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1. Eine polizeiliche Wohnungsverweisung als kurzfristig wirkendes Mittel der Krisenintervention setzt grundsätzlich entweder eine Gewaltbeziehung mit konkreten Anzeichen für wiederholte Misshandlungen voraus oder eine erstmalige Gewalttat, wenn aufgrund der Intensität des Angriffs und der Schwere der Verletzungen mit einer jederzeitigen Wiederholung der Gewaltanwendung zu rechnen ist.
2. Das Vorliegen der Voraussetzungen einer Wohnungsverweisung bemisst sich danach, ob die Polizeibeamten vor Ort aufgrund des zum Zeitpunkt der Anordnung der Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot möglichen Erkenntnisstands – gewonnen aus Aussagen der Beteiligten sowie anderer Erkenntnismittel – bei verständiger Würdigung zu der (ex ante) Einschätzung gelangen durften, von dem oder der Betroffenen gehe eine gegenwärtige Gefahr im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW aus.
3. Maßgeblich sind jeweils die nach verständiger lebenspraktischer Erfahrung zu beurteilenden Umstände des Einzelfalls.
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Es wird festgestellt, dass die Verfügung des Beklagten vom 16. August 2019 rechtswidrig gewesen ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Vollstreckungsbetrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in entsprechender Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
2Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot und Zwangsgeldandrohung.
3Am späten Abend des 16. August 2019 wurden Polizeioberkommissarin K., Polizeikommissar O. und Kommissaranwärter M. zu einem Einsatz in der damaligen gemeinsamen Wohnung des Klägers und seiner Ehefrau beordert. Den Notruf hatte der Kläger selbst getätigt. Als die Polizeibeamten vor Ort eintrafen, befanden sich der Kläger, seine Frau und die beiden damals rund drei Jahre alten Zwillingstöchter in der gemeinsamen Wohnung. Der Kläger ging mit einem der Polizisten in ein anderes Zimmer der Wohnung, während die Ehefrau gegenüber den weiteren beiden Polizeibeamten angab, ihr Mann habe 2016 angefangen, sie zu schlagen. Neben Schlägen mit der flachen Hand auf ihren Hinterkopf habe er ihr seitdem diverse Male die Arme zerkratzt. Seit rund einem Jahr lebten sie in der ehelichen Wohnung getrennt. Der Kläger konsumiere abends regelmäßig Alkohol. Auch am maßgeblichen Abend sei es darauf zu verbalen Auseinandersetzungen gekommen. Sie habe dann vor der Küchenzeile gestanden, als der Kläger die Tür des unteren Küchenschranks absichtlich mit voller Kraft geöffnet und ihr damit schmerzhaft gegen den linken Oberschenkel geschlagen habe. Auch habe er sie beschimpft und geäußert, alles kaputt machen zu wollen. Sodann habe er selbst die Polizei gerufen. Die Kinder habe er niemals körperlich angegangen, ihnen aber durch Äußerungen zu einem Kinderheim Angst gemacht. Sie vermute, dass es zu weiteren körperlichen Übergriffen und zu anderen Straftaten kommen werde, wenn sich die Situation nicht ändere. Der Kläger selbst gab nach Beschuldigtenbelehrung durch die Polizeibeamten an, sich zum Sachverhalt nicht äußern zu wollen, Straftaten zum Nachteil seiner Ehefrau stritt er ab. Er selbst habe den Notruf getätigt und könne nicht verstehen, warum er die Wohnung verlassen müsse.
4Im Anschluss an die Befragung des Klägers ordneten die Polizeibeamten eine Wohnungsverweisung mit zehntätigem Rückkehrverbot bis zum 27. August 2019 gegen den Kläger an. Ferner drohten sie ihm für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld von 500,00 Euro an. Eine schriftliche Bestätigung der mündlichen Verfügung erfolgte nicht. Ausweislich der Dokumentation u. a. der Strafanzeige beruhe die Gefahrenprognose auf den Schilderungen der Ehefrau zu den verbalen Streitigkeiten und den körperlichen Übergriffen seit 2016, die sich seit der Trennung intensiviert hätten. Am fraglichen Tag sei es erstmals zu einer Körperverletzung mittels eines Gegenstands gekommen. Es sei davon auszugehen, dass die Gewalt zunehmen werde und weitere ähnliche Straftaten zum Nachteil der Ehefrau nicht ausgeschlossen werden könnten; es sei eine Gewaltspirale deutlich zu erkennen.
