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Der Erteilung einer Erlaubnis zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung steht der zwingende Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG entgegen, weil eine notwendige medizinische Versorgung im Sinne der Vorschrift der Heilung oder Linderung von Krankheiten oder krankhaften Beschwerden dienen muss.
Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur verfassungskonformen Auslegung des Versagungsgrunds in Fällen einer extremen Notlage ist rechtlich und tatsächlich überholt.
Der mittelbare Eingriff in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Der Gesetzgeber hat mit § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG seinen Spielraum bei der Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Suizidwilligen und seiner Schutzpflicht für Leben und Gesundheit nicht überschritten.
Der Erwerb einer letalen Dosis von Natrium-Pentobarbital mit Hilfe einer behördlichen Erlaubnis ist derzeit nicht die einzige zumutbare Möglichkeit Suizidwilliger, ihren Sterbewunsch umzusetzen. Die Inanspruchnahme der durch Sterbehilfeorganisationen oder Ärzte freiwillig bereitgestellten Suizidhilfe ermöglicht die Verwirklichung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheitsrechts, auch wenn diese derzeit wohl nicht Natrium-Pentobarbital einsetzen.
Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben beinhaltet keinen Anspruch darauf, dass der Staat einem Suizidwilligen die Selbsttötung in der gewünschten Art und Weise ermöglicht.
Der Gesetzgeber muss innerhalb seines Gestaltungsspielraums entscheiden, ob und wie der Zugang zu einer letalen Dosis eines Betäubungsmittels eröffnet wird. Welche Anforderungen an den freien Willen, die Dauerhaftigkeit des Selbsttötungsentschlusses oder die Information über Handlungsalternativen zu stellen wären und wie ein Miss- oder Fehlgebrauch verhindert werden könnte, ist auch eine ethische Frage, die gesetzlich beantwortet werden müsste.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Der am 14. November 1970 geborene Kläger begehrt die Erlaubnis zum Erwerb des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital zum Zweck der Selbsttötung.
3Der Kläger leidet seit 1997 an Multipler Sklerose (MS). Auf dem EDSS-Level, das die Schwere der Erkrankung auf einer Skala von 1,0 bis 10,0 Punkten anzeigt, wurde der Zustand des Klägers im Juli 2018 auf der Stufe 8,5 eingeordnet. Der Kläger leidet trotz zahlreicher Therapieversuche unter einer Tetraplegie, einer beidseitigen Lähmung unterhalb des Schultergürtels; Arme und Beine sind vollständig gelähmt, die Muskulatur im Bereich des Rumpfes und der inneren Organe ist geschwächt. Hinzu treten eine Blasen- und eine Mastdarmentleerungsstörung. Rückenschmerzen und Spastiken können durch die Einnahme von Medikamenten gedämpft werden. Der Kläger benötigt eine umfassende Hilfestellung bei der Körperpflege und allen Alltagsaktivitäten rund um die Uhr (Pflegegrad 5).
4Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 19. Juni 2017 beantragte der Kläger beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Erteilung einer Erlaubnis gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG zum Erwerb von 15 g Natrium-Pentobarbital zum Zweck der Begehung eines Suizids. Er legte verschiedene Befundberichte des Universitätsklinikums T. , Klinik für Neurologie, vor. Zur Begründung berief er sich auf seine Grundrechte sowie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 -, wonach die Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes dahingehend verfassungskonform auszulegen sind, dass sie der Erlaubniserteilung nicht entgegenstehen, wenn sich der Antragsteller in einer extremen Notlage befindet. Die Kriterien des Bundesverwaltungsgerichts erfülle er. Er habe aufgrund seines 20-jährigen Leidens und der schlechten Prognose des Krankheitsverlaufs nach reiflicher Überlegung den freien Entschluss gefasst, mit Assistenz aus dem Leben zu scheiden, um sein unerträgliches Leiden auf humane Weise zu beenden. Er könne als Mitglied der Schweizer Sterbehilfeorganisation „lifecircle“ den Suizid zwar in professionell begleiteter Weise in der Schweiz durchführen. Die Reise setze ihn allerdings Belastungen aus, die er kaum noch hinzunehmen in der Lage sei. Mit Schreiben vom 25. Juli 2017 teilte die Beklagte dem Kläger mit, die Prüfung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts nehme noch Zeit in Anspruch, und verwies auf Maßnahmen der Palliativmedizin.
