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Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich der Nrn. 5 und 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Juni 2017 für in der Hauptsache erledigt erklärt haben. Das auf die mündliche Verhandlung vom 5. April 2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts B. wird insoweit für wirkungslos erklärt.
Im Übrigen wird auf die Berufung des Klägers das auf die mündliche Verhandlung vom 5. April 2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts B. geändert, soweit es noch nicht rechtskräftig ist.
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nr. 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Juni 2017 verpflichtet festzustellen, dass in Bezug auf den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Der Kläger ist nach eigenen Angaben am 00. August 0000 in der afghanischen Provinz Q. geboren, afghanischer Staatsangehöriger mit paschtunischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Am 12. Juni 2012 reiste er auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein.
3Im September 2012 stellte der seinerzeit in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebrachte Kläger in der Bundesrepublik Deutschland einen schriftlichen Asylerstantrag, mit dem er anwaltlich vertreten zu seinen familiären Verhältnissen vortrug: Sein Vater habe eine gute Stellung beim afghanischen Militär gehabt. Nach dem Sturz des vormaligen Präsidenten der afghanischen Republik, Najibullah, im April 1992 habe sich die Situation der Familie erheblich verschlechtert. Ein Bruder des Vaters sei zudem durch eine Schneelawine ums Leben gekommen. Damals sei beschlossen worden, dass der Kläger die Frau dieses Onkels, die deutlich älter als er sei und zwei Kinder habe, heiraten solle, wenn er das entsprechende Alter erreicht habe. An diese Vereinbarung fühle er sich noch heute gebunden. Die Familie sei aufgrund ihrer Situation nach Pakistan gezogen. Dort habe er gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder die Schule besucht. Ein weiterer Bruder und eine Schwester seien in Pakistan geboren worden. Zwei Jahre nachdem Präsident Karzai an die Macht gekommen war, habe der Vater beschlossen, nach Afghanistan zurückzukehren. Er habe nun für die afghanische Polizei gearbeitet. Die Taliban unter Führung des Mullah Bakhtiar hätten seinen Vater deswegen ermordet. Später sei der Zwillingsbruder des Klägers auf dem Schulweg spurlos verschwunden.
4In seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 26. Oktober 2012 machte der Kläger zusammengefasst geltend: Sein Vater, der für die afghanische Polizei gearbeitet habe, sei von den Taliban getötet worden. Aus Angst vor weiteren Übergriffen sei er zunächst nach Pakistan geflohen. Dort habe er sich ungefähr ein Jahr lang bei seiner Tante aufgehalten, bis der in Kabul lebende Onkel die weitere Flucht organisiert habe.
5Das Ausländeramt der Städteregion B. teilte dem Bundesamt mit Schreiben vom 15. Januar 2013 mit, dass sich der Kläger nicht mehr im Bundesgebiet aufhalte, sondern nach Italien ausgereist sei, um dort Asyl zu beantragen. Daraufhin stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 13. November 2013 das Asylverfahren des Klägers ein und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorlägen. Zugleich forderte es ihn unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Der Kläger habe durch seine Ausreise nach Italien gezeigt, kein Interesse am weiteren Asylverfahren zu haben. Es sei damit von einer konkludenten Antragsrücknahme auszugehen.
6Nach zwischenzeitlichem Aufenthalt in Großbritannien stellte der Kläger am 17. Juni 2015 einen Asylfolgeantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 21. April 2016 gab er im Wesentlichen an: Er habe Kontakt zu seiner Familie. Seine Mutter lebe mit ihrem Bruder zusammen in „H.“ (gemeint wohl: C./I. J.) in der Provinz Q.. Dort lebten außerdem seine beiden Schwestern, die verheiratet seien. Sein 15-jähriger Bruder halte sich als Tagelöhner in V. auf. Sein Onkel väterlicherseits sei bei einer Lawine verstorben. Er habe Frau und Kinder in Kabul zurückgelassen. Dessen 27-jährige Tochter, A. W., sei jetzt quasi seine Verlobte. Die Situation in Afghanistan sei nicht besser geworden. Die Taliban beherrschten sein Dorf und seine Provinz. Sie seien rachsüchtig, nachdem er sie seinerzeit bei der Polizei wegen der Ermordung seines Vaters angezeigt habe.
7Nachdem der Kläger Untätigkeitsklage erhoben hatte (VG B. 7 K 1714/17.A), lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 12. Juni 2017 seinen Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2), erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 1 bzw. 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan zur Ausreise binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe bzw. Bestandskraft der Entscheidung aufgefordert (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen an: Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens seien gegeben, weil im vorangegangenen Erstverfahren der europäische subsidiäre Schutzstatus nicht geprüft worden sei. In der Sache sei der Asylantrag aber abzulehnen. Die Behauptung, das Leben des Klägers sei von den Taliban bedroht, sei nicht nachvollziehbar. Im Übrigen hätte er auch in einem anderen Teil seines Herkunftslandes Schutz finden können. Ihm sei es als jungem, gesundem, erwerbstätigem Mann ohne Unterhaltspflichten möglich, auch ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne familiären Rückhalt im Falle einer Rückkehr an einem anderen Ort als seinem Heimatort wenigstens das Existenzminimum sicherzustellen.
8Hiergegen hat der Kläger am 27. Juni 2017 Klage erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen: Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würden ihn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Taliban verfolgen. Er könne nirgends in Afghanistan seine Existenz sichern. Insbesondere werde er keine Unterstützungsleistungen beziehen können. Seine Mutter halte sich nicht mehr in Q., sondern in V. auf. Sein Bruder sei nach Frankreich geflohen. Er könne keine Hilfe verbliebener Angehöriger erwarten, weil diese selbst auf Hilfe angewiesen seien und völlig unklar sei, wo sie sich wann aufhalten werden. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger erstmals behauptet, Frau und Kinder in Afghanistan zu haben. Er schicke manchmal Geld nach Afghanistan. Außerdem bekomme seine Familie von dem Verdienst seines Onkels mütterlicherseits, der ein Autogeschäft betreibe, einen Anteil.