5Der Kläger hat am 19. August 2019 Klage erhoben. Einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. August 2019 ab (Az. 18 L 2292/19). Zur Begründung seiner als Fortsetzungsfeststellungsklage weiterverfolgten Klage hat der Kläger im Wesentlichen geltend gemacht: Die Gefahrenprognose der Polizeibeamten sei rechtswidrig gewesen. Körperliche Übergriffe habe es am 16. August 2019 nicht gegeben. Dass er seine Frau beim Öffnen des Küchenschranks am Bein getroffen habe, sei ein Versehen. Nachdem ihm seine Frau daraufhin häusliche Gewalt vorgeworfen habe, habe er – wie von einer Rechtsanwältin geraten – sofort die Polizei gerufen und dieser gesagt, er wolle damit unberechtigten Anschuldigungen seiner Frau zuvorkommen. Ihm gegenüber sei die sodann ausgesprochene Wohnungsverweisung nur mündlich begründet worden.
6Der Kläger hat beantragt,
7festzustellen, dass die Polizeiverfügung des Polizeipräsidiums Düsseldorf vom 16. August 2019 rechtswidrig gewesen ist.
8Der Beklagte hat beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 19. November 2020 hat das Verwaltungsgericht die Klage nach Vernehmung einer der beteiligten Polizeibeamtinnen als Zeugin abgewiesen. Zur Begründung hat es zusammengefasst ausgeführt: Die zulässige Klage habe in der Sache keinen Erfolg. Aufgrund der im Zeitpunkt des Einsatzes verfügbaren Erkenntnisse seien die handelnden Beamten fehlerfrei vom Vorliegen einer Gewaltbeziehung mit konkreten Anzeichen für wiederholte Misshandlungen im Verhältnis des Klägers zu seiner Ehefrau ausgegangen. Den Schilderungen seiner Ehefrau habe der Kläger keine eigene Stellungnahme in der Sache entgegengehalten. Insoweit hätten die Polizeibeamten alle ihnen zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ausgeschöpft. Auch die Prognose eines zwischen den Eheleuten bestehenden Konfliktpotentials sei nicht zu beanstanden.
11Am 14. September 2022 hat der Kläger die vom Senat gegen das Urteil zugelassene Berufung eingelegt. Er verfolgt sein erstinstanzliches Begehren weiter und wiederholt und vertieft zur Begründung sein bisheriges Vorbringen.
12Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
13das angefochtene Urteil zu ändern und festzustellen, dass die Verfügung des Beklagten vom 16. August 2019 rechtswidrig war.
14Der Beklagte stellt keinen Antrag.
15Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter und ohne mündliche Verhandlung erklärt.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens und des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Verwaltungsgericht Düsseldorf 18 L 2292/19) sowie des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe
18Der Senat entscheidet durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 VwGO).
19Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht als unbegründet abgewiesen.
20I. Die nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthafte Fortsetzungsfeststellungsklage ist zulässig. Insbesondere hat der Kläger ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung der Rechtswidrigkeit der ihm gegenüber angeordneten Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot und der in diesem Zusammenhang ausgesprochenen Zwangsgeldandrohung.
21Das ursprüngliche, auf Aufhebung der Polizeiverfügung vom 16. August 2019 gerichtete Klagebegehren hat sich nach Klageerhebung erledigt. Dem hat der Kläger erstinstanzlich dadurch Rechnung getragen, dass er den Klageantrag auf eine Fortsetzungsfeststellung umgestellt hat. Da Rechtsschutzziel und Prozessstoff unverändert geblieben sind, war die Umstellung des Antrags nicht als eine Klageänderung im Sinne des § 91 Abs. 1 VwGO anzusehen, sondern gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 264 Nr. 2 ZPO unabhängig von einer Zustimmung des Beklagten zulässig.
22Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2016 – 2 C 27.15 –, BVerwGE 156, 272, juris, Rn. 12; OVG NRW, Urteil vom 12. Dezember 2017 – 5 A 2428/15 –, juris, Rn. 20; Jacob, in: Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 5. Aufl. 2023, Kap. O Rn. 158 m. w. N.
23Der Kläger verfügt auch über das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts. Durch eine Wohnungsverweisung wird regelmäßig nachhaltig jedenfalls in die durch Art. 13 Abs. 1 GG und Art. 11 Abs. 1 GG bzw. – bei Nichtdeutschen – Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Grundrechtssphäre der regelungsbetroffenen Personen eingegriffen. Zugleich beschränkt sich die direkte Belastung wegen der nur kurzen Dauer der Maßnahme auf eine Zeitspanne, in der grundsätzlich lediglich eine summarische Prüfung in einem Eilverfahren erfolgen kann. Angesichts dessen wäre es mit dem durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz in der Regel – und so hier – nicht zu vereinbaren, den davon Betroffenen die Möglichkeit einer nachgelagerten gerichtlichen Überprüfung in einem Hauptsacheverfahren zu verwehren.
24Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 22 m. w. N.
25II. Die Klage ist auch begründet. Die Verfügung des Beklagten vom 16. August 2019 war von Beginn an rechtswidrig und hat den Kläger in seinen Rechten verletzt.
261. Offen bleiben kann, ob die Polizeiverfügung formell rechtswidrig ist, weil eine nach § 28 VwVfG NRW erforderliche Anhörung des Klägers vor Erlass des Verwaltungsakts unterblieben ist.
27Es spricht viel dafür, dass die handelnden Polizeibeamten dem Kläger vor Aussprechen der angegriffenen Anordnungen Gelegenheit hätten geben müssen, zu der seitens seiner Ehefrau erstmals beim Eintreffen der Beamten am Abend des streitigen Vorfalls vorgebrachten Behauptung, der Kläger habe 2016 angefangen, sie zu schlagen, es habe mit Schlägen auf den Hinterkopf begonnen, diverse Male habe er ihre Arme zerkratzt, jedenfalls der Sache nach Stellung zu nehmen. Aus den im Nachgang zum konkreten Einsatz gefertigten Dokumentationen der Polizeibeamten ergibt sich nicht, dass eine solche Konfrontation des Klägers mit der Behauptung früherer Übergriffe stattgefunden hat und ihm damit ein – nach den Umständen des Falles mögliches – vollständiges Informationsbild über den maßgeblichen Entscheidungssachverhalt gegeben worden ist. Auch dürfte die Anhörung des Klägers nicht gemäß § 28 Abs. 2 VwVfG NRW entbehrlich gewesen sein, wonach von einer Anhörung abgesehen werden kann, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalles nicht geboten ist. Zwar kann nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW von einer Anhörung insbesondere abgesehen werden, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr in Verzug notwendig erscheint. Im Rahmen einer Maßnahme nach § 34a PolG NRW dürfte das Vorliegen von Gefahr im Verzug etwa dann in Betracht kommen, wenn der oder die Betroffene nicht greifbar ist, weil der Aufenthaltsort mangels konkreten Aufenthalts in der Wohnung der oder des Geschädigten unbekannt ist. Ist dies jedoch nicht der Fall, so dürfte ein Absehen von der Anhörung nur in besonderen Fällen anzunehmen sein, z. B. wenn der oder die Betroffene nicht „vernehmungsfähig“ ist oder die konkrete Konfliktlage vor Ort ein weiteres Zuwarten vor dem Ergehen der Verfügung nicht zulässt.
28Vgl. VG Köln, Urteil vom 24. Januar 2008 – 20 K 2146/06 –, juris, Rn. 28; allgemein Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2022, § 28 Rn. 51.
292. Die Wohnungsverweisung und das Rückkehrverbot sind jedenfalls materiell rechtswidrig. Sie haben in § 34a PolG NRW keine Grundlage. Bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift lagen bei Erlass der Maßnahme am 16. August 2019 nicht vor. Daher kann offen bleiben, ob der Beklagte das ihm eröffnete Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.
