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Das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 17. Mai 2021 wird geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 21.178,32 Euro zu zahlen zur Erstattung von Kosten, die im Hilfefall K. G. in dem Zeitraum vom 5. April 2015 bis zum 16. Mai 2017 entstanden sind.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen; die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten in Höhe von 21.178,32 Euro, die der Kläger in der Zeit vom 5. April 2015 bis zum 16. Mai 2017 für das Kind K. G. , geb. S. (im Folgenden: die Hilfeempfängerin), aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe aufgewendet hat.
3Die Hilfeempfängerin wurde am 00.00.2009 als nichteheliches Kind der Frau B. S. und des Herrn W. G. geboren. Zu diesem Zeitpunkt lebte die allein sorgeberechtigte Kindsmutter in Q. . Bereits kurz nach der Geburt des Kindes verpflichtete sich die heroinabhängige Kindsmutter in einem Verfahren vor dem Amtsgericht - Familiengericht - Q. (Az.: xxx/09) eine Mutter-Kind-Einrichtung aufzusuchen. Seit März 2011 war offenbar eine Familienhilfe der Caritas eingesetzt. Nähere Einzelheiten hierzu ergeben sich aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen nicht. Nachdem die Kindsmutter eine Entgiftung zu einem sehr frühen Zeitpunkt abgebrochen hatte, nahm das Jugendamt der Stadt Q. die Hilfeempfängerin am 31. Januar 2013 in Obhut und brachte sie in einer Bereitschaftspflegefamilie unter. Der Vater der Hilfeempfängerin lebte seit Oktober 2011 in C. E. .
4Mit Beschluss vom 3. April 2013 entzog das Amtsgericht - Familiengericht - Q. (Az. xxx/13) der Kindsmutter die elterliche Sorge für die Hilfeempfängerin und bestellte das Jugendamt der Stadt Q. zum Vormund. Am 5. April 2013 wurde die Hilfeempfängerin bei ihrer Großmutter väterlicherseits, Frau U. G. , in C. E. im Kreis I. untergebracht. Mit Bescheid vom 19. April 2013 gewährte das Jugendamt der Stadt Q. dem Amtsvormund für die Hilfeempfängerin ab dem 5. April 2013 Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege gemäß §§ 27, 33 SGB VIII.
5Am 1. September 2014 verzog die Kindsmutter nach X. . Dort wurde sie am 20. Oktober 2014 von Amts wegen abgemeldet. Am 31. Oktober 2014 wurde sie in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Y. Z. inhaftiert, nach Angaben der JVA „bis voraussichtlich 26.04.2016“, „in Untersuchungshaft im Anschluss“. Mit Schreiben vom 2. April 2015 teilte die Kindsmutter dem Jugendamt der Stadt Q. unter anderem mit, sie werde nach der Haft zurück nach Q. gehen. Im Mai 2015 wurde Frau U. G. zum Vormund für die Hilfeempfängerin bestellt.
6Mit Schreiben vom 14. April 2015 bat das Jugendamt der Stadt Q. den Kläger um Übernahme des Hilfefalles ab dem 5. April 2015 und führte zur Begründung an, dieser sei aufgrund der dauerhaften Unterbringung der Hilfeempfängerin in der Pflegefamilie für den Hilfefall zuständig geworden. Unter dem 19. August 2015 erkannte der Kläger gegenüber dem Jugendamt der Stadt Q. seine Zuständigkeit ab dem 5. April 2015 gemäß § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII an und erklärte die Übernahme des Jugendhilfefalles ab dem 1. September 2015. Weiter erkannte er seine Kostenerstattungspflicht für die Zeit vom 5. April 2015 bis 31. August 2015 gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII an.
7Mit Schreiben vom 24. August 2015 bat der Kläger den Beklagten um Kostenübernahme für den Jugendhilfefall ab dem 5. April 2015. Zur Begründung gab er an: Ohne Anwendung des seine örtliche Zuständigkeit begründenden § 86 Abs. 6 SGB VIII würde sich die örtliche Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Kindsmutter richten, bei welcher die Hilfeempfängerin vor Beginn der Hilfe gelebt habe. Diese habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt seit dem 20. Oktober 2014 in der Haftanstalt inY. . Aus seiner, des Klägers, Zuständigkeit ergebe sich ein Kostenerstattungsanspruch gegenüber der Stadt Y. aus § 89a Abs. 1 SGB VIII. Obwohl in § 89e SGB VIII der gewöhnliche Aufenthalt der Pflegeperson nicht erwähnt werde, sei der Schutz der Einrichtungsgarantie für die Stadt Y. anwendbar. Gemäß § 89a SGB VIII ergebe sich eine Kostenerstattung gegenüber demjenigen, der zuständig wäre, wenn es § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht gäbe. Dann wäre für die Zuständigkeit der gewöhnliche Aufenthalt der Kindsmutter maßgebend und über § 89e SGB VIII geschützt. Dadurch ergebe sich für ihn, den Kläger, ein Kostenerstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten aus § 89a Abs. 2 SGB VIII.
8Mit Schreiben vom 1. Februar 2016 beantragte die beigeladene Stadt Y. beim Beklagten Kostenerstattung gemäß § 89e Abs. 2 SGB VIII für die Zeit vom 30. Oktober 2014 bis einschließlich 4. April 2015.
9Am 16. Mai 2017 wurde die Mutter der Hilfeempfängerin aus der Haft entlassen. Eine Untersuchungshaft fand bis zu diesem Zeitpunkt ausweislich einer telefonischen Auskunft der JVA gegenüber dem erkennenden Senat nicht statt. Am 17. Mai 2017 zog die Mutter nach Q. .
10Unter dem 16. Mai 2017 machte der Kläger gegenüber der beigeladenen Stadt Y. vorsorglich einen Kostenerstattungsanspruch ab dem 5. April 2015 für den Fall der Ablehnung seines Kostenerstattungsanspruchs durch den Beklagten geltend. Die Beigeladene lehnte die Kostenerstattung durch Schreiben vom 7. Juni 2017 ab.
11Mit zwei Schreiben vom 23. August 2017 erkannte der Beklagte zum einen gegenüber der Beigeladenen seine Verpflichtung zur Kostenerstattung gemäß § 89e Abs. 2 SGB VIII für die Zeit vom 31. Oktober 2014 bis zum 4. April 2015 an; zum anderen lehnte er den Antrag des Klägers auf Kostenerstattung ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Die Vorschrift des § 89e SGB VIII habe nur Bedeutung für Leistungen, bei denen sich die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII richte. Gehe man davon aus, dass § 89e SGB VIII in den Fällen des § 89a SGB VIII nicht anwendbar sei, könne ein Anspruch nach § 89e SGB VIII auch nicht Teil einer "Erstattungskette" nach § 89a Abs. 2 SGB VIII sein. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 89e SGB VIII lägen nicht vor, da die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII an den gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson anknüpfe. Dieser sei von § 89e SGB VIII gerade nicht erfasst.
12Mit Schreiben vom 18. Juni 2018 erkannte das Jugendamt der Stadt Q. gegenüber dem Kläger seine Kostenerstattungspflicht gemäß § 89a SGB VIII ab dem 17. Mai 2017 an.
13Der Kläger hat am 13. Dezember 2018 Klage beim Verwaltungsgericht Minden erhoben, das den Rechtsstreit mit Beschluss vom 2. Mai 2019 an das Verwaltungsgericht Münster verwiesen hat.
14Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger im Wesentlichen folgendes geltend gemacht: Mit der Kostenerstattungsnorm des § 89a SGB VIII sollten Pflegestellenorte, die gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII für die Hilfegewährung zuständig seien, vor unangemessenen finanziellen Belastungen geschützt werden. Ein umfassender Schutz der Einrichtung gemäß § 89e SGB VIII solle ferner sicherstellen, dass die Einrichtungsorte finanziell nicht übermäßig beansprucht würden. Zwar finde § 89e Abs. 1 SGB VIII nach seinem reinen Wortlaut lediglich in solchen Fällen Anwendung, in denen sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern, des Elternteiles oder des Kindes oder des Jugendlichen richte. Dies bedeute jedoch, dass sich die Einrichtungsorte bei Kostenerstattungsansprüchen gemäß § 89a SGB VIII nicht auf den Schutz des Einrichtungsorts berufen könnten, was dem Sinn und Zweck des § 89e SGB VIII zuwiderliefe. Deshalb werde die Anwendbarkeit des § 89e SGB VIII bei Vorliegen eines Kostenerstattungsanspruchs gemäß § 89a SGB VIII von einigen bejaht. Zudem impliziere § 89a Abs. 2 SGB VIII bereits dem Wortlaut nach die Prüfung einer fiktiven Zuständigkeit bzw. Kostenerstattungspflicht. Demnach sei zu prüfen, ob der nach § 89a Abs. 1 SGB VIII kostenerstattungspflichtige Träger selbst einen Kostenerstattungsanspruch gegen einen anderen örtlichen oder überörtlichen Träger habe oder gehabt habe; es sei also zu prüfen, ob es ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII einen Kostenerstattungsanspruch gegeben habe oder hätte. Diese fiktive Prüfung wiederum orientiere sich an der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII mit der Folge, dass § 89e SGB VIII unmittelbar zur Anwendung komme. Die Kindsmutter habe mit ihrer Inhaftierung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt Y. begründet. Daher wäre ab der Inhaftierung die Stadt Y. gemäß § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII für die Hilfegewährung zuständig gewesen. Diese hätte aufgrund des Schutzes der Einrichtungsorte und mangels eines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts der Kindsmutter gemäß § 89e Abs. 2 SGB VIII einen Kostenerstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten als überörtlichem Träger gehabt. Mit Eintritt der Sonderzuständigkeit gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII ab dem 5. April 2015 sei dieser Kostenerstattungsanspruch nach § 89a Abs. 2 SGB VIII im Rahmen der Durchgriffshaftung auf ihn, den Kläger, übergegangen. Ferner bestehe entgegen der Ansicht des Beklagten auch für die Zeit ab dem 27. April 2016 keine Kostenerstattungspflicht der Stadt Q. . Die Kindsmutter habe in dieser Zeit ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der JVA Y. -T. gehabt. Die JVA habe bestätigt, dass bis zum Zeitpunkt der Entlassung der Kindsmutter am 16. Mai 2017 Strafhaft vollzogen worden sei.
15Der Kläger hat beantragt,
16den Beklagten zu verurteilen, ihm, dem Kläger, einen Betrag in Höhe von 21.178,32 Euro zu zahlen.
17Der Beklagte hat beantragt,
18die Klage abzuweisen.
19Zur Begründung hat er vorgetragen: Dem Kläger stehe der geltend gemachte Anspruch nach § 89a i. V. m. § 89e SGB VIII nicht zu. Eine analoge Anwendung des § 89e SGB VIII auf § 89a SGB VIII komme nicht in Betracht. Es fehle an einem wesensgleichen Tatbestand. Voraussetzung für einen Anspruch nach § 89e SGB VIII sei, dass sich die örtliche Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern in einer der in der Norm genannten Einrichtungen richte. Mit dem Wechsel der Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII ende die Kostenerstattungspflicht aus § 89e SGB VIII, da diese Vorschrift keine Anwendung mehr finde. Nach § 86 Abs. 6 SGB VIII komme es für die örtliche Zuständigkeit auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson an, der in § 89e SGB VIII seinem eindeutigen Wortlaut nach gerade nicht erfasst sei. Die Vorschrift des § 89e SGB VIII gelte daher nur für Leistungen, bei denen sich die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII richte. Eine planwidrige Regelungslücke sei hier nicht gegeben. Dies zeige sich auch mit Blick darauf, dass im Zuge der Änderung des § 89e SGB VIII in dessen Absatz 1 der Satz 2 eingefügt worden sei. Dieser beziehe auch fortgesetzte Hilfen in den Schutz der Einrichtungsorte ein. Eine Festschreibung eines Erstattungsanspruchs für die von dem Kläger angeführte fiktive Zuständigkeit bzw. Kostenerstattungspflicht sei hier jedoch gerade nicht erfolgt. Hätte der Gesetzgeber auch hinsichtlich des Schutzes der Einrichtungsorte im Fall der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII eine Änderung durchführen wollen, wäre dies sicherlich geschehen. § 89a SGB VIII setze für einen Durchgriff einen (potentiell) bestehenden Erstattungsanspruch voraus, der nach dem Wortlaut des § 89e SGB VIII aber nicht mehr bestehen könne, wenn sich die örtliche Zuständigkeit nicht mehr nach der für den Erstattungsanspruch maßgeblichen Person richte. § 89e SGB VIII lege fest, wer zum Kostenersatz verpflichtet sei, wenn sich die Zuständigkeit nach einem gewöhnlichen Aufenthalt richte, der in einer Einrichtung begründet worden sei. Dieser Einrichtungsort sei dann nach § 89e SGB VIII geschützt, weil er trotz einer Einrichtung am Ort örtlich zuständig geworden sei. Eine fiktive Prüfung der Zuständigkeit ("ist") bzw. Erstattungspflicht ("hätte") komme ferner nur dann in Betracht, wenn sich ein Kind bereits zwei Jahre in einer anderen Familie ohne Jugendhilfegewährung aufhalte und die örtliche Zuständigkeit gleich mit der Anknüpfung an §86 Abs. 6 SGB VIII beginne. Hier gehe es demzufolge um eine reale Zuständigkeit. § 89a Abs. 2 SGB VIII setze jedoch einen bestehenden Erstattungsanspruch voraus, den die Beigeladene im Zeitpunkt der Zuständigkeitsbegründung des Klägers nicht mehr gehabt habe, weil sich die örtliche Zuständigkeit nicht mehr nach einer der in § 89e SGB VIII genannten Personen gerichtet habe. Darüber hinaus sei für den Zeitraum vom 27. April 2016 bis zum 16. Mai 2017 die Stadt Q. erstattungspflichtig. Denn ab dem 27. April 2016 sei die Kindsmutter von der Strafhaft in die Untersuchungshaft gewechselt. Eine Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt zum Zwecke der Untersuchungshaft könne nicht zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts herangezogen werden. Sodann würde sich die Zuständigkeit fiktiv nach § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII und damit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes vor Beginn der Leistung richten, welcher in Q. bestanden habe.
20Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie hat geltend gemacht: Aufgrund der Regelung in § 89a Abs. 2 SGB VIII sei der Beklagte dem Kläger direkt kostenerstattungspflichtig. Hätte sie die Leistung selbst zu erbringen, wäre gemäß § 89e Abs. 2 SGB VIII der Beklagte kostenerstattungspflichtig, weil sich ihre Zuständigkeit hier allein aufgrund des geschützten Aufenthalts der Kindsmutter in einer Einrichtung im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII ergeben würde. Dies habe zur Folge, dass der Beklagte gemäß § 89a Abs. 2 SGB VIII unmittelbar dem Kläger gegenüber erstattungspflichtig werde. § 89a SGB VIII stelle auf eine fiktive Zuständigkeit ab. Eine Anwendung des § 89e SGB VIII scheide im Rahmen des § 89a Abs. 2 SGB VIII nicht aus, weil hinsichtlich der fiktiven Zuständigkeit der Beigeladenen an den gewöhnlichen Aufenthalt der Kindsmutter in einer geschützten Einrichtung angeknüpft werde. § 89e SGB VIII bezwecke die Sicherung eines lückenlosen Schutzes der Einrichtungsorte auf der Erstattungsebene. Dies komme in der Gesetzesbegründung zu § 89e SGB VIII deutlich zum Ausdruck, wonach die Kostenerstattung für alle die Fälle für maßgeblich erklärt werde, in denen das Anknüpfen der örtlichen Zuständigkeit an den gewöhnlichen Aufenthalt zu einer Kostenbelastung des Einrichtungsortes führte.
21Mit dem angefochtenen Urteil vom 17. Mai 2021 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Dem Kläger stehe gegenüber dem Beklagten kein Anspruch auf Kostenerstattung für den Zeitraum vom 5. April 2015 bis zum 16. Mai 2017 nach § 89a Abs. 2 SGB VIII zu. Die Anspruchsvoraussetzungen der Norm seien nicht erfüllt. Zwar sei der Kläger nach § 86 Abs. 6 SGB VIII für den Hilfefall ab dem 5. April 2015 zuständig geworden. Hieraus folge ein Kostenerstattungsanspruch gegen die Beigeladene nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Denn die Kindsmutter, auf die es für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ankomme, habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt jedenfalls seit dem 31. Oktober 2014 in deren Zuständigkeitsbereich gehabt. Für den vom Kläger geltend gemachten Durchgriff nach § 89a Abs. 2 SGB VIII fehle es jedoch an einem Kostenerstattungsanspruch der Beigeladenen gegenüber dem Beklagten. Ein solcher folge nicht aus § 89e Abs. 2 SGB VIII. Denn die Zuständigkeit habe ab dem 5. April 2015 an den gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeeltern der Hilfeempfängerin angeknüpft und nicht an den gewöhnlichen Aufenthalt der Kindsmutter. Die Anknüpfung der Zuständigkeit an den gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson sei aber von § 89e SGB VIII schon nach seinem Wortlaut nicht erfasst. Der Einwand des Klägers, Sinn und Zweck des § 89e SGB VIII erfordere einen umfassenden und lückenlosen Schutz der Einrichtungsorte, greife nicht durch. Denn der Gesetzgeber habe das Fortbestehen eines Erstattungsanspruchs nach § 89e Abs. 1 SGB VIII trotz Wegfalls des Anknüpfungspunktes des gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern gerade im Falle des Zuständigkeitswechsels nach § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht angeordnet. § 89e SGB VIII habe Bedeutung nur für Leistungen, bei denen sich die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII richte. In den Fällen des § 86 Abs. 6 SGB VIII werde der Schutz der Pflegestellenorte bereits über § 89a SGB VIII erreicht. Hätte der Gesetzgeber den Schutz der Einrichtungsorte auch in den Fällen der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII ändern wollen, sei anzunehmen, dass er dies getan hätte. Eine analoge Anwendung scheide nach dem eindeutigen Wortlaut des § 89e SGB VIII aus.
22Der Kläger nimmt zur Begründung seiner mit Beschluss des Senats vom 9. Dezember 2022 zugelassenen Berufung auf seinen erstinstanzlichen Vortrag sowie auf sein Vorbringen aus dem Zulassungsverfahren Bezug. Vertiefend führt er aus: Im Rahmen der Prüfung der Erstattungspflicht richte sich die Zuständigkeit im Sinne des § 89a Abs. 1 SGB VIII hier nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Kindsmutter. Es gehe gerade nicht um die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII, da § 89a Abs. 2 SGB VIII nach einem fiktiven Erstattungsanspruch des nach § 89a Abs. 1 SGB VIII erstattungspflichtigen örtlichen Trägers frage. Für diesen sei § 89e SGB VIII unmittelbar anwendbar, weil zu prüfen sei, ob der Kostenerstattungsanspruch vor Eintritt des Zuständigkeitswechsels nach § 86 Abs. 6 SGB VIII bestanden hätte. Auch Sinn und Zweck des § 89e SGB VIII gebiete eine weitere Anwendung im Falle eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 89a Abs. 2 SGB VIII. Es sei nicht erkennbar, weshalb im Falle eines Zuständigkeitswechsels nach § 86 Abs. 6 SGB eine Besserstellung des Beklagten erfolgen solle, indem der Beigeladenen der zuvor unzweifelhaft bestehende Kostenerstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten abgeschnitten werde.
23Der Kläger beantragt,
24das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 17. Mai 2021 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, an ihn einen Betrag in Höhe von 21.178,32 Euro zu zahlen zur Erstattung von Kosten, die im Hilfefall K. G. in dem Zeitraum vom 5. April 2015 bis zum 16. Mai 2017 entstanden sind.
25Der Beklagte beantragt,
26die Berufung zurückzuweisen.
27Er bezieht sich auf sein erstinstanzliches Vorbringen und trägt ergänzend vor: Entgegen der Auffassung des Klägers enthalte § 89e SGB VllI keine durch eine Analogie ausfüllungsbedürftige oder ausfüllungsfähige Regelungslücke. Die Vorschrift sei vorliegend nicht anwendbar. Ein Erstattungsanspruch des Klägers könne nicht in Verbindung mit § 89a Abs. 2 SGB Vlll hergeleitet werden. Diese Norm setze einen bestehenden Kostenerstattungsanspruch des bisher zuständigen Trägers voraus. Eine Verbindung zwischen § 89e SGB VIII und § 89a SGB VIII sei vom Wortlaut dieser Vorschriften nicht gedeckt. § 89e SGB VIII regele den Schutz der Einrichtungsorte für Leistungen, bei denen die Zuständigkeit über § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII begründet werde. Soweit sich der für § 89e SGB VII maßgebliche Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit ändere, ende auch die daran anknüpfende Kostenerstattung. Zudem habe ein Kostenerstattungsanspruch der Beigeladenen, den der Kläger im Wege des Durchgriffs über § 89a Abs. 2 SGB VIII geltend machen wolle, nie bestanden. Die Beigeladene habe zu keiner Zeit Leistungen der Jugendhilfe gewährt oder Kosten im Wege des § 89c SGB VIII gegenüber dem weiterleistenden Jugendamt der Stadt Q. erstattet. Vielmehr habe der Kläger mit Schreiben vom 19. August 2015 gegenüber dem Jugendamt der Stadt Q. erklärt, den Jugendhilfefall zu übernehmen und seine Verpflichtung zur Kostenerstattung nach § 89c SGB VIII anerkannt. Eine Übernahme der Zuständigkeit durch die Beigeladene habe nicht stattgefunden.
