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Einfachen Militärdienstentziehern droht im Falle einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
Syrern droht im Falle einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung wegen illegalen Verlassen des Landes, eines gestellten Asylantrags und Aufenthalts im westlichen Ausland.
Syrern droht im Falle einer Rückkehr nach Syrien nicht allein deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, weil sie aus einem (ehemaligen) Rebellengebiet stammen oder sich dort längere Zeit aufgehalten haben.
Kurden droht in Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen ihrer Volkszugehörigkeit.
Yeziden droht in Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat oder den Islamischen Staat.
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
I.
2Der angeblich am 0. oder 00.00.2000 geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, Kurde und Yezide. Er verließ nach eigenen Angaben Syrien am 20. August 2016 und reiste über die Türkei nach Griechenland. In Griechenland wurde der Kläger am 25. November 2016 in Moria (Lesbos) erkennungsdienstlich behandelt und erfasst. Er stellte dort gleichzeitig einen Asylantrag. Von Lesbos aus reiste er nach eigenen Angaben am 23. Mai 2017 weiter nach Athen, von dort am 21. Juli 2017 weiter nach Paris und von dort am 22. Juli 2017 weiter nach Köln. In Köln wurde er am 22. Juli 2017 von der Polizei wegen des Verdachts des illegalen Aufenthalts erkennungsdienstlich behandelt und erfasst. Am 15. November 2017 stellte er einen Asylantrag.
3In seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 18. Dezember 2017 machte der Kläger geltend, er sei Kurde aus Syrien und Yezide. Zu seinen Fluchtgründen trug er im Wesentlichen vor, die Sicherheitslage in Syrien sei sehr schlecht. Grund dafür sei der Krieg. In der Ortschaft, in der er gelebt habe, habe es ständig Gefechte zwischen Kurden und Arabern (IS) gegeben. Er habe auch Angst gehabt, zum Kampf eingezogen zu werden, insbesondere von den kurdischen Sicherheitskräften (Anhängern von Apo), aber auch vor der syrischen Regierung, dem Islamischen Staat und der Freien Syrischen Armee. Sie alle hätten die Jungs für ihre Zwecke rekrutiert. Er wolle nicht am Kampf teilnehmen. Er wolle nicht töten und auch nicht getötet werden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll der Anhörung vom 18. Dezember 2017 Bezug genommen.
4Ferner legte der Kläger die Kopie eines Einzelregisterauszugs aus dem syrischen Zivilregister, die Kopie einer Identifikationskarte-Karte der Kurdischen Sicherheitskräfte in Kobane vom 21. November 2016, Fotos eines syrischen Familienbuches und die Kopie eines Schreibens des Leiters der Schule Muhiba al Sheikh Bander (Provinz Aleppo) an die Leitung der Schule in Joura vom 4. September 2007 vor.
5Mit Bescheid vom 7. Februar 2018 erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte aber unter der Nr. 2 den Asylantrag im Übrigen ab.
6Der Kläger hat am 2. März 2018 Klage erhoben.
7Er hat vorgetragen, der Bescheid vom 7. Februar 2018 sei ihm am 20. Februar 2018 zugestellt worden.
8Zur Begründung seiner Klage hat er im Wesentlichen vorgetragen, laut UNHCR erfüllten Syrer in der Regel die Voraussetzungen der Genfer Flüchtlingskonvention. Außerdem habe er sich durch seine Flucht der Heranziehung zum Kriegsdienst entzogen.
9Der Kläger hat beantragt,
10die Ziffer 2. des Bescheids der Beklagten vom 7. Februar 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 des Asylgesetzes - AsylG - zuzuerkennen.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil den Bescheid des Bundesamts vom 7. Februar 2018 hinsichtlich dessen Ziffer 2. aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dem Kläger drohten bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit menschenrechtswidrige Maßnahmen, insbesondere Folter, weil er sich durch seine Ausreise dem Wehrdienst entzogen habe. In der Gesamtschau mit dem Charakter und der bislang an den Tag gelegten Verhaltensweisen des Regimes sei entsprechend der bisherigen Auskunftslage davon auszugehen, dass es Personen, die sich dem Militärdienst durch Flucht ins Ausland entzogen hätten, regelmäßig eine illoyale, politisch oppositionelle Gesinnung unterstelle. Ferner gehe das Verwaltungsgericht davon aus, dass die syrische Regierung die illegale Ausreise aus dem Land, den Aufenthalt im westlichen Ausland und das Stellen eines Asylantrags als Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansehe. Es sei auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass Asylbewerbern aus Syrien im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter seitens der Sicherheitskräfte drohe, um einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachzugehen.
14Die Beklagte hat am 4. Januar 2019 beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen. Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 9. November 2022 zugelassen. Die Beklagte hat die Berufung am 17. November 2022 begründet.
