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Das angegriffene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
I.
2Die in den Jahren1983 und 1996 in Deir Ez Zor geborenen Kläger zu 1. und 2. und ihre in den Jahren 2016 und 2018 geborenen Kinder, die Kläger zu 3. und 4., sind syrische Staatsangehörige arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Sie verließen Syrien nach eigenen Angaben im April 2017 und reisten nach Aufenthalten in der Türkei, Griechenland und den Niederlanden am 17. September 2018 nach Deutschland ein. Zuvor war ihnen in Griechenland am 4. Januar 2018 internationaler Schutz gewährt worden.
3Am 2. Oktober 2018 stellten sie einen Asylantrag.
4Mit Bescheid vom 19. November 2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab und drohte ihnen die Abschiebung nach Griechenland an. Auf die hiergegen erhobene Klage hob das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamtes vom 19. November 2018 auf.
5In der daraufhin am 17. Januar 2020 vorgenommenen Anhörung vor dem Bundesamt erklärten die Kläger, sie hätten Syrien wegen des Krieges verlassen. Der Kläger zu 1. sei bei einer Bombardierung an der Hand verletzt worden. Er habe von 2002 bis 2004 Wehrdienst geleistet. Der Islamische Staat habe ihm vorgeworfen, seine Augenbrauen verschönert zu haben, und ihn deshalb mit 30 Peitschenhieben bestraft. Sie seien vor den Bombardierungen und dem Islamischen Staat zunächst in von dem syrischen Regime kontrolliertes Gebiet geflohen. Der Kläger zu 1. habe nicht zum Reservedienst eingezogen werden wollen. Sie seien daher über Afrin in die Türkei ausgereist.
6Mit Bescheid vom 20. April 2020, am 15. Mai 2020 als Einschreiben zur Post gegeben, erkannte das Bundesamt den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte aber unter der Nr. 2 den Asylantrag im Übrigen ab.
7Die Kläger haben am 22. Mai 2020 unter Bezugnahme auf ihr Vorbringen gegenüber dem Bundesamt Klage erhoben.
8Die Kläger haben beantragt,
9die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 2. des Bescheides vom 20. April 2020 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
10Die Beklagte hat beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Das Verwaltungsgericht hat mit dem angegriffenen Urteil vom 31. Januar 2022 den Bescheid des Bundesamts vom 20. April 2020 teilweise aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung hat es ausgeführt, den Klägern drohe für den Fall ihrer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung durch das syrische Regime wegen ihrer illegalen Ausreise, Asylantragstellung, ihres Aufenthalts im westlichen Ausland und ihrer Herkunft aus Deir Ez Zor sowie in Bezug auf den Kläger zu 1., weil er sich durch seine Ausreise dem Reservedienst entzogen habe. Den Klägern drohe darüber hinaus politische Verfolgung durch den Islamischen Staat und/oder andere islamistische/dschihadistische Gruppen.
13Die Beklagte hat gegen das am 31. Januar 2022 zugestellte Urteil am 25. Februar 2022 die Zulassung der Berufung beantragt. Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 20. März 2024 zugelassen.
14Zur Begründung ihrer Berufung trägt die Beklagte mit Schriftsatz vom 21. März 2024 unter Bezugnahme auf ihr Zulassungsvorbringen vor, Rückkehrern, die sich durch ihre Ausreise dem Reservedienst entzögen hätten, drohe keine politische Verfolgung durch das syrische Regime. Ebenso wenig drohe eine politische Verfolgung in Anknüpfung an die illegale Ausreise, Asylantragstellung, den Aufenthalt im westlichen Ausland oder die Herkunft aus Deir Ez Zor. Von dem Islamischen Staat oder islamistischen Gruppierungen gehe ebenfalls keine Verfolgungsgefahr aus.
15Die Beklagte beantragt,
16das angegriffene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
17Die Kläger beantragen,
18die Berufung zurückzuweisen,
19und verweisen auf die Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.
20Das Bundesamt hat auf gerichtliche Anforderung einen Informationsaustausch mit den griechischen Behörden über das in Griechenland durchlaufene Asylverfahren durchgeführt.
21Der Senat hat die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss nach § 130a der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - angehört.
22Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die Asylverfahrensakte des Bundesamts Bezug genommen.
23II.
24Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten über die Berufung der Beklagten durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO, dessen Voraussetzungen vorliegen. Der Senat hält die Berufung der Beklagten einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich, da die Kläger im gesamten Asyl- und Klageverfahren nichts vorgetragen haben, was eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus individuellen Gründen als möglich erscheinen lassen könnte, und daher weitere Ermittlungen durch eine Befragung der Kläger in einer mündlichen Verhandlung nicht erforderlich sind.
25Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die zulässige Klage ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Bescheid des Bundesamts vom 20. April 2020 ist rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
26Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründen) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
27Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG kann als eine solche Verfolgung insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten. Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind u.a. gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.
28Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt.
29Vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163) = juris, Rdnr. 13, und vom 19. Januar 2009 ‑ 10 C 52.07 ‑, BVerwGE 133, 55 (60 f.) = juris, Rdnr. 22, 24.
30Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163) = juris, Rdnr. 15.
32Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337/9) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
33Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163) = juris, Rdnr. 15.
34Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, nicht durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften.
35Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (164) = juris, Rdnr. 16.
36Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
37Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163) = juris, Rdnr. 15.
38Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Furcht der Kläger vor politischer Verfolgung unbegründet.
39Die Kläger sind nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Sie hatten vor ihrer Ausreise aus Syrien weder politische Verfolgung erlitten noch waren sie von einer solchen unmittelbar bedroht (Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU).
40Den Klägern droht auch nicht bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
41Eine solche droht zunächst nicht deshalb, weil sie Syrien illegal verlassen haben, in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben und sich seit 2018 hier aufhalten. Der Senat hat die tatsächliche Situation in Syrien dahin bewertet, dass aus dem Ausland rückkehrenden Asylbewerbern, auch wenn sie Syrien illegal verlassen haben, keine (politische) Verfolgung droht wegen einer ihnen zugeschriebenen regimefeindlichen Gesinnung.
42Vgl. zu den Gründen im Einzelnen: OVG NRW, Beschluss vom 9. November 2023 - 14 A 1853/21.A -, juris, Urteile vom 16. Juli 2024 - 14 A 2847/19.A -, juris, Rdnr. 99 ff.; vom 23. August 2022 - 14 A 3716/18.A -, juris, Rdnr. 131 f., vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris, Rdnr. 41 ff., vom 13. März 2020 - 14 A 2778/17.A -, juris, Rdnr. 33 ff., vom 18. April 2019 - 14 A 2608/18.A -, juris, Rdnr. 41 ff., vom 7. Februar 2018 - 14 A 2390/16.A -, juris, Rdnr. 34 ff., vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 30 ff., und vom 21. Februar 2017 - 14 A 2316/16.A -, juris, Rdnr. 28 ff.
43Daran hält der Senat fest. Das klägerische Vorbringen und das angefochtene Urteil geben keine Veranlassung zu einer veränderten Bewertung. Es gibt keine belastbaren Erkenntnisse, dass das syrische Regime Flüchtlingen pauschal eine oppositionelle Gesinnung unterstellt, und dies ist angesichts einer Zahl von mehreren Millionen Flüchtlingen, die Syrien während des Bürgerkriegs verlassen haben, auch nicht plausibel.
44Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2024 - 14 A 3226/20.A -.
45Den Klägern droht in Syrien auch keine Verfolgung wegen ihrer sunnitischen Konfession. Sunniten als solche werden vom syrischen Staat nicht verfolgt.
46Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Februar 2017 - 14 A 2316/16.A -, juris, Rdnr. 81 - 83.
47Den Klägern droht bei einer Rückkehr nach Syrien auch nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat, weil sie aus Deir Ez Zor stammen, das zeitweise von der Opposition, nämlich der Freien Syrischen Armee und dem Islamischen Staat, beherrscht wurde und in der Demonstrationen gegen das Assad-Regime stattgefunden haben. Diese Eigenschaft teilen die Kläger mit einer unüberschaubaren Zahl anderer Bürgerkriegsopfer aus den - früher - großen, von Rebellen beherrschten Gebieten. Erkenntnisse für eine Verfolgung dieser Gruppe ohne individuelle verfolgungsbegründende Umstände liegen nicht vor. Die syrische Regierung hat inzwischen weite Teile ehemaliger Rebellengebiete zurückerobert, ohne dass ersichtlich ist, dass die Bevölkerung dieser Gebiete in stärkerem Ausmaß politischer Verfolgung ausgesetzt wäre als die Bevölkerung im übrigen von der Regierung kontrollierten Staatsgebiet.
48Neuere Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass die Situation von Rückkehrern nach Syrien, die aus (ehemaligen) Rebellengebieten stammen oder sich dort längere Zeit aufgehalten haben, anders zu beurteilen sein könnte, liegen nicht vor.
49Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. Juli 2024 - 14
50A 2847/19.A -, juris, Leitsatz 3 und Rdnr. 118 ff.
