziffern I und II der Ordnungsverfügung des Beklagten vom 16. Februar 2021 aufgehoben und die Klage im Übrigen (rechtskräftig) abgewiesen. Die in Ziffer I verfügte Ausweisung sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten. Aufgrund der Verurteilung wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten liege zwar ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vor. Außerdem wiege das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (a. F.) schwer, weil der Kläger einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen habe. Dem stehe jedoch ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG entgegen. Aufgrund der glaubhaften und nachvollziehbaren Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger derzeit eine schutzwürdige Lebensgemeinschaft mit Frau O. und den aus dieser Beziehung hervorgegangenen minderjährigen deutschen Kindern K. , geboren am 23. August 2018, und T. , geboren am 17. August 2019 führe. Insbesondere habe der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass ihm eine Überprüfung der Vaterschaft zu den Kindern angekündigt worden sei. Auch das Landgericht L. habe im Urteil vom 25. September 2020 festgestellt, dass der Kläger mit seiner aktuellen Partnerin – Frau O. – und den aus dieser Beziehung hervorgegangenen Kindern zusammenlebe. Aufgrund einer Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls sei derzeit – ohne dass dadurch die für eine Ausweisung sprechenden Umstände für die Zukunft verbraucht wären – davon auszugehen, dass sich die Bleibeinteressen des Klägers noch gegenüber dem Ausweisungsinteresse durchsetzten. Aus der Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung folge auch die Rechtswidrigkeit der in Ziffer II der Ordnungsverfügung vom 16. Februar 2021 angeordneten Befristung der Wirkung der Ausweisung.
37Zur Begründung der mit Beschluss vom 9. August 2022 durch den Senat zugelassenen Berufung führt der Beklagte im Wesentlichen aus: Ein Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG liege entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht vor. Der Kläger sei nicht sorgeberechtigter Vater der Kinder K. und T. ; auch ein Umgangsrecht stehe ihm nicht zu. Der Kläger habe erstmals in seiner Klagebegründung vom 23. April 2021 vorgetragen, Vater von zwei minderjährigen deutschen Kindern zu sein, für die er das Sorgerecht ausübe. Weder die Kindesmutter noch die Kinder seien namentlich benannt worden. Trotz der Dauer des Klageverfahrens von über einem Jahr und der Aufforderung des Verwaltungsgerichts vom 9. Dezember 2021, nunmehr kurzfristig die angekündigten Nachweise zu den angeblichen Vaterschaften vorzulegen, habe der Kläger keine Nachweise in Form von Geburtsurkunden, deutschen Kinderausweisen, Vaterschaftsanerkennungen oder Sorgerechtsentscheidungen beigebracht. Die Namen und Geburtsdaten der Kinder ergäben sich ausschließlich aus einem Fragebogen, den der Kläger nach Aufforderung des Beklagten zwecks Erlangung eines Passes ausgefüllt habe. Auch bezüglich der Lebensgefährtin O. habe er keine Nachweise vorgelegt. Weder Frau O. noch die Kinder seien bei der Verhandlung anwesend gewesen. Er, der Beklagte, habe nunmehr eigenständig Informationen hinsichtlich einer möglichen Vaterschaft des Klägers für die beiden deutschen Kinder und das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft eingeholt. Ausweislich der beigefügten Meldebescheinigung der Stadt I. vom 10. Juni 2022 wohne Frau O. mit den Kindern N. (geboren am 8. August 2008), E. (geboren am 23. August 2011) und K. (geboren am 23. März 2018) in der K.-Straße in I. . Vater der Kinder N. und E. sei laut der beigefügten Geburtsurkunden Herr Q. Der Vater von K. sei laut der beigefügten Geburtsurkunde nicht bekannt. Eine gemeinsame Meldeadresse mit dem Kläger habe laut weiterem Schreiben des Einwohnermeldeamts vom 20. Juni 2022 zu keinem Zeitpunkt bestanden. Auf Nachfrage habe das Einwohnermeldeamt zudem mitgeteilt, dass das Kind T. (geboren am 17. August 2019) dort weder bekannt noch gemeldet sei. Frau O. und der Kläger seien auch nicht verheiratet. Selbst wenn man trotz der unterschiedlichen Meldeadressen zugunsten des Klägers von einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Frau O. ausgehen würde, handele es sich dabei um keine familiäre Lebensgemeinschaft. Da dem Kläger mit der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung wegen der ungeklärten Staatsangehörigkeit nicht die Abschiebung angedroht worden sei, sei eine Trennung von den vermeintlichen Kindern auf absehbare Zeit zudem nicht zu befürchten. Die unter Ziffer II ergangene Befristungsentscheidung sei ebenfalls rechtmäßig.
38Der Beklagte beantragt,
39unter entsprechender teilweiser Abänderung des angegriffenen Urteils des Verwaltungsgerichts Köln vom 23. Mai 2022 die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
40Der Kläger hat im Berufungsverfahren weder einen Antrag gestellt noch zur Sache vorgetragen.
41Mit Verfügung vom 14. März 2024 hat die Staatsanwaltschaft L. ein gegen den Kläger geführtes Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung und Sachbeschädigung (Az. ###) durch Verweis auf den Privatklageweg eingestellt. Ausweislich der in der Ermittlungsakte befindlichen Dokumentation über einen polizeilichen Einsatz bei häuslicher Gewalt habe der Kläger am 5. November 2023 die Wohnung der O. und ihrer fünf Kinder in einer Obdachlosenunterkunft in I. aufgesucht und im Zuge einer Streitigkeit die Tür zu einem Zimmer eingetreten, in dem sich O. mit „den gemeinsamen zwei Kindern“ eingeschlossen habe. Die 2008 geborene Tochter N. der O. habe zudem angegeben, der Kläger habe sie als „Hurentochter“ bezeichnet. Die Polizei hat gegenüber dem Kläger eine 10-tägige Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot ausgesprochen und im Rahmen der Gefahrenprognose ausgeführt, der Kläger und Frau O. seien seit längerer Zeit nicht mehr in einer Beziehung. Wegen der beiden gemeinsamen Kinder halte sich der Kläger aber sehr häufig in ihrer Wohnung auf; diese sei der gemeinsame Lebensmittelpunkt. Es komme häufig zu Streitigkeiten; auch im Rahmen des Polizeieinsatzes habe sich der Kläger aggressiv gezeigt. Eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der Frau O. und ihrer Kinder könne auch in Zukunft nicht ausgeschlossen werden; eine wachsende Gewaltspirale sei erkennbar. In einem Bericht vom 23. Februar 2024 hat der Ambulante Soziale Dienst beim Landgericht L. ausgeführt, der Kläger habe erklärt, die Partnerschaft mit O. bestehe bereits seit zehn Jahren und sei auch nach der Tat vom 5. November 2023 weitergeführt worden. Nach wie vor verbringe er regelmäßig Zeit mit ihr und ihren Kindern und übernachte des Öfteren in ihrer Wohnung. Das Jugendamt der Stadt I. habe eine ambulante Familienhilfe eingerichtet. Seit dem Vorfall sei es nicht mehr zu Konflikten gekommen; man verbringe als Familie wieder regelmäßig Zeit miteinander. Frau O. habe (ebenfalls) angegeben, sie lebe von dem Kläger getrennt, habe jedoch zwei gemeinsame Kinder mit ihm; man verbringe nach wie vor regelmäßig Zeit miteinander.
