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Die zu Ziffer 1.3. der Anwendungshinweise des BMI (geduldeter Aufenthalt) erlassenen NRW-spezifischen Ergänzungen bzw. Abweichungen im Erlass des MKJFGFI vom 8. Februar 2023 zum Chancen-Aufenthaltsrecht gemäß § 104c AufenthG stehen mit den Vorgaben des Aufenthaltsgesetzes nicht in Einklang, soweit der Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung oder einer Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen als faktische Duldung im Sinne des § 104c AufenthG angesehen wird.
Die Beschwerden werden zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten der Beschwerdeverfahren; außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens 18 E 93/23 werden nicht erstattet.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren 18 B 103/23 auf 1.250 Euro festgesetzt
G r ü n d e
2Die Beschwerden haben keinen Erfolg.
3Die Beschwerde 18 E 93/23 ist unbegründet, weil die Rechtsverfolgung aus den nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bot (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
4Die Beschwerde 18 B 103/23 führt nicht zur Änderung oder Aufhebung des angefochtenen Beschlusses. Die dargelegten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat sich nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, bieten hierfür keinen Anlass.
5Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen von Relevanz, im Wesentlichen ausgeführt, es sei dem Antragsteller und seiner Ehefrau zuzumuten, ihre familiäre Beziehung durch eine vorübergehende Ausreise des Antragstellers zum Zwecke der Nachholung des Visumverfahrens zu unterbrechen. Es sei nicht glaubhaft gemacht, dass die Ehefrau zwingend auf die Lebenshilfe des Antragstellers angewiesen sei und diese sich nur im Bundesgebiet erbringen ließe. Insbesondere seien entgegen mehrfacher Ankündigungen des Antragstellers und seiner Ehefrau keinerlei ärztliche Atteste eingereicht worden, die diesen Umstand belegten. Das dagegen gerichtete Beschwerdevorbringen greift nicht durch.
6Zwar hat der Antragsteller mit der Beschwerde einen ärztlichen Bericht des neurologischen Rehabilitationszentrums H. in C. vom 14. Juni 2022 vorgelegt. Dieser Bericht ist aber nicht geeignet zu belegen, dass es dem Antragsteller nicht zumutbar ist, die familiäre Lebensgemeinschaft wegen erforderlicher Lebenshilfe gegenüber seiner Ehefrau ggf. vorübergehend für die Durchführung des Visumverfahrens zu unterbrechen. Der Beweiswert dieses Berichts wird nachdrücklich dadurch relativiert, dass es sich dabei nach dem Stempelaufdruck "ENTWURF – nicht vidiertes Dokument" lediglich um einen Entwurf handelt. Dies folgt auch daraus, dass das Schriftstück nicht durch eine ärztliche Unterschrift autorisiert ist. Abgesehen davon endet das knapp acht Monate alte Dokument mit der sozialmedizinischen Epikrise, bei der 53-jährigen zuletzt in Teilzeit als Altenpflegerin arbeitenden Frau N. bestünden zum Zeitpunkt der Entlassung Defizite in Form einer allgemeinen psychophysischen Minderbelastbarkeit. Weiterhin heißt es ausdrücklich "Eine abschließende Beurteilung des Leistungsvermögens für zukünftige Tätigkeiten ist zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht. Es ist mit weiteren Verbesserungen zu rechnen, wir gehen von einer grundsätzlich positiven Erwerbsprognose aus und empfehlen, das arbeitsrelevante Leistungsvermögen im Rahmen eines Wiederholungheilverfahrens in c.a. 4 bis 6 Monaten erneut zu überprüfen." Der Antragsteller hat weder das Ergebnis einer derartigen erneuten Überprüfung vorgelegt, noch dargelegt, aus welchen Gründen eine solche gegebenenfalls noch nicht erfolgt ist. Deshalb bleibt die Behauptung des Antragstellers ohne den erforderlichen Nachweis, er müsse seine Ehefrau zu Arztterminen bringen und begleiten, er müsse für sie kochen und waschen, aufgrund ihrer Krankheit sei seine Ehefrau zwingend auf seine Hilfe angewiesen. Weder dargelegt noch sonst ersichtlich ist eine Entscheidungsrelevanz seines Vortrags, er sei bereits seit 2015 in Deutschland, habe seit den Anfängen immer gearbeitet, verdiene ungefähr 1.700-1.900 Euro und habe zudem einen Integrationskurs gemacht und das Sprachzertifikat B1 erworben.
