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Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 19. Mai 2022 geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt unter Einbeziehung des rechtskräftigen Teils der erstinstanzlichen Kostenentscheidung die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Entschädigungsleistungen nach dem IfSG.
3Die Klägerin ist in der Fleischverarbeitung tätig. Im Januar 2014 schloss sie mit der X. eG, die im Jahr 2015 ihre Rechtsform in eine Europäische Genossenschaft (im Folgenden X. SCE) umwandelte, einen Werkvertrag (im Folgenden: WV). Die Klägerin schuldete gegenüber der X. SCE die Feinzerlegung (§ 1 Abs. 3 WV). Als Einsatzort wurde das „Fleischcenter D. “ bestimmt. Bei den von der Klägerin eingesetzten Arbeitnehmern handelte es sich ausschließlich um polnische Staatsangehörige. Während der Zeit, in der die Mitarbeiter der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland tätig waren, kümmerte sich diese um deren Unterbringung in zu diesem Zweck angemieteten Wohnungen.
4Die Klägerin und Herr H. schlossen am 24. April 2014 einen zunächst bis zum 24. April 2015 befristeten Arbeitsvertrag (im Folgenden: AV), der im Nachgang entfristet wurde. Herr H. wurde gemäß § 2 Abs. 1 AV als Fleischer eingestellt und war im Jahr 2020 auf dem Betriebsgelände der X. SCE in D. tätig.
5Am 29. April 2020 erhielt das Gesundheitsamt des Kreises D. die erste positive Testmeldung eines bei der X. SCE tätigen Mitarbeiters. Nachdem am 30. April 2020 und am 1. Mai 2020 weitere Positivmeldungen erfolgt waren, wurden am 2. Mai 2020 und am 3. Mai 2020 mehrere Gruppenunterkünfte in D. , E. und S. , in denen im Fleischcenter D. tätige Personen wohnten, durch das Gesundheitsamt des Kreises D. aufgesucht und von sämtlichen angetroffenen Personen Abstriche genommen. Dies wurde damit begründet, dass die bereits positiv getesteten Personen in den aufgesuchten Gruppenunterkünften wohnten. Ebenfalls am 2. Mai 2020 wurden am Betriebsstandort D. Abstriche von Mitarbeitern mit Symptomen genommen. Die Testergebnisse erhielt das Gesundheitsamt des Kreises D. am 4. Mai 2020. Insgesamt waren 51 Testergebnisse positiv. In den folgenden Tagen erfolgten weitere Testungen in den Gruppenunterkünften. Am 5. Mai 2020 wurden neun Neuinfizierungen mitgeteilt, am 6. Mai 2020 34 und am 7. Mai 2020 52. Am 7. Mai wurde mit der Testung aller im Fleischcenter D. tätigen Mitarbeiter begonnen. Bis zum 8. Mai 2020, 19:30 Uhr, wurden 870 Personen getestet; davon 171 positiv und 182 negativ. Erkenntnisse, dass Mitarbeiter des Verwaltungsbereichs positiv getestet wurden, lagen zu diesem Zeitpunkt nicht vor.
6Das Amt für Arbeitsschutz der Bezirksregierung N. überprüfte das Fleischcenter D. ebenfalls am 8. Mai 2020 und stellte fest, die Zuordnung von Übertragungswegen gestalte sich schwierig, da aufgrund des niedrigen Personalstandes bei der Firma X. die ursprünglichen Arbeitsgruppen zusammengelegt worden seien. Dadurch sei es zu einer Durchmischung der zuvor bestehenden Teams gekommen. Dies lasse ein Erkennen ursprünglicher Infektionsgruppen oder Infektionswege nicht mehr eindeutig zu. Sowohl im Bereich des Zerlegebandes als auch in den Umkleiden gebe es Probleme, den Mindestabstand von 1,50 m einzuhalten. Der zur Verfügung gestellte Mund-Nasen-Schutz werde am Zerlegeband nicht korrekt getragen. Die Vertreter der Firma seien nicht in der Lage gewesen, Infektionsschwerpunkte zu benennen.
7Vor diesem Hintergrund ordnete der Kreis D. mit Ordnungsverfügung vom 8. Mai 2020 gegenüber der X. SCE an, in der Zeit vom 9. Mai 2020, 1:00 Uhr, bis einschließlich 17. Mai 2020, 24:00 Uhr, sämtliche Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Annahme lebendiger Tiere, der Zuführung der Tiere zum Schlachthof, der Schlachtung, Zerlegung, Verpackung, Verladung und Versand am Standort des Fleischcenters D. zu unterlassen (Ziffer 1.). Zusätzlich wurde für diesen Zeitraum das Betreten des Fleischcenters D. untersagt; Ausnahmen bestanden u. a. für Beschäftigte der Standortverwaltung (Ziffer 2.). Zur Begründung wurde neben den vorstehenden tatsächlichen Feststellungen im Wesentlichen ausgeführt: Die X. SCE habe, um eine Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus einzudämmen, Schutzvorkehrungen getroffen. So werde am Eingang die Körpertemperatur sämtlicher Mitarbeiter gemessen. Sämtliche am Standort tätigen Personen seien verpflichtet, MNS-Masken zu tragen. In den Pausenräumen seien Trennwände zu den jeweiligen Sitzplätzen geschaffen worden. Zudem sei der Pausenbereich durch ein zusätzliches Zelt im Außenbereich vergrößert worden. Diese Maßnahmen seien jedoch ausweislich der Testungen und deren Ergebnissen erkennbar nicht geeignet, aktuell und nachhaltig eine Eindämmung der Infektionsausbreitung zu fördern. Grund für das dynamische Infektionsgeschehen sei zwar auch die Art der Unterbringung vieler in der Produktion beschäftigter Mitarbeiter gewesen. Doch insbesondere innerhalb des Betriebes könnten Infektionsketten offensichtlich nicht ausgeschlossen werden. Grund hierfür sei die notwendige enge Zusammenarbeit insbesondere im Bereich der Schlachtung und Zerlegung. Es habe sich zudem gezeigt, dass die strenge Trennung von Arbeitsgruppen wegen des Ausfalls von Mitarbeitern nicht habe aufrechterhalten werden können, sodass es zu einer Durchmischung der Arbeitsgruppen gekommen sei. Eine klare Rückverfolgung der Infektionsketten sei daher nicht mehr möglich. Die Wiederaufnahme des Betriebs erfolgte ab dem 22. Mai 2020.
8Die X. SCE erhob gegen diese Verfügung Klage und stellte einen Antrag auf Anordnung deren aufschiebender Wirkung. Diesen lehnte das Verwaltungsgericht Münster mit Beschluss vom 9. Mai 2020 - 5 L 400/20 -, juris, ab. Mit Urteil vom 21. September 2021 - 5 K 938/20 -, juris, wies das Verwaltungsgericht Münster die Klage ab. Über den Antrag auf Zulassung der Berufung (13 A 2840/21) ist bislang nicht entschieden worden.
9Die Stadt D. ordnete am 9. Mai 2020 gegenüber Herrn H. mündlich die Absonderung in häusliche Quarantäne bis zum 23. Mai 2020 an. Zur Begründung führte sie aus, es bestehe der hohe Verdacht, dass Herr H. engen Kontakt zu einer Person gehabt habe, die mit SARS-CoV-2 infiziert sei. Die mündliche Anordnung wurde am 11. Mai 2020 schriftlich bestätigt.
10Am 3. August 2020 beantragte die Klägerin die Erstattung der an Herrn H. geleisteten Entschädigung aufgrund dessen Absonderung in häusliche Quarantäne für die Zeit vom 5. Mai 2020 bis zum 23. Mai 2020. Die Klägerin gab im Antragsformular an, Herr H. habe keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 616 BGB gehabt. Ausweislich der dem Antrag beigefügten Lohnbescheinigungen verdiente Herr H. im April 2020 2.608,40 Euro brutto und im März 2020 2.495,00 Euro brutto. Nach dem Inhalt der Lohnbescheinigung für Mai 2020 erhielt er u. a. einen „Fiktivlohn IfSG“ von 1.448,11 Euro brutto.
11Mit Bescheid vom 26. Januar 2021 lehnte der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (im Folgenden: LWL) den Antrag der Klägerin auf Erstattung von Arbeitgeberaufwendungen für den von Herrn H. erlittenen Verdienstausfall ab und führte zur Begründung aus, die Klägerin habe beim Einsatz von Herrn H. Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften, insbesondere Hygienevorgaben, verletzt. Aus diesem Grund habe Herr H. einen Lohnfortzahlungsanspruch gegen die Klägerin. Damit liege ein Verdienstausfall nicht vor. Zudem sei der Betrieb, in dem Herr H. eingesetzt gewesen sei, vom 9. Mai 2020 bis zum 17. Mai 2020 aufgrund behördlicher Anordnung geschlossen gewesen. Auch aus diesem Grund habe kein Verdienstausfall vorgelegen.
