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Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
G r ü n d e :
2Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3I. Die erhobene Divergenzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) greift nicht durch.
41. Mit der Benennung der Entscheidungen des beschließenden Oberverwaltungsgerichts vom 15. Juli 2022 - 11 A 1138/21.A -, vom 26. Juli 2022 - 11 A 1497/21.A - und vom 16. Dezember 2022 - 11 A 1702/22.A -, von deren dort jeweils zugrunde gelegtem Tatsachensatz die Vorinstanz in dem angefochtenen Urteil abgewichen sein soll, mag die Beklagte einem der Erfordernisse des Darlegens einer Divergenzrüge Genüge getan haben.
5Vgl. hierzu etwa BVerwG, Beschluss vom 4. November 1991 - 7 B 53.91 -, NVwZ 1992, 661 = juris, Rn. 9.
62. Bei Tatsachenfragen kommt eine Divergenzzulassung jedoch nicht in Betracht, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht nur unwesentlich geändert haben. Insbesondere im Bereich von Tatsachenfragen ist nämlich zu berücksichtigen, dass die Verbindlichkeit einer grundsätzlichen Aussage unter dem Vorbehalt der Änderung der Sachlage steht, der Grundsatz also Geltung nur für die ihm zugrunde gelegte tatsächliche Erkenntnislage beansprucht.
7Vgl. OVG S.-A., Beschluss vom 29. März 2017 - 3 L 249/16 -, juris, Rn. 8, m. w. N.; Hess. VGH, Beschluss vom 19. Juli 2000 - 5 UZ 2128/96.A -, juris, Rn. 4, m. w. N.
8So liegt es in Bezug auf die von der Beklagten behauptete Abweichung der ersten Instanz von dem in den angeführten Divergenzentscheidungen getroffenen Tatsachensatz. In diesen Entscheidungen ging der beschließende Senat davon aus, dass im Rahmen des Dublinverfahrens nach Italien Zurückkehrende, die dort zuvor noch keinen Asylantrag gestellt hätten, eine Unterkunft und Versorgung erreichen könnten.
9Ausgehend von den vom Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung getroffenen Sachverhaltsfeststellungen kann es auf diesen Tatsachensatz nicht ankommen. Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf die Informationsschreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. und 7. Dezember 2022 und verschiedene Presseartikel ausgeführt, Italien nehme seit dem 5. Dezember 2022 bis auf Weiteres keine Dublin-Rückkehrenden mehr auf. Nimmt Italien aber entsprechend den Feststellungen des Verwaltungsgerichts keine Dublin-Rückkehrenden mehr auf, können sie dort denknotwendig auch weder eine Unterbringung noch eine Versorgung erreichen.
10II. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) wird nicht entsprechend den gesetzlichen Erfordernissen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG dargelegt.
11Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung muss eine tatsächliche oder rechtliche Frage aufgeworfen werden, die entscheidungserheblich ist und über den Einzelfall hinaus im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Fortentwicklung des Rechts einer Klärung bedarf.
12Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 ff. = juris, Rn. 16 (zu § 32 Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG a. F.), und Beschlüsse vom 2. Oktober 1984 - 1 B 114.84 -, InfAuslR 1985, 130 f., sowie vom 19. Juli 2011 - 10 B 10.11, 10 PKH 4.11 -, juris, Rn. 3.
13Ein auf die grundsätzliche Bedeutung gestützter Zulassungsantrag genügt nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, wenn in ihm lediglich die Behauptung aufgestellt wird, die für die Beurteilung maßgeblichen Verhältnisse stellten sich anders dar, als vom Verwaltungsgericht angenommen. Es ist vielmehr im Einzelnen darzulegen,
14vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. März 1993 - 3 B 105.92 -, NJW 1993, 2825 f. = juris, Rn. 3 (zu § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO),
15welche Anhaltspunkte für eine andere Tatsacheneinschätzung bestehen. Es ist Sache des die Berufungszulassung beantragenden Beteiligten, die Gründe, aus denen nach seiner Ansicht die Berufung zuzulassen ist, darzulegen und in rechtlicher sowie tatsächlicher Hinsicht zu erläutern. Hierzu genügt es nicht, bloße Zweifel an den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im Hinblick auf politische, soziale oder gesellschaftliche Gegebenheiten im Zielstaat der angeordneten Abschiebung zu äußern oder schlicht gegenteilige Behauptungen aufzustellen. Vielmehr ist es erforderlich, durch die Benennung bestimmter begründeter Informationen, Auskünfte, Presseberichte oder sonstiger Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Behauptungen in der Antragsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich dann stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf. Hat das Verwaltungsgericht Feststellungen zu einer Tatsachenfrage mit von ihm benannten Erkenntnisquellen begründet, muss zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit eine fallbezogene Auseinandersetzung mit diesen Erkenntnisquellen erfolgen. Dies kann durch eine eigenständige Bewertung der bereits vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismittel geschehen, oder auch durch Berufung auf weitere, neue oder von dem Verwaltungsgericht nicht berücksichtigte Erkenntnismittel.
16Vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 20. April 2018 - 11 A 884/18.A -, juris, Rn. 12, und vom 5. Mai 2004 - 11 A 1748/04.A -, juris, Rn. 4, m. w. N.
17Diesen Anforderungen wird das Zulassungsverfahren mit Blick auf die von der Beklagten aufgeworfenen Fragen,
18„ob die mit Schreiben vom 05.12. und 07.12.2022 durch die italienischen Behörden mitgeteilte Aussetzung der Überstellungen als „temporary suspense“ zu einem systemischen Mangel im italienischen Asylverfahren führt, mit der Folge, dass sich auch für Dublin-Rückkehrer, die noch keinen Asylantrag in Italien gestellt haben (Eurodac 2 Treffer) die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO ergibt,
19oder
20ob es sich bei den derzeitigen Überstellungsaussetzungen nur um vorübergehende die grundsätzliche Aufnahmebereitschaft und das Aufnahmevermögen Italiens nicht beeinträchtigende Maßnahmen handelt, die zu keiner Verletzung der Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh führen,
21und
22ob eine Überstellung der Antragsteller innerhalb eines zumutbaren Zeitrahmens als gesichert angesehen werden kann“,
23nicht gerecht.
241. Die Beklagte rügt unter Bezugnahme auf dieselben Erkenntnisse, die das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, nämlich die Informationsschreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. und 7. Dezember 2022, allein die rechtliche und tatsächliche Bewertung durch das Verwaltungsgericht, ohne aber andere oder weitere Tatsachen oder Auskünfte zu benennen, die zu einer anderen als der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Bewertung führen könnten oder müssten.
252. Der Hinweis der Beklagten auf Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Regensburg, München, Augsburg, Göttingen und Gießen, die diese Erkenntnismittel einer anderen Bewertung als das Verwaltungsgericht zugeführt haben, führt auch nicht zur Zulassung der Berufung. Eine Zulassung kommt nur dann in Betracht, wenn konkrete Anhaltspunkte benannt werden, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen im Hinblick auf abweichende Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Eine grundsätzliche Klärung von Tatsachenfragen kann dabei - abgesehen vom hier nicht vorliegenden Fall des § 78 Abs. 8 AsylG i. d. F. des Gesetzes zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2817) - aber immer nur durch das jeweilige Obergericht für seinen Bezirk erfolgen,
26vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. Januar 2020 ‑ 11 A 4558/19.A -, juris, Rn. 21 ff., m. w. N.,
27sodass es auf die abweichende Beurteilung der entscheidungserheblichen Umstände durch Gerichte außerhalb des Gerichtsbezirks des beschließenden Oberverwaltungsgerichts nicht ankommt.
283. Soweit die Beklagte auf eine abweichende Würdigung der entscheidungserheblichen Umstände durch die Verwaltungsgerichte Köln und Aachen hinweist, hat sie nicht dargelegt, dass die von ihr aufgeworfenen Tatsachenfragen aus Gründen der einheitlichen Rechtsprechung einer Klärung durch das angerufene Oberverwaltungsgericht bedürften.