28Die Beigeladene stellt keinen Antrag. Sie schließt sich zur Begründung den Ausführungen des Klägers im Berufungsverfahren an und verweist auf ihr erstinstanzliches Vorbringen.
29Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
30E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
31Die zulässige Berufung des Klägers hat auch in der Sache Erfolg.
32Die als Leistungsklage statthafte und auch sonst zulässige Klage ist begründet.
33Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung von Kosten in Höhe von 21.178,32 Euro, die im Hilfefall K. G. in dem Zeitraum vom 5. April 2015 bis zum 16. Mai 2017 entstanden sind. Dieser Anspruch beruht auf § 89a Abs. 2, Abs. 1 i. V. m. § 89e Abs. 2 SGB VIII.
34Gemäß § 89a Abs. 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger aufgrund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der zuvor zuständig war oder gewesen wäre. Abweichend davon regelt § 89a Abs. 2 SGB VIII einen Fall der Durchgriffshaftung: Hat oder hätte der nach Absatz 1 kostenerstattungspflichtig werdende örtliche Träger während der Gewährung einer Leistung selbst einen Kostenerstattungsanspruch gegen einen anderen örtlichen Träger oder - wie nach § 89e Abs. 2 SGB VIII - gegen den überörtlichen Träger, so bleibt oder wird dieser Träger dem nunmehr nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig gewordenen örtlichen Träger kostenerstattungspflichtig.
35Der Durchgriff gemäß § 89a Abs. 2 SGB VIII setzt danach zum einen das Bestehen eines Kostenerstattungsverhältnisses nach § 89a Abs. 1 SGB VIII zwischen dem nunmehr aufgrund § 86 Abs. 6 SGB VIII leistenden Träger (hier: dem Kläger) und einem anderen örtlichen Träger, der vor der Zuständigkeitsbegründung nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig war oder gewesen wäre (hier: der Beigeladenen), voraus (dazu unter 1.). Zum anderen bedarf es des (zumindest fiktiven) Bestehens eines Kostenerstattungsanspruchs des nach § 89a Abs. 1 SGB VIII kostenerstattungspflichtig werdenden örtlichen Trägers (hier: der Beigeladenen) gegen einen anderen örtlichen oder den überörtlichen Träger (hier: den Beklagten, dazu unter 2.).
36Vgl. OVG NRW, Urteile vom 25. Mai 2009 - 12 A 3099/07-, juris Rn. 17 (nachfolgend BVerwG, Beschluss vom 8. Juni 2010 - 5 B 52.09 -, juris), vom 27. Februar 2012 - 12 A 2478/11 -, jurisRn. 29, und vom 3. September 2012 - 12 A 1571/12 -, juris Rn. 26 f.
37Diese Voraussetzungen liegen vor.
381. Zwischen dem Kläger und der Beigeladenen besteht ein Kostenerstattungsverhältnis gemäß § 89a Abs. 1 SGB VIII.
39Der Kläger ist seit dem 5. April 2015 nach § 86 Abs. 6 SGB VIII für den Jugendhilfefall der Hilfeempfängerin zuständig. Gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII ist oder wird abweichend von § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII der örtliche Träger, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, für den Hilfefall zuständig, wenn ein Kind zwei Jahre bei einer Pflegeperson lebt und sein Verbleib bei dieser auf Dauer zu erwarten ist. Dies ist hier der Fall. Die Hilfeempfängerin war seit dem 5. April 2013 bei ihrer Großmutter väterlicherseits im Rahmen eines Dauerpflegeverhältnisses nach §§ 27, 33 SGB VIII untergebracht und ihr dauerhafter Verbleib dort war zu erwarten. Ferner hat der Kläger im Rahmen seiner Zuständigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum vom 5. April 2015 bis zum 16. Mai 2017 Kosten in Höhe von 21.178,32 Euro aufgewandt.
40Zur Erstattung dieser Kosten ist daher nach § 89a Abs. 1 SGB VIII zunächst der Träger verpflichtet, der vor Eintritt des Zuständigkeitswechsels nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig war. Abzustellen ist auf die Sach- und Rechtslage, wie sie vor dem Zuständigkeitswechsel tatsächlich bestand.
41Vgl. Kunkel/Pattar in: Kunkel/Kepert/Pattar,SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89a Rn. 2.
42Vor dem Wechsel der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 VwGO auf den Kläger war die Beigeladene gemäß § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII aufgrund der Inhaftierung der Kindsmutter inY. seit dem 31. Oktober 2014 für den Hilfefall örtlich zuständig.
43Die örtliche Zuständigkeit für Leistungen an Kinder, Jugendliche und ihre Eltern richtet sich nach § 86 SGB VIII.
44Ursprünglich war die Stadt Q. hier örtlich zuständiger Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Das ergab sich aus § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII. Danach richtet sich die Zuständigkeit für den Fall, dass die Eltern des Kindes verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und die Personensorge keinem Elternteil zusteht, nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
45Der Beginn der Leistung setzte nach dem unstreitigen Vorbringen der Beteiligten mit der Unterbringung der Hilfeempfängerin in der Pflegefamilie am 5. April 2013 ein. Nach dem für die Zuständigkeitsregelungen maßgeblichen Leistungsbegriff stellen alle zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und Hilfen eine einheitliche Leistung dar, zumal wenn sie nahtlos aneinander anschließen und ohne beachtliche zeitliche Unterbrechung gewährt werden. Dies gilt auch dann, wenn bei dem auf einen längeren Zeitraum angelegten Hilfeprozess sich die Schwerpunkte innerhalb des Hilfebedarfs verschieben und für die Ausgestaltung der Hilfe Modifikationen, Änderungen und Ergänzungen bis hin zu einem Wechsel der Hilfeart erforderlich werden, die Hilfegewährung im Verlauf des ununterbrochenen Hilfeprozesses also einer anderen Nummer des § 2 Abs. 2 SGB VIII zuzuordnen oder innerhalb des SGB VIII nach einer anderen Rechtsgrundlage zu gewähren ist.
46Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 2011 - 5 C 25.10 -, juris Rn. 20, 30; OVG NRW, Urteile vom 21. März 2014 - 12 A 1211/12 -, juris Rn. 54 f., und vom 5. Oktober 2015 - 12 A 1450/14 -, juris Rn. 34 f., jeweils m. w. N.
47Dies zugrunde gelegt, ist in der Unterbringung der Hilfeempfängerin in der Pflegefamilie am 5. April 2013 der Beginn der Jugendhilfeleistung zu sehen. Die zuvor am 31. Januar 2013 erfolgte Inobhutnahme ist hierbei außer Betracht zu lassen, weil es sich bei dieser nach dem Maßnahmenkonzept des SGB VIII gerade nicht um eine Leistung, sondern um eine "andere Aufgabe der Jugendhilfe" im Sinne von § 2 Abs. 3 SGB VIII handelt, für die im Gesetz auch zuständigkeitsrechtlich mit § 87 SGB VIII eine eigenständige Regelung geschaffen wurde. Der Wechsel von einer vorhergegangenen Inobhutnahme zu einer erstmaligen jugendhilferechtlichen Leistung führt daher zu einer zuständigkeitsrechtlichen Zäsur mit der Folge, dass mit deren Beginn eine neue bzw. erstmals eine Leistung beginnt.
48Vgl. Lange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 86 SGB VIII (Stand: 17. März 2023), Rn. 87 unter Bezugnahme auf: BVerwG, Urteil vom 25. März 2010 - 5 C 12.09 -, juris Rn. 21.
