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Ob ein Nachbar im Hinblick auf die von seinem Betrieb ausgehenden Immissionen eine hinzutretende Wohnnutzung hinzunehmen hat, ist keine Frage der Bestimmtheit der diesbezüglichen Baugenehmigung sondern des Rücksichtnahmegebots.
Eine Rücksichtslosigkeit hinzutretender Bebauung gegenüber einem emittierenden Betrieb kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn ihr nur ein geringeres Maß an Immissionen zumutbar ist, als bisher von dem Betrieb ausgehen durften. Gelten dagegen für den Betrieb und die hinzutretende Bebauung dieselben Immissionsrichtwerte, etwa weil sie sich im selben Gebiet im Sinne der Baunutzungsverordnung befinden, sind ihr die Immissionen grundsätzlich zumutbar.
Die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, wonach in dem Fall, in dem der Außenbetrieb einer gemischten Gaststätte bis auf wenige Meter an den Ruhebereich der Wohngrundstücke eines angrenzenden reinen oder allgemeinen Wohngebiets heranreicht, eine Einzelfallbetrachtung mit - gemessen an den Richtwerten der TA Lärm - strengerer Beurteilung geboten sein kann, sind in Misch- und Kerngebieten grundsätzlich nicht heranzuziehen.
Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 7.500 Euro festgesetzt.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
2Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der am 22. Dezember 2022 erhobenen Klage 4 K 8859/22 gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 26. Oktober 2022 (Az. 63/22-BA-1877/21, nachfolgend: Baugenehmigung) für die Errichtung eines Gebäudes mit Bürofläche im Erdgeschoss und 14 Wohneinheiten in den Obergeschossen auf dem Grundstück O.-straße 2a, 2b in L. (nachfolgend: Vorhaben) angeordnet. Die angegriffene Baugenehmigung sei aller Voraussicht nach hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Belange rechtswidrig. Sie sei in nachbarrechtswidriger Weise unbestimmt. Darüber hinaus sei das Vorhaben als heranrückende Wohnbebauung gegenüber dem in dem denkmalgeschützten ehemaligen Empfangsgebäude des Bahnhofs J. auf dem Grundstück des Antragstellers (nachfolgend: Y.) befindlichen Gaststättenbetrieb (nachfolgend: Gaststätte) rücksichtslos. Es sei zu befürchten, dass das Vorhaben unzumutbaren Lärmimmissionen durch die Gaststätte ausgesetzt sein werde, weshalb ihr durch das Vorhaben zusätzliche immissionsschutzrechtliche Auflagen drohten.
3Die von der Beigeladenen innerhalb der Beschwerdefrist dargelegten Gründe führen zur Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Die nach §§ 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zulasten des Antragstellers aus, weil die Baugenehmigung ihn voraussichtlich nicht in seinen Rechten verletzt. Die mit der Beschwerde geltend gemachten Einwände gegen die Annahmen des Verwaltungsgerichts, die Baugenehmigung sei unbestimmt sowie das Vorhaben gegenüber der Gaststätte rücksichtslos, greifen durch (I.). Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Überprüfung ist auch ansonsten nicht ersichtlich, dass die Baugenehmigung Rechte des Antragstellers verletzt (II.). Auch die folgenorientierte Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus (III.).
4I. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich, dass die Baugenehmigung weder unbestimmt (1.) noch das Vorhaben gegenüber der Gaststätte rücksichtslos ist (2.).
51. Eine Baugenehmigung muss inhaltlich bestimmt sein. Sie muss Inhalt, Reichweite und Umfang der genehmigten Nutzung eindeutig erkennen lassen, damit der Bauherr die Bandbreite der für ihn legalen Nutzungen und Drittbetroffene das Maß der für sie aus der Baugenehmigung folgenden Betroffenheit zweifelsfrei feststellen können.
6Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2020 - 10 B 944/20 -, juris Rn. 11, m. w. N.