9Der Kläger hat beantragt,
10die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des angefochtenen Bescheids zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
11hilfsweise, die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des angefochtenen Bescheids zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutz zuzuerkennen,
12äußerst hilfsweise, die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des angefochtenen Bescheids zu verpflichten, in seiner Person bezogen auf Afghanistan ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen,
13weiter äußerst hilfsweise, die Abschiebungsandrohung aufzuheben.
14Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit aufgrund mündlicher Verhandlung vom 5. April 2019 ergangenem Urteil abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Eine Verfolgung aufgrund asylrelevanter Merkmale könne nicht festgestellt werden. In Bezug auf das Motiv der privaten Rache ließen ungeachtet dessen die Angaben des Klägers nicht erkennen, dass er sich in einer ausweglosen, nicht anders als durch Flucht ins Ausland zu bewältigenden Lage befunden habe. Denn seine Angaben seien nicht glaubhaft. Es sei nicht nachzuvollziehen, dass Mullah Bakhtiar das Verhalten des Klägers zum Anlass genommen haben soll, ihm nach dem Leben zu trachten. Unabhängig davon sei nicht ersichtlich, dass sich der Kläger einer etwaigen konkreten Bedrohung durch die Taliban nicht durch Ausweichen in einen anderen Landesteil Afghanistans entziehen könnte. Die Kammer gehe weiterhin davon aus, dass im Falles eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtung und ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können. Es sei nicht erkennbar, dass im Fall des Klägers solche Umstände vorliegen. Ihm sei es als erwachsenem, arbeits- und anpassungsfähigem Mann, der seine Mobilität und seine Fähigkeit, sich auch in einer fremden Umgebung zurechtzufinden, bereits durch seine Reise nach Deutschland und zwischenzeitliche langjährige Tätigkeit in England unter Beweis gestellt habe, möglich und zumutbar, sein Leben in einer größeren Stadt Afghanistans zu meistern. Er müsse sich zudem darauf verweisen lassen, dass er noch Verwandtschaft in Afghanistan habe. Insbesondere sei darauf abzustellen, dass er einen Onkel mütterlicherseits habe, der zum einen Geld von seinem – des Klägers – Vater erhalten habe und zum anderen in Kabul ein Autohaus betreibe und von seinem Verdienst die Familie des Klägers unterstütze. Nichts spreche dafür, dass der Onkel nicht bereit wäre, auch und gerade den Kläger als leiblichen Verwandten sowohl finanziell als auch auf der Suche nach Arbeit zu unterstützen.
17Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner vom Senat (nur) hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen Verfahrensfehlern zugelassenen Berufung. Zu deren Begründung trägt er vor: Mit Blick auf die äußerst schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan liege in seiner Person aktuell und auf absehbare Zeit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V. m. Art. 3 EMRK vor. Nach der aktuellen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg seien dessen hohe Anforderungen derzeit sogar im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorlägen. In seiner Person lägen solche begünstigenden Umstände nicht vor. Er besitze kein eigenes Vermögen. Es sei nicht ersichtlich, wie er unter den gegebenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan nach mehrjähriger Abwesenheit als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland etwas verdienen könnte. Auf eine alleinige Unterstützung durch Familienangehörige könne er nicht verwiesen werden. Sein Vater lebe nicht mehr. Seine Schwestern seien verheiratet. Sein Bruder lebe in Frankreich. Seine Familie sei zu keinem Zeitpunkt vermögend gewesen. Vielmehr habe er bereits vor der Corona-Pandemie und vor der Machtübernahme durch die Taliban seinerseits Geld an seine Familie geschickt, um deren Überleben zu sichern. Im Falle der Rückkehr wäre er nicht nur mit der Sicherung seines eigenen Lebensunterhalts konfrontiert, sondern auch zur Unterhaltsleistung mindestens für seine Kinder verpflichtet.
18Nachdem die Beklagte in der mündlichen Verhandlung die Abschiebungsandrohung und die Regelung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot aus Nr. 5 bzw. 6 des Bescheids des Bundesamts vom 12. Juni 2017 aufgehoben hatte, haben die Beteiligten den Rechtsstreit insoweit in der Hauptsache für erledigt erklärt.
19Im Übrigen beantragt der Kläger,
20das auf die mündliche Verhandlung vom 5. April 2019 ergangene Urteil der 7. Kammer des Verwaltungsgerichts B. (7 K 3587/17.A) zu ändern, soweit damit die Klage gerichtet auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots abgewiesen wurde, und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass in seiner Person ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezogen auf Afghanistan vorliegt.
21Die Beklagte beantragt,
22die Berufung zurückzuweisen.
23Sie nimmt zur Begründung Bezug auf ihren Bescheid und das angefochtene Urteil. Der Aktenlage lasse sich gerade nicht entnehmen, dass der Kläger nach seinem bisherigen persönlichen Vortrag keine in seiner Person vorliegenden begünstigenden Umstände in Afghanistan vorfinde.
24In der mündlichen Verhandlung ist der Kläger informatorisch angehört, als Zeugin ist Frau O. F. vernommen worden. Auf die Sitzungsniederschrift vom 11. Dezember 2024 wird verwiesen.
25Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts sowie der bei dem Ausländeramt der Städteregion B. geführten Ausländerakte Bezug genommen.
26Entscheidungsgründe:
27Das Verfahren war einzustellen, soweit es die Beteiligten für erledigt erklärt haben. Im Übrigen ist die zulässige Berufung begründet.
28Der ablehnende Bescheid des Bundesamts ist im noch anhängigen Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
29I. Für den Kläger besteht ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Afghanistan.
301. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies umfasst insbesondere das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in welchem dem Ausländer Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.
31Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem Regelungsbereich des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, wobei allerdings eine den subsidiären Schutz begründende Gefahr eines ernsthaften Schadens in Form von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung stets von einem Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 und § 3c AsylG ausgehen muss.
32Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 ‑ 1 B 2.19 -, juris, Rn. 6, m. w. N.
33Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung voraus. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der zu den Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK besondere Bedeutung zukommt, muss eine ausreichende reale Gefahr bestehen, die nicht nur auf bloßen Spekulationen beruht, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss aufgrund aller Umstände des Falles ernsthaft bestehen und darf nicht hypothetisch sein. Der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
34Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, BVerwGE 175, 227 = juris, Rn. 13, m. w. N. auch aus der Rspr. des EGMR, und Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 -, juris, Rn. 6.
35Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Art. 3 EMRK-widrige Behandlung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Ein gewisser Grad an Mutmaßung ist dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent, sodass ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis dafür, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, nicht verlangt werden kann.
36Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, BVerwGE 175, 227 = juris, Rn. 14, unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 9. Januar 2018 - Nr. 36417/16, X./Schweden -, Rn. 50.
37Die außerordentlichen Umstände, die eine Abschiebung des Ausländers verbieten, müssen grundsätzlich im gesamten Abschiebungszielstaat vorliegen, wobei jedoch zunächst zu prüfen ist, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet, das ist vorliegend Kabul.
38Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12 = juris, Rn. 26, unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 - Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi/UK -, NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
392. In Anwendung dieser Grundsätze geht der Senat davon aus, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan wegen der dortigen prekären humanitären Verhältnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Art. 3 EMRK widersprechenden Gefahr ausgesetzt sein wird.
40a) Schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung können in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen. Es sind allerdings strengere Maßstäbe anzulegen, sofern es – wie hier – an einem verantwortlichen (staatlichen) Akteur fehlt: Schlechte humanitäre Bedingungen, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen sind, können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nur in ganz außergewöhnlichen Fällen („very exceptional cases“) begründen, in denen humanitäre Gründe zwingend („compelling“) gegen eine Abschiebung sprechen. Derartige ganz außergewöhnlichen Umstände können auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teilt, welche Träger des gleichen Merkmals sind oder sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. In einem solchen Fall kann ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausnahmsweise etwa dann vorliegen, wenn die Abschiebung, wenngleich nicht unmittelbar zum Tod des Betroffenen, so doch zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung („serious, rapid and irreversible decline“) seines Gesundheitszustands führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ („minimum level of severity“) aufweisen; dieses kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält.
41Vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, BVerwGE 175, 227 = juris, Rn. 15 f., unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 13. Dezember 2016 - Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien -, NVwZ 2017, 1187, Rn. 174 ff., sowie mit Nachweisen aus der Rspr. des EuGH zum inhaltsgleichen Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 4 GRC im Kontext der Rückführung in einen anderen Mitgliedstaat, sowie bereits BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 45.18 -, BVerwGE 166, 113 = juris, Rn. 12, m. w. N.; siehe auch BVerwG, Beschluss vom 14. Februar 2022 - 1 B 49.21 -, juris, Rn. 5.
42Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten – gerade bei nicht vulnerablen Personen – nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. So kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen.
43Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2022 ‑ 1 B 83.21 -, NVwZ-RR 2022, 476 = juris, Rn. 14, m. w. N.
44Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten zählen auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ angesiedelt sind.
45Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, BVerwGE 175, 227 = juris, Rn. 17, m. w. N.; siehe auch bereits zum internen Schutz: BVerwG, Beschlüsse vom 17. Mai 2006 ‑ 1 B 100.05 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 328 = juris, Rn. 11, und vom 9. Januar 1998 ‑ 9 B 1130.97 -, juris, Rn. 5.
46Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründen, somit durch eigene Handlungen (z. B. den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfe- oder Unterstützungsleistungen Dritter (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen) abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not, die unter Umständen eine staatliche Schutzpflicht zu (ergänzenden) staatlichen Leistungen auslösen kann.
47Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, BVerwGE 175, 227 = juris, Rn. 17, m. w. N.
48Die Gefahr eines ernsthaften Schadenseintritts ist nicht schon dann gegeben, wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist vielmehr grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Je länger der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein.
49Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, BVerwGE 175, 227 = juris, Rn. 25.
50Der Ausländer muss sich im Rahmen der Prüfung, ob ein an eine staatliche Zwangsmaßnahme anknüpfendes Abschiebungsverbot vorliegt, auch auf finanzielle Hilfen verweisen lassen, die im Falle der freiwilligen Rückkehr gewährt werden.
51Vgl. BVerwG, Urteile vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, BVerwGE 175, 227 = juris Rn. 25, und vom 15. April 1997 - 9 C 38.96 -, BVerwGE 104, 265 = juris Rn. 27; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 22. Februar 2023 - A 11 S 1329/20 -, InfAuslR 2023, 237 = juris, Rn. 204.
52b) Die vorliegenden Erkenntnismittel zu Afghanistan, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, ergeben in der Gesamtschau derzeit folgendes Bild: Die schlechte wirtschaftliche Lage schon vor der Machtübernahme der Taliban und die folgende Finanz- und Wirtschaftskrise haben unter Berücksichtigung von Lebenshaltungskosten (dazu bb)) und Arbeitsmarkt (dazu cc)) zu einer anhaltenden humanitären Krise in Afghanistan geführt (dazu aa)). Auch das staatliche Gesundheitssystem ist nach der Machtübernahme der Taliban zusammengebrochen (dazu dd)). Rückkehrer nach Afghanistan wären mit dieser Notlage konfrontiert, während Rückkehrhilfen und humanitäre Hilfe vor Ort nur eingeschränkt verfügbar sind (dazu ee)).