49Hinreichend gesicherte Erkenntnisse dafür, dass für die Hilfeempfängerin vor der Inobhutnahme bereits Jugendhilfeleistungen gewährt wurden, die im Zusammenhang mit der ab dem 5. April 2013 erbrachten Vollzeitpflege als einheitliche Leistung erscheinen, ergeben sich aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen nicht. Allein daraus, dass das Amtsgericht - Familiengericht - Q. in seinem Beschluss vom 3. April 2013 (xxx/13) auf eine Verpflichtung zum Besuch einer Mutter-Kind-Einrichtung sowie auf die Einrichtung einer Familienhilfe hingewiesen hat, ist insbesondere nicht zu schließen, dass (unterstellte) vorherige Leistungen ohne beachtliche zeitliche Unterbrechung gewährt wurden.
50Zu Beginn der Hilfe am 5. April 2013 stand keinem der Elternteile das Sorgerecht zu. Der zuvor allein sorgeberechtigten Kindsmutter war das Sorgerecht für die Hilfeempfängerin mit Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Q. vom 3. April 2013 entzogen worden. Die Eltern der Hilfeempfängerin hatten zudem bereits seit ihrer Geburt durchgängig verschiedene gewöhnliche Aufenthalte (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I).
51Vor Beginn der Leistung am 5. April 2013 hatte die Hilfeempfängerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt bei der Kindsmutter in Q. , so dass sich die ursprüngliche Zuständigkeit der Stadt Q. aus § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII ergab. Hierbei ist unschädlich, dass sich die Hilfeempfängerin unmittelbar vor Hilfebeginn seit dem 31. Januar 2013 in der Obhut des Jugendamtes befand. Denn bei Beginn der Hilfeleistung am 5. April 2013 waren seit der Inobhutnahme noch nicht mehr als sechs Monate vergangen, innerhalb derer die Hilfeempfängerin bei keinem der Elternteile einen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (vgl. § 86 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII).
52Die danach ursprünglich bestehende Zuständigkeit der Stadt Q. ist in der Folgezeit mit der Inhaftierung der Kindsmutter in der Justizvollzugsanstalt Y. -Z. gemäß § 86 Abs. 3 i. V. m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII auf die Beigeladene übergegangen.
53Die Regelungen in § 86 Abs. 3 i. V. m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII nehmen das Prinzip der dynamischen Zuständigkeit auf, wie es in § 86 Abs. 1 und 2 SGB VIII angelegt ist. D. h. haben die Eltern bereits zu Beginn der Leistung an den Hilfeempfänger kein Sorgerecht mehr, so richtet sich die (zur Leistung) verpflichtende Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 3 i. V. m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII nach dem jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem der Hilfeempfänger zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Das Prinzip der dynamischen Zuständigkeit führt zu einem "Mitwandern" der örtlichen Zuständigkeit mit dem gewöhnlichen Aufenthalt des nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII (statisch) bestimmten maßgeblichen Elternteils.
54Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2021 - 5 C 7.20 -, juris Rn. 16; OVG NRW, Urteil vom 4. Februar 2020 - 12 A 2643/16 -, juris Rn. 40 ff.; Lange in: Schlegel/Voelzke, a. a. O., § 86Rn. 117 m. w. N.
55Hiervon ausgehend wechselte in der Folgezeit die örtliche Zuständigkeit ab der Inhaftierung der Kindsmutter in der JVA Y. -Z. auf die Beigeladene nach § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII. Denn die Kindsmutter begründete mit der Inhaftierung einen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Stadt Y. . Nach der Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt an dem Ort, an dem sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Maßgeblich ist, dass sich die Person an einem Ort oder in einem bestimmten Gebiet bis auf Weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen hat. Kennzeichnend für den gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I ist demnach eine gewisse Verfestigung der Lebensverhältnisse an einem bestimmten Ort. Der Annahme einer derartigen Verfestigung steht grundsätzlich nicht entgegen, dass der Ort nicht zum dauernden Verbleib bestimmt ist und dem Aufenthalt die Merkmale einer selbstbestimmten, auf Dauer eingerichteten Häuslichkeit fehlen. Grundsätzlich kann auch ein Zwangsaufenthalt in einer Haftanstalt einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen.
56Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. September 2009- 5 C 18.08 -, juris Rn. 20 unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 - 1 C 25.96 -, juris; Lange in: Schlegel/Voelzke, a. a. O., § 86 Rn. 43.
57Ob die Lebensverhältnisse im Einzelfall die erforderliche Verfestigung aufweisen, ist unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse im Wege einer in die Zukunft gerichteten Prognose zu bestimmen. Dabei spielen bei der Verbüßung einer Haftstrafe neben deren Dauer auch die weiteren sozialen Umstände der Person, namentlich aufrechterhaltene familiäre Bindungen zum bisherigen gewöhnlichen Aufenthalt, eine Rolle.
58Vgl. Lange in: Schlegel/Voelzke, a. a. O., § 86 Rn. 43.
59Hiervon ausgehend hat die Mutter der Hilfeempfängerin in der JVA Y. -Z. ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Sie hatte bereits vor ihrer Inhaftierung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Q. aufgegeben und war zunächst vorübergehend für die Zeit vom 1. September 2014 bis zu ihrer Inhaftierung nach X. gezogen. Aufgrund des Verlusts der Wohnung in Q. und der Angabe einer Meldeadresse in X. spricht Maßgebliches dafür, dass sie zu dieser Zeit zunächst sämtliche Bindungen nach Q. aufgegeben hatte. Zwar plante die Kindsmutter ausweislich einer Mitteilung vom 2. April 2015 im Anschluss an ihre Inhaftierung eine Rückkehr nach Q. . Dennoch stellte sich ihr Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt mit Blick auf den vorangegangen Verlust ihrer Wohnung in Q. und der nicht absehbaren Dauer der Gesamtzeit ihrer Inhaftierung bereits zu deren Beginn als zukunftsoffen dar. So ergab sich aus einer Mitteilung der JVA Y. -Z. an die Stadt Q. vom 28. April 2015, dass die Inhaftierung im Rahmen des Strafvollzuges jedenfalls noch bis zum 26. April 2016 andauern sollte. Zudem bestanden bereits zu dieser Zeit noch weitere strafrechtliche Verurteilungen, deren Rechtskraft noch abzuwarten war und die sodann ebenfalls zu vollstreckbaren Freiheitsstrafen und somit zur Verlängerung der Dauer der Inhaftierung im Rahmen des Strafvollzuges führten. Die Kindsmutter gab ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Y. bis zu ihrer Entlassung aus der Strafhaft am 16. Mai 2017 auch nicht auf. Insbesondere erfolgte ihre Inhaftierung bis zu diesem Zeitpunkt allein auf der Grundlage einer regulären Strafhaft. Eine zunächst nach Aktenlage ab dem 26. April 2016 geplante Anschlussuntersuchungshaft wurde nicht angetreten, weil die mit dieser Untersuchungshaft im Zusammenhang stehende Verurteilung ausweislich einer telefonischen Auskunft der JVA Y. -Z. gegenüber dem erkennenden Senat vom 9. März 2023 bereits vor Ablauf der vorherigen regulären Strafhaft rechtkräftig und sodann im Rahmen der Strafhaft vollzogen wurde. Der Wechsel in die JVA Y. -T. erfolgte demnach allein aufgrund der insoweit angeordneten Inhaftierung im offenen Vollzug.