7Hiervon ausgehend ist der streitgegenständlichen Baugenehmigung zur Errichtung eines Gebäudes mit Bürofläche im Erdgeschoss und 14 Wohneinheiten in den Obergeschossen hinreichend vollständig, klar und unzweideutig zu entnehmen, welche Regelungen sie trifft. Es ist auch für den Antragsteller als Nachbarn zweifelsfrei erkennbar, welche Nutzungen des Grundstücks der Beigeladenen sie ermöglicht. Dem steht nicht entgegen, dass die von der Gaststätte des Antragstellers ausgehenden Immissionen in der Baugenehmigung keine Berücksichtigung gefunden haben. Dies war für deren Bestimmtheit schon deshalb nicht erforderlich, weil es sich bei dem Vorhaben nicht um einen emittierenden Betrieb handelt, sondern um ein Wohn- und Geschäftshaus. Immissionen gehen hier allein von der benachbarten Gaststätte aus, in deren Baugenehmigung sich im Übrigen entsprechende Nebenbestimmungen finden. Ob ein Nachbar im Hinblick auf die von seinem Betrieb ausgehenden Immissionen eine hinzutretende Wohnnutzung hinzunehmen hat, ist keine Frage der Bestimmtheit der diesbezüglichen Baugenehmigung, sondern des Rücksichtnahmegebots.
82. Das Vorhaben ist auch nicht als heranrückende Wohnbebauung gegenüber der Gaststätte rücksichtslos.
9Eine heranrückende Wohnbebauung bzw. eine sonstige heranrückende immissionsempfindliche Nutzung verletzt gegenüber einem bestehenden emittierenden Betrieb das Gebot der Rücksichtnahme, wenn ihr Hinzutreten die rechtlichen immissionsbezogenen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, im Vergleich zu der vorher gegebenen Lage verschlechtert. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Betrieb aufgrund der hinzutretenden Bebauung mit nachträglichen immissionsschutzrechtlichen Auflagen rechnen muss.
10Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 11. Oktober 2022 -15 ZB 22.867 -, juris Rn. 25; OVG S.-A., Urteil vom 12. August 2021 - 2 K 129/19 -, juris Rn. 59; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19. Juni 2020 - 2 A 211/17 -, juris Rn. 98, jeweils m. w. N.
11Das Maß der danach gebotenen Rücksichtnahme und die Zumutbarkeit von Umwelteinwirkungen für den Nachbarn werden grundsätzlich allgemein durch das Bundesimmissionsschutzgesetz mit Wirkung auch für das Baurecht bestimmt. Nach § 3 Abs. 1 BImschG sind schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne dieses Gesetzes Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Lärmemissionen, die von einer gewerblichen Nutzung ausgehen bzw. solche, die auf das genehmigte Vorhaben einwirken, sind anhand der auf der Grundlage des § 48 BImSchG ergangenen Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) vom 26. August 1998, zuletzt geändert durch Verwaltungsvorschrift vom 1. Juni 2017 (BAnz AT 08.06.2017 B5), zu bewerten. Der TA Lärm kommt, soweit sie für Geräusche den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Umwelteinwirkungen gemäß § 3 Abs. 1 BImSchG konkretisiert, eine auch im gerichtlichen Verfahren zu beachtende Bindungswirkung zu.
12Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Juni 2020 - 2 A 211/17 -, juris Rn. 102 ff., m. w. N.