15Sie trägt im Wesentlichen vor, Männer, die sich durch Ausreise ins Ausland dem Militärdienst entzogen hätten, hätten im Falle der unterstellten Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung durch den syrischen Staat zu befürchten. Rückkehrenden syrischen Asylbewerbern drohe nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen eines gestellten Asylantrags, ihres Aufenthalts im (westlichen) Ausland und eventuell wegen illegalen Verlassens Syriens vom syrischen Staat als politische Gegner und im Sinne von § 3 AsylG verfolgt zu werden.
16Die Beklagte beantragt,
17die Klage unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts abzuweisen.
18Der Kläger stellt keinen Antrag.
19Er verweist auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020 - C-238/19 -.
20Der Senat hat die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss nach § 130a der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - angehört.
21Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die Asylverfahrensakte des Bundesamts und die beigezogene Ausländerpersonalakte des Klägers bei der Ausländerbehörde der Stadt Köln Bezug genommen.
22II.
23Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten über die Berufung der Beklagten durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO, dessen Voraussetzungen vorliegen. Der Senat hält die Berufung der Beklagten einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich, da der Kläger im gesamten Asyl- und Klageverfahren nichts vorgetragen hat, was eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus individuellen Gründen als möglich erscheinen lassen könnte, und daher weitere Ermittlungen durch eine Befragung des Klägers in einer mündlichen Verhandlung nicht erforderlich sind.
24Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die zulässige Klage ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Bescheid des Bundesamts vom 7. Februar 2018 ist rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
25Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründen) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
26Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG kann als eine solche Verfolgung insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten. Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind u.a. gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.
27Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt.
28Vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 13, und vom 19. Januar 2009 ‑ 10 C 52.07 ‑, BVerwGE 133, 55 (60 f.), Rdnr. 22, 24.
29Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.
31Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337/9) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
32Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.
33Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, nicht durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften.
34Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (164), Rdnr. 16.
35Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
36Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.
37Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Furcht des Klägers vor politischer Verfolgung unbegründet.
38Dem Kläger droht zunächst bei einer Rückkehr nach Syrien nicht deshalb politische Verfolgung, weil er sich durch seine Ausreise aus Syrien einer möglichen Einberufung zum Wehrdienst in der syrischen Armee entzogen hat.
39Allein eine mögliche Heranziehung zum Militärdienst in der syrischen Armee stellt dabei keine für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevante Verfolgung dar. Die Heranziehung zum Militärdienst ist für sich genommen flüchtlingsrechtlich nicht relevant, sondern nur dann, wenn sie auf ein flüchtlingsrechtsrelevantes Merkmal zielt, also auf die Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Dies war und ist bei der Rekrutierung durch die syrische Armee nicht der Fall. Vielmehr rekrutierte und rekrutiert die syrische Armee unter allen ethnischen und religiösen Gruppen.
40Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 53 f. m.w.N.
41Die Heranziehung zum Militärdienst zielte und zielt auch nicht auf eine (unterstellte) politische Überzeugung der Rekruten ab, etwa um (vermutete) Oppositionelle zu disziplinieren, sondern diente und dient allein der Auffüllung der durch Todesfälle, Desertion und Überläufer, zuletzt auch durch die notwendige Entlassung älterer Jahrgänge stark dezimierten syrischen Armee.
42Vgl. hierzu OVG NRW, Urteile vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 44 f., und vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris, Rdnr. 50 f. und 60 f., jeweils m.w.N.
43Allerdings ist es möglich, dass der Kläger in Syrien mittlerweile wegen Wehrdienstentziehung gesucht wird.
44In Syrien besteht eine Militärdienstpflicht für Männer vom vollendeten 18. bis zum 42. Lebensjahr. Nach Art. 98 des syrischen Militärstrafgesetzes - syrMStG - wird jede militärdienstpflichtige Person, die in Friedenszeiten nicht innerhalb eines Monats auf die Einberufung reagiert und flüchtet, bevor sie sich ihrer Einheit angeschlossen hat, mit Gefängnis von einem bis zu sechs Monaten bestraft. Nach Art. 99 syrMStG wird jede militärdienstpflichtige Person, die in Kriegszeiten nicht auf die Einberufung reagiert oder eingeschrieben worden ist und flüchtet, bevor sie sich ihrer Einheit angeschlossen hat, je nach Dauer der Entziehung und je nachdem, ob sie sich freiwillig stellt oder verhaftet wird, mit Gefängnis von einem Monat bis zu einer zeitigen Freiheitsstrafe bestraft.
45Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 14 f.; UNHCR, Inoffizielle Übersetzung der Art. 98 bis 114 syrMStG (Gesetzesdekret Nr. 61/1950).