53aa) Die ohnehin schon desolate wirtschaftliche Lage Afghanistans hatte sich nach der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 zunächst landesweit massiv verschlechtert. Geber- und Finanzinstitutionen stellten alle Zahlungen ein. Dies führte zu einer Liquiditätskrise, einem (Beinahe-)Kollaps des Bankensystems, einer Abwertung der afghanischen Währung (Afghani - AFN) und einem Verlust von hunderttausenden Arbeitsplätzen.
54European Union Agency for Asylum (EUAA), Key socio-economic indicators in Afghanistan and in Kabul city, August 2022, S. 19; UN World Food Programme (WFP), Afghanistan Annual Country Report 2021, S. 7.
55Im Jahr 2023 kam es zu einer leichten Stabilisierung der Wirtschaftsleistung auf niedrigem Niveau. Die Nahrungsmittelpreise sind gefallen und die Nahrungsmittelverfügbarkeit ist leicht gestiegen. Infolgedessen hat sich die Versorgungslage der Haushalte marginal verbessert, zumal auch die Reallöhne auf niedrigem Niveau leicht gestiegen sind. Die humanitäre Lage ist aber weiterhin angespannt. Wie zu Republikzeiten bleibt etwa die Hälfte der afghanischen Bevölkerung von Armut und Lebensmittelknappheit betroffen und ist auf humanitäre Hilfe angewiesen.
56Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan - Lagefortschreibung, Stand: Juni 2024, S. 7 f.; EUAA, Afghanistan - Country Focus, November 2024, S. 67 ff.; UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA), Humanitarian needs and response plan, Dezember 2023, S. 2 f.; World Bank, Afghanistan Development Update, April 2024, S. 10, und World Bank, Afghanistan Development Update, Oktober 2023, S. 17 bis 19, 24.
5715,8 Mio. der ca. 44,5 Mio. Einwohner Afghanistans waren im Februar 2024 von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen.
58WFP, Afghanistan Situation Report, Februar 2024, S. 1.
59Zunehmend unvorhersehbare Wetterextreme werden zur neuen Normalität. Nach langen Dürreperioden haben verheerende Sturzfluten im Land Familien in den Hunger getrieben und dazu gezwungen, ihre Dörfer zu verlassen. Das hat die Armut in den Städten weiter verschärft. Wenn sich die Klimakrise verschlimmert, ist zu erwarten, dass die Schäden durch Überschwemmungen jährlich steigen werden.
60WFP, Krise in Afghanistan, https://de.wfp.org/krisen/afghanistan, vom 4. Dezember 2024.
61Gleichwohl musste das UN World Food Programme seine Programme für Afghanistan infolge mangelnder Finanzierung weiter kürzen. Aufgrund dessen kann es dort 10 Mio. Menschen weniger mit Lebensmittelhilfen unterstützen.
62WFP, WFP in Afghanistan forced to drop 10 million people from lifesaving assistance, deepening despair and worry for Afghans, 5. September 2023, abrufbar unter:
63https://www.wfp.org/news/wfp-afghanistan-forced-drop-10-million-people-lifesaving-assistance-deepening-despair-and.
64Darüber hinaus werfen die nachfragegetriebene Deflation, eine überbewertete Landeswährung und ein wachsendes Außenhandelsdefizit ein trübes Licht auf die mittelfristige wirtschaftliche Entwicklung des Landes.
65Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan - Lagefortschreibung, Stand: Juni 2024, S. 8.
66Nach Einschätzung der Weltbank ist das Wirtschaftswachstum zu gering, um für substantielle Teile der Bevölkerung sozioökonomische Verbesserungen zu erreichen.
67World Bank, Afghanistan Economic Monitor, Oktober 2024, S. 2, und Afghanistan Development Update, April 2024, S. 9.
68Es bestehen keine Anhaltspunkte für eine signifikant bessere Bewertung der humanitären Lage in einzelnen Städten oder Provinzen Afghanistans.
69bb) Die Gesamtinflation in Afghanistan war im August 2024 den 16. Monat in Folge negativ. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sank der Verbraucherpreisindex um 6,7 %. Dies war hauptsächlich auf einen Rückgang der Lebensmittelpreise um 11,5 % zurückzuführen. Nicht-Lebensmittel wie Kleidung und Haushaltswaren wurden ebenfalls billiger, was die anhaltende Deflation verstärkte. Aktuell kosten Weizenmehl 26 AFN/kg, Reis 58 AFN/kg, Brot 60 AFN/kg, Kartoffeln 25 AFN/kg und Speiseöl 113 AFN/l.
70WFP, Weekly Market Report, Ausgabe 225, November 2024 - Woche 4, S. 1.
71Im September 2024 stiegen die Inlandspreise im Vergleich zum August um 0,5 %, was vor allem auf einen Anstieg der Nahrungsmittelpreise um 1 % zurückzuführen ist, während die Preise für Nicht-Lebensmittel weitgehend stabil blieben.
72World Bank, Afghanistan Economic Monitor, Oktober 2024, S. 2.
73Der Preis des sog. Lebensmittelwarenkorbes („Food Basket“) des Food Security and Agriculture Cluster (FSAC), der den monatlichen Lebensmittelbedarf für einen durchschnittlichen Haushalt mit sieben Personen decken soll, lag im November 2024 bei 5.614 AFN,
74WFP, Weekly Market Report, Ausgabe 225, November 2024 - Woche 4, S. 1,
75und war damit etwa 2.000 AFN günstiger als vor zwei Jahren.
76WFP, Countrywide Monthly Market Price Bulletin, Issue 133, Woche 4 - Dezember 2022, S. 1.
77Gleichwohl liegen die Preise der wichtigsten Nahrungsmittel (außer Weizenkorn und -mehl) immer noch deutlich höher als vor der Corona-Pandemie.