12Am 1. März 2021 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen: Die stellvertretende Abteilungsleiterin des Gesundheitsamtes D. habe anlässlich von Besprechungen aufgrund der Corona-Pandemie sie, die Klägerin, sowohl hinsichtlich der Unterbringung der Mitarbeiter als auch mit Blick auf die Handhabung des Einsatzes der Mitarbeiter ausdrücklich gelobt. Sie, die Klägerin, habe darauf geachtet, dass ihre Mitarbeiter lediglich an einer Betriebsstätte tätig gewesen seien. Zudem habe sie dafür Sorge getragen, dass die Einhaltung der Hygienevorgaben in den Mitarbeiterwohnungen möglich gewesen sei. In der Betriebsstätte der X. SCE in D. seien auch Mitarbeiter anderer Werkvertragspartner - u. a. der Firma L. - eingesetzt gewesen. Die Mitarbeiter der Firma L. seien in unterschiedlichen Betrieben tätig gewesen. Diese Mitarbeiter seien nicht getestet worden. In den Unterkünften der Firma L. komme es vor, dass sich mehrere Mitarbeiter ein Bett als Schlafstätte teilen müssten. Auf diese Umstände habe ihr, der Klägerin, Geschäftsführer den Standortleiter der X. SCE mehrfach hingewiesen. Zum Zeitpunkt der Schließung der Betriebsstätte der X. SCE in D. im Mai 2020 habe diese die Durchführung von Testungen abgelehnt. Die X. SCE habe sich auf den Standpunkt gestellt, die Werkvertragspartner seien verpflichtet, für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu sorgen. Die X. SCE habe auch im Hinblick auf die Organisation ihrer eigenen Betriebsabläufe bzw. im Hinblick auf die Erstellung eines Hygienekonzepts unter Begleitung medizinischer Expertise eine eigene Verantwortlichkeit abgelehnt. Ursächlich für die Schließung des Fleischcenters D. vom 7. Mai 2021 bis zum 21. Mai 2021 sei nach ihrer, der Klägerin, Kenntnis ein Infektionsgeschehen gewesen, das durch Mitarbeiter der Firma L. verursacht worden sei. Vor der Betriebsschließung seien bei ihren Mitarbeitern nur vereinzelte Corona-Fälle aufgetreten. Diese hätten sich dann in Isolation begeben. Ein Infektionsgeschehen unter ihren Mitarbeitern sei vor der Betriebsschließung nicht feststellbar gewesen. Nach der Betriebsschließung sei auch bei ihren Mitarbeitern eine Vielzahl von Infektionen aufgetreten. Bis zum 21. Mai 2020 seien 78 ihrer 105 Mitarbeiter positiv getestet worden. Unter erheblichem Aufwand habe man eine Isolation dieser Mitarbeiter gewährleisten können. Ihrer Ansicht nach habe auch die im Betrieb der X. SCE eingesetzte Lüftungsanlage zu einer Begünstigung der Verbreitung des Corona-Virus geführt. Auf die Ausstattung des Betriebsstandortes in D. sowie die übergeordnete Betriebs- und Arbeitsorganisation habe sie keinen Einfluss gehabt. Nach Wiederaufnahme der betrieblichen Tätigkeit habe die X. SCE ein Hygienekonzept erstellt. Seither sei es zu keinen weiteren Corona-Ausbrüchen mehr gekommen. Wenn nach Ausbruch der Corona-Pandemie und entsprechender verwaltungsbehördlicher Vorgabe von Hygienekonzepten von vorn herein auch entsprechende Vorgaben im Betrieb der X. SCE gemacht worden wären, hätte ihrer Ansicht nach das Ausbruchsgeschehen vermieden werden können. Ihr selbst könne nicht der Vorwurf gemacht werden, gegen Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften verstoßen zu haben. Die im Verwaltungsverfahren abgegebene Erklärung, Ansprüche nach § 616 BGB bestünden nicht, sei auf ein Versehen ihres Steuerberaterbüros zurückzuführen.
13Die Klägerin hat unter Rücknahme der Klage für den Zeitraum vom 5. Mai 2020 bis zum 8. Mai 2020 beantragt,
14den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe vom 26. Januar 2021 zu verpflichten, ihr auf ihren Antrag vom 3. August 2020 für den Arbeitnehmer H. betreffend den Zeitraum vom 9. Mai 2020 bis zum 23. Mai 2020 eine Erstattung des Netto-Verdienstausfalls zuzüglich geleisteter Sozialabgaben in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.
15Der Beklagte hat beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Er hat zur Begründung seines Klageabweisungsantrags im Wesentlichen ausgeführt, es fehle an einem Verdienstausfall von Herrn H. . Der Betrieb, in dem Herr H. eingesetzt gewesen sei, sei aufgrund behördlicher Anordnung geschlossen gewesen. Deshalb stehe Herrn H. ein Lohnanspruch wegen der Regelungen in § 615 Sätze 1 und 3 BGB zu. Die Klägerin trage das Betriebsrisiko für die Betriebsschließung. Dies werde durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 13. Oktober 2021 - 5 AZR 211/21 -) bestätigt. Ein Verschulden der Klägerin sei insofern nicht erforderlich. Unerheblich sei, dass Herr H. infolge der Absonderung in häusliche Quarantäne nicht habe arbeiten können. Das Unvermögen von Herrn H. folge gerade aus einem Umstand, der in das Betriebsrisiko der Klägerin falle. Außerdem könne sich der Gläubiger gemäß § 242 BGB nicht auf ein Unvermögen des Schuldners im Sinne des § 297 BGB berufen, soweit er die Leistungsunfähigkeit des Schuldners herbeigeführt habe. Unerheblich sei, dass die Betriebsschließung nicht den Betrieb der Klägerin sondern denjenigen ihres Werkvertragspartners betroffen habe. Eine Entbindung der Klägerin von ihren arbeitgeberrrechtlichen Pflichten durch Abschluss eines Werkvertrages, an dem der Arbeitnehmer nicht beteiligt sei, sei aufgrund des Verbots, Verträge zu Lasten Dritter abzuschließen, nicht möglich. Soweit § 7 Ziffer 2 WV die Anwendung von § 642 BGB ausschließe, habe die Klägerin die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu tragen. Soweit ab dem 22. Mai 2020 ein eingeschränkter Betrieb wieder aufgenommen worden sei, bleibe unklar, inwiefern Herr H. hätte eingesetzt werden können. Darüber hinaus falle auch der der Absonderungsanordnung zugrundeliegende Ansteckungsverdacht betreffend Herrn H. in das betriebliche Risiko der Klägerin. Dies ergebe sich aus einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 29. Oktober 2021- 11 U 60/21 -, juris. Diese Rechtsprechung stehe auch im Einklang mit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Oktober 2021. Der Lohnanspruch des Herrn H. gegen die Klägerin sei außerdem wegen der Verletzung von Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften nicht untergegangen. Dies folge ebenfalls aus § 615 Sätze 1 und 3 BGB i. V. m. § 618 BGB. Die Klägerin habe gegen ihre Fürsorgepflichten aus § 618 BGB verstoßen. Die Klägerin habe in diesem Zusammenhang die Vorgaben aus §§ 1 Abs. 1 Satz 1, 3 Abs. 1 Sätze 1 bis 3, 5 Abs. 1, 8 Abs. 1 und 12 Abs. 1 ArbSchG zu beachten. Daraus folge, dass die Klägerin Infektionen zu verhindern und Infektionsrisiken zu minimieren habe. Dies gelte umso mehr in Betrieben, in denen in den konkreten betrieblichen Abläufen und Gegebenheiten ein erhöhtes Infektionsrisiko bzw. die Gefahr der Verbreitung des Virus liege. Der Auffassung der Klägerin, sie habe keinen Einfluss auf die Verhältnisse im Fleischcenter D. gehabt, sei zu widersprechen. Die Klägerin müsse sich Verstöße gegen Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften innerhalb des Betriebs der X. SCE in D. zurechnen lassen. Dies folge nicht nur aus gesetzlichen Vorschriften sondern auch aus dem zwischen ihr und der X. SCE geschlossenen Werkvertrag. Des Weiteren entspreche die Zurechnung der Verstöße des Bestellers dem Rechtsgedanken der Billigkeit. Es genüge nicht, dass sich die Klägerin bemüht habe, die X. SCE zu bewegen, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Es sei sowohl gegen die Pflicht zur Einhaltung des Mindestabstands von 1,5 m als auch gegen die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in mehrfacher Hinsicht verstoßen worden, obwohl diese gesetzlich vorgeschrieben gewesen seien. Die Klägerin gehe selbst davon aus, dass das Ausbruchsgeschehen bei Vorlage und Beachtung eines effektiven Hygienekonzepts hätte verhindert werden können. Ferner habe die Klägerin bei der Unterbringung von Herrn H. gegen ihre Pflichten aus § 618 Abs. 2 BGB verstoßen. Die Norm finde auf Betriebswohnheime Anwendung. Insofern sei § 36 Abs. 1 Nr. 5 IfSG einschlägig. Darüber hinaus fänden §§ 3, 3a ArbStättV sowie Nr. 4.4. des Anhangs dieser Verordnung Anwendung. Ein Hygieneplan, der diesen Anforderungen genüge, sei nicht erkennbar. Zudem seien die Empfehlungen der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe basierend auf den geltenden Anforderungen des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards zu berücksichtigen gewesen. Das Vorbringen der Klägerin lasse nicht erkennen, welche Maßnahmen sie die Unterkünfte betreffend ergriffen habe. Im Rahmen einer behördlichen Kontrolle am 14. Mai 2020 in der Unterkunft am C. in D. seien Defizite in der Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen festgestellt worden. Soweit Arbeitnehmer der Klägerin gemeinsam mit Arbeitnehmern der Firma L. in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht gewesen seien, hätte sie in Kenntnis