46Die genannten Strafvorschriften werden aber nach den Erkenntnissen des Senats in Syrien im Falle einfacher Militärdienstentziehung (Wehr- oder Reservedienstentziehung) durch Flucht ins Ausland nicht angewendet. Eine Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG wird voraussichtlich nicht erfolgen. Militärdienstentzieher werden bei einer Rückkehr nach Syrien vielmehr allenfalls festgenommen und zur Ableistung ihres Militärdienstes eingezogen. Die Festnahme und Einziehung zum Militärdienst dürfte mit einer kurzfristigen Inhaftierung des Militärdienstentziehers einhergehen, um sein Untertauchen zu verhindern. Der Senat lässt offen, ob bereits in dieser kurzfristigen Inhaftierung eine flüchtlingsrechtsrelevante Verfolgung liegt oder während der kurzfristigen Inhaftierung oder des Militärdienstes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrechtsrelevanten Übergriffen auf den Militärdienstentzieher zu rechnen ist. Jedenfalls würden weder die Einziehung zum Militärdienst noch die Inhaftierung noch etwaige Übergriffe während der Inhaftierung oder des Militärdienstes auf ein flüchtlingsrechtsrelevantes Merkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG abzielen, insbesondere nicht auf eine (unterstellte) politische oder religiöse Überzeugung.
47Vgl. zu den Gründen im Einzelnen und zur anderslautenden Einschätzung anderer Oberverwaltungsgerichte: OVG NRW, Urteil vom 23. August 2022 - 14 A 3716/18.A -, juris, Rdnr. 62 ff., 86 ff., 90 ff., 103 ff.; so auch Nds. OVG, Beschluss vom 15. Mai 2023 - 2 LB 444/19 -, juris, Rdnr. 37 ff.
48Daran hält der Senat fest. Das klägerische Vorbringen und das angefochtene Urteil geben keine Veranlassung zu einer anderen Beurteilung. Neuere Erkenntnisse dafür, dass die Situation von Militärdienstentziehern in Syrien anders zu beurteilen sein könnte, liegen nicht vor.
49Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Syrien auch nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat, weil er Syrien illegal verlassen hat, in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat und sich seit 2017 hier aufhält. Der Senat hat die tatsächliche Situation in Syrien dahin bewertet, dass aus dem Ausland rückkehrenden Asylbewerbern, auch wenn sie Syrien illegal verlassen haben, keine (politische) Verfolgung droht wegen einer ihnen zugeschriebenen regimefeindlichen Gesinnung.
50Vgl. zu den Gründen im Einzelnen: OVG NRW, Urteile vom 23. August 2022 - 14 A 3716/18.A -, juris, Rdnr. 131 f., vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris, Rdnr. 41 ff., vom 13. März 2020 - 14 A 2778/17.A -, juris, Rdnr. 33 ff., vom 18. April 2019 - 14 A 2608/18.A -, juris, Rdnr. 41 ff., vom 7. Februar 2018 - 14 A 2390/16.A -, juris, Rdnr. 34 ff., vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 30 ff. und vom 21. Februar 2017 - 14 A 2316/16.A -, juris, Rdnr. 28 ff.
51Daran hält der Senat fest. Das klägerische Vorbringen und das angefochtene Urteil geben keine Veranlassung zu einer veränderten Bewertung. Neuere Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass die Situation von Rückkehrern aus Europa anders zu beurteilen wäre, liegen nicht vor.
52Der Dänische Einwanderungsdienst führt im Protokoll eines Treffens mit einer syrischen Menschenrechtsorganisation im April 2022 aus, trotz des Fehlens eines klaren Musters der Behandlung von Rückkehrern durch die syrische Regierung habe die syrische Menschenrechtsorganisation hinsichtlich verschiedener Gruppen von Rückkehrern unter anderem die Tendenz beobachtet, dass das Stellen eines Asylantrags im Ausland für sich genommen nicht dazu führe, Misshandlung unterworfen zu werden. Die syrische Regierung sei sich bewusst, dass viele Syrer, die im Ausland lebten, Flüchtlinge seien und ein Asylgesuch für sie die einzige Möglichkeit gewesen sei, Aufenthalt in ihrem Gastgeberland zu erlangen. Diejenigen, die Syrien illegal verlassen hätten, hätten sich in ihrem Gebiet beim örtlichen Geheimdienstbüro zu melden. Sie würden über den Grund für ihre Ausreise und ihre Aktivitäten im Ausland befragt. Weiter würde ihnen nichts passieren, es sei denn, jemand habe sie in ihrer Abwesenheit bei den Behörden angezeigt und zum Beispiel beschuldigt, in oppositionelle Aktivitäten verwickelt zu sein. In diesem Fall riskierten sie (die Rückkehrer), Gegenstand weiterer Befragung, Haft und/oder Erpressung von Geld zu werden.
53Vgl. DIS, Syria. Treatment upon return, Mai 2022, Annex 1, Nr. 6.