5Am 17. Oktober 2017 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Köln Untätigkeitsklage erhoben und die Verpflichtung der Beklagten begehrt, unverzüglich einen Bescheid zu erlassen.
6Durch Bescheid vom 23. August 2018 lehnte das BfArM den Antrag des Klägers ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die mit Schreiben vom 14. März 2018 angeforderten Angaben und Unterlagen, insbesondere fachärztliche Gutachten zum Krankheitsverlauf, zu palliativmedizinischen Maßnahmen, zur Freiwilligkeit der Suizidentscheidung und zu möglichen Alternativen zur Verwirklichung des Sterbewunsches, seien nicht vorgelegt worden, sodass eine Prüfung des Sachverhalts nicht möglich sei.
7Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 21. September 2018 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Der Bescheid verletze ihn in seinen Rechten aus Art. 1 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie aus Art. 2, 3 und 8 EMRK. Eine individuelle Prüfung seines Antrags habe das BfArM schon nicht vorgenommen. Der geltend gemachte Anspruch ergebe sich aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017 sowie der Rechtsprechung des EGMR. Der Kläger legte zudem eine persönliche Erklärung zum Suizidentschluss sowie einen aktuellen ärztlichen Befundbericht des Universitätsklinikums T. vom 23. Juli 2018 vor. Nach einem weiter eingereichten Psychiatrischen Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. V. N. vom 14. Juli 2018 ist eine freie, ernsthafte und selbstbestimmte Entscheidungsfähigkeit zum Suizid beim Kläger gegeben. Die Vorlage weiterer, vom BfArM geforderter Unterlagen lehnte der Kläger ab. Insbesondere könne ihm die Vorlage eines palliativmedizinischen Gutachtens nicht abverlangt werden, da niemandem eine solche Behandlung vorgegeben werden könne.
8Durch Widerspruchsbescheid vom 7. November 2018 wies das BfArM den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, dass einem Anspruch auf Erteilung einer Erwerbserlaubnis für eine letale Dosis eines Betäubungsmittels der Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 7 i. V. m. Nr. 6 BtMG entgegenstehe. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts komme ein Anspruch nicht in Betracht, da der Kläger die erforderlichen Angaben und Unterlagen, insbesondere zu den palliativmedizinischen Möglichkeiten, nicht beigebracht habe.
9Nach mündlicher Verhandlung hat das Verwaltungsgericht am 19. November 2019 beschlossen, das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob die Regelung in § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG, die den Erwerb von Betäubungsmitteln der Anlage III zum Zweck der Selbsttötung ohne Ausnahme ausschließe, mit dem aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Grundrecht auf Selbstbestimmung über den Zeitpunkt und die Art des eigenen Todes als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vereinbar sei.
10Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorlage durch Beschluss des 1. Senats vom 20. Mai 2020 - 1 BvL 7/20 - als unzulässig zurückgewiesen. Die Begründung des Vorlagebeschlusses genüge nicht, um die Verfassungswidrigkeit der Normen des Betäubungsmittelgesetzes auch unter geänderten Rahmenbedingungen darzulegen. Denn der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts habe durch das Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. - die Unvereinbarkeit des § 217 StGB mit dem Grundrecht auf einen selbstbestimmten Tod festgestellt. Damit entfalle eine maßgebliche Erwägung des Verwaltungsgerichts für die Frage nach der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme von Sterbehilfe anstelle einer Erlaubnis zum Erwerb eines Betäubungsmittels zur Selbsttötung.
