Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 29. Mai 2024 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, den Spitzenkandidaten der Antragstellerin für die Europawahl 2024, Fabio De Masi, zu der Sendung „Wahlarena 2024 Europa“ am 6. Juni 2024 einzuladen und an der dortigen Diskussion mit dem Studiopublikum teilnehmen zu lassen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
2Die nach § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist begründet. Das Beschwerdevorbringen bietet Anlass, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und die von der Antragstellerin mit ihrem Hauptantrag begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen.
3Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO). Das grundsätzliche Verbot einer hier begehrten Vorwegnahme der Hauptsache steht einer einstweiligen Anordnung nicht entgegen, wenn dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geboten ist und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist.
4Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 -, BVerwGE 146, 189 = juris, Rn. 22; BVerfG, Beschluss vom 15. August 2002 - 1 BvR 1790/00 -, NJW 2002, 3691 = juris, Rn. 18.
5Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch (dazu 1.) als auch einen Anordnungsgrund (dazu 2.) glaubhaft gemacht.
61. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Es besteht ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Antragstellerin in materieller Hinsicht die Teilnahme an der am 6. Juni 2024 ausgestrahlten Sendung „Wahlarena 2024 Europa“ beanspruchen kann. Der Anspruch ergibt sich aus dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Gebot der (abgestuften) Chancengleichheit politischer Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG.
7a) Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei redaktionell gestalteten Sendungen vor Wahlen das Recht der Bewerber aus Art. 21 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG auf gleiche Chancen im Wettbewerb um die Wählerstimmen zu beachten. Sie sind verpflichtet, jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im Wahlkampf und im Wahlverfahren offen zu halten. Das Recht auf Chancengleichheit der Antragstellerin steht allerdings im Widerstreit mit dem Grundrecht der Rundfunkfreiheit des Antragsgegners. Der Schutz der Rundfunkfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ist für das gesamte öffentliche, politische und verfassungsrechtliche Leben von fundamentaler Bedeutung. Sie schützt danach auch das Recht der Rundfunkanstalt, die Teilnehmer an einer redaktionell gestalteten Fernsehdiskussion nach Ermessen selbst zu bestimmen.
8Zwischen den sich gegenüberstehenden Rechten ist ein Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz herbeizuführen. Sie sind in der Weise einander zuzuordnen, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bei der Auswahl des Teilnehmerkreises auch bei redaktionellen Sendungen über das Willkürverbot hinaus zusätzlich Beschränkungen durch das sog. Prinzip der abgestuften Chancengleichheit unterliegen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben danach die Parteien auch in redaktionellen Sendungen vor Wahlen entsprechend ihrer Bedeutung zu berücksichtigen. Grundsätzlich wird dem Gebot auf Chancengleichheit schon dann Rechnung getragen, wenn das Programm der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten insgesamt ausgewogen ist.
9Darüber hinaus kann der Grundsatz der abgestuften Chancengleichheit aber auch in Bezug auf eine einzelne Fernsehsendung Bedeutung gewinnen. Je enger – in zeitlicher und/oder inhaltlicher Hinsicht – die Beziehung der betreffenden Sendung zu der bevorstehenden Wahl und je größer ihr publizistisches Gewicht ist, umso mehr gebietet der Grundsatz der Chancengleichheit eine Einschränkung des Ermessens der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bei der Gestaltung der konkreten Sendung und der Auswahl des Teilnehmerkreises. Zur Bestimmung des Teilnehmerkreises ist insoweit grundsätzlich das Konzept einer redaktionellen Sendung (oder einer Serie gleichartiger Sendungen) als tragfähiges Differenzierungskriterium geeignet, sofern das Konzept seinerseits nicht unter dem Gesichtspunkt der (abgestuften) Chancengleichheit zu beanstanden ist. Wenn eine Partei danach nicht als Teilnehmerin einer konkreten Sendung zu berücksichtigen ist, ist ihrem Anspruch auf Chancengleichheit nur dann Genüge getan, wenn sie im Gesamtprogramm der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – auch und gerade unter Einbeziehung der konkreten Sendung – insgesamt entsprechend ihrer Bedeutung angemessen berücksichtigt wird. Ist das nicht der Fall, kann – je nach den Gesamtumständen – auch ein Anspruch auf Teilnahme an einer konkreten Sendung bestehen.