42Der Senat hat den Kläger mit der Ladungsverfügung vom 8. Juli 2024 gemäß § 87b Abs. 2 VwGO und unter Hinweis auf § 87b Abs. 3 Satz 1 VwGO aufgefordert, hinsichtlich der behaupteten Vaterschaft für zwei im Bundesgebiet lebende minderjährige deutsche Kinder Nachweise für die Vaterschaft betreffend diese Kinder, für ein etwaiges Sorgerecht für diese Kinder und für das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit diesen Kindern bis zum 26. Juli 2024 vorzulegen. Darauf hat der Kläger nicht reagiert.
43Mit rechtskräftigem Urteil vom 13. August 2024 hat das Amtsgericht C. (Az. ###) den Kläger wegen Diebstahls, des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen verurteilt.
44Die Ausländerbehörde des Beklagten hat auf telefonische Anfrage des Senats am 3. September 2024 mitgeteilt, die Staatsangehörigkeit des Klägers sei (ebenso wie diejenige seiner Mutter) weiterhin ungeklärt.
45Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des Verwaltungsvorgangs des Beklagten und der beigezogenen Strafakten der oben genannten Strafgerichte bzw. der Staatsanwaltschaft (Az. ###) Bezug genommen.
46Entscheidungsgründe:
47Der Senat konnte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO über die Berufung verhandeln und entscheiden, obwohl für den Kläger – wie vorab telefonisch angekündigt – niemand erschienen ist. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers ist ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen und dabei darauf hingewiesen worden, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
48Die zulässige Berufung des Beklagten ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.
491. Die Berufung bleibt erfolglos, soweit das Verwaltungsgericht auf die zulässige Klage die Ziffer II der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung aufgehoben hat. Die Entscheidung ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Ziffer II der Ordnungsverfügung ist – schon unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der Ausweisung in Ziffer I – rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
50Ziffer II der Ordnungsverfügung ist in der Zusammenschau mit der Begründung (vgl. Seite 8 f. der Ordnungsverfügung) dahingehend auszulegen, dass der Beklagte gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und dessen Dauer im Ermessenswege auf 24 Monate befristet hat.
51Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung der Tatsacheninstanz.
52Vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 –, juris, Rn. 21, und vom 27. Juli 2017 – 1 C 28.16 –, juris, Rn. 16.
53Zwar ordnet § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an, dass gegen einen Ausländer, der – wie der Kläger mit Ziffer I der Ordnungsverfügung – ausgewiesen worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen ist. Der Rechtmäßigkeit des Einreise- und Aufenthaltsverbots steht hier jedoch Unionsrecht entgegen. Nach Art. 3 Nr. 6, Art. 11 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) geht ein Einreiseverbot mit einer Rückkehrentscheidung i. S. d. Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie einher. Besteht gegenüber einem Drittstaatsangehörigen keine Rückkehrentscheidung (mehr), kann auch das Einreiseverbot nach Art. 3 Nr. 6, Art. 11 der Rückführungsrichtlinie keinen Bestand haben.
54Vgl. EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 – C-546/19 –, juris, Rn. 61; BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 – juris, Rn. 53 ff.; OVG NRW, Urteil vom 22. August 2023 – 18 A 1174/22 –, juris, Rn. 183 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 30. August 2023 – 2 LC 116/23 –, juris, Rn. 70; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 2. Januar 2023 – 12 S 1841/22 –, juris, Rn. 149 ff.
55Vorliegend ist die Rückführungsrichtlinie einschlägig, weil der Kläger sich – auch insoweit bereits unabhängig von der Ausweisung – wegen der (rechtskräftig bestätigten) Ablehnung des Antrags auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis gemäß Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Nr. 2 der Rückführungsrichtlinie illegal im Bundesgebiet aufhält (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1, § 50 Abs. 1 und 2 AufenthG). Der Anwendungsbereich der Richtlinie wird allein unter Bezugnahme auf die Situation des illegalen Aufenthalts definiert, in der sich ein Drittstaatsangehöriger befindet, unabhängig von den Gründen, die dieser Situation zugrunde liegen oder den Maßnahmen, die gegen ihn getroffen werden können.
56Vgl. EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 – C-546/19 –, juris, Rn. 43 ff.; BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 –, juris, Rn. 53.
57Allerdings ist nicht bereits der Verwaltungsakt, der den Aufenthalt illegal werden lässt (wie etwa eine Ausweisung), sondern erst die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie.
58Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 –, juris Rn. 41, m. w. N.
59Eine den Anforderungen der Rückführungsrichtlinie entsprechende Abschiebungsandrohung liegt hier nicht vor. Eine solche ist weder mit der angegriffenen Ordnungsverfügung noch zuvor gegenüber dem Kläger erlassen worden. In den beigezogenen Verwaltungsvorgängen des Beklagten findet sich lediglich die nach dem erfolglosen Asylverfahren im Jahr 1987 gegenüber der Mutter des Klägers ergangene Abschiebungsandrohung der Stadt N. . Ungeachtet der Frage, ob sie auch gegenüber dem Kläger erlassen wurde und wegen zwischenzeitlicher Ausreise nicht ohnehin erledigt ist, erfüllt sie mangels Benennung eines Zielstaats auch nicht die Anforderungen der Rückführungsrichtlinie, denn in der Rückkehrentscheidung ist unter den in Art. 3 Nr. 3 der Rückführungsrichtlinie genannten Drittländern dasjenige anzugeben, in das der Drittstaatsangehörige abzuschieben ist.