30a) Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW kann die Polizei eine Person zur Abwehr einer von ihr ausgehenden gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer anderen Person aus einer Wohnung, in der die gefährdete Person wohnt, sowie aus deren unmittelbaren Umgebung verweisen und ihr die Rückkehr in diesen Bereich untersagen. Gemäß § 34a Abs. 5 Satz 1 PolG NRW enden Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot regelmäßig mit Ablauf des zehnten Tages nach ihrer Anordnung, soweit nicht die Polizei im Einzelfall ausnahmsweise eine kürzere Geltungsdauer festlegt.
31Die Regelung des § 34a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW enthält mit dem Erfordernis einer „gegenwärtigen“ Gefahr eine zusätzliche Qualifizierung. Der polizeirechtliche Begriff der gegenwärtigen Gefahr stellt im Vergleich zur einfachen (konkreten) Gefahr strengere Anforderungen an die zeitliche Nähe und den Wahrscheinlichkeitsgrad des Schadenseintritts. Gegenwärtig ist eine Gefahr dann, wenn die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder unmittelbar bzw. in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht.
32Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1974 – I C 31.72 –, BVerwGE 45, 51, juris, Rn. 32; OVG NRW, Urteil vom 12. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 27, und Beschluss vom 24. März 2021 – 5 B 1884/20 –, juris, Rn. 8.
33Die Wohnungsverweisung ist keine Sanktion für geschehenes Unrecht, sondern ein kurzfristig wirkendes Mittel der Krisenintervention, mit der eine aktuell drohende (erneute) körperliche Auseinandersetzung zwischen in derselben Wohnung lebenden Personen verhindert werden soll. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers setzt sie daher grundsätzlich entweder eine Gewaltbeziehung mit konkreten Anzeichen für wiederholte Misshandlungen voraus oder eine erstmalige Gewalttat, wenn aufgrund der Intensität des Angriffs und der Schwere der Verletzungen mit einer jederzeitigen Wiederholung der Gewaltanwendung zu rechnen ist.
34Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 29, Beschlüsse vom 24. März 2021, a. a. O., Rn. 10, und vom 23. Dezember 2014 – 5 E 1202/14 –, NJW 2015, 1468, juris, Rn. 5 f., unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Landesregierung für ein Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes und des Ordnungsbehördengesetzes, LT-Drs. 13/1525, S. 11 f.; ferner Cirullies/Cirullies, in: dies., Schutz bei Gewalt und Nachstellung, 2. Aufl. 2019, 4. Kap. Rn. 501 ff.
35Ob nach diesen Maßgaben die Bedingungen für ein Einschreiten gegeben sind, beurteilt sich aus der ex ante-Sicht. Maßgeblich ist, ob die Polizeibeamten vor Ort aufgrund des zum Zeitpunkt der Anordnung der Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot möglichen Erkenntnisstands – gewonnen aus Aussagen der Beteiligten sowie anderer Erkenntnismittel – bei verständiger Würdigung zu der Einschätzung gelangen durften, von dem oder der Betroffenen gehe eine gegenwärtige Gefahr im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW aus.
36Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 31, und Beschlüsse vom 24. März 2021, a. a. O., Rn. 12, und vom 17. März 2010 – 5 E 1700/09 –, NVwZ-RR 2010, 742, juris, Rn. 27.
37Unter Anlegung dieser Maßstäbe hält die getroffene Gefahrenprognose einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die in dem Verwaltungsvorgang dokumentierte Gefahreneinschätzung der handelnden Polizeibeamten rechtfertigt weder für sich genommen noch unter Berücksichtigung des Ergebnisses der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme durch die Zeugenvernehmung einer der Polizeibeamtinnen die Annahme einer gegenwärtigen Gefahr.
38Die insoweit von den Polizeibeamten der Gefahrenprognose zugrunde gelegte Annahme, zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau habe eine Gewaltbeziehung mit konkreten Anzeichen für wiederholte Misshandlungen bestanden, ist nicht hinreichend tragfähig. Entgegen der Würdigung des Verwaltungsgerichts hatten die Polizeibeamten nicht alle erforderlichen Erkenntnismittel ausgeschöpft.