11Das Verwaltungsgericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Auskünften zu alternativen Methoden der Suizidassistenz. Es wurden Stellungnahmen der „Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin“ vom 8. Oktober 2020, des Vereins „Sterbehilfe“ Hamburg vom 12. Oktober 2020, des Vereins „Dignitas-Deutschland e.V.“ vom 12. Oktober 2020 und des Arztes für Innere Medizin und Rettungsmedizin Dr. med. Dipl. biol. Michael de Ridder vom 29. Oktober 2020 und vom 11. November 2020 übersandt. Ferner hat das BfArM Stellungnahmen zur Praxis der Sterbehilfe in den Niederlanden, Belgien und im US-Bundesstaat Oregon vom 19. Oktober 2020 und vom 6. November 2020 übermittelt.
12Zur Begründung seiner Klage hat sich der Kläger auf die Menschenwürde, Art. 1 GG, sein allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, sowie Art. 2, 3 und 8 EMRK berufen. Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB ergebe sich, dass der Staat einem Suizidwilligen die tatsächliche Umsetzung seines Sterbewunsches faktisch zu ermöglichen habe, jedenfalls dürfe er diese nicht unmöglich machen. Hierzu gehöre auch, dass der Staat einem Suizidwilligen nicht den Zugang zu einem letal wirkenden Betäubungsmittel verwehren dürfe. Der Staat dürfe die Hilfe zur Selbsttötung auch nicht von objektiven Prüfkriterien, wie einer unheilbaren oder tödlich verlaufenden Krankheit oder einer extremen Notlage, abhängig machen, da der individuelle Suizidentschluss als Akt autonomer Selbstbestimmung zu respektieren sei. Daher sei es auch unerheblich, ob andere zumutbare Möglichkeiten zur Verwirklichung des Sterbewunsches, zum Beispiel eine palliativmedizinische Versorgung, zur Verfügung stünden. § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG sei nunmehr dahingehend verfassungskonform auszulegen, dass ein Betäubungsmittel zum Zweck des Suizides grundsätzlich zur Verfügung gestellt werden könne. Ein Missbrauch stehe nicht zu befürchten. Die Erlaubnis könne nur dann versagt werden, wenn kein freiverantwortlicher Entschluss zum Suizid vorliege. Aus dem Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 20. Mai 2020 eine verfassungskonforme Auslegung des § 13 Abs. 1 BtMG für möglich gehalten habe, ergebe sich, dass das Gericht auch die verfassungskonforme Auslegung des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG in Betracht ziehe. Denn der primäre Zweck des Betäubungsmittelgesetzes, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung zu sichern, gelte für beide Rechtsnormen. Eine ärztliche Verschreibung von Natrium-Pentobarbital in tödlicher Dosierung durch einen Arzt gemäß § 13 Abs. 1 BtMG komme als Alternative zu einer Erwerbserlaubnis nicht in Betracht. Die Suche nach einem Arzt, der hierzu bereit sei, sei wegen der fortbestehenden Verbote im Berufsrecht äußerst schwierig und unzumutbar. Auch die Verschreibung einer Kombination von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zum Zweck der Selbsttötung sei keine zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches. Es bestehe die Gefahr erheblicher Komplikationen. Außerdem gebe es Patienten, die aufgrund erheblicher Schluckbeschwerden gar nicht in der Lage seien, ca. 100 Tabletten des tödlichen Arzneimittels zu schlucken.
13Der Kläger hat beantragt,
14die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23. August 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 2018 zu verpflichten, ihm eine Erlaubnis zum Erwerb von 15 Gramm Natrium-Pentobarbital zu erteilen.