13Der emittierende Betrieb muss nur dann mit nachträglichen immissionsschutzrechtlichen Auflagen rechnen, wenn der hinzutretenden Bebauung nur ein geringeres Maß an Immissionen zumutbar ist, als bisher von ihm ausgehen durften. Dies setzt in aller Regel voraus, dass für beide unterschiedliche Immissionsrichtwerte gelten, es also dazu kommen kann, dass die für die hinzutretende Bebauung geltenden Immissionsrichtwerte überschritten werden, während der emittierende Betrieb die für ihn geltenden Werte einhält. Gelten dagegen für den Betrieb und die hinzutretende Bebauung dieselben Immissionsrichtwerte, etwa weil sie sich im selben Gebiet im Sinne der Baunutzungsverordnung befinden, sind der hinzutretenden Bebauung die Immissionen grundsätzlich zumutbar. Überschreitet der Betrieb die Immissionsrichtwerte der TA Lärm und verstößt er damit ggf. auch gegen entsprechende Nebenbestimmungen seiner Bau- oder Betriebsgenehmigung, drohen ihm zwar möglicherweise Beschränkungen, jedoch nicht aufgrund der hinzutretenden Bebauung.
14Hiervon ausgehend drohen der Gaststätte keine nachträglichen immissionsschutzrechtlichen Auflagen durch das Vorhaben.
15Die Gaststätte und das Vorhaben befinden sich im selben Kerngebiet, sodass für beide dieselben Immissionsrichtwerte nach der TA Lärm gelten. Hieran würde auch eine Anwendung des Freizeitlärmerlasses NRW,
16Runderlass Messung, Beurteilung und Verminderung von Geräuschimmissionen bei Freizeitanlagen des Ministeriums für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz NRW - V-5 - 8827.5 - (V Nr.) vom 23. Oktober 2006 (MBl. NRW. 2006 S. 566), zuletzt geändert durch Runderlass vom 13. April 2016 (MBl. NRW. 2016 S. 239),
17nichts ändern, weil die dort gemäß Ziffer 3.1 c) innerhalb der Ruhezeiten im Sinne von Ziffer 3.3 und an Sonn- und Feiertagen auch im Kerngebiet gegenüber der TA Lärm strengeren Immissionsrichtwerte ebenfalls für Gaststätte und Vorhaben gleichermaßen Anwendung finden würden.
18Auf die Tauglichkeit der von der Beigeladenen vorgelegten Berechnung des Gutachterbüros R. vom 30. März 2023 kommt es damit ebenso wenig an wie auf vom Verwaltungsgericht - in Verkennung des laut Anlage zur TA Lärm bestehenden Redaktionsfehlers in Ziffer 6.5 bzw. des auf die alte Fassung der TA Lärm bezogenen Verweises in Ziffer 4 des Freizeitlärmerlasses NRW fehlerhaft geforderte - Empfindlichkeitszuschläge.
19Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist auch keine Einzelfallbetrachtung geboten, die zu einer anderen Bewertung der Zumutbarkeit von durch die Gaststätte verursachten Immissionen für das Vorhaben führen könnte. Denn die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, wonach in dem Fall, in dem der Außenbetrieb einer gemischten Gaststätte bis auf wenige Meter an den Ruhebereich der Wohngrundstücke eines angrenzenden reinen oder allgemeinen Wohngebiets heranreicht, eine Einzelfallbetrachtung mit - gemessen an den Richtwerten der TA Lärm - strengerer Beurteilung geboten sein kann,
20vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 3. August 2010 - 4 B 9.10 -, juris Rn. 2 f.; OVG NRW, Beschluss vom 24. Januar 2020 - 4 A 2193/16 -, juris Rn. 9, sowie Urteile vom 8. Oktober 2019 - 7 A 532/18 -, juris Rn. 23, vom 6. September 2019 - 7 A 1174/17 -, juris Rn. 28 ff., vom 4. Mai 2016 - 7 A 615/14 -, juris Rn. 43 ff., und vom13. November 2009 - 7 A 146/08 -, juris Rn. 75,
21sind hier nicht heranzuziehen. Diese Einzelfallwürdigung, die der besonderen Schutzbedürftigkeit einer Wohnnutzung in einem (vorwiegend) dem Wohnen dienenden Gebiet Rechnung trägt, findet schon für ein Mischgebiet oder eine mischgebietsähnliche Gemengelage keine Anwendung.
22Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. August 2015 - 7 A 704/13 -, juris Rn. 47.
23Dies gilt erst Recht für das vorliegende Kerngebiet, das gemäß § 7 Abs. 2 und 3 BauNVO gerade nicht vorrangig dem Wohnen dient, sondern vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur. Von diesen Betrieben und Einrichtungen gehen regelmäßig Lärmemissionen aus, denen gegenüber die Wohnnutzung nicht besonders schutzwürdig ist. Wer in einem solchen Kerngebiet wohnt, dem ist vielmehr grundsätzlich Lärm zumutbar, der die Immissionsrichtwerte der TA Lärm einhält, ohne dass die Zumutbarkeitsgrenze aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen wäre.
24II. Auch ansonsten ist bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht ersichtlich, dass die Baugenehmigung Rechte des Antragstellers verletzt.
251. Dabei ist nach den im vorläufigen Rechtsschutzverfahren geltenden Maßstäben von der Wirksamkeit des Bebauungsplans der Beklagten Nr. 5178/044 („Ehemaliger Güterbahnhof J.“) vom 31. Juli 2010 (nachfolgend: Bebauungsplan) auszugehen.
26Nach der ständigen Rechtsprechung der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts ist in Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich von der Wirksamkeit eines Bebauungsplans auszugehen, es sei denn, dieser ist offensichtlich unwirksam.
27Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Juli 2023 - 7 B 503/23 -, juris Rn. 5, m. w. N., vom 4. Mai 2023 - 2 B 147/23 -, juris Rn. 9, m. w. N., und vom 29. Juni 2015 - 10 B 392/15 -, juris Rn. 8.
28Solche offensichtlichen Unwirksamkeitsgründe sind hier nicht ersichtlich.
29Soweit die Beigeladene sich darauf beruft, der Bebauungsplan sei unbestimmt, weil er - wie in einem vom 7. Senat des Oberverwaltungsgerichts entschiedenen Fall,
30OVG NRW, Urteil vom 5. Dezember 2012 - 7 D 64/10.NE -, juris Rn. 64 ff., -
31Lärmpegelbereiche zeichnerisch darstelle, jedoch unklar bleibe, welche Anforderungen an den Schallschutz zu stellen seien, wenn Gebäude nicht entlang der Kennzeichnungen für die maßgeblichen Lärmpegelbereiche gebaut würden, folgt hieraus schon deshalb keine offensichtliche Unwirksamkeit, weil sich der der hiesige Sachverhalt von dem der vorgenannten Entscheidung unterscheidet.
32Auch ist nicht offensichtlich, dass der Bebauungsplan, wie die Beigeladene weiter geltend macht, deshalb unwirksam ist, weil mit der im Gebiet MK 1 festgesetzten allgemeinen Zulässigkeit von Wohnnutzungen oberhalb des Erdgeschosses die Wohnnutzung in dem Kerngebiet überhandnehmen könnte. Die Einzelfallprüfung, ob die tatsächlichen Umstände im Plangebiet eine zumindest gleichgewichtige Wohnnutzung hinreichend ausgeschlossen erscheinen lassen,
33vgl. OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2019 - 7 A 1419/17 -, juris Rn. 55 ff.,
34muss der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
352. Die der Beigeladenen gewährten Befreiungen von Festsetzungen des Bebauungsplans gemäß § 31 Abs. 2 BauGB erweisen sich nicht als nachbarrechtswidrig. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob die Befreiungen auch nach § 31 Abs. 3 BauGB hätten erteilt werden können.
36Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung, des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, des Bedarfs an Anlagen für soziale Zwecke und des Bedarfs an einem zügigen Ausbau der erneuerbaren Energien, die Befreiung erfordern (Nr. 1) oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3) und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
37Die der Beigeladenen erteilten Befreiungen begründen keinen nachbarlichen Abwehranspruch.