60Vgl. EuGH, Urteile vom 6. Juli 2023– C-663/21 –, juris, Rn. 46, und vom 24. Februar 2021 – C-673/19 –, juris, Rn. 39.
61Ungeachtet der Frage der Vereinbarkeit mit Unionsrecht könnte es für die Anordnung eines rein nationalen Einreise- und Aufenthaltsverbots, das kein Einreiseverbot i. S. v. Art. 3 Nr. 6, Art. 11 der Rückführungsrichtlinie ist, an einer rechtlichen Grundlage fehlen, falls § 11 AufenthG weiterhin allein der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie dient.
62Vgl. OVG Bremen, Urteil vom 30. August 2023 – 2 LC 116/23 –, juris, Rn. 71; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 2. Januar 2023 – 12 S 1841/22 –, juris, Rn. 156 ff., jeweils m. w. N.; s. nun aber zum Rückführungsverbesserungsgesetz VG Stuttgart, Urteil vom 16. April 2024 – 11 K 5781/22 –, juris, Rn. 116 bis 125.
63Auf diese (höchstrichterlich noch nicht geklärte) Frage kommt es aber nicht entscheidungserheblich an, weil jedenfalls die hier verfügte Befristung auf 24 Monate ermessensfehlerhaft (§ 40 VwVfG NRW, § 114 Satz 1 VwGO) ist und damit auch ein rein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot insgesamt aufzuheben wäre.
64Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen. Über die Länge der Frist wird nach Ermessen entschieden (§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d. h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (insbesondere Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK, gemessen und ggf. relativiert werden. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern bedarf es nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange.
65Vgl. BVerwG, Urteile vom 22. Februar 2017 – 1 C 27.16 –, juris, Rn. 23, und – 1 C 3.16 –, juris, Rn. 66; OVG NRW, Urteil vom 22. August 2023 – 18 A 1174/22 –, juris, Rn. 187.
66Nach diesen Maßgaben ist die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 24 Monate ermessensfehlerhaft. Der Begründung von Ziffer II der Ordnungsverfügung lässt sich schon nicht entnehmen, von welcher Höchstfrist zur Erreichung des Ausweisungszwecks der Beklagte im ersten Schritt ausgegangen ist und ob bzw. inwieweit er diese mit Blick auf die genannten verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen in einem zweiten Schritt relativiert hat. Der bloße Verweis auf die Begründung der Ausweisungsentscheidung reicht dazu ersichtlich nicht aus.
67Es kann offen bleiben, ob bei Fehlen einer Rückkehrentscheidung bzw. Abschiebungsandrohung eine isolierte Titelerteilungssperre nach nationalem Recht auf § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG (bis zum Inkrafttreten des Rückführungsverbesserungsgesetzes am 27. Februar 2024 § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) gestützt werden kann.
68So VGH Bad.-Württ., Urteil vom 2. Januar 2023 – 12 S 1841/22 –, juris, Rn. 163 ff.; VG Stuttgart, Urteil vom 16. April 2024 – 11 K 5781/22 –, juris, Rn. 126 f.; a. A. OVG Bremen, Urteil vom 30. August 2023 – 2 LC 116/23 –, juris, Rn. 72 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 6. März 2024 – 13 LC 116/23 –, juris, Rn. 107 f.,
69Die Frage bedarf hier keiner Entscheidung, weil sich Ziffer II der Ordnungsverfügung nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB analog) auch in der Zusammenschau mit der Begründung schon nicht mit hinreichender Bestimmtheit entnehmen lässt, dass der Beklagte eine isolierte Titelerteilungssperre angeordnet hat.
70Jedenfalls wäre auch eine solche wegen Ermessensfehlern bei ihrer Befristung insgesamt aufzuheben. Sofern eine isolierte Titelerteilungssperre rechtlich möglich wäre, wäre deren Dauer jedenfalls entsprechend § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ebenfalls von Amts wegen zu befristen und über die Länge der Frist (entsprechend § 11 Abs. 3 AufenthG) nach Ermessen zu entscheiden. Ob bzw. inwieweit dabei die für die Festlegung der Dauer eines Einreise- und Aufenthaltsverbots anzustellenden Erwägungen (siehe oben) entsprechend gelten,
71so VGH Bad.-Württ., Urteil vom 2. Januar 2023 – 12 S 1841/22 –, juris, Rn. 179 f.,
72obwohl nicht die Einreise und der Aufenthalt, sondern nur dessen Legalisierung verhindert wird, kann offenbleiben, weil die Ermessensausübung des Beklagten keine einzelfallbezogenen nachvollziehbaren Erwägungen zu der Dauer einer (isolierten) Titelerteilungssperre enthält.
732. Die Berufung hat Erfolg, soweit sie sich gegen die Aufhebung der Ausweisung in Ziffer I der angegriffenen Ordnungsverfügung durch das Verwaltungsgericht richtet. Die Klage ist auch insoweit zulässig, aber unbegründet.
74a. Die Klage gegen die Ausweisung ist zulässig, insbesondere kann der Kläger geltend machen, durch die Ausweisung in seinen Rechten verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 VwGO). Zwar ist die ihm zuletzt erteilte Aufenthaltserlaubnis auch unabhängig von der Ausweisung (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) durch den Ablauf ihrer Geltungsdauer und die Ablehnung des mit Fiktionswirkung gestellten Verlängerungsantrags erloschen. Solange die gerichtliche Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots noch nicht rechtskräftig ist, muss der Kläger indes befürchten, dass die Ausweisung noch Bedeutung als notwendige Grundlage dieses belastenden (Folge-)Verwaltungsakts erlangt. Schließlich bringt die Ausweisung hier auch andere Rechtsnachteile mit sich. Besteht gegen den Ausländer eine Ausweisungsverfügung, ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Berufsausbildung (§ 16g Abs. 2 Nr. 4 AufenthG) sowie die Erteilung einer Ausbildungsduldung (§ 60c Abs. 2 Nr. 4 AufenthG) und einer Beschäftigungsduldung (§ 60d Abs. 1 Nr. 9 AufenthG) ausgeschlossen.