15Die Beklagte hat beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Zur Begründung hat sie ausgeführt, eine verfassungskonforme Auslegung des Versagungsgrunds des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG, die ausnahmsweise zu einer Erlaubniserteilung in Fällen einer existentiellen Notlage führen könne, sei wegen eines Verstoßes gegen die richterliche Gesetzesbindung nicht möglich. Dies gelte auch für eine verfassungskonforme Auslegung von § 13 Abs. 1 BtMG. Die zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts führten nicht zu einem anderen Ergebnis. Das Gericht habe zu der Frage, ob der Staat verpflichtet sei, sterbewilligen Menschen eine betäubungsmittelrechtliche Erlaubnis zu erteilen, im Urteil vom 26. Februar 2020 keine Aussage getroffen. Die Frage einer verfassungskonformen Auslegung des § 13 Abs. 1 BtMG sei im Beschluss vom 20. Mai 2020 offen gelassen worden. Auch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts komme eine Erlaubniserteilung nicht in Frage, sofern eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches bestehe. Die in Deutschland bestehenden Sterbehilfeorganisationen hätten ihre Tätigkeit nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wieder aufgenommen. Dort werde Suizidassistenz durch Verschreibung einer Kombination von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln (nicht Betäubungsmitteln) geleistet. Die Auffassung, Natrium-Pentobarbital sei das für eine Selbsttötung am besten geeignete Mittel, weil nicht mit Komplikationen zu rechnen sei, sei nicht belegt und nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil seien nach amtlichen Berichten aus den Niederlanden und dem US-amerikanischen Bundesstaat Oregon Komplikationen auch bei der Verwendung von Natrium-Pentobarbital aufgetreten. Ungeachtet dessen lägen die Voraussetzungen nicht vor, die das Bundesverwaltungsgericht für einen Anspruch auf Erteilung einer Erwerbserlaubnis für ein tödlich wirkendes Betäubungsmittel festgelegt habe. Der Kläger habe die für eine sorgfältige Prüfung erforderlichen Unterlagen nicht beigebracht. Insbesondere bedürfe es eines Gutachtens eines Palliativmediziners zu den Möglichkeiten einer Leidensminderung und zu Alternativen zur Verwirklichung des Sterbewunsches.
18Durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 24. November 2020 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Erlaubnis zum Erwerb von 15 g Natrium-Pentobarbital. Er bedürfe dieser Erlaubnis nach § 3 Abs. 1 BtMG, weil er nicht nach § 13 Abs. 1 Satz 1 BtMG eine entsprechende ärztliche Verschreibung erlangen könne. Der Erlaubniserteilung durch das BfArM stehe der Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG entgegen, weil die Verwendung eines Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung nicht mit dem Zweck des Gesetzes vereinbar sei, Gesundheit und Leben der Bevölkerung zu schützen. Eine verfassungskonforme Auslegung der Norm in Ausnahmefällen einer extremen Notlage im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei nicht möglich, weil sie gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz verstoße. Sie sei derzeit aber auch nicht geboten. Der Eingriff in das aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG folgende Grundrecht auf einen selbstbestimmten Tod sei nicht mehr verfassungswidrig. Zwar bestünden nach wie vor Zweifel, ob die ausnahmslose Untersagung einer Erwerbserlaubnis für Natrium-Pentobarbital verfassungsgemäß sei. Jedoch hätten sich mit dem Entfall der Strafbarkeit einer geschäftsmäßigen Förderung der Suizidbeihilfe die Rahmenbedingungen verändert. Das Zugangsverbot für ein tödlich wirkendes Betäubungsmittel greife nicht mehr unverhältnismäßig in das Selbstbestimmungsrecht von Personen ein, die sich eigenverantwortlich zu einem Suizid entschlossen hätten. Über eine Sterbehilfeorganisation oder einen Arzt, der zu einem assistierten Suizid bereit sei, sei der Zugang zu einer Kombination von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln möglich, mit der eine Selbsttötung zumutbar und human durchgeführt werden könne. Dies sei für eine Übergangszeit - bis der Gesetzgeber ein sinnvolles Schutzkonzept für die Sterbehilfe entwickelt habe - zumutbar und ausreichend, um das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu verwirklichen.