10Vgl. zum Ganzen: OVG NRW, Beschlüsse vom 30. April 2012 - 13 B 528/12 -, juris, Rn. 8 ff., und vom 15. August 2002 - 8 B 1444/02 -, NJW 2002, 3417 = juris, Rn. 23 ff. m. w. N., nachgehend BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30. August 2022 - 2 BvR 1332/02 -, NJW 2002, 2939 = juris, Rn. 5 ff.; siehe ferner etwa OVG Saarl., Beschluss vom 13. März 2017 - 2 B 340/17 -, juris, Rn. 16; OVG Bremen, Beschluss vom 20. Mai 2003 - 1 B 201/03 -, NVwZ-RR 2003, 651 = juris, Rn. 6 f.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16. Oktober 1996 - 10 S 2866/96 -, NVwZ-RR 1997, 629 = juris, Rn. 14 ff.; jeweils m. w. N.
11b) In Anwendung dieser Grundsätze besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Antragstellerin der geltend gemachte Anspruch auf Teilnahme an der Sendung „Wahlarena 2024 Europa“ zusteht.
12(aa) Das vom Antragsgegner mitgeteilte redaktionelle Konzept der Sendung rechtfertigt die Nichtberücksichtigung der Antragstellerin nicht.
13Nach der im erstinstanzlichen Verfahren vom Antragsgegner vorgelegten eidesstattlichen Versicherung seines für die Sendung verantwortlichen Redakteurs soll die Sendung in Form eines sogenannten „Townhall Meetings“ durchgeführt werden, bei dem Bürgerinnen und Bürger im Publikum den eingeladenen Politikern unter moderativer Begleitung vorab eingereichte Fragen stellen. Die Fragen würden in Themenblöcke gegliedert, um eine strukturierte Diskussion zu ermöglichen. Das Konzept sehe vor, bei den einzelnen Themen auch Rückblicke auf die ablaufende Wahlperiode 2019 bis 2024 zu machen über das, was versprochen und was erreicht wurde bzw. was nicht erreicht wurde. Aus diesem Grund und um die Zahl der Gäste zu begrenzen, damit noch eine für das Fernsehpublikum informationsgewinnende, verarbeitbare und lebendige Diskussion möglich sei, habe sich der Antragsgegner dafür entschieden, Vertreter derjenigen Parteien einzuladen, die im aktuellen Europäischen Parlament mit relevanter Stärke vertreten seien und die auch im Übrigen in Deutschland ein relevantes Gewicht hätten. Hieraus habe sich die Einladung von Politikern der Parteien CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, AfD, FDP, CSU und Die Linke ergeben.
14Der Umstand, dass das Sendungskonzept „auch“ Rückblicke auf die vergangene Wahlperiode vorsieht, kann eine Teilnahme der Antragstellerin nicht ausschließen, auch wenn sie bislang nicht im Europäischen Parlament vertreten war.