78WFP, Weekly Market Report, Ausgabe 225, November 2024 - Woche 4, S. 1.
79Die Miethöhe in städtischen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst, darunter Lage, Ausstattung und die allgemeine Qualität der Unterkunft.
80UN International Organization for Migration (IOM), Information on the socio-economic situation in Afghanistan, 22. Februar 2024, S. 6.
81Nach Angaben von UNHCR, Shelter Cluster Afghanistan und REACH haben die durchschnittlichen Mietkosten samt Nebenkosten für ein Haus in Kabul von Januar bis September 2022 4.867 AFN (3.374 AFN für die Netto-Miete und 1.493 AFN für Nebenkosten) betragen.
82UNHCR/Shelter Cluster Afghanistan/REACH, Afghanistan, Rental Assessment of Key Urban Markets, Factsheet, Kabul Urban Centre, September 2022, 6. Dezember 2022, S. 13.
83Nach Daten der UN International Organization for Migration (IOM) aus Januar 2024, die überwiegend von Vermietern und Hauseigentümern stammen, beträgt die durchschnittliche Monatsmiete für ein Apartment mit zwei Betten im Stadtzentrum Kabuls 10.000 AFN, außerhalb 7.000 AFN. Die Mieten in Herat und Mazar-e Sharif liegen dafür zwischen 4.500 bis 7.000 AFN je nach Lage.
84IOM, Information on the socio-economic situation in Afghanistan, vom 22. Februar 2024, S. 6.
85Diese Angaben können nach Auskunft der IOM – abgesehen von geringfügigen monatlichen Schwankungen – als stabil angesehen werden.
86IOM, Information Up-Date on the socio-economic situation in Afghanistan, 17. September 2024, S. 1.
87Allerdings bewohnt nur eine Minderheit der Einwohner Kabuls eine formelle Wohnung, mehr als zwei Drittel, darunter viele Binnenvertriebene und Rückkehrer, leben in sog. informellen Siedlungen. Die Mieten für diese sehr einfach gehaltenen Behausungen sind deutlich günstiger.
88Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, S. 13; Schwörer, Gutachten - Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30. November 2020, S. 11 f.
89Verlässliche aktuelle Angaben zur Miethöhe in informellen Siedlungen lassen sich den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln allerdings nicht entnehmen. Im Jahr 2019 beliefen sich die Kosten für eine informelle Unterkunft laut einem vom Finnish Immigration Service zitierten Zeitungsartikel auf 600 AFN.
90Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, S. 14, unter Bezugnahme auf Glinski, Restoration of Kabul Repairs the Ravages of War, The Guardian vom 13. Mai 2019, abrufbar unter:
91https://www.theguardian.com/global-development/2019/may/13/there-is-less-fear-restoration-of-kabul-repairs-the-ravages-of-war.
92Viele Rückkehrer wohnen nach ihrer Ankunft überwiegend zumindest vorübergehend in sog. Teehäusern. Hierbei handelt es sich um traditionelle afghanische „Restaurants“. Tagsüber kann hier sehr einfach auf Teppichen und Kissen sitzend gegessen und nachts gegen ein kleines Entgelt auf selbigen geschlafen werden.
93Schwörer, Gutachten - Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30. November 2020, S. 12.
94Die Übernachtungskosten dafür lagen im Jahr 2019 zwischen 30 bis 100 AFN pro Nacht.
95EASO, Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019, S. 133.
96cc) Nach der Machtübernahme der Taliban haben viele Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Die Taliban entließen zahlreiche Staatsangestellte, besonders Frauen und Angehörige von Minderheiten. Viele Unternehmen mussten aufgrund der schwachen Wirtschaft und der gesunkenen Nachfrage Mitarbeiter entlassen. Die dadurch entstehende Arbeitslosigkeit lässt die Nachfrage weiter sinken, sodass nicht abzusehen ist, dass wieder neue Arbeitsplätze entstehen.
97Clark, Kate, Survival and Stagnation: The State of the Afghan economy, in: Afghanistan Analysts Network vom 7. November 2023.
98Gleichzeitig ist die Nachfrage nach Arbeitsplätzen in den letzten drei Jahren deutlich gestiegen. Zum einen handelt es sich um eine schnell wachsende Bevölkerung. Zum anderen hat die schlechte wirtschaftliche Lage vieler Haushalte dazu geführt, dass deren Mitglieder, die sonst nicht arbeiten würden, Arbeit suchen. Dazu gehören vor allem Frauen, junge und alte Männer. 2023 haben drei Mal so viele Frauen gearbeitet wie 2020, ein Großteil von ihnen Zuhause (z. B. nähen und kochen). Unter erwachsenen Männern hat sich das Level der Arbeitslosigkeit im Laufe von 2022 auf einem hohen Niveau stabilisiert. Bei jungen Männern (14 bis 25 Jahre) ist die Arbeitslosigkeit jedoch weiter gestiegen. Die schwache Wirtschaft kann bei Weitem nicht genug Arbeitsplätze bieten. Jeder dritte junge Mann, der Arbeit sucht, bleibt erfolglos. Auch Personen, die Arbeit finden, sind oft unterbeschäftigt. Eine Verbesserung des Arbeitsmarkts ist nicht in Sicht.
99World Bank, Afghanistan Development Update, Oktober 2023, S. 23 f., 43, 47.
100Zusätzlich suchen nun auch aus Pakistan und aus Iran ausgewiesene Personen nach Arbeit in Afghanistan. Auf Grundlage des von Pakistan im Oktober 2023 verabschiedeten sog. „Illegal Foreigners‘ Repatriation Plan“ sollen afghanische Staatsangehörige Pakistan freiwillig verlassen oder abgeschoben werden. Allein aus Pakistan sind seit September 2023 über 747.000 afghanische Staatsangehörige nach Afghanistan zurückgekehrt; ihre Zahl wird sich weiter erhöhen.