19Dagegen hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Berufung eingelegt. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus: Eine verfassungskonforme Auslegung des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG sei ‑ wie auch vom Bundesverfassungsgericht für § 13 Abs. 1 BtMG angedeutet ‑ möglich und geboten. Das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf einen freiverantwortlichen, sicheren, schmerzfreien und damit humanen Suizid könne nicht an betäubungsmittelrechtlichen Regelungen scheitern. Ein Missbrauch sei nicht zu befürchten. Er erfülle auch die Voraussetzungen, die das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 2. März 2017 entwickelt habe. Darüber hinaus sei die Beschränkung auf extreme Notlagen, insbesondere schwere und unheilbare Krankheiten mit unerträglichem Leidensdruck, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 nicht mehr haltbar. Andere zumutbare Alternativen gebe es - auch nach dem Entfallen der Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung - nicht. Er sei zwar der Auffassung, dass Ärzte gemäß § 13 Abs. 1 BtMG ein Betäubungsmittel zum Zweck der Selbsttötung verschreiben dürften. Da dies aber überwiegend anders gesehen werde, gebe es keinen Arzt, der Natrium-Pentobarbital verschreibe. Die alternative Einnahme einer letal wirkenden Medikamentenkombination mit zum Teil ca. 100 Tabletten sei generell zu risikoreich und aufgrund seines Krankheitsstadiums untauglich. Er habe Schluckbeschwerden, die zugenommen hätten. Auch wenn er seine Nahrung noch unzerkleinert essen könne, komme es immer wieder vor, dass er sich dabei verschlucke. Den schwer kranken Patienten sei es auch weder möglich noch zumutbar, einen Arzt zu finden, der in diesem Sinne zur Suizidbeihilfe bereit sei. Er sei zwar Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Die mit ihr kooperierenden Ärzte verwendeten aber nur das intravenös zu verabreichende Narkosemittel Thiopental und er könne aus körperlichen Gründen die Infusion nicht in Gang setzen. Die Inanspruchnahme einer Sterbehilfeorganisation sei aus weltanschaulichen und finanziellen Gründen unzumutbar. Abgesehen davon wolle er sich ohne die Hilfe eines professionellen Dritten im engsten Familienkreis und nur mit Hilfe seiner Schwester suizidieren, was ihm nur mit dem Betäubungsmittel Natrium-Pentobarbital sicher möglich sei. Ob palliativmedizinische Maßnahmen in Betracht kämen, sei unerheblich, weil es seine Entscheidung sei, ob er diese in Anspruch nehmen wolle. Er lehne sie ab.
20Der Kläger beantragt,
21das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen.
22Die Beklagte beantragt,
23die Berufung zurückzuweisen.
24Zur Begründung verweist sie auf das angefochtene Urteil sowie das Rechtsgutachten von Prof. Dr. Dr. Di Fabio und trägt weiter vor, der Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG stehe der Erlaubniserteilung entgegen. Der Erwerb von Natrium-Pentobarbital zu Suizidzwecken sei nicht mit dem Zweck des Gesetzes, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, d. h. Krankheiten zu heilen oder Leiden zu lindern, vereinbar. Dies sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere liege kein grundrechtswidriger Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG vor. Das Grundrecht finde seine Grenze in der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Leben, wie sie auch im Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG zum Ausdruck komme. Das daraus folgende grundsätzliche Verbot des Erwerbs von Betäubungsmitteln zum Zweck der Selbsttötung ziele darauf ab, Menschen, die möglicherweise nicht im Stande seien, vernunftgemäß und freiverantwortlich zu entscheiden, vor der missbräuchlichen Einflussnahme Dritter und den Gefahren einer übereilten, versehentlichen oder absichtlichen und nicht revidierbaren Einnahme einer tödlichen Betäubungsmitteldosis zu schützen. Bei der normativen Umsetzung der Schutzpflicht für das Leben komme dem Gesetzgeber ein Spielraum zu, den er nicht überschritten habe. Dass der Staat verpflichtet sei, sterbewilligen Menschen bei der Durchführung ihres Vorhabens zu helfen, ergebe sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 nicht. Infolge dieses Urteils bestünden zumutbare Alternativen, da Sterbehilfeorganisationen ihre Tätigkeit wieder aufgenommen hätten und es auch Ärzte gebe, die zur Suizidbeihilfe bereit seien. Nachdem nun auch noch die Musterberufsordnung für Ärztinnen und Ärzte geändert worden sei, bestehe kein rechtliches Hindernis mehr für Ärzte, Suizidhilfe zu leisten. Dies geschehe derzeit auch, und zwar nach Presseberichten auch durch die DGHS, deren Präsident der Prozessbevollmächtigte des Klägers sei. Abgesehen davon scheide die vom Kläger geforderte verfassungskonforme Auslegung des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG aus, weil dessen Wortlaut sowie der erkennbare Wille des Gesetzgebers dem entgegenstünden. Darüber hinaus habe der Kläger auch nicht glaubhaft gemacht, dass er die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Erlaubniserteilung erfülle.
25Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
26Entscheidungsgründe:
27Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die zulässige Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Erlaubnis zum Erwerb des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital zu Recht als unbegründet abgewiesen.
28Der den entsprechenden Antrag des Klägers ablehnende Bescheid des BfArM vom 23. August 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 2018 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Erlaubnis zum Erwerb des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital zum Zweck einer Selbsttötung, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Erwerb dieses Mittels ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG erlaubnispflichtig (1.). Der Erteilung der Erlaubnis steht der zwingende Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG entgegen (2.). Eine verfassungskonforme Auslegung des Versagungsgrundes ist nicht geboten (3.) Die Europäische Menschenrechtskonvention gebietet keine andere Bewertung (4.).
291. Der Erwerb von Natrium-Pentobarbital ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG erlaubnispflichtig.
30Nach dieser Vorschrift bedarf einer Erlaubnis des BfArM, wer Betäubungsmittel (vgl. § 1 Abs. 1 BtMG) anbauen, herstellen, mit ihnen Handel treiben, einführen, ausführen, abgeben, veräußern, sonst in den Verkehr bringen oder erwerben will. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Pentobarbital, das zur Wirkstoffgruppe der Barbiturate gehört, zählt zu den verkehrsfähigen und verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln der Anlage III zu § 1 Abs. 1 BtMG. Pentobarbital wird wegen der besseren Wasserlöslichkeit regelmäßig in Form eines Natriumsalzes verwendet (Natrium-Pentobarbital).
31Vgl. zum Wirkstoff Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags, Sachstand, Medikamente zur Selbsttötung, 10. Juni 2020, WD 9 - 3000 - 020/20, S. 4, 9; Apotheke adhoc vom 26. Oktober 2021: Pentobarbital - ein langwirksames Barbiturat.
32Der Kläger beabsichtigt dessen Erwerb.
33Eine Ausnahme von der Erlaubnispflicht nach § 4 BtMG liegt nicht vor. Insbesondere greift keiner der Tatbestände des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BtMG. Danach bedarf einer Erlaubnis nach § 3 des Gesetzes nicht, wer in Anlage III bezeichnete Betäubungsmittel auf Grund ärztlicher Verschreibung (lit. a) oder von einem Arzt ‑ im Rahmen einer ambulanten Palliativversorgung ‑ nach § 13 Abs. 1a Satz 1 (lit. c) erwirbt. Über eine solche Verschreibung oder Versorgung verfügt der Kläger nicht. Vielmehr begehrt er den unmittelbaren Erwerb des Betäubungsmittels ohne ärztliche Verschreibung, sondern mithilfe einer Erlaubnis des BfArM. Er ist der Auffassung, „der Staat“ müsse ihm das Betäubungsmittel zur Verfügung stellen, damit er selbstbestimmt im privaten Umfeld - ohne Inanspruchnahme eines Arztes oder einer Sterbehilfeorganisation - und nur im Beisein seiner Familie aus dem Leben scheiden könne. Auf die Frage, ob § 13 Abs. 1 Satz 1 BtMG die ärztliche Verschreibung von Natrium-Pentobarbital durch einen Arzt zulässt, kommt es damit hier nicht an.