54Amnesty International hat von Juli 2020 bis Juni 2021 die Schicksale von 66 Personen recherchiert, die zwischen Mitte 2017 und dem Frühjahr 2021 nach Syrien zurückgekehrt seien. Von diesen 66 Personen - davon 39 Rückkehrer aus dem Libanon, 14 aus dem Flüchtlingslager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze, zwei aus Jordanien, zwei aus der Türkei, eine aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, eine aus Deutschland und eine fünfköpfige Familie aus Frankreich - seien 24 Personen Opfer von Verfolgungshandlungen aufgrund von Wahrnehmungen oder Überprüfungen geworden, die auf ihre Vertreibung zurückzuführen waren, wobei die Sicherheitsbeamten den Rückkehrern in 12 Fällen zum Vorwurf gemacht haben sollen, Syrien verlassen zu haben, und sie in 15 Fällen aufgrund ihres Zufluchtsorts beschuldigt haben sollen, Terroristen zu sein.
55Vgl. Amnesty International, „Du gehst in den Tod“ - Verletzungen gegen syrische Flüchtlinge, die nach Syrien zurückkehren, vom 30. September 2021, S. 9 und 17 f.
56Daraus lässt sich angesichts einer Zahl von mehr als 280.000 Rückkehrern nach Syrien zwischen 2016 und dem 31. Mai 2021,
57vgl. Amnesty International a.a.O., S. 12,
58keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung von Rückkehrern wegen (illegalen) Verlassens Syriens, Asylantragstellung und Aufenthalts im Ausland herleiten. Bei nur 66 untersuchten Fällen ist die Studie auch nicht repräsentativ für alle Rückkehrer nach Syrien.
59Dies gilt erst Recht bei einer gesonderten Betrachtung der Rückkehrer aus Europa. Ein 17-jähriges Mädchen soll bei der Rückkehr aus Deutschland nach Syrien von Geheimdienstmitarbeitern schikaniert und bedroht, einige Tage später an einem Kontrollpunkt von einem Soldaten (verbal) belästigt und wiederum einige Tage später vom Geheimdienst vorgeladen worden sein. Die fünfköpfige Familie soll bei der Rückkehr aus Frankreich Anfang 2019 am Grenzübergang festgenommen worden und seitdem verschwunden sein. Das Anti-Terror-Gericht soll gegen den Ehemann ermitteln, weil er in Europa Geld gesammelt und terroristische Aktivitäten in Syrien finanziert haben soll.
60Vgl. Amnesty International a.a.O., S. 24 und 30.
61Aus diesen Einzelfällen lässt sich keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung von Rückkehrern wegen des (illegalen) Verlassens Syriens, Asylantragstellung und Aufenthalt im westlichen Ausland herleiten. Der Senat geht davon aus, dass allein in den Jahren 2017 und 2018 und der ersten Hälfte des Jahres 2019 mindestens 792 Personen freiwillig aus Deutschland zurück nach Syrien gereist sind. Das Bundesamt hat in diesem Zeitraum 792 freiwillige Ausreisen nach Syrien finanziert.
62Vgl. Deutsche Welle, Immer mehr syrische Flüchtlinge wollen zurück in die Heimat, vom 5. Juli 2019.
63Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Bericht des Europäischen Asylunterstützungsbüros über die Lage von Rückkehrern aus dem Ausland in Syrien vom Juni 2021. Ein Rechts- und Menschenrechtsberater beim Syria Justice and Accountability Center habe ausdrücklich erklärt, dass Personen, die Syrien illegal verlassen hätten, kein gerichtliches Verfahren innerhalb Syriens einleiten könnten. Rückkehrer, die ohne vorherige Bereinigung ihrer illegalen Ausreise nach Syrien zurückkehrten, würden in ein Militärgefängnis oder eine militärische Sicherungsanstalt gebracht.
64Vgl. EASO, Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, Juni 2021, S. 18 oben.
65Beide Behauptungen sind unsubstantiiert und daher unglaubhaft. Der Rechts- und Menschenrechtsberater behauptet lediglich pauschal, Personen, die Syrien illegal verlassen hätten, könnten kein gerichtliches Verfahren innerhalb Syriens einleiten, ohne dies näher zu erläutern und damit nachvollziehbar zu begründen. Hinsichtlich seiner zweiten Behauptung benennt der Rechts- und Menschenrechtsberater keine aussagekräftigen Präzedenzfälle, so dass nicht ersichtlich wird, ob die Verbringung in das Militärgefängnis oder die militärische Sicherungsanstalt aufgrund der illegalen Ausreise oder aus anderen Gründen erfolgte, zum Beispiel wegen Wehrdienstentziehung.
66Hinsichtlich der Behandlung von Personen, die im Ausland Asyl beantragt hatten, gab der Rechts- und Menschenrechtsberater an, dass das Vorgehen von Fall zu Fall verschieden sei. Er wusste von ehemaligen Asylbewerbern, die bei ihrer Rückkehr keine persönlichen Probleme mit den syrischen Behörden gehabt hätten, während andere Asylbewerber von den syrischen Behörden bei ihrer Rückkehr getötet oder verschleppt worden seien.