101UNHCR, Operational Data Portal - Afghanistan, Stand: 19. Oktober 2024; UNHCR, Afghanistan Returnees Rapid Needs Assessment, Mai 2024, S. 5 und 10.
102Die allgemeine Erwerbsbeteiligung verzeichnete jedoch in den Jahren 2022 und 2023 sowohl bei Männern als auch bei Frauen einen deutlichen Anstieg. Die Erwerbsbeteiligung der Männer ist von 69 % im Jahr 2020 auf 86 % im April/Juni 2023 gestiegen und die Erwerbsbeteiligung der Frauen hat sich im gleichen Zeitraum verdreifacht. Der Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten war ein treibender Faktor, der Männer dazu veranlasste, informelle Arbeit aufzunehmen, und Frauen zwang, sich in kleinen Heimarbeiten zu engagieren.
103EUAA, Afghanistan - Country Focus, November 2024, S. 71 f.
104Nach der Machtübernahme der Taliban sanken die Nominal- und Reallöhne zunächst deutlich. Inzwischen haben sie sich aber sowohl für qualifizierte als auch unqualifizierte Arbeit erholt und das Niveau von vor der Machtübernahme erreicht.
105EUAA, Afghanistan - Country Focus, November 2024, S. 70 f.
106Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Arbeiters belief sich nach Erhebungen des UN World Food Programme im November 2024 auf 327 AFN pro Tag. Das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg um 7 %, im Vergleich zu der Zeit vor der Corona-Pandemie, also vor dem Jahr 2020, um 13 %. Ein Facharbeiter verdiente im November 2024 durchschnittlich 669 AFN pro Tag, das sind 4 % mehr gegenüber dem Vorjahr und 16 % mehr als vor der Corona-Pandemie.
107WFP, Weekly Market Report, Ausgabe 225, November 2024 - Woche 4, S. 1.
108Für ungelernte Tagelöhner stand im nationalen Durchschnitt im November 2024 an 2,6 Tagen pro Woche Arbeit zur Verfügung, das sind 8 % mehr gegenüber dem Vorjahr, aber 9 % weniger als vor der Corona-Pandemie.
109WFP, Weekly Market Report, Ausgabe 225, November 2024 - Woche 4, S. 1.
110dd) Auch das staatliche Gesundheitssystem, welches zu 80 % aus dem Ausland finanziert wurde, ist nach der Machtübernahme der Taliban zusammengebrochen. Schon davor bestand das Gesundheitssystem größtenteils aus privaten Einrichtungen. Es gab nur eine stark eingeschränkte öffentliche Versorgung.
111Human Rights Watch, A Disaster for the Foreseeable Future, Februar 2024, S. 11 f.
112Die Vereinten Nationen haben einen Großteil der Finanzierung des Gesundheitssystems übernommen. Allerdings reicht sie nicht aus und ist nur kurzfristig gesichert. Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat zunächst für zwei Jahre einige Gesundheitseinrichtungen übernommen, kann diese jedoch nicht langfristig finanzieren. Immer wieder müssen Gesundheitseinrichtungen geschlossen werden. Die medizinische Versorgung hängt deshalb regelmäßig von den finanziellen Mitteln der Patienten ab.
113Human Rights Watch, A Disaster for the Foreseeable Future, Februar 2024, S. 14 ff.; Medecins Sans Frontiers (MSF), Persistent barriers to access healthcare in Afghanistan, 2022, S. 24.
114ee) Angesichts der weit verbreiteten Armut im Land haben Rückkehrer nicht zwangsläufig ein höheres Armutsrisiko als andere Bevölkerungsgruppen in Afghanistan. Dieses hängt vielmehr vom sozioökonomischen Hintergrund des Rückkehrers ab (wie Bildung, Kontakt zum Herkunftsland, Vertrautheit mit den dortigen Herausforderungen).
115UNHCR, Afghanistan Returnees Rapid Needs Assessment, Mai 2024, S. 4 und 6.
116Aufgrund der häufigen Abwesenheit oder Unzuverlässigkeit staatlicher Strukturen spielen vor allem familiäre Netzwerke eine wichtige Rolle, besonders im ländlichen Raum. Um auf ein solches Netzwerk zurückgreifen zu können, ist es jedoch notwendig, es zu pflegen. Von alleinstehenden Männern wird in Afghanistan erwartet, dass sie die Familie unterstützen und nicht, dass sie umgekehrt die Unterstützung der Familie in Anspruch nehmen. Teilweise verlangen Verwandte Miete von Rückkehrern, bieten also nicht bedingungslos eine Unterkunft an.
117Stahlmann, Friederike, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen, in: Diakonie Deutschland/Brot für die Welt/Diakonie Hessen, Juni 2021, S. 57 f., 62.
118Hat ein Rückkehrer allerdings die finanziellen Mittel, so hat er auch Zugang zu einer Behausung.
119Schwörer, Gutachten - Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30. November 2020, S. 22.
120Die IOM und das Bund-Länder-Programm REAG/GARP leisten seit der Machtübernahme der Taliban keine Unterstützung mehr bei Rückführungen. Laut Auswärtigem Amt helfen die Länder freiwillig Ausreisenden bei der Organisation der Rückreise (Flugbuchung, Beschaffung von Reisedokumenten etc.). Zudem erhalten sie eine anteilige Erstattung der Reisekosten, eine Reisebeihilfe in Höhe von 200 Euro und eine finanzielle Starthilfe in Höhe von 1.000 Euro pro Erwachsenem (pro Familie maximal 4.000 Euro).
121Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan - Lagefortschreibung, Stand: Juni 2024, S. 27 f.