39Die Gefahrenbeurteilung beruhte im Wesentlichen allein auf den Angaben der Ehefrau des Klägers. Diese hat nach dem Eintreffen der durch den Kläger selbst gerufenen Polizei behauptet, es sei in der Vergangenheit – seit dem Jahr 2016 – zu Übergriffen durch ihren Mann gekommen. Konkret nannte sie Schläge mit der flachen Hand auf den Hinterkopf und das Zerkratzen ihrer Arme. Am Einsatztag sei es dann zunächst zu verbalen Auseinandersetzungen gekommen. Später habe der Kläger die Tür des unteren Küchenschranks absichtlich gegen ihren linken Oberschenkel geschlagen, was ihr Schmerzen bereitet habe. Auch habe der Kläger sie beschimpft und bedroht. Diese Schilderungen waren zwar schlüssig, detailreich und auch im Übrigen glaubhaft. Insbesondere gab es keine Anhaltspunkte für Belastungstendenzen oder gesteigertes Vorbringen. Auch sind körperliche Übergriffe der genannten Art, auch wenn sie sich nach ihrer Intensität wohl am unteren Rand der Erheblichkeitsschwelle bewegen dürften, grundsätzlich geeignet, im Wiederholungsfall die Annahme einer Gewaltbeziehung zu begründen. Entscheidend sind hierbei – sowohl was die Quantität als auch was die zeitliche Dimension sowie die Qualität der Misshandlungen anbelangt – jeweils die nach verständiger lebenspraktischer Erfahrung zu beurteilenden Umstände des Einzelfalls.
40Jedoch war die genannte Schilderung der Ehefrau für sich genommen im konkreten Einzelfall nicht geeignet, die Wohnungsverweisung zu tragen. Das folgt allerdings nicht bereits daraus, dass der Kläger selbst und nicht seine Ehefrau die Polizei gerufen hat. Dieser Umstand ist isoliert betrachtet nicht geeignet, anderweitig bestehende Indizien für eine von dem Kläger ausgehende Gefahr zu entkräften. Nachdem den Polizeibeamten aber keinerlei objektive Erkenntnisse zur Verfügung standen, die die Angaben der Ehefrau stützten – etwa in Form dokumentierter Verletzungen, früherer Polizeieinsätze mit ähnlichem Verlauf oder Zeugenaussagen – waren sie im Rahmen ihrer Amtsermittlung zumindest gehalten, den Kläger mit den Aussagen seiner Ehefrau zu konfrontieren. Aufgrund der getrennten Vernehmungen bzw. Befragungen konnte der Kläger die seitens seiner Ehefrau getroffenen Aussagen zu den Misshandlungen weder unmittelbar wahrnehmen noch sind ihm diese mittelbar durch die Polizeibeamten zur Kenntnis gebracht worden. Daher hätte ein Vorhalt insbesondere betreffend die in der Vergangenheit liegenden Vorfälle folgen müssen, die maßgeblich zu der Annahme beigetragen haben, zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau liege eine manifeste Gewaltbeziehung vor. Die durchgeführte Beschuldigtenvernehmung, die dem Kläger die Möglichkeit bot, entsprechende Ausführungen zu tätigen, genügte insoweit nicht. Soweit das Verwaltungsgericht in seinem Urteil ausführt, es „hätte nichts näher gelegen, als [sich] den Polizeibeamten gegenüber zu äußern und sich durch eine vom Vortrag seiner Ehefrau abweichende Schilderung des Geschehensablaufs zu entlasten“ (S. 6 des Urteils), ist dies nicht falsch, berücksichtigt aber nicht hinreichend, dass der Kläger nicht nur nicht mit den in der Vergangenheit liegenden Vorfällen konfrontiert, sondern auch als Beschuldigter im strafprozessualen Sinne belehrt worden ist. Das dürfte bei lebensnaher Betrachtung seine Bereitschaft, sich unter präventiv-gefahrenabwehrrechtlichen Gesichtspunkten möglicherweise entlastend zu äußern, jedenfalls nachvollziehbar gehemmt haben.