67Vgl. EASO, Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, Juni 2021, S. 19 oben.
68Letzteres mag zutreffen. Mangels näherer Schilderung der genannten Fälle ist jedoch nicht ersichtlich, ob die betreffenden Personen (auch) deshalb getötet oder verschleppt wurden, weil sie im Ausland Asyl beantragt hatten, oder aus anderen Gründen in das Visier der syrischen Sicherheitskräfte geraten waren.
69Es mag ferner sein, dass alle Rückkehrer nach Syrien, auch wenn sie vor der Einreise eine für sie positive Sicherheitsüberprüfung durchlaufen haben, sich nach der Einreise beim örtlichen Geheimdienstbüro melden müssen.
70Vgl. EASO, Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, Juni 2021, S. 27, 3. Absatz; DIS, Syria. Treatment upon return, Mai 2022, Annex 1, Nr. 6.
71Das Europäische Asylunterstützungsbüro führt in diesem Zusammenhang weiter aus, der Besuch in einem Büro der Sicherheitsbehörden berge die Gefahr, verhört, verhaftet, inhaftiert oder gefoltert zu werden beziehungsweise zu einem Dasein als Informant, Regierungssoldat oder Mitglied einer regierungsfreundlichen Miliz gezwungen zu werden. Sofern das Europäische Asylunterstützungsbüro hiermit gemeint haben sollte, jeder Besuch in einem Büro der Sicherheitsbehörden berge die beachtlich wahrscheinliche Gefahr, verhaftet, inhaftiert, gefoltert oder gezwungen zu werden, als Informant für die Regierung zu dienen, teilt der Senat diese Einschätzung aus den von der syrischen Menschenrechtsorganisation der Dänischen Einwanderungsbehörde im April 2022 mitgeteilten Gründen nicht.
72Schließlich führt das Europäische Asylunterstützungsbüro aus, mehrere Quellen hätten bestätigt, dass die syrischen Behörden Rückkehrer bei ihrer Ankunft weiter festnähmen, (vorübergehend) einsperrten, verhörten, folterten und/oder durch Verfahren vor den Terrorismusgerichten verfolgten. Laut den Quellen liefen unter anderem Personen, die Syrien illegal verlassen hätten, und Personen, die aus Ländern zurückkehrten, die als der syrischen Regierung feindlich gesinnt gälten, Gefahr, bei ihrer Rückkehr einer oder mehrerer (der genannten) Behandlungen ausgesetzt zu werden.
73Vgl. EASO, Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, Juni 2021, S. 27 f.
74Diese Aussagen sind derart allgemein gehalten, dass sich daraus für die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung von Rückkehrern wegen illegalen Verlassens Syriens, Asylantragstellung und längerem Aufenthalt im westlichen Ausland nichts herleiten lässt. Die in Syrien tätige internationale humanitäre Organisation, die meinte, auch Personen, die Syrien illegal verlassen hätten, liefen Gefahr, bei ihrer Rückkehr festgenommen, eingesperrt, verhört, gefoltert und/oder durch ein Verfahren vor einem Anti-Terror-Gericht verfolgt zu werden, gab hierfür keine Begründung und benannte hierfür keine belastbaren Tatsachen. Der Rechts- und Menschenrechtsberater beim Syria Justice and Accountability Center, der meinte, Personen, die aus Ländern zurückkehrten, die als der syrischen Regierung feindlich gesinnt gälten, liefen Gefahr, bei ihrer Rückkehr festgenommen, eingesperrt, verhört, gefoltert zu werden und/oder durch ein Verfahren vor einem Anti-Terror-Gericht verfolgt zu werden, erwähnte diesbezüglich konkret lediglich die Türkei.
75Damit bleibt es bei der Erkenntnis, dass es keine belastbaren Erkenntnisse für eine Verfolgung von Rückkehrern nach Syrien wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und Aufenthalt im westlichen Ausland gibt.
76Vgl. UNHCR, Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 25. Februar 2019; Auswärtiges Amt, Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 12. Februar 2019; Amnesty International, Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 20. September 2018; Deutsches Orient-Institut, Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 22. Februar 2018, jeweils zu den Fragen 1 bis 3.
77Im Übrigen nimmt auch kein anderes Oberverwaltungsgericht und kein Verwaltungsgerichtshof eine beachtliche wahrscheinliche Gefahr für eine Verfolgung von Rückkehrern nach Syrien wegen illegaler Ausreise, Asylanatragstellung und Aufenthalt im westlichen Ausland an.
78Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Syrien auch nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat, weil er aus der Region Kobane stammt, die in den Jahren 2014 und 2015 zwischen kurdischen Streitkräften und dem Islamischen Staat umkämpft war und heute von der selbsternannten kurdischen Selbstverwaltung kontrolliert wird.
79Vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 9 f.