75Vgl. dazu OVG Bremen, Urteil vom 30. August 2023 – 2 LC 116/23 –, juris, Rn. 29.
76b. Die Klage ist insoweit aber unbegründet. Die Ausweisung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
77aa. Der Ausweisung steht nicht bereits entgegen, dass im auch insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat,
78vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 –, juris, Rn. 21, und vom 9. Mai 2019 – 1 C 21.18 –, juris, Rn. 11; OVG NRW, Urteil vom 12. Juli 2017 – 18 A 2735/15 –, juris, Rn. 29,
79keine als Rückkehrentscheidung i. S. v. Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie zu qualifizierende Abschiebungsandrohung vorliegt.
80Das Nichtergehen (bzw. die Aufhebung) einer Rückkehrentscheidung lässt die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung grundsätzlich unberührt. Aus der in Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie normierten Pflicht zum Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen alle sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhaltenden Drittstaatsangehörigen kann grundsätzlich nicht geschlussfolgert werden, dass ein erst späterer Erlass einer Rückkehrentscheidung (oder eine nachträgliche Aufhebung einer zuvor erlassenen Rückkehrentscheidung) die Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden Ausweisung berührt. Die Ausweisung, die selbst keine Rückkehrentscheidung darstellt, unterfällt bereits nicht dem Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie; ihre Voraussetzungen werden daher auch nicht durch diese bestimmt. Die Rückführungsrichtlinie hat nicht zum Ziel, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren; die durch sie geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren beziehen sich vielmehr nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung. Zudem ist dem Unionsrecht und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht zu entnehmen, dass die als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie zu qualifizierende Abschiebungsandrohung gleichzeitig oder gar in einem Bescheid mit der Ausweisung zu erlassen ist. Wie sich im Umkehrschluss aus Art. 6 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie ergibt, haben die Mitgliedstaaten zwar eine dementsprechende Möglichkeit, sind dazu aber nicht verpflichtet.
81Vgl. BVerwG, Urteile vom 16. November 2023 – 1 C 32.22 –, juris, Rn. 22 f. (mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 22. November 2022 – C-69/21 –, juris, Rn. 84), und vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 –, juris, Rn. 41 (mit Verweis auf EuGH, Urteile vom 24. Februar 2021 – C-673/19 –, juris, Rn. 43, vom 19. Juni 2018 – C-181/16 –, juris, Rn. 60, und vom 1. Oktober 2015 – C-290/14 –, juris, Rn. 20).
82Diese Grundsätze gelten nach Auffassung des Senats auch für die hier vorliegende sog. inlandsbezogene Ausweisung, die nicht auf eine Aufenthaltsbeendigung durch freiwillige Ausreise oder Abschiebung abzielt, sondern wegen Vorliegens eines voraussichtlich auf absehbare Zeit bestehenden Ausreise- bzw. Abschiebungshindernisses lediglich auf das Erlöschen des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG bzw. allein auf eine Verschlechterung des aufenthaltsrechtlichen Status gerichtet ist.
83Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 –, juris, Rn. 42.
84Hier ist von einer inlandsbezogenen Ausweisung auszugehen. Zwar hat der Beklagte den Kläger gleichzeitig mit der Ausweisung in Ziffer IV der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung aufgefordert, sich um die Klärung seiner Staatsangehörigkeit und die Ausstellung eines Heimatpasses zu bemühen. Im Rahmen der Abwägung der Ausreise- und der Bleibeinteressen (vgl. Ordnungsverfügung, Seite 7 f.) hat er zudem darauf abgestellt, dass dem Kläger eine Rückkehr in sein (noch zu bestimmendes) Heimatland zumutbar sei. Da seine Staatsangehörigkeit noch nicht abschließend geklärt sei, habe der Beklagte noch keine Abschiebungsandrohung erlassen (Hervorhebung durch den Senat). In tatsächlicher Hinsicht ist aber festzustellen, dass bei der Klärung der Staatsangehörigkeit des Klägers seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung vor nunmehr über drei Jahren keine nennenswerten Fortschritte erzielt worden sind. Vielmehr hat der Beklagte zur Begründung der Berufung mit Schriftsatz vom 22. August 2022 selbst vorgetragen, da dem Kläger mit der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung die Abschiebung nicht angedroht worden sei, sei eine Trennung von den (vermeintlichen) minderjährigen Kindern auf absehbare Zeit nicht zu befürchten. Die Ausländerbehörde des Beklagten hat auf Nachfrage des Senats am 3. September 2024 zudem mitgeteilt, die Staatsagenhörigkeit des Klägers (sowie die seiner Mutter) sei weiterhin ungeklärt. Es erscheint derzeit zwar nicht von vornherein unmöglich, die Staatsangehörigkeit des Klägers noch aufzuklären und Heimreisepapiere zu beschaffen. Gleichzeitig gibt es aber keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass dies in absehbarer Zeit auch erfolgen wird. Die Ausweisung entfaltet damit derzeit und auch auf absehbare Zeit in dem oben genannten Sinn rein inlandsbezogene Wirkungen.
85Die Rückführungsrichtlinie steht der inlandsbezogenen Ausweisung nicht entgegen. Zwar hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 3. Juni 2021,
86– C-546/19 –, juris, Rn. 55 ff.,
87ausgeführt, es laufe dem Gegenstand der Rückführungsrichtlinie und dem Wortlaut ihres Artikels 6 zuwider, das Bestehen eines „Zwischenstatus“ von Drittstaatsangehörigen zu dulden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befänden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterlägen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung mehr bestünde. Dies gelte auch für Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhielten und die nicht abgeschoben werden könnten.
88Die Vereinbarkeit der inlandsbezogenen Ausweisung mit Unionsrecht noch offen lassend: BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 – 1 C6.21 –, juris, Rn. 42.
89Zur Verhinderung eines solchen „Zwischenstatus“ ist das Unterlassen der Ausweisung aber dann schon nicht geeignet, wenn der Drittstaatsangehörige wie hier auch unabhängig von der Ausweisung ausreisepflichtig bzw. sein Aufenthalt illegal i. S. v. Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie ist, weil eine Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels nicht besteht und ein Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels (bestandskräftig) abgelehnt worden ist.