der Verstöße der Firma L. gegen Hygienevorgaben zusätzliche Schutzmaßnahmen ergreifen müssen. Überdies müsse sich die Klägerin die Verstöße der Firma L. zurechnen lassen. Das ergebe sich u. a. aus § 8 Abs. 1 ArbSchG. Es erschließe sich auch nicht, wieso die Klägerin ihre Arbeitnehmer weiterhin im Fleischcenter D. habe arbeiten lassen, obwohl sie nach eigenen Angaben gewusst habe, dass die Fima L. gegen Arbeitsschutzvorschriften verstoßen habe. Die Klägerin habe ihre Einflussmöglichkeiten nicht ausgeschöpft. Die Verstöße gegen Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften seien erheblich gewesen. Auch insoweit werde auf (zum Teil schriftliche) Stellungnahmen bzw. Erklärungen von Herrn Prof. F. vom 24. Juni 2020, vom 13. Oktober 2020, vom 15. Juli 2021 und vom 28. Juli 2021, auf die Ergänzung der Gefährdungsbeurteilung im Sinne des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards, Branche: Fleischwirtschaft, vom 29. April 2020 sowie auf die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene e.V. „Zum Einsatz von dezentralen mobilen Luftreinigungsgeräten im Rahmen der Prävention von COVID-19“ vom 25. September 2020, Bezug genommen. Aufgrund der Verstöße gegen Arbeitsschutz- und Gesundheitsvorschriften behalte Herr H. auch gemäß § 326 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB seinen Anspruch auf Vergütung. Zudem sei Herr H. des Anspruchs auf Vergütung gemäß § 616 Satz 1 BGB nicht verlustig geworden, insbesondere handele es sich bei dem Zeitraum der Absonderung um eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit. Ein Verschulden von Herrn H. sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Selbst wenn man davon ausginge, es sei ein Verdienstausfall eingetreten, beruhte dieser nicht kausal auf der Absonderung, denn der Betriebsstandort in D. sei für die gesamte Zeit der Absonderung aufgrund behördlicher Anordnung geschlossen gewesen. Ein anderweitiger Einsatz von Herrn H. sei weder vorgetragen noch substantiiert nachgewiesen. Abgesehen davon sei der Anspruch jedenfalls wegen eines weit überwiegenden Mitverschuldens der Klägerin ausgeschlossen. Außerdem seien die Besonderheiten des zugrundeliegenden Werkvertragsrechts zu berücksichtigen. Aufgrund der von der Klägerin selbst eingeräumten Verstöße der X. SCE sowie deren weiteren Subunternehmern stehe ihr ein Schadensersatzanspruch gegen X. SCE zu, der der Entschädigungs- und Erstattungsregelung des § 56 IfSG vorgehe.
18Mit Urteil vom 19. Mai 2022 - dem Beklagten zugestellt am 8. Juni 2022 - hat das Verwaltungsgericht das Verfahren eingestellt, soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat und im Übrigen den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe vom 26. Januar 2021 verpflichtet, der Klägerin auf ihren Antrag vom 3. August 2020 für den Arbeitnehmer H. betreffend den Zeitraum vom 9. Mai 2020 bis zum 23. Mai 2020 eine Erstattung in Höhe von 704,00 Euro (Netto-Verdienstausfall) zuzüglich 346,47 Euro geleisteter Sozialabgaben zu bewilligen. Es hat festgestellt, die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 i. V. m. Abs. 5 IfSG lägen vor, insbesondere habe Herr H. im Zeitraum vom 9. Mai 2020 bis zum 23. Mai 2020 einen Verdienstausfall erlitten.
19Am 7. Juli 2022 hat der Beklagte die Zulassung der Berufung beantragt, die am 8. August 2022 begründet worden ist. Mit Beschluss des damals zuständigen 13. Senats des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. November 2022 - dem Beklagten zugestellt am 25. November 2022 -, ist die Berufung wegen der geltend gemachten besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten zugelassen worden. Auf entsprechenden Antrag vom 21. Dezember 2022 ist die Frist zur Begründung der Berufung bis zum 23. Januar 2023 verlängert worden.
20Mit Schriftsatz vom 23. Januar 2023, beim Oberverwaltungsgericht eingegangen am selben Tage, hat der Beklagte die Berufung begründet, sein bisheriges Vorbingen wiederholt und ergänzend bzw. vertiefend ausgeführt: Es vermöge nicht zu überzeugen, soweit das Verwaltungsgericht im Zusammenhang mit § 615 Satz 3 i. V. m. Satz 1 BGB annehme, Herr H. habe anderweitig eingesetzt werden können, soweit er infolge der Absonderung nicht leistungsunfähig gewesen sei. Aufgrund der zeitlichen Abfolge der Ereignisse sei offensichtlich, dass die Absonderung von Herrn H. ihre Ursache in seiner Tätigkeit im Fleischcenter D. gehabt habe. Der Grund für die Absonderung stamme folglich nicht aus der Sphäre von Herrn H. . Die Klägerin habe etwas Gegenteiliges nicht dargelegt. Die Klägerin könne sich nicht auf ein Unvermögen des Herrn H. infolge der Absonderung berufen. Dies liefe dem in § 615 Satz 3 BGB verankerten Rechtsgrund des Betriebsrisikos zuwider. Sowohl die Betriebsschließung als auch die Absonderung beruhten auf dem Ausbruchsgeschehen im Fleischcenter D. . Eine weit überwiegende Verantwortlichkeit i. S. v. § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB sei bereits ab einem Verschuldensanteil von 60% gegeben. Insoweit könne nicht dahinstehen, inwiefern die Klägerin gegen Arbeits- und Gesundheitsvorschriften sowie Hygienevorgaben verstoßen habe bzw. ihr Verstöße Dritter zurechenbar seien. Ob die Voraussetzungen von § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB vorlägen, könne nur beurteilt werden, wenn feststehe, welche Verstöße es gegeben habe und wie diese sich im maßgeblichen Zeitpunkt ausgewirkt hätten. Das Verwaltungsgericht Münster habe schon mit Beschluss vom 9. Mai 2020 - 5 L 400/20 - festgestellt, die organisatorischen Vorsichtsmaßnahmen zur Eindämmung von Infektionen im Betrieb der X. SCE am Standort D. seien unzureichend gewesen. Diese hätten keinen hinreichend verlässlichen Schutz geboten, um Neuinfektionen zu verhindern sowie Infektionsketten zu unterbrechen bzw. nachzuverfolgen. Die Klägerin habe außerdem erklärt, davon auszugehen, dass über mehrere Jahrzehnte keine neuen Lüftungssysteme im Fleischcenter D. eingebaut worden seien. Die Klägerin müsse sich sämtliche im Fleischcenter D. begangenen und festgestellten Verstöße zurechnen lassen. Die Klägerin habe auch eingeräumt, von diesen Verstößen gewusst zu haben. Das Verwaltungsgericht verkenne die Bedeutung des multifaktoriellen Ausbruchsgeschehens. Es missverstehe die Analyse von F. /C1. vom 23. Juli 2020. Im Übrigen seien neben den im Verfahren bereits angesprochenen wissenschaftlichen Stellungnahmen auch die epidemiologischen Bulletins des Robert-Koch-Instituts vom 13. Februar 2020 und vom 7. Mai 2020 sowie die Erklärung von Herrn Prof. X2. von der Justus-Liebig-Universität Gießen vom 24. Juni 2020 in den Blick zu nehmen. Obgleich das Verwaltungsgericht von einem multifaktoriellen Geschehen ausgehe, setze es sich nicht mit den verschiedenen Faktoren auseinander, sondern gehe davon aus, dass der nicht bekannte Umstand der Verbreitung durch Lüftungsbedingungen - und anlagen einer weit überwiegenden Verantwortlichkeit entgegenstehe. Mit Blick auf § 616 BGB sei zu berücksichtigen, dass Herr H. nur zehn Arbeitstage gefehlt habe. Es fehle an einer Kausalität zwischen der Absonderung und dem Verdienstausfall. Das ergebe sich aus Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Minden, die auf den vorliegenden Sachverhalt übertragbar seien. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe stelle sogar heraus, dass es sich bei der Frage eines Lohnfortzahlungsanspruchs des Arbeitnehmers um eine dem Kausalitätserfordernis nachgelagerte Frage handele.
21Der Beklagte beantragt,
22das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 19. Mai 2022 im mit der Berufung angegriffen Umfang abzuändern und die Klage abzuweisen.
23Die Klägerin beantragt,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Zur Begründung ihres Berufungszurückweisungsantrags wiederholt die Klägerin im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen und verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.
26Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
27Entscheidungsgründe:
28Die Berufung des Beklagten ist zulässig und begründet. Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Erstattung der - so ihre Auffassung - an ihren Mitarbeiter Herrn H. geleisteten Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz in Höhe von 704,00 Euro (Netto-Verdienstausfall) für den Zeitraum vom 9. Mai 2020 bis 23. Mai 2020 (A.); dasselbe gilt hinsichtlich der begehrten Erstattung gezahlter Sozialabgaben in Höhe von 346,47 Euro (B.), § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
29(A.) Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der - nach ihrer Ansicht - an ihren Mitarbeiter Herrn U. H. geleisteten Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz in Höhe von 704,00 Euro (Netto-Verdienstausfall) für den Zeitraum vom 9. Mai 2020 bis zum 23. Mai 2020.