80Diese Eigenschaft teilt der Kläger mit einer unübersehbaren Zahl anderer Bürgerkriegsopfer aus den - früher - großen, von Rebellen beherrschten Gebieten. Erkenntnisse für eine Verfolgung dieser Gruppe ohne individuelle verfolgungsbegründende Umstände liegen nicht vor. Die syrische Regierung hat inzwischen weite Teile ehemaliger Rebellengebiete zurückerobert, ohne dass ersichtlich ist, dass die Bevölkerung dieser Gebiete in stärkerem Ausmaß politischer Verfolgung ausgesetzt wäre als die Bevölkerung im übrigen von der Regierung kontrollierten Staatsgebiet. Dafür, dass das syrische Regime der Bevölkerung (ehemals) von der Opposition beherrschter Gebiete nicht pauschal eine feindliche Gesinnung unterstellt, spricht auch die Tatsache, dass es bei Kapitulationsverhandlungen über solche Gebiete verlangt hat, dass die jungen Männer der Region in die syrische Armee eintreten. Würde man diese Personen als Gegner betrachten, würde man sie nicht in den eigenen Reihen kämpfen lassen, um nicht die eigenen Soldaten zu gefährden.
81Vgl. OVG NRW, Urteil vom 3. September 2018 - 14 A 837/18.A -, juris, Rdnr. 34 ff. m.w.N.
82Neuere Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass die Situation von Rückkehrern nach Syrien, die aus (ehemaligen) Rebellengebieten stammen oder sich dort längere Zeit aufgehalten haben, anders zu beurteilen sein könnte, liegen nicht vor.
83Der Dänische Einwanderungsdienst führt im Protokoll seines Treffens mit einer syrischen Menschenrechtsorganisation im April 2022 aus, trotz des Fehlens eines klaren Musters der Behandlung von Rückkehrern durch die syrische Regierung habe die syrische Menschenrechtsorganisation hinsichtlich verschiedener Gruppen von Rückkehrern unter anderem die Tendenz beobachtet, dass eine rückkehrende Person, die aus einem früher von der Opposition kontrollierten Gebiet stamme oder dort gelebt habe, bevor sie Syrien verlassen habe, normalerweise nicht allein deshalb Misshandlung oder Verletzung unterworfen würde, weil sie aus dem betreffenden Gebiet stamme oder dort gelebt habe. Wenn jemand oder eine Gruppe von Personen aus einem bestimmten Gebiet Probleme an Kontrollpunkten erfahre, liege dies höchst wahrscheinlich eher an der Entscheidung des einzelnen Offiziers oder der Streitmacht, die den betreffenden Kontrollpunkt kontrolliere, als an dem Herkunftsort der Person.
84Vgl. DIS, Syria. Treatment upon return, Mai 2022, Annex, Nr. 6.
85Amnesty International führt in der genannten Studie aus September 2021 aus, 25 Rückkehrer seien aufgrund von Terrorismusvorwürfen festgenommen worden. Die Sicherheitskräfte hätten sie unter anderem beschuldigt, aus Gebieten zu stammen, die als oppositionell gälten.
86Vgl. Amnesty International, „Du gehst in den Tod“ - Verletzungen gegen syrische Flüchtlinge, die nach Syrien zurückkehren, vom 30. September 2021, S. 34, 36 f. und 43.
87Aus den von Amnesty International genannten Einzelfällen lässt sich aber aus den oben genannten Gründen keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung von Rückkehrern aus ehemaligen oder aktuellen Oppositionsgebieten herleiten.
88Das Europäische Asylunterstützungsbüro führt in seinem Bericht von Juni 2021 aus, laut den von ihm befragten Quellen liefen vor allen Dingen unter anderem Personen aus ehemaligen Oppositionshochburgen Gefahr, bei ihrer Rückkehr einer oder mehrerer (der genannten) Behandlungen - Festnahme, (vorübergehende) Inhaftierung, Verhör, Folter und/oder Verfahren vor Terrorismusgerichten - ausgesetzt zu werden.
89Vgl. EASO, Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, Juni 2021, S. 27 f.
90Die vom Europäischen Asylunterstützungsbüro hierfür genannten Quellen begründen ihre Einschätzung jedoch nicht näher.
91Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge führt in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, vom März 2021 aus, zu den Personen, denen regelmäßig eine regierungsfeindliche Gesinnung unterstellt werde, zählten unter anderem Zivilpersonen aus oder in derzeit oder ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten.
92Vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, März 2021, S. 102 mit Anm. 461.