15Zwar wäre es dem Antragsgegner grundsätzlich nicht verwehrt, sich in Wahrnehmung seiner grundrechtlich geschützten redaktionellen Freiheit dafür zu entscheiden, eine Wahlsendung ausschließlich oder zumindest schwerpunktmäßig dem Rückblick auf die vergangene Wahlperiode zu widmen und dementsprechend den Teilnehmerkreis auf Vertreter der Parteien zu begrenzen, die in dieser Zeit mit Abgeordneten im Parlament vertreten waren bzw. noch sind. Allerdings wird nach den Erläuterungen des Antragsgegners die Rückschau auf die parlamentarische Arbeit in der zu Ende gehenden Wahlperiode nicht im Vordergrund stehen, sondern – entsprechend der üblichen Berichterstattung vor einer Wahl – vielmehr der Blick in die Zukunft. Denn in der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung führt der für die Sendung verantwortliche Redakteur aus, dass die Fragen der Bürgerinnen und Bürger in Themenblöcke gegliedert und bei den einzelnen Themen „auch“ Rückblicke auf die vergangene Legislaturperiode vorgenommen würden. Zudem lässt gerade das vom Antragsgegner gewählte Format eines „Townhall Meetings“ hauptsächlich zukunftsgerichtete Fragen der in das Konzept eingebundenen Bürgerinnen und Bürger an die anwesenden Politiker erwarten. Schließlich kann auch nach den sonstigen Gesamtumständen nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Sendung, die mit ihrem Titel „Wahlarena 2024 Europa“ ausdrücklich auf die anstehende Europawahl abhebt, lediglich drei Tage vor dem Wahltermin stattfindet und zugleich mit einem Aufeinandertreffen von fast allen Spitzenkandidaten der Parteien den Höhepunkt der auf die Wahl bezogenen Sendungen der ARD darstellt, im Wesentlichen auf einen bloßen Rückblick auf die Parlamentsarbeit in der vergangenen Wahlperiode beschränken wird. Dementsprechend wird die Sendung auf daserste.de auch wie folgt angekündigt:
16„Drei Tage vor der Wahl stellen sich die deutschen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten für das Europaparlament dem Publikum im Studiopark in Erfurt.
17Live werden die wichtigsten Themen wie Migration, der Ukraine-Krieg, die wirtschaftliche Entwicklung sowie Klima- und Verkehrspolitik erörtert.
18Unterschiedliche Konzepte und Positionen können verglichen werden und bei der eigenen Wahlentscheidung helfen. Stellvertretend für alle Wahlberechtigten hat sich das Publikum mit Fragen beworben. Sie treffen nun vor Ort auf die Politiker, die ins Europaparlament einziehen wollen.“
19(https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/europawahl/sendung/ard-wahlarena-100.html, abgerufen am 5. Juni 2024)
20Stehen hiernach bei der Sendung voraussichtlich die zukunftsorientierten Vorstellungen der Parteien maßgeblich im Vordergrund, so kann es der Aspekt der Rechenschaftslegung für sich genommen nicht rechtfertigen, von vornherein alle Parteien von der Teilnahme auszuschließen, die – wie die Antragstellerin – in der Wahlperiode nicht mit Abgeordneten im Parlament vertreten waren.
21Vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 20. Mai 2003 - 1 B 201/03 -, NVwZ-RR 2003, 651 = juris, Rn. 16 ff.; siehe auch BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 10. Mai 1990 - 1 BvR 559/90 -, BVerfGE 82, 54 = juris, Rn. 14, und Kammerbeschluss vom 9. Oktober 1990 - 2 BvR 1316/90 -, NVwZ 1991, 560 = juris, Rn. 2.
22(bb) Die Umsetzung des weiteren, verbleibenden Kriteriums des redaktionellen Konzepts, nur Parteien einzuladen, die „auch im Übrigen in Deutschland ein relevantes Gewicht“ haben, verlangt eine Teilnahme der Antragstellerin an der Sendung „Wahlarena 2024 Europa“ am 6. Juni 2024. Mit diesem Kriterium wollte der Antragsgegner dem Grundsatz der abgestuften Chancengleichheit Geltung verschaffen, dem im Rahmen der Vorwahlberichterstattung besondere Bedeutung zukommt. Hieran muss er sich festhalten lassen.
