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Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Der Klägerin wird für das erstinstanzliche Klageverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin R. aus N. beigeordnet.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei;außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
2Gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
3Diese Voraussetzungen liegen vor. Ausweislich ihrer zuletzt vorgelegten Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 27. August 2024, ihrer Ausführungen im Schriftsatz vom 30. August 2024 sowie der vorgelegten Prozesskostenhilfe-Erklärungen ihrer Eltern erfüllt die Klägerin die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine ratenfreie Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
4Auch bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg.
5Der für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche Grad der Erfolgsaussicht darf mit Blick auf Art. 3 Abs. 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht in einer Weise überspannt werden, dass der Zweck der Prozesskostenhilfe deutlich verfehlt wird, Unbemittelten und Bemittelten weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen. Verweigert werden muss Prozesskostenhilfe aber dann, wenn die Erfolgschance in der Hauptsache nur eine entfernte oder bloß theoretische ist.
6Vgl. dazu etwa BVerfG, Beschlüsse vom 28. August 2014 - 1 BvR 3001/11 -, juris Rn. 12, vom 28. Januar 2013 - 1 BvR 274/12 -, juris Rn. 11 ff., vom 26. Juni 2003 - 1 BvR 1152/02 -, juris Rn. 10, und vom 7. April 2000 - 1 BvR 81/00 -, juris Rn. 16; Neumann/Schaks, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 64, jeweils m. w. N.
7Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll dabei nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung selbst in das summarische Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Letzteres ist der richtige Ort, um schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und/oder Tatsachenfragen zu beantworten.
8Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 29. November 2018- 2 BvR 2513/17 -, juris Rn. 15, vom 4. Mai 2015- 1 BvR 2096/13 -, juris Rn. 12 ff., und vom 17. Feb-ruar 2014 - 2 BvR 57/13 -, juris Rn. 10, jeweils m. w. N.
9Gemessen an diesen Maßstäben hat die Rechtsverfolgung der Klägerin die erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht.
10Gemäß § 4 Abs. 1 GHBG erhalten hochgradig Sehbehinderte, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, zum Ausgleich der durch die hochgradige Sehbehinderung bedingten Mehraufwendungen eine Hilfe von 77,00 Euro monatlich, soweit sie keine Leistungen nach anderen bundes- oder landesrechtlichen Regelungen erhalten und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Nordrhein-Westfalen haben. Hochgradig sehbehindert sind Personen, die sich zwar in einer ihnen nicht vertrauten Umgebung ohne fremde Hilfe noch zurechtfinden, ihr restliches Sehvermögen aber für eine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, vor allem an einem angemessenen Platz im Arbeitsleben, nicht oder nur unzureichend verwerten können (§ 4 Abs. 2 Satz 1 GHBG). Nach § 4 Abs. 2 Satz 2 GHBG sind diese Voraussetzungen erfüllt, wenn das bessere Auge mit Gläserkorrektion ohne besondere optische Hilfsmittel eine Sehschärfe von nicht mehr als 1/20 oder krankhafte Veränderungen aufweist, die das Sehvermögen in entsprechendem Maße einschränken.
11Da nach der augenfachärztlichen Bescheinigung des B. GmbH, Y., vom 17. Juli 2023 das Sehvermögen der Klägerin beidäugig noch 0,1 (1/10) beträgt, kommt bei ihr lediglich eine krankhafte Veränderung des besseren Auges in Betracht, die das Sehvermögen in entsprechendem Maße einschränkt (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GHBG).
12§ 4 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GHBG ist im Sinne einer umfassenden Funktionsbeeinträchtigung zu verstehen. Der Gesetzgeber braucht die Erkrankungen, die im Einzelfall die Funktionstüchtigkeit des Sehapparats - also das Sehvermögen - entscheidend herabsetzen, nicht enumerativ und abschließend aufzuführen.
13Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Mai 2009 - 12 A 535/09 -, juris Rn. 9.
14Das Verwaltungsgericht ist unter Zugrundelegung "weitgehender übereinstimmender augenärztlicher Gutachterpraxis" davon ausgegangen, dass das Sehvermögen bei der Klägerin nicht in entsprechendem Maße eingeschränkt sein dürfte. Das Sehvermögen sei danach (nur dann) in entsprechendem Maße eingeschränkt, wenn die Grenze des Restgesichtsfeldes bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger in keiner Richtung mehr als 30 Grad vom Zentrum entfernt liege. Diese Voraussetzung sei im Fall der Klägerin nicht gegeben. Zwar werde in der augenfachärztlichen Bescheinigung der B. GmbH vom 17. Juli 2023 eine Einstufung als hochgradig sehbehindert empfohlen. Diese Empfehlung stehe jedoch bereits nicht mit den Voraussetzungen einer hochgradigen Sehbehinderung in Einklang. Denn ausweislich des Befundberichtes betrage das Sehvermögen der Klägerin beidäugig 1/10 ihrer Sehschärfe, wobei das Gesichtsfeld noch über 30 Grad vom Zentrum gereicht habe.
15Ob sich dementgegen hinreichende Erfolgsaussichten für die Klage bereits aus dem - vom Verwaltungsgericht nicht ausdrücklich gewürdigten - Inhalt der Stellungnahme der Fachärztin für Augenheilkunde L., B. GmbH, vom 22. März 2024 ergeben, mag dahinstehen. In der Stellungnahme heißt es, die eng begrenzte, punktuelle Ausweitung der Gesichtsfeldgrenze über die 30°-Marke am rechten Auge dürfte für die Klägerin keinen nennenswerten Gewinn bedeuten. Abgesehen davon, dass es sich hier um einen eng begrenzten Bereich handele, liege dieser seitlich oben und nicht im horizontalen Bereich, wo er für die Funktion im Alltag von Bedeutung wäre. Das erhobene Gesichtsfeld sei funktionell gleichzusetzen mit einem Gesichtsfeld mit konzentrischer Einengung in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt.
16Die für die Gewährung der Prozesskostenhilfe notwendige Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung resultiert jedenfalls daraus, dass die Klägerin im vorliegenden Beschwerdeverfahren eine aktuelle Gesichtsfeldmessung der B. GmbH vom 5. August 2024 vorgelegt hat, wonach die Gesichtsfeldaußengrenzen am rechten Auge "in keiner Richtung weiter als 10" seien; am linken Auge sei "keine Gesichtsfeldaufzeichnung möglich". Diesem Befund, der auf eine erhebliche Verschlechterung des Sehvermögens hindeutet, ist der Beklagte bislang nicht entgegengetreten.
17Eine weitere Aufklärung, auch hinsichtlich des Ergebnisses der unterschiedlichen Gesichtsfeldaufzeichnungen der Klägerin, und die abschließende Beantwortung der Frage, ob bei der Klägerin eine krankhafte Veränderung des besseren Auges vorliegt, die das Sehvermögen in entsprechendem Maße einschränkt (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GHBG), wird voraussichtlich dem Klageverfahren vorbehalten sein.