60Dem danach gemäß § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII erfolgten Übergang der Zuständigkeit (von der Stadt Q. ) auf die Beigeladene stehen die Vorschriften des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII in der Fassung des Gesetzes vom 29. August 2013 (BGBl. I S. 3464), nicht entgegen. Insbesondere ist die Zuständigkeit der Stadt Q. danach nicht als statische Zuständigkeit bestehen geblieben. Nach § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII wird der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich der personensorgeberechtigte Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Satz 2 sieht hingegen vor, dass die bisherige Zuständigkeit bestehen bleibt, solange in diesen Fällen die Personensorge beiden Elternteilen gemeinsam oder keinem Elternteil zusteht.
61Die Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII nimmt jedenfalls in der seit dem 1. Januar 2014 geltenden Fassung die Tatbestandsvoraussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII umfänglich in Bezug,
62so in Bezug auf § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt.1 SGB VIII: BVerwG, Urteil vom 21. September 2022- 5 C 5.21 -, juris Rn. 13,
63und setzt demnach - ebenso wie diese Vorschrift - voraus, dass die nichtsorgeberechtigten Eltern nach Beginn der Leistung verschiedene Aufenthalte begründen. Letzteres war hier nicht der Fall. Denn die (nichtsorgeberechtigten) Eltern der Hilfeempfängerin hatten bereits vor Beginn der Hilfeleistung und auch danach durchgehend verschiedene gewöhnliche Aufenthalte.
64Soweit in der Rechtsprechung teilweise vertreten wird, bei der 2. Fallgruppe in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII - fehlendes Sorgerecht beider Elternteile - werde lediglich auf das "Bestehen" verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Elternteile Bezug genommen, nicht hingegen auf das "Begründen" verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Leistungsbeginn,
65vgl. Bay. VGH, Urteil vom 10. Februar 2022 - 12 BV 20.217 -, juris Rn. 17 ff. unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 -, juris Rn. 22 ff.; VG München, Urteil vom 8. Juni 2022 - M 18 K 18.2485 -, juris Rn. 31,
66mit der Folge, dass die bisherige örtliche Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers dann als "statische" Zuständigkeit bestehen bleibt, wenn die Personensorge für den Hilfebedürftigen keinem Elternteil (mehr) zusteht und die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen, folgt dem der Senat jedenfalls in Bezug auf die Zuständigkeit für (auch laufende) Hilfeleistungen für die Zeit ab dem 1. Januar 2014 nicht.
67Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Februar 2020 - 12 A 2643/16 -, juris Rn. 48 ff. (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung).
68Soweit das Bundesverwaltungsgericht zu § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 SGB VIII entschieden hat, dass diese Zuständigkeitsregelung auch dann zur Anwendung kommt, wenn die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern, die bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten und nach deren Beginn zwischenzeitlich einen gemeinsamen Aufenthalt im Bereich desselben Jugendhilfeträgers (i. S. v. § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) genommen haben, erneut verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen,
69vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 2022- 5 C 5.21 -, juris Rn. 13 ff.,
70führt dies zu keiner anderen rechtlichen Bewertung. Denn es trifft die vorliegende Fallkonstellation nicht, in der die nichtsorgeberechtigten Eltern der Hilfeempfängerin bereits vor Beginn der Hilfeleistung und auch danach durchgehend verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten. Zudem hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich klargestellt, dass über die umstrittene Auslegung der Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII, die den Fall erfasst, dass keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht, im dortigen Kontext mangels Entscheidungserheblichkeit nicht zu befinden war.
71Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 2022- 5 C 5.21 -, juris Rn. 13 a. E.
72Die Inhaftierung der Kindsmutter am 31. Oktober 2014 in der JVA Y. -Z. und ab dem 27. Mai 2016 bis zu ihrer Entlassung aus dem Vollzug am 16. Mai 2017 in der JVA Y. -T. führte somit zu einem Wechsel der an den gewöhnlichen Aufenthalt der Kindsmutter anknüpfenden (dynamischen) Zuständigkeit nach § 86 Abs. 3 i. V. m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII auf die Beigeladene.
73Die Beigeladene wäre im streitgegenständlichen Zeitraum aber auch dann örtlich zuständig gewesen, wenn man den Beginn der Hilfeleistung bereits zeitlich vor dem Entzug des Sorgerechtes am 3. April 2013 sähe. Dann hätte sich die ursprüngliche örtliche Zuständigkeit der Stadt Q. bis zur Entziehung des Sorgerechts am 3. April 2013 unmittelbar aus § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ergeben und wäre in der Folgezeit ebenfalls gemäß § 86 Abs. 3 i. V. m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII auf die Beigeladene übergegangen. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen zu § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII verwiesen. Die Regelung greift nach den dargelegten Maßgaben jedenfalls für die Zeit ab dem 1. Januar 2014 auch dann ein, wenn der vollständige Verlust der Personensorgeberechtigung erst nach Hilfebeginn eintritt, die Eltern aber bereits bei Hilfebeginn und in ihrem bisherigen Verlauf durchgängig im zuständigkeitsrechtlich erheblichen Sinne verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten,
74vgl. Lange in: Schlegel/Voelzke, a. a. O., § 86 Rn. 127 und 112; Loos in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Auflage 2022, § 86 Rn. 32a; OVG NRW, Urteil vom 4. Februar 2020 - 12 A 2643/16 -, juris Rn. 45 ff., Rn. 58 ff.,
75wie es hier der Fall war. Daher hatte der Senat keine Veranlassung, die näheren tatsächlichen Umstände einer - in dem familiengerichtlichen Beschluss vom 3. April 2013 (xxx/13) angedeuteten bzw. angesprochenen - Gewährung von Jugendhilfeleistungen vor dem Zeitpunkt des Sorgerechtsentzugs aufzuklären.
762. Die Beigeladene als der nach § 89a Abs. 1 SGB VIII kostenerstattungspflichtig werdende örtliche Träger hat gegen den Beklagten während der Gewährung einer Leistung einen (zumindest fiktiven) Kostenerstattungsanspruch.
77Die nach den vorstehenden Ausführungen im streitgegenständlichen Zeitraum grundsätzlich gemäß § 89a Abs. 1 SGB VIII erstattungspflichtige Beigeladene hatte vor dem Wechsel der Zuständigkeit auf den Kläger gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII am 5. April 2015 seit dem Zeitpunkt der Inhaftierung der Mutter der Hilfeempfängerin am 31. Oktober 2014 unstreitig selbst einen Anspruch auf Kostenerstattung gegenüber dem Beklagten als überörtlichem Träger (vgl. § 89a Abs. 2 SGB VIII). Der Beklagte hat mit Schreiben vom 23. August 2017 gegenüber der Beigeladenen seine Verpflichtung zur Kostenerstattung für diesen Zeitraum anerkannt.
78Dieser Kostenerstattungsanspruch der Beigeladenen ergab sich aus § 89e Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 SGB VIII. Nach § 89e Abs. 1 SGB VIII ist, wenn sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern, eines Elternteils, des Kindes oder des Jugendlichen richtet und dieser in einer Einrichtung, einer anderen Familie oder sonstigen Wohnform begründet worden ist, die der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug dient, der örtliche Träger zur Erstattung der Kosten verpflichtet, in dessen Bereich die Person vor der Aufnahme in eine Einrichtung, eine andere Familie oder sonstige Wohnform den gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Ist ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger nach Absatz 1 nicht vorhanden, so sind die Kosten gemäß § 89e Abs. 2 SGB VIII von dem überörtlichen Träger zu erstatten, zu dessen Bereich der erstattungsberechtigte örtliche Träger gehört.