23Zur Ermittlung der gegenwärtigen Bedeutung der an der anstehenden Wahl beteiligten politischen Parteien kann in der Regel das vorhergehende Wahlergebnis als ein gewichtiges Indiz herangezogen werden. Die Einstufung der Parteien nach dem letzten Wahlergebnis allein würde jedoch nicht genügen, da eine solche Einstufung die Möglichkeit außer Betracht lassen würde, dass im Gefolge der allgemeinen politischen Entwicklung während der abgelaufenen Legislaturperiode unter Umständen eine erhebliche Kräfteverschiebung stattgefunden hat. Eine schematische Anknüpfung an die Ergebnisse der vorhergehenden Parlamentswahlen würde einer Aufrechterhaltung des status quo Vorschub leisten und auf eine Vorgabe im Wahlwettbewerb hinauslaufen, die mit dem Grundsatz der gleichen Wettbewerbschancen nicht zu vereinbaren wäre; insbesondere neu entstandene Parteien wären von vornherein von einer Teilnahme ausgeschlossen. Deshalb müssen, um die Bedeutung einer Partei zu ermitteln, noch andere Faktoren außer den Ergebnissen der letzten Parlamentswahlen berücksichtigt werden. Hierher gehören beispielsweise die Zeitdauer ihres Bestehens, ihre Kontinuität, ihre Mitgliederzahl, der Umfang und Ausbau ihres Organisationsnetzes, ihre Vertretung im Parlament und ihre Beteiligung an der Regierung in Bund oder Ländern. Maßgeblich ist eine Würdigung der jeweiligen konkreten Gesamtsituation.
24Vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 1962 - 2 BvR 158/62 -, BVerfGE 14, 121 = juris, Rn. 45 f., 49 (zur Vergabe von Sendezeiten für Wahlwerbung); siehe weiter BVerfG, Urteil vom 3. Dezember 1968 - 2 BvE 1/67 -, BVerfGE 24, 300 = juris, Rn. 176, Einstweilige Anordnung vom 17. November 1972 - 2 BvR 820/72 -, BVerfGE 34, 160 = juris, Rn.11, und Beschluss vom 9. Mai 1978 - 2 BvC 2/77 -, BVerfGE 48, 271 = juris, Rn. 24; vgl. auch in Bezug auf Neugründungen OVG NRW, Beschluss vom 21. April 2017 - 5 B 467/17 -, juris, Rn. 12.
25Gemessen an diesen Maßstäben lässt sich mit Blick auf die anstehende Europawahl gegenwärtig jedenfalls nicht feststellen, dass die Antragstellerin gegenüber den eingeladenen Parteien FDP und Die Linke hinsichtlich ihres „relevanten Gewichts“ einen derart großen Abstand aufweist, der ihren Ausschluss von der Sendung rechtfertigen könnte.
26Die schon erreichte gegenwärtige Bedeutung der Antragstellerin ergibt sich aus einer Würdigung der konkreten Gesamtsituation. Dabei stellt das Gericht unter den besonderen Umständen dieses Einzelfalls maßgeblich auf das Kriterium der Erfolgsaussichten bei den bevorstehenden Wahlen ab, das naturgemäß bei den Parteien an besonderer Bedeutung gewinnt, die – wie die Antragstellerin aufgrund ihrer erst im Januar 2024 erfolgten Gründung – bisher nicht im Parlament vertreten sind.
27Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. April 2012 - 13 B 528/12 -, juris, Rn. 20; siehe allgemein zur Berücksichtigungsfähigkeit der in Umfrageergebnissen gemessenen Erfolgsaussichten ferner OVG NRW, Beschlüsse vom 21. April 2017 - 5 B 467/17 -, juris, Rn. 28, und vom 15. August 2002 - 8 B 1444/02 -, NJW 2002, 3417 = juris, Rn. 53; OVG Saarl., Beschluss vom 13. März 2017 - 2 B 340/17 -, juris, Rn. 17; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 13. September 2005 - 2 B 11292/05 -, NVwZ 2006, 109 = juris, Rn. 4; jeweils m. w. N.; siehe noch mit Einschränkungen VerfGH Saarl., Beschluss vom 16. März 2017 - Lv 3/17 -, LVerfGE 28, 287 = juris, Rn. 29; OVG M.-V., Beschluss vom 6. September 2006 - 2 M 131/06 -, juris, Rn. 9.