93Die hierfür vom Hohen Kommissar zitierten Quellen tragen diese Einschätzung jedoch nicht. Das Omran Center for Strategic Studies führt lediglich aus, Personen aus Gebieten, die vom Assad-Regime zurückerobert worden seien, unterlägen dem beständigen Risiko von Razzien zum Zwecke der Inhaftierung und der Einziehung zum Militärdienst, die das Regime in diesen Gebieten vornehme. Solche Razzien gab es zweifellos in diesen Gebieten. Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass Assad-Regime betrachte alle oder auch nur einen großen Teil der Bewohner jener Gebiete als regimefeindlich. Denn Omran sagt weder etwas zur Häufigkeit solcher Razzien noch zu deren Gründen außer dem der Einziehung zum Militärdienst. Das Syrian Justice and Accountability Center führt aus, Inhaftierung sei besonders weit verbreitet in „versöhnten“ Gebieten, wo langfristige Bewohner und kürzlich Zurückgekehrte ohne Rücksicht auf ihre Befolgung des Versöhnungsprozesses verhaftet worden seien, ohne seine Behauptung, Inhaftierung sei „besonders weit verbreitet“ näher zu substantiieren. Dass das Syrian Network for Human Rights Verhaftungen von Zivilisten, einschließlich Kindern, Frauen und älteren Personen, durch Sicherheitskräfte des syrischen Regimes verzeichnete, während diese Personen Kontrollstellen des Regimes bei Reisen zwischen Gebieten oder in Gebiete außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes passierten, besagt für die angebliche Unterstellung einer regimefeindlichen Gesinnung dieser Personen gar nichts. T. L. (HRW) begründet ihre Auffassung nicht näher, dass Personen, die in zuvor von der Opposition gehaltenen Gebieten waren, die zurückerobert wurden, und die von der syrischen Regierung zwangsweise zum Wehrdienst eingezogen wurden, sehr wahrscheinlich eine regierungsfeindliche Meinung zugeschrieben werde. Auch aus den Ausführungen des Hohen Kommissars im Kapitel III.A.1 d) seiner Erwägungen einschließlich der dortigen Anmerkungen ergibt sich nichts Tragfähiges für seine Annahme, Personen aus oder in derzeit oder ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten würden regelmäßig (oder auch nur mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit) eine regierungsfeindliche Gesinnung unterstellt.
94Im Übrigen ist der Hohe Kommissar selbst der Auffassung, dass Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen, einschließlich Zivilpersonen, die aus Gebieten stammen oder in Gebieten wohnen, die derzeit oder früher von bewaffneten oppositionellen Gruppen kontrolliert werden oder wurden, lediglich nach den Umständen des Einzelfalls wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen.
95Vgl. UNHCR a.a.O., S. 123.
96Schließlich ist auch das Auswärtige Amt der Meinung, es sei davon auszugehen, dass die Herkunft das Verdachtsmoment erhöhe, vor der Unterstellung oppositioneller Haltung jedoch weitere Indizien hinzugezogen würden.
97Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an den Hess. VGH vom 12. Februar 2019 - 508-516.80/50333 - zu Frage 4.
98Soweit ersichtlich, vertritt auch kein anderes Oberverwaltungsgericht und kein Verwaltungsgerichtshof die Auffassung, Rückkehrern drohe in Syrien allein wegen ihrer Herkunft aus einem (ehemaligen) Rebellengebiet (politische) Verfolgung.
99Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 15. Mai 2023 - 2 LB 444/19 -, juris, Rdnr. 43 ff.
100Die demnach vorzunehmende Einzelfallbetrachtung ergibt, dass dem Kläger bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien voraussichtlich auch unter Berücksichtigung seiner Herkunft aus der Region Kobane keine oppositionelle Haltung von den syrischen Behörden unterstellt werden wird und folglich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen. Der Kläger hat sich in der Anhörung durch das Bundesamt am 18. Dezember 2017 als gänzlich unpolitisch dargestellt.
101Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Syrien auch keine Verfolgung durch den syrischen Staat wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit. Kurden als solche werden vom syrischen Staat nicht verfolgt. Im Gegenteil hat sich das Verhältnis des syrischen Staates zu den Kurden seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs verbessert, weil das Assad-Regime zu seiner Entlastung im Kampf gegen die syrische Opposition auf die Kooperation mit den kurdischen Kräften angewiesen war, die nunmehr die kurdische Selbstverwaltung tragen, namentlich mit der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) und deren bewaffnetem Arm, den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPG), die für das Assad-Regime zum Einen die Oppositionsbewegung in Nordost-Syrien niederhielten und zum Anderen die Bekämpfung des Islamischen Staates in Nordost-Syrien übernahmen. Dementsprechend ist das Verhältnis des syrischen Staates zu der selbsternannten kurdischen Selbstverwaltung in Nordost-Syrien derzeit eher von Kooperation als von Konfrontation gekennzeichnet.
102Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 9 f. und 25 f.; EZKS, Gutachten für das VG Berlin vom 11. März 2019, S. 3, 9 und 11; Eva Sabelsberg, Der Aufstieg der kurdischen PYD im syrischen Bürgerkrieg (2011 - 2017), in: BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, S. 47 - 60.