122Vor Ort in Afghanistan leisten internationale Organisationen (darunter UNHCR, IKRK, WFP) und Nichtregierungsorganisationen humanitäre Hilfe. Diese schließt auch die Versorgung zurückgekehrter Personen in humanitären Notlagen ein. Aufgrund sinkender internationaler Mittel und durch die hohen Rückkehrzahlen aus Pakistan und Iran äußern internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen aber die Sorge, humanitäre Bedarfe in Afghanistan nicht ausreichend decken zu können.
123Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan - Lagefortschreibung, Stand: Juni 2024, S. 25.
124In Reaktion auf die hohe Zahl aus Pakistan freiwillig und unfreiwillig zurückgekehrter afghanischer Staatsangehöriger hat die De-facto-Regierung im Oktober 2023 eine Kommission geschaffen, die die Versorgung dieser Personen koordinieren soll („Commission for Addressing Refugees‘ Problems“). Die zurückgekehrten Personen sollen bei ihrer Ankunft Obdach, Trinkwasser, Nahrungsmittel, Kleidung, Decken etc. erhalten, ferner Gesundheitsleistungen und Sicherheitsmaßnahmen. Laut Dekret der De-facto-Regierung sollen aus Pakistan zurückgekehrte Personen kurzfristig entweder in Camps versorgt oder bei der Weiterreise in ihre Herkunftsregionen unterstützt werden. Haben sie keinen Besitz, soll ihnen Land zugeteilt werden. Laut Organisationen der Vereinten Nationen hat die De-facto-Regierung mit der Umsetzung der Maßnahmen (z. B. Transportorganisation, Nahrungsmittelversorgung, Bargeldhilfen) begonnen, die Maßnahmen reichen jedoch nicht aus, um humanitäre Bedarfe zu decken.
125Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan - Lagefortschreibung, Stand: Juni 2024, S. 25.
126c) Bei einer zusammenfassenden Würdigung dieser Erkenntnislage unter Beachtung der individuellen Umstände des Klägers ist nach Überzeugung des Senats beachtlich wahrscheinlich, dass dieser seinen existentiellen Lebensunterhalt im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht wird sichern können. Die für eine Art. 3 EMRK-widrige Behandlung sprechenden Umstände überwiegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen.
127aa) Vorliegend ist bei der Rückkehrprognose entscheidend zu berücksichtigen, dass der Kläger – hypothetisch – mit Familie nach Afghanistan zurückkehren wird.
128Für die Gefahrenprognose ist von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der – wenngleich notwendig hypothetischen – Rückkehrsituation und damit bei tatsächlicher Lebensgemeinschaft der Kernfamilie in Deutschland im Regelfall davon auszugehen, dass diese entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam im Familienverband zurückkehre. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie nationaler Abschiebungsschutz festgestellt worden ist.
129Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, BVerwGE 166, 113 = juris, Rn. 17 ff., 27.
130Dafür ist entscheidend, dass die familiäre Gemeinschaft zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft besteht.
131Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, BVerwGE 166, 113 = juris, Rn. 18 und 27; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 17. April 2024 ‑ 2 BvR 244/24 -, InfAuslR 2024, 364 = juris, Rn. 21, und Urteil vom 19. Februar 2013 - 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09 -, BVerfGE 133, 59 = juris, Rn. 64, jeweils m. w. N.
132Als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft wird die Familie – in Abgrenzung zur Haus- oder Begegnungsgemeinschaft – insbesondere im Hinblick auf ihre Funktion geschützt, die leibliche und seelische Entwicklung der Kinder in der häuslichen Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern zu bewahren.
133Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81 = juris, Rn. 32; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 139. AL (März 2020), § 27 AufenthG Rn. 18.
134Das Familiengrundrecht zielt auf den Schutz der spezifisch psychologischen und sozialen Funktion familiärer Bindungen und setzt deshalb den Bestand rechtlicher Verwandtschaft, insbesondere der Ehe zwischen den Eltern, nicht voraus. Es orientiert sich am tatsächlichen Charakter der zwischen den Betroffenen bestehenden Bindungen. Der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG reicht insofern über das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG hinaus, als er auch Familiengemeinschaften im weiteren Sinne einbezieht.
135Vgl. BVerfG, Urteile vom 9. April 2024 - 1 BvR 2017/21 -, NJW 2024, 1732 = juris, Rn. 56, und vom 19. Februar 2013 - 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09 -, BVerfGE 133, 59 = juris, Rn. 64, sowie Beschluss vom 17. April 2024 - 2 BvR 244/24 -, InfAuslR 2024, 364 = juris, Rn. 21, jeweils m. w. N.
136Ebenso unterliegen dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK unter bestimmten Umständen auch die Beziehungen zwischen einem Erwachsenen und einem Kind, das mit ihm nicht leiblich verwandt oder durch eine rechtlich anerkannte Beziehung verbunden ist, sofern zwischen ihnen eine echte persönliche Bindung besteht („de-facto-Familie“).
137Vgl. EGMR, Urteil vom 24. Januar 2017 ‑ 25358/12, Paradiso und Campanelli/Italien - Rn. 148 ff.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 12. Februar 2024 - 11 S 1722/23 -, juris, Rn. 12.
138Nach der Überzeugung des Senats auf Grundlage der ausführlichen Befragung des Klägers und der Zeugin in der mündlichen Verhandlung besteht zwischen ihnen und den vier Kindern tatsächlich eine Lebens- und Erziehungsgemeinschaft, die über die bloße Hausgemeinschaft in der gemeinsamen Wohnung in B. hinausgeht. Der Kläger und die Zeugin, die jedenfalls seine Lebensgefährtin ist, haben übereinstimmend ihren Alltag als denjenigen einer Familie geschildert. Der Kläger bringt sich sowohl im Haushalt als auch bei der Betreuung aller Kinder ein, sei es durch Unterstützung der Schulhausaufgaben oder gemeinsame Spiel- und Sportaktivitäten. Zudem war im Rahmen der mündlichen Verhandlung deutlich zu erkennen, dass eine echte persönliche Bindung zwischen dem Kläger und seinem jüngsten Sohn, der mit zum Termin erschienen war, besteht.