342. Der Erteilung der Erlaubnis nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG steht der zwingende Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG entgegen.
35Nach dieser Vorschrift ist die Erlaubnis nach § 3 BtMG zu versagen, wenn die Art und der Zweck des beantragten Verkehrs nicht mit dem Zweck des Betäubungsmittelgesetzes, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, daneben aber den Missbrauch von Betäubungsmitteln oder die missbräuchliche Herstellung ausgenommener Zubereitungen sowie das Entstehen oder Erhalten einer Betäubungsmittelabhängigkeit soweit wie möglich auszuschließen, vereinbar ist.
36Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Eine Erwerbserlaubnis, die auf eine Nutzung von Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung gerichtet ist, ist mit dem Zweck des Gesetzes unvereinbar, dem Schutz der menschlichen Gesundheit zu dienen. Sie dient nicht dazu, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Diesem Begriff liegt zugrunde, dass Betäubungsmittel nicht nur schädliche Wirkungen haben, sondern in bestimmten Fällen für die menschliche Gesundheit auch von Nutzen sein können. Unter einer notwendigen medizinischen Versorgung im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG sind daher nur solche Anwendungen eines Betäubungsmittels am oder im menschlichen Körper zu verstehen, die eine therapeutische Zielrichtung haben, also dazu dienen, Krankheiten oder krankhafte Beschwerden zu heilen oder zu lindern.
37Vgl. BVerwG, Urteile vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 -, BVerwGE 158, 142 = juris Rn. 18 ff., und vom 28. Mai 2019 - 3 C 6.17 -, NWVBl. 2019, 401 = juris Rn. 13 f.; OVG NRW, Urteile vom 19. August 2015 - 13 A 1299/14 -, DVBl. 2015, 1588 (1589 ff.) = NWVBl. 2016, 153 (155 ff.) = juris, Rn. 54 ff., und vom 17. Februar 2017 - 13 A 3079/15 -, DVBl. 2017, 712 = juris Rn. 46 ff.; Weber, in: Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Auflage 2021, § 5 Rn. 43 ff.
38Dies ergibt eine am Wortlaut, der Systematik, dem Sinn und Zweck des Betäubungsmittelgesetzes und dem Willen des Gesetzgebers orientierte Auslegung des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG. Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf die diesbezügliche Rechtsprechung des 13. Senats des Oberverwaltungsgerichts,
39ausführlich OVG NRW, Urteile vom 19. August 2015 - 13 A 1299/14 -, a. a. O. Rn. 54 ff., und vom 17. Februar 2017 - 13 A 3079/15 -, a. a. O. Rn. 46 ff.,
40sowie die nachfolgend ergangenen Urteile des Bundesverwaltungsgerichts,
41BVerwG, Urteile vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 -, a. a. O. Rn. 18 ff., und vom 28. Mai 2019 - 3 C 6.17 -, a. a. O. Rn. 13 f.
42Entgegen der Auffassung des Klägers ergibt sich aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nichts Abweichendes. Das im Urteil vom 26. Februar 2020 anerkannte Recht des Einzelnen aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG auf selbstbestimmtes Sterben erfordert kein anderes Verständnis des Begriffs der notwendigen medizinischen Versorgung im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG. Hierzu verhält sich die zu § 217 StGB ergangene Entscheidung auch nicht. Dort heißt es lediglich, gefordert sei nicht nur eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und der Apotheker, sondern „möglicherweise auch Anpassungen des Betäubungsmittelrechts“.
43BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, BVerfGE 153, 182 = juris Rn. 341 f.