90Im Übrigen ist der Rückführungsrichtlinie auch nicht zu entnehmen, dass dem unerwünschten „Zwischenstatus“ in Fällen, in denen der Aufenthalt erst durch die (inlandsbezogene) Ausweisung illegal wird, zwingend durch Unterlassen derselben zu begegnen ist. Vielmehr ist allenfalls die Erteilung eines „Aufenthaltstitel[s] oder eine[r] sonstige[n] Aufenthaltsberechtigung“ im Sinne von Art. 6 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie das unionsrechtlich gebotene Instrument.
91Vgl. OVG Bremen, Urteil vom 30. August 2023 – 2 LC 116/23 –, juris, Rn. 55; für eine Vereinbarkeit der inlandsbezogenen Ausweisung mit der Rückführungsrichtlinie auch: Nds. OVG, Urteil vom 6. März 2024 – 13 LC 116/23 –, juris, Rn. 92.
92Der Gerichtshof der Europäischen Union hat im Nachgang zu der oben zitierten Entscheidung vom 3. Juni 2021 (nochmals) betont, dass sich die mit der Rückführungsrichtlinie geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung beziehen, da diese Richtlinie nicht zum Ziel hat, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren. Folglich regele diese Richtlinie weder die Art und Weise, in der Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen sei, noch die Folgen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aus dem illegalen Aufenthalt Drittstaatsangehöriger ergeben, gegenüber denen keine Entscheidung über die Rückführung in ein Drittland erlassen werden könne. Daraus folge, dass keine Bestimmung der Rückführungsrichtlinie dahin ausgelegt werden könne, dass sie verlangte, dass ein Mitgliedstaat einem illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel gewährt, wenn gegen diesen Drittstaatsangehörigen weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen könne.
93Vgl. EuGH, Urteil vom 22. November 2022 –C-69/21 –, juris, Rn. 84 f.; auf diese Entscheidung verweisend: BVerwG, Urteil vom 16. November 2023 – 1 C 32.22 –, juris, Rn. 22 f.
94bb. Die Ausweisung ist auch im Übrigen rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer ausgewiesen, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Diese Voraussetzungen liegen vor.
95(1) Der Aufenthalt des Klägers gefährdet i. S. v. § 53 Abs. 1 AufenthG die öffentliche Sicherheit.
96Es ist ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG gegeben mit Blick auf die Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht C. vom 16. Juli 2013 wegen Diebstahls mit Waffen und Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten und zwei Wochen auf Bewährung, die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung durch das Amtsgericht C. vom 18. Juli 2018 u. a. wegen Urkundenfälschung und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in mehreren Fällen (unter Einbeziehung von Verurteilungen u. a. wegen eines Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz in Tateinheit mit Körperverletzung sowie wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Bedrohung und Beleidigung) und die Verurteilung wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten durch das Amtsgericht C. vom 19. Februar 2020.
97Zudem liegt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG vor, weil der Antragsteller am 24. Februar 2016 wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln verurteilt worden ist und damit den Tatbestand des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG verwirklicht hat.
98Schließlich liegt mit Blick auf die oben aufgeführten zahlreichen (weiteren) strafrechtlichen Verurteilungen ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG wegen eines nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoßes gegen Rechtsvorschriften vor.
99Die verwirklichten Ausweisungsinteressen begründen in spezialpräventiver Hinsicht aufgrund der vom Verhalten des Klägers ausgehenden Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit nach § 53 Abs. 1 AufenthG.
100Die i. S. d. vorgenannten Vorschrift erforderliche Feststellung, dass der Aufenthalt eines Ausländers die öffentliche Sicherheit gefährdet, bedarf einer Prognose zur Wiederholungsgefahr. Diese ist von den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten eigenständig zu treffen, ohne dass diese an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. Bei der Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe einer verhängten Strafe, die Schwere einer konkret begangenen Straftat und die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr nach dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.
101Vgl. BVerwG, Urteile vom 15. Januar 2013 – 1 C 10.12 –, juris, Rn. 15, und vom 4. Oktober 2012 – 1 C 13.11 –, juris, Rn. 18; OVG NRW, Urteil vom 12. Juli 2017 – 18 A 2735/15 –, juris, Rn. 66 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 6. März 2024 – 13 LC 116/23 –, juris, Rn. 66.
102Gemessen daran ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass der Kläger auch künftig Straftaten begehen wird. Er ist über einen langen Zeitraum teils in sehr kurzen Abständen immer wieder strafrechtlich in Erscheinung getreten und hat sich weder von den verhängten Geld- und Freiheitsstrafen noch durch seine familiären Bindungen von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lassen. Zwar ist die Vollstreckung der zehnmonatigen Freiheitsstrafe aus der Verurteilung durch das Amtsgericht C. wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung vom 19. Februar 2020 (nachgehend Landgericht L. vom 25. September 2020) nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Eine Zäsur im Verhalten des Klägers ist aber nicht erkennbar. Vielmehr hat er sich innerhalb der Bewährungszeit erneut strafbar gemacht und ist zuletzt am 13. August 2024 wegen Diebstahls, des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und Fahrens ohne Fahrerlaubnis rechtskräftig verurteilt worden. Zuvor war er ausweislich der beigezogenen Strafakten in den (nach § 154 StPO bzw. durch Verweis auf den Privatklageweg eingestellten) Verfahren ### und ### wegen Diebstahls und im November 2023 wegen Sachbeschädigung und Beleidung strafrechtlich in Erscheinung getreten.
103(2) Die gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit seinen Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet fällt zulasten des Klägers aus.
104(a) Den oben aufgeführten (typisierten) schweren Ausweisungsinteressen stehen zunächst keine typisierten Bleibeinteressen nach § 55 AufenthG gegenüber.