28Zwischen den Beteiligten ist – ungeachtet unterschiedlicher Bewertungen im Detail – unstreitig, dass sich die Antragstellerin insoweit seit Februar 2024, d. h. im Grunde seit der Parteigründung, (auch) bei repräsentativen zufallsbasierten telefonischen Befragungen renommierter Umfrageinstitute wie etwa infratest-dimap oder der Forschungsgruppe Wahlen in einem „Umfragekorridor“ von 4 bis 7 Prozent bewegt und ihr damit zum Teil bessere Wahlchancen attestiert werden als etwa den Parteien FDP und Die Linke. In den jüngsten aktuellen Wahlumfragen liegt die Antragstellerin zwischen 6 und 7 Prozent (vgl. Beschwerdebegründung, S. 6). Ungeachtet der bekannten Ungenauigkeiten und eingeschränkten Verlässlichkeit von Umfragen vor einer Wahl lässt sich hieraus jedenfalls eine deutliche Tendenz für die aktuellen Erfolgsaussichten der Antragstellerin herleiten. Sie wird bestätigt durch entsprechende Wahlumfragen („Sonntagsfrage“) für verschiedene Landesparlamente und den Bundestag sowie die Ergebnisse der Kommunalwahlen in Thüringen vom 26. Mai 2024, ohne dass diesen jeweils in Bezug auf die Europawahl für sich genommen eigenständige Bedeutung zukommt.
29Darüber hinaus ist es der Antragstellerin binnen kürzester Zeit gelungen, ein nicht unerhebliches Parteivermögen, ein Organisationsnetz und eine Struktur aufzubauen, die es ihr erlauben, bereits in ihrem Gründungsjahr neben der Europawahl an verschiedenen Kommunal- und Landtagswahlen mit entsprechenden Erfolgsaussichten teilzunehmen und mit Wahlkampfveranstaltungen das Interesse einer – auch im Vergleich zu den übrigen Parteien – nicht geringen Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern auf sich zu ziehen.
30Dass die Antragstellerin gleichwohl im Hinblick auf etwa ihre Mitgliederzahl, ihre Vertretung im Parlament und ihre Beteiligung an der Regierung in Bund oder Ländern hinter den übrigen Parteien zurücksteht, ist in diesem Fall angesichts der Besonderheiten einer jungen Parteineugründung nicht ausschlaggebend. Im Übrigen wird das Zurückstehen bei diesen – lediglich als Indiz für die gegenwärtige Bedeutung einer Partei heranzuziehenden – Kriterien hier in gewissem Maße dadurch kompensiert, dass zu den Gründungsmitgliedern der Antragstellerin Personen gehören, die zuvor und zum Teil bis zuletzt in führender Funktion in anderen etablierten Parteien, insbesondere der Partei Die Linke, tätig waren.
31Die gegenwärtige Bedeutung der Antragstellerin kommt schließlich sowohl in der hohen Reichweite führender Mitglieder in den sozialen Medien als auch in der Präsenz zum Ausdruck, die ihr in den klassischen Medien wie Print, Hörfunk und Fernsehen – so auch beim Antragsgegner, wie dieser vorgerichtlich und erstinstanzlich selbst herausgestellt hat – eingeräumt wird. Repräsentativ kann insoweit auf die Teilnahme an der – mit der hier in Rede stehenden vergleichbaren – Wahlsendung des ZDF „Wie geht‘s, Europa? – Der große Kandidatencheck“ am 30. Mai 2024 um 20.15 Uhr verwiesen werden.
32Vgl. die entsprechende Pressemitteilung des ZDF: https://www.presseportal.de/pm/7840/5788361 (Abruf: 5. Juni 2024).
33(cc) Eine Einladung der Antragstellerin wird dem Grundsatz der praktischen Konkordanz gerecht, weil die kollidierende Rundfunkfreiheit und das Recht auf (abgestufte) Chancengleichheit so in Ausgleich gebracht werden, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.