38Ein nachbarlicher Abwehranspruch gegen die fehlerhafte Befreiung von Festsetzungen eines Bebauungsplans führt bei nachbarschützenden Festsetzungen bei jedem Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung. Eine fehlerhafte Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen kann dagegen einen Abwehranspruch des Nachbarn nur vermitteln, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die vom Bauherrn beantragte Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die Würdigung der nachbarlichen Interessen genommen hat. Einen darüber hinausgehenden - umfassenden - Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung bei der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB hat der Nachbar nicht.
39Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Juli 1998 - 4 B 64.98 -, juris Rn. 5 und 7; OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2014 - 7 B 1416/13 -, juris Rn. 13.
40Ausgehend hiervon besteht vorliegend kein Abwehranspruch des Antragstellers. Die Festsetzungen des Bebauungsplans, von denen die Antragsgegnerin Befreiungen erteilt hat, sind nicht nachbarschützend (a.). Eine unzureichende Berücksichtigung der nachbarlichen Interessen des Antragstellers ist nicht erkennbar (b.).
41a. Die Festsetzungen des Bebauungsplans, von denen eine Befreiung erteilt wurde, sind nicht nachbarschützend.
42Während Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung aufgrund des wechselseitigen Austauschverhältnisses zwischen den Nachbarn kraft Bundesrechts grundsätzlich nachbarschützend sind,
43vgl. BVerwG, Urteile vom 9. August 2018 - 4 C 7.17 -, juris Rn. 13, und vom 16. September 1993 - 4 C 28.91 -, juris Rn. 12; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/ Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 150. EL Mai 2023, § 31 Rn. 69a, m. w. N.,
44gilt dies für Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung,
45vgl. BVerwG, Urteil vom 9. August 2018 - 4 C 7.17 -, juris Rn. 13 sowie Beschluss vom 23. Juni 1995 - 4 B 52.95 -, juris Rn. 3,
46und zur überbaubaren Grundstücksfläche,
47vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Dezember 2006 - 10 A 930/05 -, juris Rn. 103,
48nicht. Von einer neben die städtebauliche Ordnungsfunktion tretenden nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung oder der überbaubaren Grundstücksfläche ist vielmehr nur dann auszugehen, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen dahingehenden planerischen Willen erkennbar sind. Dies ist in jedem Einzelfall anhand des Inhalts und der Rechtsnatur der Festsetzung, ihrem Zusammenhang mit den anderen Regelungen des Bebauungsplans, der Planbegründung und/oder anderen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung im Wege der Auslegung zu ermitteln. Hierbei ist insbesondere von Bedeutung, ob die Nachbarn durch die Festsetzung im Sinne eines „Austauschverhältnisses" rechtlich derart verbunden sind, dass sie im Hinblick auf den geregelten Sachverhalt zu gegenseitiger Rücksichtnahme verpflichtet sind oder insoweit eine „Schicksalsgemeinschaft" bilden, aus der keiner der Beteiligten ausbrechen darf.
49Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Dezember 2018 - 10 B 1430/18 -, juris Rn. 6 f., m. w. N., sowie Urteil vom 19. Dezember 2006 - 10 A 930/05 -, juris Rn. 103.
50Es reicht nicht aus, dass eine solche Erwägung sinnvoll oder möglich gewesen wäre. Für die Frage, ob die planerische Festsetzung nachbarschützend ist, kommt es darauf an, ob der Plangeber eine solche Erwägung tatsächlich zugrunde gelegt hat.
51Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. April 2017 - 7 A 697/16 -, juris Rn. 4.
52Nach diesen Maßgaben ist nach summarischer Prüfung nicht ersichtlich, dass eine der der Beigeladenen gewährten Befreiungen nachbarschützende Festsetzungen betrifft.