103Dem Kläger droht ferner bei einer Rückkehr nach Syrien auch keine Verfolgung durch den syrischen Staat wegen yezidischer Religionszugehörigkeit. Nach den Angaben des Klägers beim Bundesamt besteht sein Yezidentum im Wesentlichen darin, dass seine Vorfahren Yeziden waren und dass er und seine Familie nicht gefastet und gebetet haben wie die Moslems. Letzteres ist im säkularen Staat des Baath-Regimes in Syrien ohnehin kein Problem. Im Übrigen gilt für das Verhältnis des syrischen Staates zu den Yeziden dasselbe wie für das Verhältnis des syrischen Staates zu den Kurden im Allgemeinen: eine Verfolgung durch den syrischen Staat findet nicht statt.
104Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 25.
105Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Syrien auch keine politische Verfolgung durch die selbsternannte kurdische Selbstverwaltung in Nordost-Syrien in Form einer Zwangsrekrutierung. In den kurdischen Selbstverwaltungsgebieten im Nordosten Syriens hat die von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) dominierte „Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“ im Jahr 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet, welches vorsieht, dass jede Familie einen „Freiwilligen“ im Alter zwischen 18 und 40 Jahren stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPG) dient. Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen soll dieses Gesetz auch mit Gewalt durchgesetzt werden.
106Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 15 f.
107Letzteres entspricht allerdings nicht den Erkenntnissen des Senats. Der Senat war seit dem Jahr 2017 mit hunderten von Fällen syrischer Asylbewerber befasst. In mehreren Dutzend dieser Fälle berichteten kurdische Asylbewerber aus dem Nordosten Syriens, dass sie von den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPG) durch häufige Besuche zuhause oder an ihrem Arbeitsplatz zum Beitritt gedrängt worden seien, jedoch in keinem einzigen Fall von der Anwendung von Gewalt gegen sie. Nach Auffassung des Senats besteht daher keine beachtliche Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevanter Übergriffe durch die YPG auf kurdische Rückkehrer in den Nordosten Syriens zum Zwecke der Zwangsrekrutierung.
108Selbst wenn eine solche Gefahr bestünde, wäre sie flüchtlingsrechtlich irrelevant, weil eine Zwangsrekrutierung durch die YPG nicht an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpfen, sondern allein zu dem Zweck erfolgen würde, der YPG neue Kämpfer zuzuführen.
109Vgl. Eva Sabelsberg, Der Aufstieg der kurdischen PYD im syrischen Bürgerkrieg (2011 - 2017), in: BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, S. 56.
110Der Senat kann ferner dahinstehen lassen, ob der Kläger (unmittelbar) vor seiner Ausreise aus Syrien von einer Verfolgung durch den Islamischen Staat bedroht war. Denn heute besteht jedenfalls keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung von Kurden oder Yeziden durch den Islamischen Staat (mehr). Der Islamische Staat beherrscht kein zusammenhängendes Gebiet in Syrien mehr, sondern verübt nur noch Anschläge aus dem Untergrund heraus. Diese Anschläge sind nicht so zahlreich, dass der Kläger ernsthaft befürchten müsste, Opfer eines solchen Anschlags in Syrien zu werden.
111Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 11 und 29.
112Schließlich würde dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch die Freie Syrische Armee (nunmehr Syrische Nationale Armee (SNA)) drohen. Erstens wird die Heimatregion des Klägers um Kobane herum von der kurdischen Selbstverwaltung und syrischen Truppen kontrolliert. Zweitens richten sich die Operationen der Türkei und ihrer Verbündeten (darunter der Syrischen Nationalen Armee) nicht gegen Kurden oder Yeziden als solche, sondern zielen auf die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPG), eine Schwesterorganisation der PKK.
113Vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 9 f. und 17; sowie Eva Sabelsberg, Der Aufstieg der kurdischen PYD im syrischen Bürgerkrieg (2011 - 2017), in: BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, S. 47 - 60.
114Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
115Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 der Zivilprozessordnung.
116Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 VwGO zuzulassen, weil ein dort genannter Zulassungsgrund nicht vorliegt.
117Die Zulassung der Revision nach § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG steht im Ermessen des Oberverwaltungsgerichts. Der Senat übt sein Ermessen dahingehend aus, dass die Zulassung unterbleibt. Bis auf das OVG Bremen und das OVG Berlin-Brandenburg sind sich alle Oberverwaltungsgerichte darin einig, dass Wehrdienstentziehern in Syrien keine politische Verfolgung droht. Der Senat sieht daher allein aufgrund der abweichenden Rechtsprechung des OVG Bremen und des OVG Berlin-Brandenburg keine Veranlassung, die Revision zwecks Klärung dieser Frage durch das Bundesverwaltungsgericht zuzulassen. Das gilt erst Recht für alle weiteren hier potentiell fallübergreifenden Tatsachenfragen (Verfolgung wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und Aufenthalt im westlichen Ausland, wegen Herkunft aus einem ehemaligen Rebellengebiet, als Kurde und/oder Yezide oder durch Zwangsrekrutierung durch die kurdische Selbstverwaltung in Nordost-Syrien).