105Insbesondere ist anders als vom Verwaltungsgericht angenommen kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG gegeben. Dies setzt voraus, dass der Ausländer mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt. Das Verwaltungsgericht hat seine Überzeugung, der Kläger führe in diesem Sinne eine schutzwürdige Lebensgemeinschaft mit Frau O. und den aus dieser Beziehung hervorgegangenen minderjährigen deutschen Kindern K. (geboren am 23. August 2018) und T. (geboren am 17. August 2019), im Wesentlichen auf aus seiner Sicht glaubhafte und nachvollziehbare Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung gestützt, die indes in dem Protokoll über die mündliche Verhandlung nicht dokumentiert sind. Soweit es dazu in den Urteilsgründen (lediglich) heißt, insbesondere habe der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass „ihm eine Überprüfung der Vaterschaft zu den Kindern angekündigt worden sei“, spricht dies allenfalls für eine ungeklärte Vaterschaft, ist aber kein Beleg für die tatsächliche Vaterschaft des Klägers. Letzteres gilt auch, soweit das Verwaltungsgericht auf das Urteil des Landgerichts L. vom 25. September 2020 abgestellt hat, nach dem der Kläger „gemeinsam mit seiner aktuellen Partnerin, seiner Mutter, seinem Bruder, seinem ältesten Sohn sowie den beiden jüngsten Kindern in einer Sammelunterkunft in I. " zusammenlebe. Jenem Urteil lässt sich schon nicht entnehmen, auf welche Erkenntnisse das Landgericht sich insoweit gestützt hat. Nach den vorliegenden Meldebescheinigungen vom 10. Juni 2022 und der Auskunft des Einwohnermeldeamts der Stadt I. vom 20. Juni 2022 waren der Kläger und Frau O. (mit ihren Kindern) nie unter derselben Adresse gemeldet. Auch auf entsprechende Aufforderung der Kammer bzw. des Senats hin hat der Kläger weder im erstinstanzlichen Verfahren noch im Berufungsverfahren Nachweise für die behauptete Vaterschaft und die Ausübung des Sorgerechts bezüglich der minderjährigen deutschen Kinder K. und T. vorgelegt. Er ist noch nicht einmal dem Vorbringen des Beklagten entgegengetreten, das Kind T. sei nach Auskunft des Einwohnermeldeamts dort weder bekannt noch gemeldet.
106Selbst wenn man mit Blick darauf, dass der Kläger jedenfalls ausweislich der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte in dem Verfahren ### bzw. dem darin enthaltenen Polizeibericht eine Beziehung zu O. und den dort genannten Kindern K. und T. unterhält, eine familiäre Lebensgemeinschaft bzw. die Ausübung der Personensorge i. S. v. § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG unterstellt, führte dies zu keinem anderen Ergebnis. Da es sich um eine inlandsbezogene Ausweisung handelt und der Kläger eine Trennung von den Kindern auf absehbare Zeit ohnehin nicht zu befürchten hat, wäre einem solchen Bleibeinteresse im Rahmen der Abwägung nur ein geringes Gewicht beizumessen (dazu unten).
107Weitere typisierte Bleibeinteressen nach § 55 AufenthG sind nicht ersichtlich. Der Kläger war insbesondere im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt des Ergehens der Ausweisungsverfügung,
108vgl. BVerwG, Urteile vom 16. November 2023 – 1 C32.22 –, juris, Rn. 13 f., und vom 15. November 2007 – 1 C 45.06 –, juris, Rn. 23 f.; Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 42. Ed. (Stand: 01.07.2024), § 55 AufenthG Rn. 21,
109nicht im Besitz einer Niederlassungs- oder Aufenthaltserlaubnis (vgl. § 55 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 und 5, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG). Vielmehr hatte der Beklagte ihm nach der (rechtzeitigen) Beantragung der Verlängerung der bis zum 22. März 2013 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG lediglich Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt, zuletzt gültig bis zum 23. Februar 2021.
110Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung reicht die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis indes nicht aus. In systematischer Hinsicht folge aus § 55 Abs. 3 AufenthG, dass ein besonders schwerwiegendes oder ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nicht schon dann aus der Antragstellung hergeleitet werden könne, wenn sie nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zur Folge habe, dass ein zuvor erteilter Aufenthaltstitel als fortbestehend gelte, sondern erst dann, wenn dem Antrag entsprochen werde. Die bloße Antragstellung reiche damit für die Begründung eines vertypten Bleibeinteresses nicht aus. Dieses Verständnis entspreche dem aus den Gesetzesmaterialien abzuleitenden Zweck des Tatbestandsmerkmals, das nur den Inhaber eines Aufenthaltstitels schützen wolle. Aus Art. 19 Abs. 4 GG und dem Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren folge nichts anderes, da sich aus diesen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen selbst eine materiell geschützte Rechtsposition – hier ein vertyptes Bleibeinteresse im Sinne von § 55 Abs. 1 oder 2 AufenthG – nicht ergebe, sondern eine solche darin vorausgesetzt werde.
111Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2023 – 1 C 32.22 –, juris, Rn. 13 f.; kritisch dazu Sade, in: ZAR 2024, 115 (117 f.); siehe auch Maierhöfer, in: InfAuslR 2024, 237 (237 f.).
112Selbst wenn man zugunsten des Klägers davon ausginge, dass der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis i. S. v. § 55 AufenthG auch dann gegeben ist, wenn im Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bestand und der betroffene Ausländer – bei Außerachtlassung der Ausweisung und einer daraus etwaig folgenden Titelerteilungssperre – einen materiellen Anspruch auf die Erteilung oder Verlängerung der begehrten Aufenthaltserlaubnis gehabt hat,
113siehe dazu Maierhöfer, in: InfAuslR 2024, 237 (238); Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 42. Ed. (Stand: 01.07.2024), § 55 AufenthG Rn. 21,
114läge hier kein typisiertes Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG vor.
115Ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 AufenthG scheidet schon deshalb aus, weil sich der Kläger im auch insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisung,
116vgl. OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 26. Juli 2022 – OVG 2 B 2/20 –, juris, Rn. 41; Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 42. Ed. (Stand: 01.07.2024), § 55 AufenthG Rn. 24 und 31,
117nicht seit mindestens fünf Jahren (ununterbrochen) rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Der von 2013 bis zum Erlass der Ausweisungsverfügung bestehende Aufenthalt auf der Grundlage von § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann als rechtmäßiger Aufenthalt nicht berücksichtigt werden, weil dem Antrag des Klägers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht entsprochen worden ist (vgl. § 55 Abs. 3 AufenthG).