30Die Voraussetzungen des als Anspruchsgrundlage allein in Betracht kommenden § 56 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i. V. m. Abs. 5 Sätze 1 und 2 sowie Abs. 11 Sätze 1 und 2 IfSG in der ab dem 23. Mai 2020 gültigen Fassung liegen nicht vor. Die Klägerin war nämlich gemäß § 616 Satz 1 BGB verpflichtet, Herrn H. seine vertraglich vereinbarte Vergütung weiterzuzahlen, sodass dieser durch die Absonderung keinen Verdienstausfall erlitten hat.
31Die vorgenannten detailreichen Regelungen des IfSG bestimmen, unter welchen Voraussetzungen von Maßnahmen zum Infektionsschutz betroffene Personen eine Entschädigung erhalten. Ferner wird festgelegt, dass die Entschädigung bei Arbeitnehmern für die zuständige Behörde zunächst vom Arbeitgeber zu leisten ist. Schließlich finden sich Vorgaben für einen Erstattungsanspruch des Arbeitgebers gegenüber der zuständigen Behörde und das bei dessen Geltendmachung einzuhaltende Verfahren. Dieser Erstattungsanspruch setzt einen Verdienstausfall des Arbeitnehmers voraus.
32Insoweit ist die ab dem 23. Mai 2020 gültige Gesetzesfassung heranzuziehen, weil die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens des etwaigen Anspruchs auf Erstattung der gezahlten Verdienstausfallentschädigung maßgeblich ist.
33Welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebend ist, beantwortet nicht das Prozessrecht, sondern das einschlägige materielle Recht.
34Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2021- 7 C 7.20 -, juris, Rn. 14.
35Da der Arbeitgeber die Entschädigung lediglich für die zuständige Behörde auszahlt und somit allein als „Zahlstelle“ fungiert,
36vgl. zur Begrifflichkeit LAG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Oktober 2022 - 3 Ta 278/22 -, juris, Rn. 31,
37entsteht sein Erstattungsanspruch gegen das Land unmittelbar nach Auszahlung an den Arbeitnehmer. Der Umstand, dass die Erstattung eine vorherige Antragstellung voraussetzt (§ 56 Abs. 5 Satz 2 IfSG in der ab dem 23. Mai 2020 gültigen Fassung bzw. Satz 3 in der aktuellen Fassung), ist insofern unerheblich. Denn dabei handelt es sich lediglich um eine verfahrensrechtliche Voraussetzung. Der Zeitpunkt der Entstehung des Erstattungsanspruchs ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebend, weil der Arbeitgeber zu diesem Zeitpunkt bereits für das Land in „Vorleistung“ getreten ist. Nachfolgende Änderungen der Sach- und Rechtslage müssen daher unbeachtlich bleiben.
38Nach der für den Monat Mai 2020 vorgelegten Lohnabrechnung vom 8. Juni 2020 hat die Klägerin Herrn H. u. a. „Fiktivlohn IfSG“ gezahlt, diesen mangels entgegenstehender Angaben auch im selben Monat überwiesen, sodass zu diesem Zeitpunkt der Erstattungsanspruch entstand.
39Damit ist die ab dem 23. Mai 2020 gültige Gesetzesfassung maßgeblich. Sie wird im Folgenden zu Grunde gelegt.
40Die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch sind nicht gegeben.
41Bei der eingeklagten Summe handelt es sich nicht um ausgezahlte Beträge i. S. v. § 56 Abs. 5 Satz 2 IfSG. Vorausgesetzt wird insoweit, dass es sich um rechtmäßig ausgezahlte Beträge handelt, also um solche, die auf einem Entschädigungsanspruch der betroffenen Person beruhen. Dies ist hier nicht der Fall. Zwar war Herr H. im maßgeblichen Zeitraum abgesondert. Er erlitt dadurch aber keinen Verdienstausfall und erfüllte somit nicht die Entschädigungsvoraussetzung des § 56 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Satz 1 IfSG.
42Bei § 56 Abs. 1 Sätze 1 und 2 IfSG handelt es sich um eine Billigkeitsregelung, die Störern im infektionsschutzrechtlichen Sinn (Ausscheider, Ansteckungsverdächtige usw.) ausnahmsweise, um eine gewisse Sicherung vor materieller Not zu erreichen, eine Entschädigung gewährt, wenn sie auf Grund ihrer Störereigenschaft einem gezielt personenbezogenen Erwerbsverbot unterworfen worden sind. Die Entschädigungsregelung knüpft als Rechtsfolge insbesondere an bestimmte Maßnahmen des Fünften Abschnitts des Infektionsschutzgesetzes zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten (§§ 28 ff IfSG) an.
43Vgl. BGH, Urteil vom 17. März 2022- III ZR 79/21 -, juris, Rn. 18.
44Diese Zweckrichtung des Entschädigungsanspruchs spricht dagegen, dass eine auf dem Arbeitsverhältnis beruhende Verpflichtung des Arbeitgebers, für die Dauer des Beschäftigungsverbots das Arbeitsentgelt weiterzuzahlen, auf die Allgemeinheit abgewälzt werden sollte. Ein „Verdienstausfall" liegt hiernach dann nicht vor, wenn dem Arbeitnehmer für den fraglichen Zeitraum ein gesetzlicher oder vertraglicher Anspruch auf Fortzahlung seines Lohns oder Gehalts gegen den Arbeitgeber zusteht. Eine Entschädigungspflicht des Staates besteht also nur dann, wenn der Betroffene mangels anderweitiger Ansprüche auf Grund der behördlichen Maßnahmen sonst in Not geraten würde. Das Nichtbestehen solcher anderweitiger Ansprüche ist also (negative) Tatbestandsvoraussetzung für diese Entschädigung.
45Vgl. so zur vergleichbaren Vorgängerregelung des § 49 Abs. 1 BSeuchG BGH, Urteil vom 30. November 1978 - III ZR 43/77 -, juris, Rn. 23; zu § 56 IfSG OLG Hamm, Urteil vom 29. Oktober 2021 - I-11 U 60/21, u. a. -, juris, Rn. 5; OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. Juli 2021- 13 LA 258/21 -, juris, Rn. 9; Eckart/Kruse, in: Eckart/Winkelmüller, BeckOK InfSchR, 15. Ed. Stand: 10.01.2023, IfSG, § 56 Rn. 37.
46I. Grundsätzlich entfällt der Anspruch auf Zahlung der Vergütung aus § 611a Abs. 2 BGB i. V. m. d. Arbeitsvertrag gemäß § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB wenn nicht gearbeitet wird („ohne Arbeit kein Lohn“).
47Vgl. zu diesem arbeitsrechtlichen Grundsatz nur BAG, Urteile vom 23. Februar 2022- 10 AZR 99/21 -, juris, Rn. 36, sowie vom 11. Dezember 2019 - 5 AZR 579/18 -, juris, Rn. 12, m. w. N.
48Nach dieser Norm entfällt der Anspruch auf die Gegenleistung, wenn der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten braucht; bei einer Teilleistung findet § 441 Abs. 3 entsprechende Anwendung. Gemäß § 275 Abs. 1 BGB ist der Anspruch auf Leistung ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist. Diese Voraussetzungen lagen im hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 9. Mai 2020 bis zum 23. Mai 2020 vor. Aufgrund der Absonderung von Herrn H. in häusliche Quarantäne während dieser Zeit war für ihn die Erbringung der Arbeitsleistung objektiv unmöglich.
49Eine Nachholung der Arbeitsleistung hätte keine Erfüllung mehr darstellen können,
50vgl. zur (fehlenden) Erfüllungswirkung einer verspäteten Leistung BAG, Urteil vom 26. Juli 2012 - 6 AZR 221/11 -, juris, Rn. 38,
51weil die Arbeitsleistung zumindest dann, wenn der Arbeitnehmer - wie vorliegend Herr H. - im Zeitlohn vergütet wird, zu einer fest bestimmten Zeit oder innerhalb eines bestimmten Zeitraumes geschuldet wird und damit in diesen Fällen (absolute) Fixschuld ist.
52Vgl. BAG, Urteile vom 3. August 1999- 1 AZR 735/98 -, juris, Rn. 35, und vom 17. März 1988 - 2 AZR 576/87 -, juris, Rn. 47.
53Eine Erbringung der Arbeitsleistung zu Hause war für Herrn H. aufgrund der geschuldeten Tätigkeit als Fleischer ausgeschlossen.
54II. Der vorgenannte gesetzliche Grundsatz findet jedoch unter bestimmten Voraussetzungen keine Anwendung, sodass der Schuldner seinen Anspruch auf die Gegenleistung trotz Unmöglichkeit der eigenen (Arbeits-)Leistung behält. Eine solche Ausnahmeregelung findet sich in § 616 Satz 1 BGB. Diese Bestimmung hält hier den Vergütungsanspruch von Herrn H. aus § 611a Abs. 2 BGB i. V. m. d. Arbeitsvertrag aufrecht.