34Vgl. dazu allgemein: BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 ‑ 1 BvR 16/13 -, BVerfGE 152, 152 = juris, Rn. 76, m. w. N.
35Eine Teilnahme eines Vertreters der Antragstellerin zwingt den Antragsgegner nicht dazu, von seinem Konzept für die Sendung „Wahlarena 2024 Europa“ in der zu erwartenden Umsetzung (erheblich) abzuweichen.
36Es ist zum einen weder vom Antragsgegner dargelegt noch sonst ersichtlich, dass die Gesamtzahl der möglichen Gäste bei dem gewählten Format eines „Townhall Meetings“ zwingend auf höchstens sieben Gäste begrenzt sein muss. Weshalb die Teilnahme zumindest auch eines achten Gastes der geordneten Durchführung und Attraktivität der 90-minüten Sendung entgegenstehen sollte, hat der Antragsgegner auch unter Berücksichtigung der Beschwerdeerwiderung nicht weiter substantiiert. Eine derartige Begrenzung lässt sich auch der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung seines für die Sendung verantwortlichen Redakteurs nicht entnehmen. Dass mit der Zulassung der Antragstellerin noch weiteren Parteien die Teilnahme aus Gleichbehandlungsgründen zu ermöglichen wäre, ist nicht erkennbar. Insbesondere besteht zu den Freien Wählern, die in den jüngsten Wahlumfragen bei 3 Prozent liegen (vgl. Beschwerdebegründung, S. 6), ein merklicher Abstand „nach unten“.
37Zum anderen nimmt der Senat an, dass auch bei einer Berücksichtigung der Antragstellerin nicht auf retrospektive Elemente in der Sendung verzichtet werden muss, wenn der Antragsgegner hieran in redaktioneller Freiheit festhalten möchte. Zwar trifft es zu, dass die Antragstellerin in dem Fall nicht befürchten muss, dass die Glaubhaftigkeit ihrer Wahlaussagen durch die Konfrontation mit nicht erfüllten Versprechen aus dem vorherigen Europawahlkampf beeinträchtigt werden könnte. Allerdings böte sich andersherum den übrigen Parteien – anders als der Antragstellerin – die Gelegenheit, durch Verweis auf „eingelöste“ Wahlversprechen oder sonstige Erfolge in der abgelaufenen Wahlperiode die Substanz ihres aktuellen Wahlprogramms zu untermauern. Im Übrigen entspricht diese Ausgangssituation der typischen Konstellation, wenn Vertreter von Regierung und Opposition (nicht nur) in Wahlwerbesendungen aufeinandertreffen. Soweit der Vertreter der Antragstellerin in der streitgegenständlichen Sendung zu den als „Rechenschaftsbericht“ geplanten Rückblicken als Neugründung naturgemäß nichts beitragen kann, wäre das auch für sich genommen schon ein Informationswert für den Zuschauer, der den Unterschied der Antragstellerin als Neugründung gegenüber den bereits 2019 gewählten Parteien herausstellte.
382. Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
39Ohne den Erlass der begehrten Anordnung entstünden der Antragstellerin mit Blick auf das dem Recht auf Chancengleichheit beizumessende erhebliche Gewicht schwere und unzumutbare Nachteile, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache angesichts der bereits in Kürze stattfindenden Europawahl nicht mehr in der Lage wäre.
40Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. April 2017 - 5 B 467/17 -, juris, Rn. 37; siehe auch BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 10. Mai 1990 - 1 BvR 559/90 -, BVerfGE 82, 54 = juris, Rn. 14 ff.
41Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Ziel, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren durch das Gericht für notwendig erklären zu lassen, verfolgt die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde nicht weiter. Der Ausspruch käme ohnehin jedenfalls aus den vom Verwaltungsgericht dargelegten Gründen nicht in Betracht. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG und trägt der Tatsache Rechnung, dass die Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen wird.
42Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).