51Den Klägern droht auch keine politische Verfolgung durch den Islamistischen Staat oder islamistische/dschihadistische Gruppen, da ihre Heimatstadt wieder unter der Kontrolle des syrischen Regimes steht.
52Dem Kläger zu 1. droht bei einer Rückkehr nach Syrien auch nicht deshalb politische Verfolgung, weil er sich durch seine Ausreise aus Syrien und seinem Verbleib im Ausland einer Einberufung zum Reservedienst in der syrischen Armee entzogen hat, wobei offenbleiben kann, ob aufgrund seiner Handverletzung eine Einberufung überhaupt erfolgen würde.
53Allein eine mögliche Heranziehung zum Militärdienst in der syrischen Armee stellt keine für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevante Verfolgung dar. Die Heranziehung zum Militärdienst ist für sich genommen flüchtlingsrechtlich nicht relevant, sondern nur dann, wenn sie auf ein flüchtlingsrechtsrelevantes Merkmal zielt, also auf die Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Dies war und ist bei der Rekrutierung durch die syrische Armee nicht der Fall. Vielmehr rekrutierte und rekrutiert die syrische Armee unter allen ethnischen und religiösen Gruppen.
54Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 53 f. m.w.N.
55Die Heranziehung zum Militärdienst zielte und zielt auch nicht auf eine (unterstellte) politische Überzeugung der Rekruten ab, etwa um (vermutete) Oppositionelle zu disziplinieren, sondern diente und dient allein der Auffüllung der durch Todesfälle, Desertion und Überläufer, zuletzt auch durch die notwendige Entlassung älterer Jahrgänge stark dezimierten syrischen Armee.
56Vgl. hierzu OVG NRW, Urteile vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 44 f., und vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris, Rdnr. 50 f. und 60 f., jeweils m.w.N.
57In Syrien besteht eine Militärdienstpflicht für Männer vom vollendeten 18. bis zum 42. Lebensjahr. Nach Art. 98 des syrischen Militärstrafgesetzes - syrMStG - wird jede militärdienstpflichtige Person, die in Friedenszeiten nicht innerhalb eines Monats auf die Einberufung reagiert und flüchtet, bevor sie sich ihrer Einheit angeschlossen hat, mit Gefängnis von einem bis zu sechs Monaten bestraft. Nach Art. 99 syrMStG wird jede militärdienstpflichtige Person, die in Kriegszeiten nicht auf die Einberufung reagiert oder eingeschrieben worden ist und flüchtet, bevor sie sich ihrer Einheit angeschlossen hat, je nach Dauer der Entziehung und je nachdem, ob sie sich freiwillig stellt oder verhaftet wird, mit Gefängnis von einem Monat bis zu einer zeitigen Freiheitsstrafe bestraft.
58Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 29. März 2023 (Stand: März 2023), S. 30 f.; UNHCR, Inoffizielle Übersetzung der Art. 98 bis 114 syrMStG (Gesetzesdekret Nr. 61/1950).
59Dem Kläger zu 1. droht bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Bestrafung nach den vorgenannten Strafvorschriften. Das Verhältnis des syrischen Staates zu Wehr- und Reservedienstentziehern hat sich seit Ende 2018 zunehmend entspannt. Kennzeichnend hierfür ist etwa die Anweisung der Einreise- und Passabteilung des Innenministeriums der Arabischen Republik Syrien im Dezember 2018 an alle Grenzstellen, syrische Staatsbürger, deren Militärdienst überfällig ist, nicht zu inhaftieren. Einreisende syrische Staatsbürger, deren Meldung zum Wehr- oder Reservedienst überfällig ist, sollen vielmehr ihr Rekrutierungsbüro binnen 15 Tagen (Wehrdienstpflichtige) oder 7 Tagen (Reservedienstpflichtige) aufsuchen.
60Vgl. SANA, Immigration issues instructions not to detain citizens overdue to join military service at border crossings, 24. Dezember 2018 (https://bit.ly/32FO3G6).
61Diese Anweisung wird nach den Erkenntnissen des Senats von den syrischen Grenzbeamten auch im Wesentlichen beachtet. Es wird nur über wenige Fälle berichtet, in denen Wehr- und Reservedienstentzieher direkt an der Grenze verhaftet und zum Militär geschickt worden sein sollen.
62Vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Syrien: Informationen über kurzen zeitlichen Aufschub zum Antritt des Wehrdienstes für Rückkehrer, 5. September 2023.
63Bei diesen dürfte es sich im Wesentlichen um Wehr- und Reservedienstentzieher handeln, die aus Gebieten stammen, die nicht unter der Kontrolle der syrischen Regierung stehen. In diesem Fall müssten die syrischen Grenzbehörden nämlich damit rechnen, dass die Betreffenden die 15-Tage-Frist dazu nutzen würden, in die Gebiete außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung weiterzureisen, um sich auf diese Weise ihrem Militärdienst zu entziehen.