118Auch ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG, das keinen mindestens fünfjährigen (durchgängig) rechtmäßigen Aufenthalt voraussetzt,
119vgl. Katzer, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 18. Ed. (Stand: 15. Januar 2024), § 55 AufenthG Rn. 32; Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 42. Ed. (Stand: 01.07.2024), § 55 AufenthG Rn. 88,
120liegt nicht vor. Der Kläger hatte auch bei Außerachtlassung der Ausweisung keinen Anspruch auf Verlängerung der ihm zuletzt erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Das Verwaltungsgericht hat insoweit rechtskräftig entschieden, dass der Beklagte den Antrag des Klägers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu Recht abgelehnt hat; es hat dabei nicht auf die – von ihm als rechtswidrig erachtete – Ausweisung abgestellt, sondern maßgeblich darauf, dass die allgemeinen (Regel-)Erteilungsvoraussetzungen nicht vorliegen. Der Lebensunterhalt des Klägers sei entgegen § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht gesichert und seine Staatsangehörigkeit entgegen § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG nicht geklärt. Ferner liege ein Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor. Der Beklagte habe ein Absehen von diesen Voraussetzungen gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ermessensfehlerfrei unter Berücksichtigung der privaten Interessen des Klägers und mit Verweis auf die bislang unzureichenden Bemühungen zur Klärung der Staatsangehörigkeit, die wiederholte Straffälligkeit und die aktuell fehlenden Bemühungen, selbst zum Lebensunterhalt beizutragen, abgelehnt (vgl. Urteil, Seite 10).
121(b) Die Bleibeinteressen des Klägers überwiegen auch im Übrigen nicht das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung.
122Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmenden Abwägung sind neben den in §§ 54 und 55 AufenthG typisierten Ausweisungs- und Bleibeinteressen gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen aufnahmebereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Rechtstreue des Ausländers zu berücksichtigen.
123Zudem sind die Kriterien in den Blick zu nehmen, die nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einzubeziehen sind, um die Ausweisung als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK anzusehen. Nach dieser Rechtsprechung sind dies insbesondere die Art und Schwere der begangenen Straftat, die seither vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, die familiäre Situation, die Kenntnis des Partners von der Straftat bei der Begründung der Beziehung, das Interesse und das Wohl eventueller Kinder, insbesondere deren Alter, der Umfang der Schwierigkeiten, auf die Kinder oder der Partner im Heimatland des Ausländers treffen würden, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Aufenthaltsstaat, und die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Ausländers zum Gastland sowie zum Bestimmungsland.
124Sog. Boultif/Üner-Kriterien, vgl. etwa EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006 – 46410/99 –, juris, Rn. 57 ff.
125Nach diesen Maßgaben geht die Abwägungsentscheidung zulasten des Klägers aus. Es liegt insbesondere kein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vor. Ungeachtet des Umstands, dass seine Bleibeinteressen derzeit geringer zu gewichten sind, weil eine Abschiebung absehbar nicht droht (dazu unten), ist der Kläger nicht derart in die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet integriert, dass er als faktischer Inländer anzusehen wäre. Er ist zwar bereits als Kleinkind in das Bundesgebiet eingereist und hat sich seitdem hier aufgehalten. Auch hat er familiäre Bindungen im Bundesgebiet, weil – soweit ersichtlich – jedenfalls sein (volljähriger) Sohn N. , seine Mutter und sein Bruder hier leben. Von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet kann gleichwohl nicht gesprochen werden. Der Aufenthalt des Klägers war überwiegend nicht rechtmäßig. Nachdem er von März 1996 bis April 2003 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis gewesen ist, hat ihm der Beklagte erst im März 2012 und auch nur für ein Jahr eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt. Der danach bis März 2021 bestehende Fiktionsstatus nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann wie ausgeführt nicht als rechtmäßiger Aufenthalt gewertet werden, weil der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (bestandskräftig) abgelehnt worden ist (vgl. § 55 Abs. 3 AufenthG). Es ist auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass ein im Bundesgebiet lebendes Familienmitglied (mit gesichertem Aufenthaltsstatus) notwendig auf Unterstützung des Klägers angewiesen wäre. Auch eine wirtschaftliche und soziale Verwurzelung ist nicht gegeben. Der Kläger hat keinen Schulabschluss erworben und keine Berufsausbildung absolviert. Soweit ersichtlich hat er seinen Lebensunterhalt weit überwiegend durch den Bezug von Sozialleistungen bestritten. Im Urteil des Landgerichts L. vom 25. September 2020 (Seite 3) wird lediglich eine Tätigkeit als Hilfsarbeiter in einem Garten- und Landschaftsbaubetrieb von 2006 bis 2010 erwähnt. Diese habe er aufgegeben, weil er mit der Bezahlung nicht einverstanden gewesen sei. Seitdem sei der Kläger arbeitslos und lebe von staatlichen Unterstützungsleistungen. Die beachtliche Zahl der rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilungen belegt zudem eine beharrliche Missachtung der deutschen Rechtsordnung. Der Beklagte hat schließlich zurecht zu Lasten des Klägers berücksichtigt, dass er seit Jahren nicht an der Klärung seiner Identität bzw. Staatsangehörigkeit mitwirkt.
126Vgl. zu letzterem OVG Bremen, Beschluss vom 19. August 2022 – 2 LA 394/21 –, juris, Rn. 20.
127In die Abwägungsentscheidung einzustellen sind grundsätzlich auch drohende Beeinträchtigungen von Belangen des Betroffenen im Herkunftsstaat, die keinen strikten verfassungs- oder völkerrechtlichen Schutz in dem Sinne genießen, dass die deutschen Behörden unter allen Umständen verpflichtet wären, den Ausländer durch Absehen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vor ihrem Eintritt zu bewahren. Dies sind solche Nachteile, die das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht erreichen, aber gleichwohl so erheblich sind, dass sie sich auf die durch Art. 7 GRC und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers auswirken können.
128Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2023 – 1 C 32.22 –, juris, Rn. 19, und vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 –, juris, Rn. 35.