139Tatsachengestützte Anhaltspunkte für einen Missbrauchsverdacht bestehen nicht.
140Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, BVerwGE 166, 113 = juris, Rn. 23 a. E.
141Der Kläger und die Zeugin haben in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar erklärt, dass die beiden jüngeren Kinder ihre gemeinsamen sind. Darüber hinaus hat der Kläger schlüssig erläutert, dass und weshalb er auch für die beiden älteren Kinder, die nicht seine leiblichen sind, die Vaterrolle übernommen hat, nachdem deren leiblicher Vater früh verstorben war.
142bb) Bei einer Rückkehr nach Afghanistan im Familienverband droht dem Kläger und seinen fünf Familienangehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Leben unter Bedingungen, die mit Art. 3 EMRK nicht (mehr) vereinbar sind. Insofern kann offenbleiben, ob und unter welchen Umständen ein alleinstehender, gesunder, leistungsfähiger Mann derzeit in der Lage wäre, in Afghanistan eine Unterkunft zu finden und für sich ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalls ist der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedenfalls nicht in der Lage, auch noch für vier Kinder und seine Lebensgefährtin den Unterhalt zu sichern, die ihrerseits zur Sicherung des gemeinsamen Existenzminimums nichts beitragen können.
143Der Kläger wird das zur Sicherung des Lebensunterhalts unbedingt Notwendige auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Möglichkeit, im Haus der Eltern seiner Lebensgefährtin in V. Unterkunft zu finden, nicht erwirtschaften können. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, zumindest als Tagelöhner zu arbeiten, könnte er voraussichtlich lediglich etwa 3.684 AFN im Monat verdienen (327 AFN/Tag x 2,6 Tage/Woche = 850,20 AFN/Woche x 52 Wochen / 12 Monate = 3.684,20 AFN/mtl.). Damit könnte er als Haushaltsvorstand aber noch nicht einmal die notwendigen Kosten zur Ernährung seiner sechsköpfigen Familie bestreiten. Der Preis des sog. Lebensmittelwarenkorbes („Food Basket“) des Food Security and Agriculture Cluster (FSAC), der den monatlichen Lebensmittelbedarf für einen durchschnittlichen Haushalt mit sieben Personen decken soll, lag im November 2024 bei 5.614 AFN.
144Da der Kläger keine Ersparnisse gebildet, insbesondere im Bundesgebiet kein Arbeitseinkommen erzielt hat, vermag er die Bedarfslücke dadurch nicht zu schließen. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass er über eigenes Vermögen in Afghanistan verfügt. Es bestehen keine tragfähigen Anknüpfungspunkte für die Annahme, dass er auf das von ihm in der mündlichen Verhandlung erwähnte Grundeigentum in seinem Heimatdorf in Q. heute noch zugreifen kann, unabhängig davon, ob es tatsächlich von Bakhtiar beschlagnahmt wurde, wie der Kläger behauptet. Stünden dem Kläger in seinem Heimatdorf noch ein Haus und ertragreiche Ländereien zur Verfügung, erschließt sich nicht, weshalb seine Angehörigen in Afghanistan das Heimatdorf nach V. verlassen haben und dort auf finanzielle Zahlungen des Klägers und seines Bruders angewiesen sind.
145Humanitäre Hilfen vor Ort sind nach der Erkenntnislage nicht umfassend und zuverlässig verfügbar. Soweit internationale Hilfsorganisationen in Afghanistan überhaupt noch tätig sind, stehen sämtliche Hilfeleistungen unter dem Vorbehalt der Bereitstellung der notwendigen finanziellen Mittel durch westliche Geberstaaten. Die benötigten Gelder werden allerdings bei weitem nicht im erforderlichen Umfang zur Verfügung gestellt.
146Daran würde sich auch nichts entscheidend ändern, wenn dem Kläger und seiner Familie (im Falle der freiwilligen Ausreise) Rückkehrhilfen gewährt würden, die sie sich entgegenhalten lassen müssten. Denn es ist bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat davon auszugehen, dass dem Kläger bzw. seiner Familie nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit droht. Die finanziellen Mittel bewirken lediglich einen zeitlichen Aufschub, sie können jedoch die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Verelendung nur vorübergehend mindern. Sie ermöglichen dem Kläger keinen Zugang zu einer Arbeitsstelle, mittels derer er den Unterhalt der gesamten Familie auch nur annähernd sichern könnte.
147Die deshalb notwendige Unterstützung durch weitere Familienangehörige kann nicht hinreichend verlässlich angenommen werden. Zwar leben nach den Angaben des Klägers und der Zeugin weitere Angehörige in Afghanistan. Bis auf den Vater der Zeugin handelt es sich dabei aber ausschließlich um Frauen und Kinder, von denen keine Unterstützung erwartet werden kann, sondern die vielmehr selbst der Unterstützung bedürfen. Diese leistete bislang unter anderem der Kläger, der von Deutschland aus Geld an seine Schwestern überwies. Wenn sie selbst finanzielle Zuschüsse in Anspruch nehmen, ist es fernliegend, dass der Kläger und seine Familie umgekehrt von ihnen bzw. deren im Ausland arbeitenden Ehemännern im Falle der Rückkehr unterstützt werden könnten.
148II. Einer Entscheidung zum nationalen Abschiebungshindernis aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bedarf es nicht, da es sich bei den Abschiebungsverboten aus § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen Streitgegenstand handelt.
149Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 -, BVerwGE 140, 319 = juris, Rn. 17.
150Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG. Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, entspricht es billigem Ermessen, die Kosten der Beklagten aufzuerlegen, weil sie der Klage insoweit abgeholfen hat.
151Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 ZPO.
152Gründe für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO, § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG liegen nicht vor.