64Vgl. hierzu ACCORD, Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt, 14. Juni 2023.
65Jedoch werden auch in dem Fall, dass der Wehr- oder Reservedienstentzieher (früher oder später) festgenommen wird, voraussichtlich die in Art. 98 f. syr. MStG und Art. 104 syr. WPflG angedrohten Haftstrafen nicht verhängt, sondern der Wehr- oder Reservedienstentzieher lediglich zur Ableistung seines Militärdienstes eingezogen werden. Allenfalls werden die in den Art. 95, 96, 102 und 104 syr. WPflG angedrohten Geldstrafen verhängt und der Wehrdienst gemäß Art. 96 syr. WPflG um zwei bis vier Monate verlängert werden.
66Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. Juli 2024 - 14 A 2847/19.A -, juris, Rdnr. 72.
67Der Senat lässt offen, ob in einer kurzfristigen Inhaftierung eine flüchtlingsrechtsrelevante Verfolgung liegt oder während der kurzfristigen Inhaftierung oder des Militärdienstes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrechtsrelevanten Übergriffen auf den Militärdienstentzieher zu rechnen ist. Jedenfalls würden weder die Inhaftierung noch etwaige Übergriffe während der Inhaftierung oder des Militärdienstes auf ein flüchtlingsrechtsrelevantes Merkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG abzielen, insbesondere nicht auf eine (unterstellte) politische oder religiöse Überzeugung.
68Vgl. zu den Gründen im Einzelnen und zur anderslautenden Einschätzung anderer Oberverwaltungsgerichte und des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020: OVG NRW, Urteil vom 16. Juli 2024 - 14 A 2847/19.A -, juris, Rdnr. 88 ff.; so auch Nds. OVG, Beschluss vom 15. Mai 2023 - 2 LB 444/19 -, juris, Rdnr. 37 ff.
69Daran hält der Senat fest. Das klägerische Vorbringen und das angefochtene Urteil geben keine Veranlassung zu einer anderen Beurteilung. Neuere Erkenntnisse dafür, dass die Situation von Reservedienstentziehern in Syrien anders zu beurteilen sein könnte, liegen nicht vor.
70Vor diesem Hintergrund droht auch den Klägern zu 2. bis 4. keine politische Verfolgung im Wege der Sippenhaft.
71Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass den Klägern am 4. Januar 2018 in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt worden ist. Diese Entscheidung der griechischen Behörden entfaltet keine Bindungswirkung gegenüber dem Bundesamt. Das Bundesamt ist im Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes lediglich verpflichtet, die positive Entscheidung des anderen Mitgliedstaats und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck hat es unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats einzuleiten, die den Antragsteller zuvor als Flüchtling anerkannt hat. Hierbei muss es die andere Behörde über den neuen Antrag informieren, ihr ihre Stellungnahme zu dem neuen Antrag übermitteln und sie bitten, ihr innerhalb einer angemessenen Frist die ihr vorliegenden Informationen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, zu übermitteln.
72Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 - C-753/22 -, juris, Rdnr. 78 ff.
73Im Übrigen hat es eine neue individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung des Antrags vorzunehmen. Das Bundesamt hat ein den vorgenannten Anforderungen entsprechendes Informationsersuchen an die griechischen Behörden im Verlauf des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gerichtet. Es hat zu keinen Erkenntnissen geführt, die im Rahmen einer aktualisierten Prüfung einen Anspruch der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen.
74Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
75Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 der Zivilprozessordnung.
76Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 VwGO zuzulassen, weil ein dort genannter Zulassungsgrund nicht vorliegt. Die Frage der Bindungswirkung einer positiven Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats ist durch die zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs geklärt.
77Die Zulassung der Revision nach § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG steht im Ermessen des Oberverwaltungsgerichts. Der Senat übt sein Ermessen dahingehend aus, dass die Zulassung unterbleibt. Er sieht mit Blick auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Januar 2023 - 1 C 22.21 - keine Veranlassung, die Revision zwecks Klärung der Verfolgung von Militärdienstentziehern durch das Bundesverwaltungsgericht zuzulassen. Das gilt erst Recht für alle weiteren hier potentiell fallübergreifenden Tatsachenfragen (Sippenhaft, Verfolgung wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und Aufenthalt im westlichen Ausland, Herkunft aus einem - früher - umkämpften Gebiet oder wegen sunnitischer Religionszugehörigkeit).