129Solche Beeinträchtigungen können derzeit nicht geprüft werden, weil die Staatsangehörigkeit des Klägers ungeklärt ist und dem Senat keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, welche/r Staat/en als Herkunftsstaat/en in Betracht kommt bzw. kommen. Dieser Umstand führt aber schon deshalb nicht zu einem Überwiegen der Bleibeinteressen des Klägers, weil er – solange die Staatsangehörigkeit weiterhin ungeklärt ist – eine Abschiebung auch nicht zu befürchten hat. Da es im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zwar nicht von vornherein unmöglich erscheint, die Staatsangehörigkeit des Klägers aufzuklären und Heimreisepapiere zu beschaffen, aber auch nicht festzustellen ist, dass dies in absehbarer Zeit erfolgen wird, kommen vorliegend die in der Rechtsprechung insoweit für die inlandsbezogene Ausweisung entwickelten Grundsätze zur Anwendung. Danach ist es zulässig zu berücksichtigen, dass eine konkrete Beeinträchtigung etwaig schützenswerter Bleibeinteressen (hier insbesondere in Bezug auf mögliche Integrationsschwierigkeiten im noch zu bestimmenden Herkunftsstaat) durch Abschiebung derzeit nicht droht.
130Vgl. BVerwG, Urteile vom 16. November 2023 – 1 C 32.22 –, juris, Rn. 21, und vom 9. Mai 2019 – 1 C 21.18 –, juris, Rn. 28.
131Sobald die Staatsangehörigkeit geklärt ist und entsprechende Heimreisepapiere und damit die tatsächlichen Voraussetzungen einer Abschiebung vorliegen, ist der Kläger nicht gehindert, im Hinblick auf seine dann ggf. anders zu gewichtenden Bleibeinteressen die Aufhebung der Ausweisung (sollte sie bis dahin bestandskräftig werden) zu beantragen und eine wesentliche Änderung der Sachlage i. S. v. § 51 Abs. 1 VwVfG NRW geltend zu machen. Für den Fall, dass zukünftig eine Abschiebungsandrohung bzw. Rückkehrentscheidung und ein (dann unionsrechtskonformes) Einreise- und Aufenthaltsverbot ergehen sollte, hätte der Kläger zudem die Möglichkeit, dieses anzugreifen.
132Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 9. Mai 2019 – 1 C 21.18 –, juris, Rn. 28; OVG Bremen, Beschluss vom 19. August 2022 – 2 LA 394/21 –, juris, Rn. 23.
133(3) Die Ausweisung ist zur Erreichung ihres gefahrenabwehrrechtlichen bzw. spezialpräventiven Zwecks geeignet und erforderlich.
134Ein Mittel ist bereits dann im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt.
135Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2001 – 1 BvR 1806/98 –, juris, Rn. 41, m. w. N.
136Die Ausweisung entfaltet auf absehbare Zeit zwar allein inlandsbezogene Wirkungen. Eine Ausweisung kann ihren ordnungsrechtlichen Zweck unter spezialpräventiven (wie auch unter generalpräventiven) Gesichtspunkten aber auch dann erreichen, wenn sie nicht zu einer Abschiebung des Ausländers, sondern lediglich zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führt.
137Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. August 2004 – 1 C 25.03 –, juris, Rn. 15, m. w. N.; OVG Berlin-Bbg., Urteil vom 26. Juli 2022 – OVG 2 B 2/20 –, juris, Rn. 50.
138Die Ausweisung führt hier zwar weder zum Erlöschen eines Aufenthaltstitels (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), noch ist sie mit einer allgemeinen Titelerteilungssperre verknüpft. Sie verschlechtert die aufenthaltsrechtliche Position des Klägers aber jedenfalls dergestalt, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Berufsausbildung (§ 16g Abs. 2 Nr. 4 AufenthG) sowie die Erteilung einer Ausbildungsduldung (§ 60c Abs. 2 Nr. 4 AufenthG) und einer Beschäftigungsduldung (§ 60d Abs. 1 Nr. 9 AufenthG) bei Vorliegen einer Ausweisungsverfügung ausgeschlossen ist.
139Der Geeignetheit bzw. Erforderlichkeit der Ausweisung steht auch nicht entgegen, dass der Kläger derzeit lediglich im Besitz einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität (§ 60b AufenthG) ist und der Beklagte ihm die zur Aufnahme einer Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit erforderliche Beschäftigungserlaubnis gemäß § 60b Abs. 5 Satz 2 AufenthG gegenwärtig ohnehin nicht erteilen dürfte bzw. solange der Kläger an der Klärung seiner Staatsangehörigkeit weiterhin vorwerfbar nicht mitwirkt auch der Ausschlussgrund des § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG (i. V. m. §§ 16g Abs. 2 Nr. 1, 60c Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) einschlägig ist. Dem Beklagten ist es unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht verwehrt, durch die Ausweisung einen weiteren Ausschlussgrund zu schaffen, der tragend greift, sobald dem Kläger eine mangelnde Mitwirkung an der Klärung der Staatsangehörigkeit (und ggf. der Beschaffung von Heimreisepapieren) nicht mehr vorgeworfen und allein aus diesem Grund die Beschäftigung nicht mehr versagt werden kann.
140(4) Die Ausweisung ist auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil ihre Wirkungen derzeit nicht befristet sind.
141Sollte von dem Kläger zukünftig keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr ausgehen oder die Wahrung schutzwürdiger Belange es erfordern, könnte er einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG NRW stellen. Für den Fall, dass dem Kläger in Zukunft eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (eine allgemeine Titelerteilungssperre steht dem wie ausgeführt derzeit nicht entgegen), dürften sich die Wirkungen der Ausweisung damit, jedenfalls hinsichtlich des zugrundeliegenden Aufenthaltszwecks, erledigen.
142Vgl. zu der Beseitigung der Wirkungen der Ausweisung auch BVerwG, Urteile vom 22. Februar 2017 – 1 C 27.16 –, juris, Rn. 15, und vom 6. März 2014 – 1 C 2.13 –, juris, Rn. 13 f., m. w. N.
143Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
144Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
145Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt. Insbesondere die vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 – (juris Rn. 42) noch offengelassene Frage, ob eine inlandsbezogene Ausweisung mit der Rückführungsrichtlinie vereinbar ist, sieht der Senat durch die nachfolgende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
146vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2023 – 1 C 32.22 –, juris, Rn. 22 f. (mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 22. November 2022 –C-69/21 –, juris, Rn. 84),
147inzwischen als geklärt an.
148So auch Nds. OVG, Urteil vom 6. März 2024 – 13 LC 116/23 –, juris, Rn. 114.