7Unzutreffend ist die Annahme des Antragstellers, ihm stehe nunmehr jedenfalls ein Aufenthaltsrecht nach § 104c AufenthG zu. Der Erteilung einer dementsprechenden Aufenthaltserlaubnis steht entgegen, dass der Antragsteller nach den unwidersprochenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Beschluss unter dem 28. Februar 2020 wegen versuchten Betrugs zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG wird hingegen vorausgesetzt, dass der Ausländer nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei lediglich Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten grundsätzlich außer Betracht bleiben, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten. Diese Voraussetzung erfüllt der Antragsteller nicht.
8Der vorliegende Fall gibt über dessen Streitpunkte hinaus im Hinblick auf zukünftige Verfahren die Gelegenheit, zeitnah zu zwei Regelungen des Erlasses des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MKJFGFI) vom 8. Februar 2023 (AZ 513-26.11.01-000009-2023-001688) zum Chancen-Aufenthaltsrecht gemäß § 104c AufenthG Stellung zu nehmen.
9Mit diesem Erlass erklärt das MKJFGFI die Anwendungshinweise des BMI zum Chancen-Aufenthaltsrecht vom 23. Dezember 2022 mit farblich kenntlich gemachten NRW-spezifischen Ergänzungen für verbindlich anwendbar. Die zu Ziffer 1.3. der Anwendungshinweise des BMI (geduldeter Aufenthalt) erlassenen NRW-spezifischen Ergänzungen bzw. Abweichungen sind mehrdeutig und bei einem durchaus naheliegenden Verständnis gesetzeswidrig bzw. stehen mit den Vorgaben des Aufenthaltsgesetzes eindeutig nicht in Einklang.
10Unter a.) heißt es, „Zum Stichtag 31.10.2022 muss sich eine von § 104c AufenthG begünstigte Person nicht im Besitz einer Duldung befunden haben, um in den Anwendungsbereich des § 104c AufenthG zu gelangen". Diese Aussage ist mehrdeutig.
11§ 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt für die Erteilung einer dementsprechenden Aufenthaltserlaubnis unter anderem voraus, dass der Ausländer sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat. Nach dem Kontext der NRW-spezifischen Ergänzung bzw. Abweichung ist nicht davon auszugehen, dass diese lediglich die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringen soll, dass auch der Besitz einer Gestattung oder einer Aufenthaltserlaubnis zum Stichtag ausreicht. Sollte damit gemeint sein, dass statt des Besitzes einer Duldung auch der Anspruch auf Erteilung einer Duldung zum Stichtag genügt, so stünde dies mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Begriff der Duldung in § 25b Absatz 1 Satz 1 AufenthG im Einklang, die ohne weiteres auch für § 104c AufenthG gilt.
12Insoweit sei aber darauf hingewiesen, dass ein Duldungsanspruch zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG nur besteht, wenn die Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrechtzuerhalten und dadurch sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugutekommen kann. Hingegen genügt es für einen Duldungsanspruch nicht, wenn ein Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG beantragt hat, die Voraussetzungen der Norm noch nicht erfüllt.
13Vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019 – 1 C 34.18 -, juris Rn. 24 und 30.
14Sollte mit der in Rede stehenden NRW-spezifischen Ergänzung bzw. Abweichung hingegen gemeint sein, es bedürfe weder einer Duldung noch eines Anspruchs auf eine Duldung, noch einer Gestattung oder einer Aufenthaltserlaubnis, so wäre der Erlass insoweit mit § 104c AufenthG nicht vereinbar.
15Nicht vereinbar mit dem Aufenthaltsgesetz ist jedenfalls die NRW-spezifische Ergänzung bzw. Abweichung unter b.) zu Ziffer 1.3 der Anwendungshinweise des BMI. Diese ist wie folgt formuliert: „Sind Betroffene im Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung (GÜB) oder einer ausländerbehördlichen Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, sind sie während dieses Zeitraums als faktisch geduldet im Sinne des § 104c AufenthG anzusehen." Diese Bestimmung verkennt, das nach der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Ausländer nur dann geduldet ist, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder wenn er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat. Der Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung oder einer ausländerbehördlichen Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen reicht insoweit nicht aus. Eine faktische Duldung sieht die Konzeption des Aufenthaltsgesetzes nicht vor und ist auch der Neuregelung des § 104c AufenthG nicht zu entnehmen.
16Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO. die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 GKG.
17Der Beschluss ist unanfechtbar.