55Nach § 616 Satz 1 BGB wird der zur Dienstleistung Verpflichtete des Anspruchs auf die Vergütung nicht dadurch verlustig, dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit (2.) durch einen in seiner Person liegenden Grund (1.) ohne sein Verschulden (4.) an der Dienstleistung verhindert (3.) wird.
56Diese Bestimmung ist zwar abdingbar,
57vgl. BAG, Urteil vom 23. Januar 2008- 5 AZR 1036/06-, juris, Rn. 17, sowie BAG Großer Senat, Beschluss vom 18. Dezember 1959 - GS 8/58 -, juris, Rn. 38 f.; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Aufl. 2023, BGB, § 616 Rn. 13,
58es ist jedoch im vorliegenden Fall nichts dafür ersichtlich, dass die Vertragsparteien von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. Im zwischen der Klägerin und Herrn H. geschlossenen Arbeitsvertrag ist § 616 BGB nicht abbedungen worden. Sonstige Normen, nach denen diese Vorschrift im Fall von Herrn H. ausgeschlossen sein könnte, sind nicht erkennbar und werden von der Klägerin auch nicht benannt.
59Die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 616 Satz 1 BGB lagen vor.
601. Ein in der Person des Herrn H. liegender Grund war gegeben. Es muss sich bei den in § 616 Abs. 1 Satz 1 BGB genannten Verhinderungsgründen immer um subjektiv persönliche Hindernisse handeln.
61Vgl. BAG, Urteile vom 11. Augst 1988- 8 AZR 721/85 -, juris, Rn. 41, und vom 19. April 1978 - 5 AZR 834/76 -, juris, Rn. 19.
62Nach dem Sinn und Zweck der Gesetzesnorm ist insoweit eine extensive Auslegung geboten und üblich. Danach muss der Hinderungsgrund nicht unmittelbar in der Person des Arbeitnehmers liegen und braucht ihm die Arbeitsleistung nicht unmöglich zu sein. Vielmehr ist es danach ausreichend, wenn der Hinderungsgrund der persönlichen Sphäre des Arbeitnehmers zuzuordnen und ihm im Hinblick darauf die Arbeitsleistung nicht zuzumuten ist.
63Vgl. BAG, Urteil vom 8. Dezember 1982- 4 AZR 134/80 -, juris, Rn. 21.
64Hiervon zu trennen sind objektive Leistungshindernisse, bei denen die Voraussetzungen des § 616 BGB nicht gegeben sind.
65Vgl. BAG, Urteil vom 8. Dezember 1982- 4 AZR 134/80 -, juris, Rn. 22 (für den Fall von Eisglätte); weitere Beispiele bei Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Aufl. 2023, BGB, § 616 Rn. 3.
66Die Quarantäne nach dem Infektionsschutzgesetz stellt ein persönliches Leistungshindernis i. S. d. § 616 Satz 1 BGB dar.
67Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. Juli 2021 - 13 LA 258/21 -, juris, Rn. 10; VG Berlin, Urteil vom 1. Dezember 2022 - 14 K 631/20 -, juris, Rn. 30; VG Osnabrück, Urteil vom 12. Juli 2022- 3 A 46/21 -, juris, Rn. 32; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 2. Juli 2021- 10 K 547/21 -, juris, Rn. 20; OLG Hamm, Urteil vom 29. Oktober 2021 - I-11 U 60/21, u. a. -, juris, Rn. 25; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Aufl. 2023, BGB, § 616 Rn. 6a, auch m. w. N. zu abweichenden Ansichten im Schrifttum.
68Denn bei der Anordnung der Absonderung verwirklicht sich ein personenbezogener Gefahrenverdacht.
69Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. Juli 2021 - 13 LA 258/21 -, juris, Rn. 10; OLG Hamm, Urteil vom 29. Oktober 2021 - I-11 U 60/21, u. a. -, juris, Rn. 25.
70Dem steht nicht entgegen, dass die Corona-Pandemie ein weltweites Phänomen ist und daher objektiv betrachtet eine sehr große Zahl von Menschen zum Kreis der Ausscheider, Ansteckungsverdächtigen und Krankheitsverdächtigen gehört. Denn bei der Anordnung der Quarantäne verwirklicht sich immer ein rein personenbezogener Gefahrenverdacht. Damit sind die besonderen persönlichen Verhältnisses des Arbeitnehmers derart betroffen, dass Rückwirkungen auf seinen körperlichen oder seelischen Zustand bestehen, womit stets ein personenbezogener Grund anzunehmen ist.
71Vgl. Preis/Mazurek/Schmid, Rechtsfragen der Entgeltfortzahlung in der Pandemie, NZA 2020, 1137, 1140; Hohenstatt/Krois, Lohnrisiko und Entgeltfortzahlung während der Corona-Pandemie, NZA 2020, 413, 414 f.; Stöß/Putzer, Entschädigung von Verdienstausfall während der Corona-Pandemie, NJW 2020, 1465, 1468.
72Unschädlich ist ferner, dass der betroffene Arbeitnehmer selbst gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig war, aber durch das behördliche Verbot an der Arbeit gehindert wurde, und zwar ausschließlich aus Gründen des allgemeinen öffentlichen Interesses an der Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. Denn die Absonderung ist lediglich die staatliche Reaktion auf den in der Person des Betroffenen entstandenen und festgestellten Tatbestand einer konkreten (bei Ausscheidern) oder potentiellen (bei Ausscheidungsverdächtigen oder Ansteckungsverdächtigen) Gefahr. Die von dem Betroffenen ausgehende Gefahr ist das eigentliche Arbeitshindernis. Das zeigt sich auch darin, dass der Arbeitgeber ihn auch ohne ein behördliches Verbot für die Dauer der Gefahrenlage nicht beschäftigen dürfte. Der Arbeitgeber ist nämlich schon nach § 618 BGB gegenüber seinen übrigen Arbeitnehmern und nach § 823 BGB gegenüber jedermann aus Gründen der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht verpflichtet, den Betrieb von Ansteckungsgefahren freizuhalten.
73Vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1978- III ZR 43/77 -, juris, Rn. 20.
74Herr H. war im Zeitraum vom 9. Mai 2020 bis zum 23. Mai 2020 abgesondert, § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass Herr H. weder positiv getestet war, noch Symptome aufwies und in der schriftlichen Bestätigung der Ordnungsverfügung vom 11. Mai 2020 ausgeführt wird, es bestehe bei ihm der hohe Verdacht, mit einer Person in engem Kontakt gewesen zu sein, die mit dem neuartigen Coronavirus infiziert sei, spricht alles dafür, dass er als Ansteckungsverdächtiger anzusehen war. Nach § 2 Nr. 7 IfSG ist Ansteckungsverdächtiger eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Der Einwand des Beklagten, der Zeitraum der Absonderung sei bereits am 22. Mai 2020 abgelaufen, da in der schriftlichen Bestätigung der Ordnungsverfügung vom 11. Mai 2020 ausgeführt worden sei, Herr H. müsse für die 14 Tage nach dem Kontakt in häusliche Quarantäne, trägt nicht. In der schriftlichen Bestätigung der Ordnungsverfügung wird zwar ausdrücklich eine Absonderung vom 9. Mai bis zum 23. Mai 2020 - mithin für 15 Tage - angeordnet. Friktionen entstehen insoweit indes nicht. Der Umstand, dass für den Zeitraum nach dem Kontakt eine 14-tägige Absonderung in häusliche Quarantäne ausgesprochen wird, schließt es nämlich nicht aus, auch für den Rest des bereits angelaufenen Tags des Kontakts die Absonderung in häusliche Quarantäne anzuordnen. Das liegt vielmehr nahe.
75An der Wirksamkeit der Verfügung vom 9. Mai 2020, schriftlich bestätigt am 11. Mai 2020, bestehen keine Zweifel. Solche werden auch von den Beteiligten nicht (in durchgreifender Weise) geltend gemacht. Nichts anderes gilt hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Verfügung, falls es auf diese im hier gegebenen Zusammenhang überhaupt ankommen sollte.
762. Die durch die Absonderung in häusliche Quarantäne bewirkte Verhinderung der Arbeitsleistung durch Herrn H. dauerte nur eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit.
77Die Entscheidung darüber, welche Zeit einer Arbeitsverhinderung als nicht erheblich anzusehen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls.
78Vgl. BAG, Urteil vom 11. August 1988- 8 AZR 721/85 -, juris, Rn. 43; BGH, Urteil vom 30. November 1978 - III ZR 43/77 -, juris, Rn. 37; OLG Hamm, Urteil vom 29. Oktober 2021- I-11 U 60/21 , u.a. -, juris, Rn. 27.
79Maßgeblich kommt es auf das Verhältnis der Dauer der Verhinderung zur Gesamtdauer des Dienstverhältnisses,
80vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1978- III ZR 43/77 -, juris, Rn. 37,
81sowie die Art bzw. den Grund der Verhinderung des Arbeitnehmers an.
82Vgl. OLG Hamm, Urteil vom 29. Oktober 2021- I-11 U 60/21 , u.a. -, juris, Rn. 27.
83Eine generelle Festlegung auf eine bestimmte Tageszahl ist wegen der Verschiedenartigkeit der in Betracht kommenden Sachverhalte nicht möglich.
84Vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1978- III ZR 43/77 -, juris, Rn. 37; VG Berlin, Urteil vom 1. Dezember 2022 - 14 K 631/20 -, juris, Rn. 33; Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1899, II. Band, § 562 BGB, Seite 258.