53aa. Dies gilt zunächst für die Festsetzung der Grundflächenzahl (GRZ) für das Gebiet MK 1. Für einen Drittschutz gibt die Planurkunde selbst nichts her. Denn die Festsetzung der GRZ ist allein zeichnerisch erfolgt und findet in den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans keine Erwähnung. Auch aus der Planbegründung lässt sich ein vom Plangeber beabsichtigter Drittschutz nicht entnehmen. Vielmehr werden dort allein städtebauliche Gründe für die Festsetzung angeführt. Auch die dortige Erwähnung des denkmalgeschützten Gebäudes auf dem Grundstück des Antragstellers hat zur Überzeugung des Senats allein städtebauliche Gründe.
54bb. Auch hinsichtlich der durch die Zahl der Vollgeschosse und maximalen Wandhöhen festgesetzten Höhe baulicher Anlagen sind belastbare Anhaltspunkte für eine seitens des Plangebers beabsichtigte nachbarschützende Wirkung der - in derPlanurkunde wiederum allein zeichnerischen - Festsetzung nicht ersichtlich.
55In der Planbegründung heißt es zwar zunächst:
56„In allen Baugebieten sind die Höhen von Gebäuden über die Zahl der Vollgeschosse bzw. der festgesetzten Wandhöhe definiert.
57[…]
58Im gesamten Plangebiet sind die zulässigen Höhen so festgesetzt, dass sie sich an der umgebenden Bebauung orientieren und beeinträchtigende Verschattungen oder ungünstige Belichtungssituationen vermeiden.“ (Planbegründung, Seite 26 f.).
59Während letztere Formulierung nach Auffassung des Antragstellers auf eine drittschützende Wirkung hindeuten soll, ist den folgenden Ausführungen der Planbegründung zu den konkreten Festsetzungen zur Zahl der Vollgeschosse und maximal zulässiger Wandhöhe allein eine städtebauliche Zielsetzung zu entnehmen:
60„In allen Baugebieten wird die Zahl der Vollgeschosse als Höchstmaß festgesetzt. Die Festsetzungen setzen die Konzeption der Rahmenplanung eines innerstädtischen verdichteten Quartiers um und orientieren sich an der Geschossigkeit der Umgebung. Demzufolge ist im Plangebiet eine zwei- bis fünfgeschossige Bebauung festgesetzt. Angrenzend an den O.-straße wird im Teilbereich MK 1 des Kerngebietes, angelehnt an die bestehende denkmalgeschützte Bebauung des ehemaligen Bahnhofsgebäudes die zulässige Zahl der Vollgeschosse auf zwei begrenzt.
61[…]
62Die Festsetzung von Wandhöhen erfolgt in Verbindung mit Baulinien, um klare städtebauliche Strukturen auszubilden, die sich hinsichtlich ihres Maßes aus der Umgebung herleiten lassen und die die städtebauliche Raumwirkung im Plangebiet sichern.
63[…]
64Im Teilbereich MK 1 wird durch die Festsetzung einer zwingenden Wandhöhe sichergestellt, dass eine Neubebauung die Maßstäblichkeit des denkmalgeschützten ehemaligen Empfangsgebäudes des Z. Bahnhofs aufnimmt und sich städtebaulich einfügt.“ (Planbegründung, Seite 28, Hervorhebungen durch den Senat).
65cc. Gleiches gilt für die Festsetzung von Baulinien und Baugrenzen, zu der es in der Planbegründung heißt:
66„Die meisten überbaubaren Flächen sind durch Baugrenzen definiert; an städtebaulich wesentlichen Raumkanten und zur unterstützenden Sicherung von Baudenkmälern sind Baulinien festgesetzt.
67[…]
68Die für den städtebaulichen Entwurf maßgeblich prägenden Raumkanten und Öffnungen im Kerngebiet sind mit Baulinien festgesetzt. Die Öffnung des Kerngebietes vermeidet eine Monotonie innerhalb der Baustruktur und sichert die Durchlässigkeit zu den angrenzenden Baugebieten.“ (Planbegründung, Seite 31, Hervorhebungen durch den Senat).