29a. Denn die von der Beklagten benannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Köln vom 5. Januar 2023 - 11 L 23/23.A -, juris, und vom 25. Januar 2023 ‑ 11 L 2067/22.A - sowie des Verwaltungsgerichts Aachen vom 24. Januar 2023 ‑ 9 L 34/23.A -, juris, sind nicht mit Blick auf die der angegriffenen Entscheidung entscheidungstragend zugrunde liegenden Tatsachen zu einem anderen Ergebnis gelangt. Diese Entscheidungen betreffen jeweils Anträge auf Abänderung von auf der Grundlage des § 80 Abs. 5 VwGO ergangenen ablehnenden Beschlüssen nach § 80 Abs. 7 VwGO. Die Entscheidungen vom 5. Januar 2023 - 11 L 23/23.A ‑ und vom 24. Januar 2023 - 9 L 34/23.A - enthalten zwar von der angegriffenen Entscheidung abweichende Ausführungen zu den Informationsschreiben der italienischen Behörden vom 5. und 7. Dezember 2022, diese haben aber nicht entscheidungstragend zur Ablehnung der Anträge geführt, was aber Voraussetzung für die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Klärung aus Gründen einer einheitlichen Tatsachenbewertung durch das beschließende Gericht wäre. Vielmehr sind die Anträge in diesen Verfahren jeweils entscheidungstragend mit der Begründung abgelehnt worden, die Voraussetzungen für eine Abänderung des jeweiligen Ausgangsbeschlusses lägen nicht vor, weil die Mitteilungen der italienischen Behörden in den Informationsschreiben bereits im Erstverfahren Berücksichtigung gefunden hätten. In der Entscheidung vom 25. Januar 2023 - 11 L 2067/22.A - wird die „im Dezember 2022 seitens der italienischen Behörden verfügte Aussetzung der Wideraufnahme von sog. Dublin-Rückkehrern“ lediglich erwähnt, inhaltliche Ausführungen hierzu finden sich aber nicht, sodass auch insoweit keine Veranlassung besteht, die Berufung aus Gründen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zuzulassen. Diese Entscheidung beruht zudem auf einer „summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage“ (BA, S. 2) und ist damit nicht geeignet, eine grundsätzliche Bedeutung wegen abweichender Würdigung der entscheidungserheblichen Umstände innerhalb des Gerichtsbezirks zu begründen.
30Vgl. Seibert, in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 168 zur fehlenden Divergenzeignung derartiger Eilentscheidungen.
31b. Der von der Beklagten weiter angeführte Beschluss des Verwaltungsgerichts Aachen vom 18. Januar 2023 - 9 L 21/23.A - würdigt die Informationsschreiben der italienischen Behörden zwar ebenfalls anders als das Verwaltungsgericht Arnsberg in dem angefochtenen Urteil. Diese Entscheidung betrifft aber ein Verfahren, in dem die italienischen Behörden mit Schreiben vom 6. Dezember 2022 bereits „ausdrücklich die Zustimmung zur Übernahme der Antragstellerin erklärt“ hatten, sodass es auf die abweichende Würdigung der angeführten Informationsschreiben durch das Verwaltungsgericht Aachen jedenfalls nicht entscheidungstragend ankam.
32c. Zudem sind diese von der Beklagten angeführten Entscheidungen sämtlich bereits im Januar 2023 getroffen worden, also zu einem Zeitpunkt, als seit den Informationsschreiben der italienischen Behörden erst vier bis sechs Wochen vergangen waren. Inzwischen sind Dublin-Rücküberstellungen nach Italien aber seit mehr als drei Monaten ausgesetzt, ohne dass absehbar ist oder von den italienischen Behörden auch nur angedeutet worden wäre, wann und ob Dublin-Rückkehrende wieder aufgenommen werden.
33Vgl. hierzu auch VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28. Februar 2023 - 1a L 180/23.A -, juris, Rn. 6 ff., insbes. Rn. 8.
344. Soweit sich die Beklagte den Auffassungen der von ihr aufgeführten Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte anschließt und ausführt, aus den Mitteilungen der italienischen Behörden vom 5. und 7. Dezember 2022 folge - entgegen den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Arnsberg - keine fehlende Aufnahmebereitschaft Italiens, legt sie ebenfalls nicht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dar. Denn der Senat überprüft weder im Rahmen dieser von der Beklagten erhobenen Grundsatzrüge die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung noch wird damit ein sonst im Asylverfahrensrecht vorgesehener Zulassungsgrund (vgl. § 78 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 AsylG) angesprochen; der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung ist dem Asylverfahrensrecht vielmehr fremd.
355. Im Übrigen besteht auch deshalb keine Veranlassung zur Klärung der von der Beklagten aufgeworfenen Fragen in einem Berufungsverfahren, weil angesichts der von ihr im Zulassungsantrag selbst mitgeteilten Umstände, die italienischen Behörden hätten hinsichtlich des Klägers eine „zweite Fristhemmung nicht akzeptiert und mit Schreiben vom 16.01.2023 auf den Ablauf der Überstellungsfrist am 04.05.2023 hingewiesen“, jedenfalls von einer mangelnden Bereitschaft Italiens zur Wiederaufnahme des Klägers auszugehen ist. Denn diese Mitteilungen seitens der italienischen Behörden erfolgten, nachdem die Beklagte diesen mitgeteilt hatte, dass das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 6. Januar 2023 unter Abänderung des Beschlusses vom 4. November 2022 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid angeordnet hatte und damit in Kenntnis, dass eine Überstellung bis zum 4. Mai 2023 schon aus rechtlichen Gründen nicht möglich sein dürfte.
36Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.
37Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
38Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).