79Die hiernach maßgeblichen Voraussetzungen für einen Anspruch der Beigeladenen gegen den Beklagten waren erfüllt.
80Die Kindsmutter als für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit für die Hilfeleistung maßgebliche Person hatte - wie vorstehend ausgeführt - ab dem 31. Oktober 2014 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einer Justizvollzugsanstalt und damit in einer Einrichtung im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII begründet.
81Vgl. zum Einrichtungsbegriff: Loos in: Wiesner/Wapler, a. a. O., § 89e Rn. 7.
82Ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger war hier nicht vorhanden. Denn vor der Aufnahme in die Justizvollzugsanstalt hatte die Mutter der Hilfeempfängerin keinen gewöhnlichen Aufenthalt.
83Für die Beantwortung der Frage, ob und ggf. wo im Sinne des § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII "vor der Aufnahme" ein gewöhnlicher Aufenthalt bestanden hat, kommt es auf die Gegebenheiten unmittelbar vor der Aufnahme an.
84Vgl. Schweigler in: BeckOGK, SGB VIII, Stand 1. März 2023, § 89e Rn. 18.
85Unmittelbar vor ihrer Inhaftierung am 31. Oktober 2014 hatte die Kindsmutter keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, so dass ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII nicht vorhanden war und die Kosten vom überörtlichen Träger, dem Beklagten, gemäß § 89e Abs. 2 SGB VIII zu erstatten waren. Die letztgenannte Regelung greift insbesondere in den Fällen, in denen die maßgebliche Person ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt schon aufgegeben hatte und nur ein tatsächlicher Aufenthalt bestand, bevor ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt in einer geschützten Einrichtung, anderen Familie oder sonstigen Wohnform begründet wurde.
86Vgl. Streichsbier in: Schlegel/Voelzke, a. a. O., § 89e SGB VIII Rn. 16, m. H. a. BVerwG, Urteil vom 29. September 2010 - 5 C 21.09 -, juris Rn. 20.
87Das war mit Blick auf die Mutter der Hilfeempfängerin hier der Fall. Denn in der Zeit vor ihrer Inhaftierung hatte die Kindsmutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Q. nach den vorstehenden Ausführungen unter Ziffer 1. zum 1. September 2014 aufgegeben. Zwar meldete sie am selben Tag in der Stadt X. einen Wohnsitz an. Dort begründete sie jedoch keinen gewöhnlichen Aufenthalt nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, sondern allenfalls einen tatsächlichen Aufenthalt. Die Umstände der Aufenthaltnahme zeigen, dass sie in X. keinen gefestigten Aufenthalt begründete. So gab sie selbst an, sie habe lediglich eine Meldeadresse gebraucht. Zudem wurde sie bereits kurz nach ihrer förmlichen Meldung verhaftet und schon am 20. September 2014 wieder von Amts wegen abgemeldet.
88Die Beigeladene als nach § 89a Abs. 1 SGB VIII kostenerstattungspflichtig werdender örtlicher Träger hätte zudem ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII auch im streitgegenständlichen Zeitraum vom 5. April 2015 bis zum 16. Mai 2017 einen (fiktiven) Kostenerstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten, so dass dieser nach § 89a Abs. 2 SGB VIII auch dem Kläger als nunmehr nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig gewordenem örtlichen Träger kostenerstattungspflichtig bleibt (vgl. § 89a Abs. 2 SGB VIII).
89Dem steht der Wortlaut des § 89e Abs. 1 SGB VIII, der für das Bestehen eines Erstattungsanspruchs an den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern, eines Elternteils, des Kindes oder des Jugendlichen in einer Einrichtung anknüpft, nicht jedoch an den gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson, in den Fällen der Prüfung eines Durchgriffsanspruchs nach § 89a Abs. 2 SGB VIII - wie hier - nicht entgegen. Denn um die nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson zu bestimmende Zuständigkeit für den Hilfefall geht es im vorliegenden Fall im Rahmen der Prüfung einer Kostenerstattungspflicht nach § 89a Abs. 2 SGB VIII nicht. In Frage steht vielmehr die hypothetische (fiktive) Bestimmung des ohne die Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII vormals und je nach Fallgestaltung auch weiterhin zuständigen (und damit grundsätzlich erstattungspflichtigen) örtlichen Trägers. Die Formulierung "hätte" in § 89a Abs. 2 SGB VIII zeigt, dass für das (Fort-)Bestehen eines Kostenerstattungsanspruchs darauf abzustellen ist, ob der nach § 89a Abs. 1 SGB VIII erstattungspflichtig werdende Träger unter Außerachtlassen des Zuständigkeitswechsels nach § 86 Abs. 6 SGB VIII einen fiktiven Erstattungsanspruch gegen einen anderen örtlichen oder den überörtlichen Träger hätte.
90Vgl. Bohnert in: Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 1. EL 2023, § 89a Rn. 7, Schweigler in: BeckOGK, a. a. O., § 89e Rn. 7.
91Im Zusammenhang hiermit deutet auch die Formulierung "bleibt" in der Rechtsfolge des § 89a Abs. 2 SGB VIII darauf hin, dass es für das Fortbestehen von Kostenerstattungsansprüchen - die § 89a Abs. 2 SGB VIII gerade erfasst - auf den Zuständigkeitsübergang nach § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht ankommen soll.
92Vgl. in diesem Sinne Schl.-H. OVG, Urteil vom 28. März 2001 - 2 L 68/01 -, juris Rn. 41; Kunkel/Pattar in: Kunkel/Kepert/Pattar, a. a. O., § 89e Rn. 3 f.
93Anderes folgt nicht aus dem Vorbringen des Beklagten, eine fiktive Prüfung der Zuständigkeit nach § 89a SGB VIII komme nur dann in Betracht, wenn sich ein Kind bereits zwei Jahre in einer anderen Familie ohne Jugendhilfegewährung aufhalte und die örtliche Zuständigkeit gleich mit der Anknüpfung an § 86 Abs. 6 SGB VIII beginne. Hier gehe es demzufolge um die Prüfung einer realen Zuständigkeit, wobei § 89a Abs. 2 SGB VIII einen bestehenden Erstattungsanspruch voraussetze, den die Beigeladene im Zeitpunkt der Zuständigkeitsbegründung des Klägers nicht mehr gehabt habe. Die so vorgenommene Auslegung des § 89a Abs. 2 SGB VIII hat nach den vorstehenden Ausführungen in der vom Beklagten angenommenen Ausschließlichkeit keine Grundlage.
94Dafür, dass es für die Frage der Kostenerstattungspflicht nach § 89a Abs. 2 SGB VIII ebenso wie in § 89a Abs. 1 und Abs. 3 SGB VIII auf eine (fiktive) Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII ankommt, spricht auch die Gesamtsystematik des § 89a SGB VIII. Denn sowohl § 89a Abs. 1 SGB VIII als auch dessen Abs. 3 stellen für das Anknüpfen der Kostenerstattungspflicht ausdrücklich auf die fiktive Situation der Zuständigkeit ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII ab. Dass der Gesetzgeber in § 89a Abs. 2 SGB abweichend von in § 89a Abs. 1 und Abs. 3 SGB VIII einen anderen Anknüpfungspunkt wählen wollte, ist nicht erkennbar und ergibt sich aus dem Wortlaut der Norm gerade nicht.