69dd. Dass die übrigen Festsetzungen, von denen der Beigeladenen eine Befreiung erteilt wurde (Entlüftung der Tiefgarage und Lage der Tiefgaragenzugfahrt), drittschützend sein könnten, trägt der Antragsteller selbst nicht vor.
70b. Eine unzureichende Würdigung der nachbarlichen Interessen im Rahmen der Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans ist nicht erkennbar.
71Unter welchen Voraussetzungen eine Befreiung die Rechte des Nachbarn verletzt, ist nach den Maßstäben zu beantworten, die das Bundesverwaltungsgericht zum drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme entwickelt hat.
72Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Juli 1998 - 4 B 64.98 -, juris Rn. 6; OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2014 - 7 B 1416/13 -, juris Rn. 13.
73Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme ist hier jedoch nicht ersichtlich. Insbesondere ergibt sich ein solcher nicht aus einer vorhabenbedingten Verschattung des Grundstücks des Antragstellers.
74Dass ein Gebäude einen Schatten auf das Nachbargrundstück wirft, ist dem betroffenen Nachbarn regelmäßig zumutbar, denn dies entspricht in bebauten Gebieten dem Regelfall. Das Gebot der Rücksichtnahme fordert nicht, dass alle Fenster eines Hauses beziehungsweise das gesamte Grundstück das ganze Jahr über zu jeder Tageszeit optimal besonnt oder belichtet werden.
75Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Januar 2023 - 10 A 2094/20 -, juris Rn. 71, m. w. N.
76Insbesondere lässt sich angesichts der von der Antragsgegnerin erstinstanzlich vorgelegen Simulation des Schattenwurfs selbst unabhängig vom direkt gegenüber dem Vorhaben vorhandenen Baumbestand auf dem Grundstück des Antragstellers nicht erkennen, dass eine etwaige zusätzliche Verschattung durch das Vorhaben über das in bebauten Gebieten zumutbare Maß hinausgehen würde.
773. Die Baugenehmigung verletzt nach summarischer Prüfung auch nicht deshalb Rechte des Antragstellers, weil sie gegen den denkmalrechtlichen Umgebungsschutz des Q.s verstößt.
78Ein Anfechtungsrecht des Denkmaleigentümers aus § 9 Abs. 2 DSchG NRW i. V. m. Art. 14 Abs. 1 GG,
79vgl. allgemein zur Klagebefugnis des Eigentümers eines Kulturdenkmals: BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 - 4 C 3.08 -, juris Rn. 6 ff.,
80gegen die einem Dritten erteilte Baugenehmigung besteht nur dann, wenn die zu schützende Beziehung zwischen dem Denkmal und seiner engeren Umgebung von einigem Gewicht für den dem Denkmal innewohnenden Denkmalwert ist und überdies das umstrittene Vorhaben nach seiner Art und Ausführung zumindest objektiv geeignet ist, den Denkmalwert erheblich zu beeinträchtigen.
81Vgl. zur im wesentlichen gleichlautenden Vorschrift des § 9 Abs. 1 b DSchG NRW a. F. : OVG NRW, Beschlüsse vom 24. Mai 2019 - 2 B 162/19 -, juris Rn. 9, und vom 17. Mai 2019 - 7 B 1263/18 -, juris Rn. 4, sowie Urteil vom 8. März 2012 - 10 A 2037/11 -, juris Rn. 42 ff.
82Eine solche erhebliche Beeinträchtigung liegt vor, wenn die Inpflichtnahme des Denkmaleigentümers zur Pflege und Erhaltung des Denkmals nicht mehr gerechtfertigt werden kann, weil diese Ziele von Dritter Seite vereitelt werden. Der Denkmaleigentümer hat ein schutzwürdiges Interesse daran, dass die Belastungen, die ihm infolge der Erhaltungspflicht zum Schutz des Denkmals auferlegt werden, nicht entwertet werden,
83vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 - 4 C 3.08 -, juris Rn. 17,
84sondern der mit der Unterschutzstellung angestrebte Zweck auch tatsächlich und auf Dauer erreicht werden kann.