85In der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist insoweit einerseits anerkannt, dass jedenfalls ein Verhinderungszeitraum von mehr als sechs Wochen in der Regel keine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit im Sinne des § 616 Satz 1 BGB mehr ist.
86Vgl. BAG, Urteile vom 11. August 1988- 8 AZR 721/85 -, juris, Rn. 43, und vom 20. Juli 1977 - 5 AZR 325/76 -, juris, Rn. 12.
87Dies wurde unter Verweis auf die damals geltenden Regelungen in § 616 Abs. 2 BGB, § 63 Abs. 1 Satz 1 HGB sowie in § 1 Abs. 1 Satz 1 LohnFG damit begründet, dass ein Arbeitnehmer bei eigener Erkrankung auch nur Anspruch auf Lohnfortzahlung für die Dauer von sechs Wochen hat.
88Vgl. BAG, Urteil 20. Juli 1977 - 5 AZR 325/76 -, juris, Rn. 12.
89Andererseits dauern Verhinderungen des Arbeitnehmers an der Erfüllung des Dienstvertrages, etwa wegen der Goldenen Hochzeit der Eltern,
90vgl. BAG, Urteil vom 25. Oktober 1973- 5 AZR 156/73 -, juris, Rn. 12,
91des Todes eines nahen Angehörigen, der Vorladung bei einer Behörde bzw. einem Gericht oder der Meldung bei der Bundesagentur für Arbeit,
92vgl. für diese und weitere Beispiele Weidenkaff, in: Grüneberg, Kommentar, BGB, 81. Aufl. 2022, BGB, § 616 Rn. 7,
93ihrer Eigenart nach regelmäßig nur eine eng begrenzte Zeit, sodass insoweit allenfalls wenige Tage als eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit(spanne) angesehen werden können.
94Mit Blick auf infektionsschutzrechtlich geprägte Sachverhalte hängt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von mehreren Umständen, insbesondere der Eigenart, der Dauer des Arbeitsverhältnisses und den darüber getroffenen Abreden ab, ob die sich gegebenenfalls über mehrere Wochen erstreckende Behandlung eines Ausscheiders als erheblich anzusehen ist. Von besonderem Gewicht ist danach aber die Tatsache, dass die Arbeitsverhinderung eines Ausscheiders ihrem Wesen nach einer Verhinderung durch Krankheit nahekommt. Es ist daher angebracht, wenn nicht Besonderheiten des konkreten Arbeitsvertrages entgegenstehen, in solchen Fällen die allgemein für Erkrankungen geltende Sechs-Wochen-Frist - wegen des maßgeblichen Verhältnisses der Dauer der Verhinderung zur Gesamtdauer des Dienstverhältnisses - jedenfalls bei einem länger andauernden unbefristeten und ungekündigten Arbeitsverhältnis grundsätzlich als Grenze einer verhältnismäßig nicht erheblichen Zeit anzusehen.
95Vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1978- III ZR 43/77 -, juris, Rn. 37; zur Vergleichbarkeit mit einer Erkrankung siehe auch BT-Drs. III/1888, Seite 27 zu § 48 BSeuchG, der Vorgängerregelung des § 56 IfSG; a. A. VG Frankfurt, Urteil vom 28. September 2022- 5 K 3397/20.F -, juris, Rn. 27, das eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit mit maximal 14 Tagen bemisst.
96Der Bundesgerichtshof verwies dabei zur Begründung der Sechs-Wochen-Frist auf die Regelungen in § 616 Abs 2 BGB, § 1 LFZG, § 133c GewO, § 63 HGB, § 48 Seemannsgesetz sowie in § 12 Abs. 1 Nr. 2 Berufsbildungsgesetz.
97Vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1978- III ZR 43/77 -, juris, Rn. 37.
98Diese Rechtsprechung ist auch auf den Fall eines Ansteckungsverdächtigen übertragbar. Denn auch dessen Arbeitsverhinderung kommt ihrem Wesen nach einer Verhinderung durch Krankheit nahe. Gemäß § 2 Nr. 6 IfSG ist Ausscheider eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein. Ein Ansteckungsverdächtiger ist nach § 2 Nr. 7 IfSG eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Der Ansteckungsverdächtige kann mithin durch Bestätigung des entsprechenden Verdachts jederzeit zum Ausscheider werden. Deshalb kann die zuständige Behörde gegenüber den Angehörigen beider Gruppen die Absonderung in häusliche Quarantäne anordnen. Folglich besteht in infektionsschutzrechtlicher und damit auch in entschädigungsrechtlicher Hinsicht (§ 56 IfSG) kein wesentlicher Unterschied zwischen einer Absonderung als Ausscheider und einer solchen als Ansteckungsverdächtiger. Dementsprechend sind diese Fallgruppen auch bei der Prüfung der Voraussetzungen von § 616 Satz 1 BGB gleich zu behandeln.
99Dem Vorstehenden kann nicht entgegengehalten werden, dass insbesondere die zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 30. November 1978 noch zu einer älteren Fassung von § 616 BGB ergangen ist.
100Bis zum 31. Mai 1994 enthielt § 616 BGB noch zwei weitere Absätze mit folgendem Inhalt:
101(2) Der Anspruch eines Angestellten auf Vergütung kann für den Krankheitsfall sowie für die Fälle der Sterilisation und des Abbruchs der Schwangerschaft durch einen Arzt nicht durch Vertrag ausgeschlossen oder beschränkt werden (Satz 1). Hierbei gilt als verhältnismäßig nicht erheblich eine Zeit von sechs Wochen, wenn nicht durch Tarifvertrag eine andere Dauer bestimmt ist (Satz 2). Eine nicht rechtswidrige Sterilisation und ein nicht rechtswidriger Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt gelten als unverschuldete Verhinderung an der Dienstleistung (Satz 3). Der Angestellte behält diesen Anspruch auch dann, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis aus Anlaß des Krankheitsfalls kündigt (Satz 4). Das gleiche gilt, wenn der Angestellte das Arbeitsverhältnis aus einem vom Arbeitgeber zu vertretenden Grund kündigt, der den Angestellten zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigt (Satz 5). Angestellte im Sinne dieses Absatzes sind Arbeitnehmer, die eine Beschäftigung ausüben, die für die Zuständigkeitsaufteilung unter den Rentenversicherungsträgern nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch als Angestelltentätigkeit bezeichnet wird (Satz 6).
102(3) Ist der zur Dienstleistung Verpflichtete Arbeiter im Sinne des Lohnfortzahlungsgesetzes, so bestimmen sich seine Ansprüche nur nach dem Lohnfortzahlungsgesetz, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit, infolge Sterilisation oder Abbruchs der Schwangerschaft durch einen Arzt oder durch eine Kur im Sinne des § 7 des Lohnfortzahlungsgesetzes an der Dienstleistung verhindert ist.
103Die Absätze 2 und 3 wurden durch Art. 56 des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz - PflegeVG) vom 26. Mai 1994, BGBl I 1994 S. 1014, 1068, aufgehoben. Art. 56 war Bestandteil des Fünften Teils (Änderung der Entgeltfortzahlung an Feiertagen und im Krankheitsfall, Art. 53 - 66) des Pflegeversicherungsgesetzes, der erst durch die Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) in das Gesetzgebungsverfahren Eingang fand.
104Vgl. BT-Drs. 12/7323 vom 21. April 1994, Seite 14 (dort noch Art. 38).
105Mit Art. 53 des Pflegeversicherungsgesetzes wurde das Gesetz über die Zahlung des Arbeitsentgelts an Feiertagen und im Krankheitsfall (Entgeltfortzahlungsgesetz - EFZG) eingeführt.
106Das Entgeltfortzahlungsgesetz löste das bisher gesetzlich zersplitterte und nach einzelnen Arbeitnehmergruppen sowie nach westlichen und östlichen Bundesländern differenzierende System der Entgeltsicherung im Krankheitsfall (vgl. bis dahin: §§ 1 bis 9 LFZG, § 63 HGB, § 133c GewO, §§ 115a bis 115e Arbeitsgesetzbuch DDR, §§ 48, 78 SeemG, § 12 Abs. 1 Nr. 1 BBiG sowie § 616 Abs. 2 BGB) ab und schaffte eine einheitliche Neuregelung für alle Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland.
107Vgl. Feldgen, Überblick über die seit dem 1.6.1994 geltenden Neuregelungen über die Entgeltfortzahlung an Feiertagen und im Krankheitsfall, DB 1994, 1289; Diller, Krankfeiern seit 1.6.1994 schwieriger? Das neue Entgeltfortzahlungsgesetz, NJW 1994, 1690, 1691.
108Die zuvor bestehende Rechtszersplitterung des Entgeltfortzahlungsrechts wurde durch eine einheitliche Regelung beseitigt.
109Vgl. Gola, Das neue Entgeltfortzahlungsgesetz, RiA 1995, 1, 3.
110Die maßgebliche Sechs-Wochen-Frist findet sich seitdem in § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG.
111Vgl. dazu Reinhard, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Aufl. 2023, EFZG, § 3 Rn. 1, 34.
112Die Aufhebung von § 616 Abs. 2 und 3 BGB a. F. war mithin lediglich eine Folge der Rechtsvereinheitlichung durch Erlass des Entgeltfortzahlungsgesetzes. Daraus folgt indes gerade nicht, dass die Sechs-Wochen-Frist keine Bedeutung mehr hat. Das Gegenteil ist der Fall.
113Zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „verhältnismäßig nicht erheblichen Zeit“ kann entgegen einiger Literaturstimmen,
114vgl. z. B. Preis/Mazurek/Schmid, Rechtsfragen der Entgeltfortzahlung in der Pandemie, NZA 2020, 1137, 1141,
115schließlich nicht auf § 2 Abs. 1 PflegeZG zurückgegriffen werden. Danach haben Beschäftigte das Recht, bis zu zehn Arbeitstage der Arbeit fernzubleiben, wenn dies erforderlich ist, um für einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen in einer akut aufgetretenen Pflegesituation eine bedarfsgerechte Pflege zu organisieren oder eine pflegerische Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen. Die Norm betrifft allein den besonderen Bereich der Pflege von nahen Angehörigen. Die vorliegende Situation kommt indes - wie aufgezeigt - einer Erkrankung des Arbeitnehmers selbst nahe und betrifft daher - auch wertungsmäßig - einen anderen Sachverhalt.
116Gestützt wird das gewonnene Auslegungsergebnis durch die Entstehungsgeschichte des § 616 BGB. So heißt es in den Motiven zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich zu dem damaligen Entwurf des § 562,
117„Bei einem dauernden, die Erwerbstätigkeit des Dienstverpflichteten vollständig oder hauptsächlich in Anspruch nehmenden Dienstverhältnisse wird derselbe des Anspruches auf die vertragsmäßige Vergütung dadurch nicht verlustig, daß er durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden während einer nicht erheblichen Zeit an der Dienstleistung verhindert wird.“,
118die eine Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen enthaltende Bestimmung beruhe auf sozialpolitischen Rücksichten und auf Gründen der Humanität. Sie komme insbesondere auch in angemessener Weise den Wehrpflichtigen zu Statten, die vorübergehend und nur auf kurze Zeit zum Militärdienste eingezogen würden. Sie habe einen Vorgang im HGB 60.
119Vgl. Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1899, II. Band, § 562 BGB, Seite 258.
120Aus der dem Senat auf entsprechende Anfrage vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr - Ansprechstelle für militärhistorischen Rat übersandten Deutschen Wehrordnung vom 28. September 1875 ergibt sich, dass jeder Reservist während der Dauer des Reserveverhältnisses zur Teilnahme an zwei Übungen verpflichtet war. Diese Übungen sollten die Dauer von je acht Wochen nicht überschreiten (2. Teil der Wehrordnung § 12 Nr. 1 Sätze 1 und 2). Die Mannschaften der Landwehr-Infanterie konnten während der Dienstzeit in der Landwehr zweimal auf 8-14 Tage zu Übungen in besonderen Kompanien oder Bataillonen einberufen werden (2. Teil der Wehrordnung § 12 Nr. 2 Satz 1). Mithin dürfte auch schon der historische Gesetzgeber von der Annahme geleitet worden sein, der Arbeitgeber könne nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles durchaus gehalten sein, den Lohn seines Arbeitnehmers für einen sich über mehrere Wochen erstreckenden Zeitraum auch ohne Erhalt der Arbeitsleistung zu zahlen.
121In dieses Bild fügt sich der Verweis auf „HGB 60“ nahtlos ein. In Art. 60 des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs (ADHGB) von 1861, dem Vorgänger des Handelsgesetzbuchs, hieß es wie folgt: „Ein Handlungsgehülfe, welcher durch unverschuldetes Unglück an Leistung seines Dienstes zweitweise verhindert wird, geht dadurch seiner Ansprüche auf Gehalt und Unterhalt nicht verlustig. Jedoch hat er auf diese Vergünstigung nur für die Dauer von sechs Wochen Anspruch.“ Die Nachfolgeregelung hierzu - § 63 HGB - übernahm den Inhalt dieser Vorschrift, insbesondere die Sechs-Wochen-Frist.
122Danach ist - vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalles - regelmäßig eine bis zu sechs Wochen dauernde, infektionsschutzrechtlich begründete Absonderung eines Ansteckungsverdächtigen in häusliche Quarantäne jedenfalls dann als verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit i. S. v. § 616 Satz 1 BGB zu qualifizieren, wenn der jeweilige Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Absonderung in einem unbefristeten, ungekündigten Arbeitsverhältnis außerhalb der Probezeit steht.
123Nach diesen Maßgaben ist die Absonderung von Herrn H. im Zeitraum vom 9. Mai 2020 bis zum 23. Mai 2020 eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit. Herr H. und die Klägerin hatten bereits im Jahr 2015 den im Jahr 2014 geschlossenen, befristeten Arbeitsvertrag entfristet. Das Arbeitsverhältnis war zum Zeitpunkt seiner Absonderung in häusliche Quarantäne auch ungekündigt. Eine Probezeit stand nicht im Raum.
1243. Die Absonderung in häusliche Quarantäne ist auch kausal gewesen für die Verhinderung von Herrn H. , seine Arbeitsleistung zu erbringen.
125Der zur Dienstleistung Verpflichtete muss gerade aufgrund des in seiner Person liegenden Grundes an der Dienstleistung gehindert sein. Zwischen persönlichem Verhinderungsgrund und Nichtleistung muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen.
126Vgl. Bieder, in: BeckOGK, Stand: 1.7.2022, BGB, § 616 Rn. 34.
127Das Bundesarbeitsgericht verlangt insofern eine alleinige Ursächlichkeit. Voraussetzung des Fortzahlungsanspruchs ist mithin, dass die Arbeitsunfähigkeit die alleinige Ursache für den Ausfall der Arbeitsleistung und damit für den Verlust des (eigentlichen) Vergütungsanspruchs ist.
128Vgl. BAG, Urteil vom 6. Dezember 1995- 5 AZR 237/94 -, juris, Rn. 27 f.
129Nach diesen Maßgaben war die Absonderung von Herrn H. allein ursächlich für den Verlust seines Vergütungsanspruchs. Ohne die Absonderung hätte er der Klägerin seine Arbeitsleistung anbieten können. Ob diese angesichts der Schließung des Betriebsstandorts von X. in D. dafür Verwendung gefunden hätte, ist rechtlich ohne Belang. Es ist daher insbesondere nicht zu prüfen, ob die Klägerin kurzfristig einen anderen Einsatzort für Herrn H. gefunden hätte.
130Denn die Schließung des Betriebsstandorts von X. in D. betraf allein das Wirtschaftsrisiko der Klägerin. Im Gegensatz zum Betriebsrisiko, dass das Risiko des Arbeitgebers meint, seinen Betrieb nicht betreiben zu können, etwa bei Naturkatastrophen, Brandschäden oder witterungsbedingtem Arbeitsausfall,
131vgl. dazu auch BAG, Urteil vom 23. September 2015 - 5 AZR 146/14 -, juris, Rn. 22; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Aufl. 2023, BGB, § 615 Rn. 120; für den Fall eines als Folge eines Brandunglücks ergangenen Verbots von öffentlichen Lustbarkeiten BAG, Urteil vom 30. Mai 1963 - 5 AZR 282/62 -, juris,
132spricht man vom Wirtschaftsrisiko, wenn die Fortsetzung des Betriebs wegen Auftrags- oder Absatzmangels wirtschaftlich sinnlos wird. Betriebstechnisch bleibt die Arbeitsleistung hier möglich.
133Vgl. Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Aufl. 2023, BGB, § 615 Rn. 120; Weidenkaff, in: Grüneberg, Kommentar, BGB, 81. Aufl. 2022, BGB, § 615 Rn. 21; Sagan/Brockfeld, Arbeitsrecht in Zeiten der Corona-Pandemie, NJW 2020, 1112, 1116.
134Das Wirtschaftsrisiko hat der Arbeitgeber zu tragen.
135Vgl. BAG, Beschluss vom 22. Dezember 1980- 1 ABR 2/79 -, juris, Rn. 37.
136Insofern unterscheidet sich der Arbeitsvertrag nicht von anderen Austauschverträgen. Es handelt sich allein um die Frage, ob der Gläubiger noch eine Verwendungsmöglichkeit für die Leistung hat.
137Vgl. Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Aufl. 2023, BGB, § 615 Rn. 121.
138Eine besondere Gruppe bilden Betriebe, deren Arbeitnehmer in Fremdbetrieben arbeiten. Ein Beispiel sind Betriebe die Montagearbeiten (überwiegend) in fremden Betrieben durchführen. Ob der Unternehmer in einem derartigen Fall die Arbeitskraft seiner Arbeitnehmer nutzen kann, gehört von vornherein zu seinem Wirtschaftsrisiko. In solchen Betrieben kann es überhaupt keine Betriebsstörungen geben.
139Vgl. Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Aufl. 2023, BGB, § 615 Rn. 134; siehe in diesem Zusammenhang auch BAG Urteile vom 7. November 1975 - 5 AZR 61/75 -, juris, Rn. 10 ff. (Unternehmen für Rohrleitungs- und Heizungsbau), sowie vom 1. Februar 1973- 5 AZR 382/72 -, juris, Rn. 25 ff. (Personal-Leasing-Unternehmen); allgemein BAG, Urteil vom 7. Dezember 2005 - 5 AZR 535/04 -, juris, Rn. 37.