41Überdies bot auch die Schilderung der Ehefrau selbst Anlass zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts. Dies gilt jedenfalls für die Angaben, die in ihrer Befragung als Geschädigte niedergelegt sind. Aus diesen ergibt sich nicht zweifelsfrei, ob die behaupteten Übergriffe des Klägers andauerten, nachdem vor ca. einem Jahr die – wenn auch nur innerhalb der Wohnung vollzogene – Trennung herbeigeführt worden war. Dieser Umstand ist für die Beurteilung des Vorliegens einer fortbestehenden Gewaltbeziehung von wesentlichem Belang. Er wirkt sich maßgeblich auf die Frage aus, ob der Vorfall am Einsatztag überhaupt als Aktualisierung einer – womöglich nur früheren – Gewaltbeziehung anzusehen war. Soweit in der formularmäßigen Dokumentation der polizeilichen Maßnahme die Rede davon ist, dass sich die Übergriffe nach der Trennung noch intensiviert hätten, weshalb von einer Gewaltspirale auszugehen sei, besteht eine – nicht ohne Weiteres aufzulösende – Diskrepanz zu den dokumentierten Aussagen der Ehefrau im Rahmen der Befragung als Geschädigte, die ebenfalls zulasten der Nachvollziehbarkeit der polizeilichen Prognose zu werten ist.
42Eine andere Bewertung des Vorliegens einer Gewaltbeziehung in diesem Sinne lag auch nicht vor dem Hintergrund der konkreten Vorwürfe bezogen auf den fraglichen Abend selbst nahe. Der Alkoholkonsum des Klägers habe zu verbalen Streitigkeiten zwischen ihm und seiner Frau geführt. Sodann kam es zu dem – im Einzelnen zwischen den Eheleuten umstrittenen – Vorfall der Öffnung der Küchenschranktür und den daran anknüpfend behaupteten Schmerzen am linken Oberschenkel der Ehefrau. Näher aufklären ließ sich dieser Vorfall bzw. der damalige Erkenntnisstand der Polizeibeamten auch durch die Beweisaufnahme durch Vernehmung einer der Beamtinnen als Zeugin nicht. Angesichts der geringen Intensität des – in seinem Ablauf als wahr unterstellten – Übergriffs lag der Schluss auf eine Gewaltbeziehung unter Berücksichtigung der oben geschilderten Erkenntnislücken nicht ohne Weiteres nahe, auch wenn weitere Umstände wie eine Alkoholisierung oder verbale Auseinandersetzungen grundsätzlich geeignet sind, eine Gefahrenprognose mit zu stützen.
43Ebenfalls fehlten zum damaligen Zeitpunkt belastbare Anhaltspunkte für die Annahme einer erstmaligen Gewalttat, aufgrund deren Intensität und der durch sie verursachten Schwere der Verletzungen mit einer jederzeitigen Wiederholung der Gewaltanwendung zu rechnen war. Der hierfür allein in Frage kommende „Schlag“ mit der geöffneten Küchenschranktür, der auch nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme keinen pathologischen Zustand bei der Ehefrau hervorgerufen hat, reicht insoweit erkennbar nicht aus. Gleiches gilt im Ergebnis auch unter Einbeziehung der zusätzlich geltend gemachten Beschimpfungen und Bedrohungen.
44b) Ob die Anordnung der Wohnungsverweisung darüber hinaus an einem Ermessensfehler litt (§ 114 VwGO), bedarf keiner Entscheidung. Die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens erfordert grundsätzlich, dass die Behörde bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Gesichtspunkte, die für und gegen die Maßnahme sprechen, gegeneinander abwägt. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen ist dies hier zweifelhaft, weil der Beklagte einen für die Entscheidungsfindung wesentlichen Belang nicht berücksichtigt hat. Nach den Umständen des konkreten Einzelfalls dürfte es insoweit an einer Konfrontation des Klägers mit den Vorwürfen zu den in der Vergangenheit liegenden, nach der Einschätzung der Polizei eine Gewaltbeziehung begründenden körperlichen Übergriffen fehlen. Dies kann indes angesichts der fehlenden tatbestandlichen Voraussetzungen der Anordnung offen bleiben.
453. Waren die Wohnungsverweisung des Klägers und das Rückehrverbot rechtswidrig, gilt dies auch für die hieran für den Zuwiderhandlungsfall anknüpfende Zwangsgeldandrohung.
46Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
47Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
48Der Senat lässt die Revision nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.