85Vgl. zum Ganzen: OVG NRW, Urteil vom 8. März 2012 - 10 A 2037/11 -, juris Rn. 61.
86Ausgehend hiervon besteht kein denkmalrechtlicher Abwehranspruch des Antragstellers.
87Es ist schon zweifelhaft, ob die Beziehung zwischen dem Q. und seiner engeren Umgebung von einigem Gewicht für den ihm innewohnenden Denkmalwert ist. Die im Rahmen der denkmalrechtlichen Unterschutzstellung abgegebene Stellungnahme des Rheinischen Amtes für Denkmalpflege vom 22. September 1986 nimmt die Umgebung des Q.s nicht in Bezug.
88Jedenfalls aber ist nicht ersichtlich, dass das Vorhaben nach seiner Art und Ausführung objektiv geeignet wäre, den Denkmalwert erheblich in einer Weise herabzusetzen, dass etwaige Investitionen des Antragstellers in die Pflege und Erhaltung des Denkmals entwertet würden. Denn ausweislich der die Eintragung in die Denkmal-liste im Jahr 1987 betreffenden Aktenbestandteile spricht Überwiegendes dafür, dass der Denkmalwert des Q.s im Wesentlichen in seiner Gebäudeanordnung und der Gebäudegestaltung seiner dem O.-straße, der D.-straße und dem N.-straße zugewandten Gebäudeseiten besteht, der von dem auf der anderen Seite des Denkmals, an der Stelle der früheren Gleisanlagen, liegenden Vorhaben nicht beeinträchtigt wird. In der vorgenannten Stellungnahme des Rheinischen Amtes für Denkmalpflege heißt es insoweit, in der Zeit um 1890 sei eine Reihe von Eisenbahnhochbauten mit farbiger Ziegelverblendung entstanden, so auch das Empfangsgebäude von J., dessen Hauptbaukörper in Gleisachse errichtet worden sei. Die - soweit ersichtlich am O.-straße bzw. der D.-straße liegenden - Eingänge zu den Schalter- und Gastronomieräumen seien rundbogig wie die dreifach gekuppelten Fenster über den Gastronomieeingängen und im Obergeschoss des polygonalen Eckpavillons. Die übrigen Wohnräume und Treppenhausfenster hätten stichbogige Stürze erhalten. Der Eckpavillon mit dem Gastronomieflügel sei über ein eingeschossiges Zwischenglied an den Hauptbau angebunden. Das Bindeglied enthalte beiderseits rundbogige Türen. Sämtliche dieser Eigenschaften des Gebäudes sind vom O.-straße, der D.-straße und dem N.-straße aus zu sehen, während das Vorhaben lediglich dem rückwärtigen Teil des Gebäudes gegenübersteht. Unabhängig davon dürfte auch nach Errichtung des Vorhabens der rückwärtige Teil des Gebäudes sowohl von der D.-straße als auch vom N.-straße aus noch sichtbar sein.
894. Weitere Gründe für eine Nachbarrechtswidrigkeit der Baugenehmigung sind bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht ersichtlich.
90III. Ist die Baugenehmigung damit nicht wegen der Verletzung von Rechten des Antragstellers offensichtlich rechtswidrig, überwiegt auch im Rahmen der folgenorientierten Interessenabwägung in Ansehung der gesetzlichen Wertung des § 212a BauGB das Vollziehungsinteresse der Beigeladenen gegenüber dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Beigeladene die Realisierung des Bauvorhabens auf eigenes Risiko vornimmt.
91Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO.
92Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
93Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).