140Diese Konstellationen, die sich der Fallgruppe des Auftragsmangels im weiteren Sinne zuordnen lassen, sind mit dem hiesigen Sachverhalt vergleichbar. Die Klägerin unterhielt keine eigene Betriebsstätte, sondern setzte alle ihre Arbeitnehmer - unter ihnen Herrn H. - auf dem Betriebsgelände von X. in D. ein. Es unterfällt allein ihrem Wirtschaftsrisiko, ob ihre Arbeitnehmer dort tätig werden können oder nicht. Daher kann es im Fall der Klägerin insoweit schon begrifflich keine Betriebsstörung in dem Sinne der allgemeinen Betriebsrisikolehre geben. Daher ist es auch unerheblich, ob die Klägerin die (theoretische) Möglichkeit gehabt hätte, ihre Arbeitnehmer - unter ihnen Herrn H. - anderweitig einzusetzen.
1414. Ein den Anspruch ausschließendes Verschulden von Herrn H. liegt nicht vor. Insofern gelten dieselben Grundsätze wie bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
142Vgl. dazu Preis, in: Erfurter Kommentar, 23. Aufl. 2023, BGB, § 616 Rn. 11; Bieder, in: BeckOGK, Stand: 1.7.2022, BGB, § 616 Rn. 40 ff.
143Danach handelt schuldhaft nur der Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt. Dabei handelt es sich nicht um ein Verschulden i. S. v. § 276 BGB, der das Maß an Verhaltensanforderungen des Schuldners gegenüber Dritten bestimmt. Es gilt vielmehr festzustellen, ob ein „Verschulden gegen sich selbst“ vorliegt. Schuldhaft handelt deshalb nur der Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt. Dabei ist - anders als bei der Haftung für Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten nach § 277 BGB - von einem objektiven Maßstab auszugehen. Erforderlich ist ein grober oder gröblicher Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen und damit ein besonders leichtfertiges oder vorsätzliches Verhalten.
144Vgl. zu § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG: BAG, Urteil vom 18. März 2015 - 10 AZR 99/14 -, juris, Rn. 13 f. m. w. N. zu der zu den inhaltsgleichen Vorgängerregelungen (§ 1 Abs. 1 LohnFG, § 616 Satz 1 BGB, § 63 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 133c Satz 1 GewO) ergangenen Rechtsprechung.
145Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass Herr H. ein solches Verhalten nicht an den Tag gelegt hat. Dafür spricht auch ansonsten nichts. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Herr H. durch sein eigenes Verhalten das Infektionsgeschehen und die darauf folgende eigene Absonderung in häusliche Quarantäne leichtfertig oder sogar vorsätzlich verursacht haben könnte. Ferner ist nichts dafür dargetan, dass Herr H. es leichtfertig oder sogar vorsätzlich unterlassen hat, Maßnahmen zu ergreifen, um den Zeitraum der Absonderung zu verkürzen.
146III. Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, weist der Senat hinsichtlich weiterer neben § 616 BGB in Betracht kommender Anspruchsgrundlagen des Herrn H. für einen Anspruch auf Lohnfortzahlung auf Folgendes hin:
1471. Ob die Voraussetzungen von § 326 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 BGB in Fällen dieser Art vorlagen, dürfte nach derzeitiger (vorläufiger) Einschätzung des Senats mangels eigener Sachkunde des Gerichts (wohl) nicht ohne eine Beweisaufnahme geklärt werden können. Der Senat geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass eine weit überwiegende Verantwortlichkeit i. S. d. genannten Norm erst ab einem Verschuldensanteil von mindestens 90% anzunehmen ist. Diese Verantwortlichkeit muss sich auf den Umstand beziehen, aufgrund dessen der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB nicht zu leisten braucht, also auf die verfügte Absonderung und damit mittelbar auf den Ansteckungsverdacht des Herrn H. . Der Kreis D. hat dem Senat dazu auf Nachfrage mitgeteilt, man habe grundsätzlich alle Mitbewohner aus derselben Sammelunterkunft als Kontaktperson der Kategorie I eingestuft, sobald eine Person, die in der Sammelunterkunft gelebt habe, an Corona erkrankt sei, ähnlich sei bei Personen, die in derselben Schicht arbeiteten, verfahren worden.
148Davon ausgehend beruhte der hinsichtlich Herrn H. angenommene Ansteckungsverdacht auf zwei erst in ihrem Zusammenwirken für die Absonderung kausalen Faktoren, nämlich zum einen auf der Infektion zumindest einer Kontaktperson und zum anderen der Unterbringung des später Abgesonderten in derselben Sammelunterkunft bzw. des Arbeitens in derselben Schicht wie die Kontaktperson. Die Prüfung der weit überwiegenden Verantwortlichkeit der Klägerin für die Absonderung von Herrn H. muss sich deshalb auf die beiden für die Absonderung erst in ihrer Kumulation kausalen Faktoren (infizierte Kontaktperson und selbe Sammelunterkunft bzw. Schicht) beziehen.
149Eine Verantwortlichkeit der Klägerin für die Infektion der Kontaktperson dürfte von vornherein allein dann angenommen werden können, wenn feststeht, auf welchem Wege die Kontaktperson sich infiziert hat (z. B. am Arbeitsplatz oder im privaten Umfeld außerhalb der Unterbringung). Sollte sich die Kontaktperson des Herrn H. im privaten Umfeld außerhalb der Unterbringung infiziert haben, käme eine Verantwortlichkeit der Klägerin für die Infektion nur dann in Betracht, wenn die Kontaktperson des Herrn H. sich ihrerseits bei einer Person infiziert hat, für deren Infektion eine Verantwortlichkeit der Klägerin gegeben ist.
150Wenn sich eine Verantwortlichkeit der Klägerin für die Infektion der Kontaktperson und damit für eine der beiden in Kumulation kausalen Voraussetzungen der Absonderung des Herrn H. nicht feststellen lassen sollte, stellt sich die gegebenenfalls zu klärende Frage, ob dann von einer weit überwiegenden Verantwortlichkeit der Klägerin für die Absonderung noch die Rede sein kann oder ob diese dann dennoch aus einer weit überwiegenden Verantwortlichkeit hinsichtlich etwaiger Hygieneverstöße in der Sammelunterkunft oder am Arbeitsplatz resultieren kann.
151Jedenfalls dann, wenn zumindest eine erhebliche Mitverantwortlichkeit der Klägerin für die Infektion der Kontaktperson gegeben sein sollte, würde die Frage einer Verantwortlichkeit der Klägerin auch hinsichtlich der weiteren mitkausalen notwendigen Voraussetzung der Absonderung aufgeworfen (selbe Sammelunterkunft bzw. Schicht). Hinsichtlich dieser Voraussetzung als solcher dürfte eine Verantwortlichkeit i. S. eines Verschuldens nicht gegeben sein. Vielmehr dürfte in den Blick zu nehmen sein, ob die Klägerin gegen Schutzvorschriften hinsichtlich der Unterbringung bzw. des Arbeitsplatzes verstoßen und dadurch das Risiko für Herrn H. erhöht hat, sich über die Kontaktperson zu infizieren. Der Senat neigt zu der Annahme, dass einem Arbeitgeber in vergleichbaren Konstellationen schuldhaftes Verhalten (jedenfalls) der von ihm zur Erfüllung seiner arbeitsschutzrechtlichen Verpflichtungen eingeschalteten Firma X. als Erfüllungsgehilfin grundsätzlich zuzurechnen ist. Zumindest dürfte daher dann aufzuklären sein, ob und in welcher Weise gegen arbeitsschutzrechtliche Bestimmungen verstoßen wurde. In einem weiteren Schritt dürfte dann (gegebenenfalls) wegen der Notwendigkeit zumindest eines weit überwiegenden Verschuldens der Frage nachzugehen sein, welchen Verschuldensanteil diese Verstöße am Umstand, dass der jeweilige Arbeitnehmer nicht zu leisten brauchte (Absonderung in häusliche Quarantäne), hatten. Dabei bedarf es in rechtlicher Hinsicht der Klärung, ob das weit überwiegende Verschulden allein in Relation zu einem (Mit-)Verschulden des Schuldners, also des Herrn H. , zu ermitteln ist, oder ob es auch in Relation zu anderen mitkausalen - und weder von der Gläubigerin noch dem Schuldner verschuldeten - Ursachen bestimmt werden muss.
1522. Im Übrigen wird auf die weitergehenden Hinweise im Urteil des Senats vom 10. März 2023 im Parallelverfahren - 18 A 563/22 - (zur Veröffentlichung in juris vorgesehen) Bezug genommen.
153(B.) Mangels Anspruchs auf Erstattung des gezahlten Nettolohns hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf Erstattung der von ihr verauslagten Sozialabgaben gemäß § 57 IfSG.
154Die Kostenentscheidung beruht unter Einbeziehung des rechtskräftigen Teils der erstinstanzlichen Kostenentscheidung auf § 154 Abs. 1 VwGO.
155Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
156Die Revision wird zugelassen. Die Auslegung des § 616 Satz 1 BGB, die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts noch nicht geklärt ist, hat grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Auch durch die zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine höchstrichterliche Klärung für den vorliegenden Fall schon mit Blick auf die geänderte Fassung des § 616 BGB noch nicht vollumfänglich erfolgt.