95Der Senat hält auch nicht für einsichtig, einen Durchgriffsanspruch nach § 89a Abs. 2 i. V. m. § 89e SGB VIII zu verneinen, wenn der Pflegestellenort und der Einrichtungsort bereits im Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs nach § 86 Abs. 6 SGB VIII auseinanderfallen (wie vorliegend), andererseits aber einen solchen Anspruch zu bejahen, wenn das Auseinanderfallen dieser Orte erst nach dem Zuständigkeitsübergang einträte. In dieser hypothetischen Abwandlung hätte dem Kläger nämlich ein Durchgriffsanspruch gegen den Beklagten in analoger Anwendung des § 89a Abs. 2 SGB VIII zugestanden. Denn der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist im Wege der Analogie auf die Fälle zu erstrecken, in denen dem nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig gewordenen örtlichen Träger gegen einen anderen örtlichen Träger ein Kostenerstattungsanspruch nach § 89a Abs. 3 SGB VIII zusteht.
96Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 25.12 -, juris Rn. 28; Bay. VGH, Beschluss vom 30. Januar 2017 - 12 ZB 14.1839 -, juris Rn. 15.
97Die letztgenannte Vorschrift griffe ein, wenn der Zuständigkeitsübergang auf den Kläger nach § 86 Abs. 6 SGB VIII schon vor dem Haftantritt der Kindsmutter in X. eingetreten wäre. Dass das Bestehen oder Nichtbestehen des Durchgriffsanspruchs nach § 89a Abs. 2 SGB VIII von einer solchen eher zufallsgeprägten Abweichung abhängen sollte, widerspräche dem Sinn und Zweck der Vorschrift und ihrer systematischen Einbettung.
98Darüber hinaus entspricht allein die vorliegende Auslegung des § 89a Abs. 2 SGB VIII dem Sinn und Zweck der Regelung des § 89e SGB VIII. Dieser bezweckt den "Schutz der Einrichtungsorte" und will verhindern, dass kommunale Gebietskörperschaften, in deren Einzugsbereich sich Einrichtungen befinden, in denen Kinder, Jugendliche oder ihre Eltern einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen, im Verhältnis zu kommunalen Gebietskörperschaften ohne eine solche Infrastruktur überproportional finanziell belastet werden.
99Vgl. die Begründung des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch, BT-Drucks. 12/2866, S. 25 zu § 89e SGB VIII; BVerwG, Urteile vom 22. November 2001 - 5 C 42.01 -, juris Rn. 15, und vom 13. Dezember 2012 - 5 C 25.11 -, juris Rn. 35.
100Dieser Schutz der Einrichtungsorte soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf Erstattungsebene durch § 89e SGB VIII lückenlos gewährleistet werden. Danach ist der Schutz der Einrichtungsorte ausnahmslos zu gewährleisten: entweder im Rahmen der Regelungen über die örtliche Zuständigkeit oder durch Komplettierung der an Ortsnähe und Effektivität der Jugendhilfe orientierten Zuständigkeitsnorm durch eine den Schutz der Einrichtungsorte sichernde Erstattungsnorm.
101Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2001- 5 C 42.01, juris Rn. 15.
102Daher ist nach dem Sinn und Zweck des § 89e SGB VIII im systematischen Kontext mit § 89a Abs. 2 SGB VIII aufgrund des dort geregelten Fortbestandes eines Erstattungsanspruchs des sodann Erstattungspflichtigen der Schutz der Einrichtungsorte weiter zu gewährleisten. Im Ergebnis wird hierdurch der Schutz der Pflegestellenorte mit dem Schutz der Einrichtungsorte kombiniert.
103Nach alledem ist § 89e SGB VIII in der vorliegenden Fallkonstellation über die Regelung des § 89a Abs. 2 SGB VIII direkt anwendbar. Einer analogen Anwendung des § 89e Abs. 1 SGB VIII bedarf es daher schon nicht.
104Vgl. hierzu ablehnend: VG Ansbach, Gerichtsbescheide vom 29. Mai 1998 - AN 26 K 97.02603 -, juris Rn. 45, und vom 28. Mai 2007 - AN 14 K 04.01026 -, juris Rn. 35; VG Aachen, Urteil vom 31. März 2015 - 1 K 1643/13 -, juris, jedoch im Falle einer Trägeridentität; Wiesner, a. a. O. § 89e Rn. 2; zum Meinungsstand insgesamt: Kunkel/Pattar, a. a. O., § 89e Rn. 3 f.
105Soweit der Senat die Anwendbarkeit von § 89e SGB VIII in den Fällen des § 86 Abs. 6 SGB VIII ausgeschlossen hat,
106vgl. Urteile vom 27. Februar 2012 - 12 A 2478/11 -, juris Rn. 51 ff., vom 3. September 2012 - 12 A 1571/12 -, juris Rn. 51, und Beschluss vom 23. Februar 2016 - 12 A 961/15 -, juris Rn. 4 f.,
107lag den Entscheidungen jeweils die (von dem vorliegenden Sachverhalt abweichende) Sachverhaltskonstellation einer Trägeridentität nach einem Zuständigkeitswechsel gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII zugrunde. In den dortigen Fällen war der zuvor zuständige Träger für die Hilfeleistung auch nach dem Wechsel aufgrund § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig geblieben, weil sich der Ort der Pflegestelle ebenfalls in seinem Zuständigkeitsbereich befand. Der Senat hat in diesen Fällen das Vorliegen eines direkten Kostenerstattungsanspruchs nach § 89e SGB VIII geprüft und verneint, nachdem er das Bestehen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 89a SGB VIII bereits mangels Kostenerstattungsverhältnisses nach § 89a Abs. 1 SGB VIII zu einem anderen Träger abgelehnt hatte. Eine solche Konstellation ist vorliegend nicht gegeben.
108Darüber hinaus greift auch das Vorbringen des Beklagten, die Beigeladene habe selbst nie eine Leistung erbracht, so dass ein Erstattungsanspruch dieser gegen den Beklagten bereits aus diesem Grunde nie bestanden habe, nicht durch. Denn der in § 89a Abs. 2 SGB VIII in Bezug genommene Kostenerstattungsanspruch bezieht sich auch auf nicht selbst erbrachte Leistungen, für welche jedoch Erstattungspflichten begründet wurden.
109Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. September 2009 - 5 C 18.08 -, juris Rn. 30.; Loos in: Wiesner/Wapler, a. a. O., § 89 Rn. 2a.
110Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.
111Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre gesetzliche Grundlage in § 167 Abs. 2 und Abs. 1 VwGO und § 708 Nr. 10 ZPO i. V. m. § 711 Satz 1 und 2 ZPO.
112Die Revision ist gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil der im Rahmen des § 89a Abs. 2 SGB VIII aufgeworfenen Frage, ob ein Erstattungsanspruch aus § 89e SGB VIII nach einem auf § 86 Abs. 6 SGB VIII beruhenden Wechsel der Zuständigkeit fortbesteht, grundsätzliche Bedeutung zukommt.