44In der Entscheidung auf die Vorlage des Verwaltungsgerichts Köln im vorliegenden Verfahren stellt das Bundesverfassungsgericht diese Auslegung des Versagungsgrunds ebenfalls nicht in Frage. Dem Vorlagebeschluss lag das hiesige Verständnis des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG zugrunde, den das Verwaltungsgericht deshalb damals für verfassungswidrig gehalten hat. Lediglich in Bezug auf § 13 Abs. 1 BtMG, der die ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln betrifft, spricht das Bundesverfassungsgericht (nur) die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung an, ohne sich allerdings zu positionieren. Vielmehr lässt es offen, ob sich das Verwaltungsgericht hinreichend damit auseinandergesetzt habe.
45BVerfG, Beschluss vom 20. Mai 2020 - 1 BvL 2/20 u. a. -, NJW 2020, 2394 = juris Rn. 14.
46Mit Nichtannahmebeschluss vom 10. Dezember 2020 schließlich hat das Bundesverfassungsgericht die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts im vorausgehenden Urteil nicht beanstandet, dem Erwerb einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital durch die dortigen Kläger stehe der Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG entgegen. Im Gegenteil: Es hat weiter angenommen, in Anbetracht der durch das Urteil vom 26. Februar 2020 grundlegend veränderten Situation seien die Kläger gehalten, ihr verfassungsgerichtlich anerkanntes Recht auf selbstbestimmtes Sterben durch aktive Suche nach suizidhilfebereiten Personen im Inland, durch Bemühungen um eine ärztliche Verschreibung des gewünschten Wirkstoffs oder auf anderem geeigneten Weg konkret zu verfolgen.
47BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 2020 - 1 BvR 1837/19 -, NVwZ 2021, 485 = juris Rn. 4.
483. Eine verfassungskonforme Auslegung des Versagungsgrunds des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG dahingehend, dass er - generell oder unter bestimmten Voraussetzungen - dem Erwerb eines Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung nicht entgegensteht, scheidet aus.
49a. Es kann offen bleiben, ob § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG grundsätzlich einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich ist,
50so BVerwG, Urteil vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 -, a. a. O. Rn. 37 f.; OVG NRW, Urteil vom 19. August 2015 - 13 A 1299/14 -, a. a. O. Rn. 81,
51oder aber diese, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat, wegen des klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers und damit des Vorbehalts des Gesetzes sowie des Gewaltenteilungsgrundsatzes ausscheidet,
52so auch Di Fabio, Erwerbserlaubnis letal wirkender Mittel zur Selbsttötung in existenziellen Notlagen, Rechtsgutachten zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017, November 2017, S. 50 ff.; Hillgruber, JZ 2017, 777 (781 ff.); Weber, in: Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Auflage 2021, § 5 Rn. 45, 47.
53b. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG ist jedenfalls nicht geboten, weil mit dem zwingenden Versagungsgrund und der deshalb fehlenden Erlaubnismöglichkeit derzeit keine Grundrechte des Klägers verletzt werden. Es liegt zwar ein mittelbarer Eingriff in das Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor (aa.). Dieser Eingriff ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt (bb.).
54aa. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schließt danach das Recht ein, selbstbestimmt die Entscheidung zu treffen, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden. Der Grundrechtsschutz erstreckt sich auch auf die Freiheit, bei der Umsetzung der Selbsttötung bei Dritten Hilfe zu suchen und sie, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.
55BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 203 ff.
56Das Verfügungsrecht über das eigene Leben ist nicht auf schwere und unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG impliziert ferner, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf.
57BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 210; teilweise anders noch BVerwG, Urteil vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 -, a. a. O. Rn. 24 (schwer und unheilbar kranke Menschen); offen gelassen von BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2019 - 3 C 6.17 -, a. a. O. Rn. 21.
58In dieses Grundrecht greift der zwingende Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG ein.
59So auch BVerwG, Urteil vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 -, a. a. O. Rn. 26; a. A. Di Fabio, Erwerbserlaubnis letal wirkender Mittel zur Selbsttötung in existenziellen Notlagen, Rechtsgutachten zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017, November 2017, S. 15 ff.; Hillgruber, JZ 2017, 777 (778 f.).
60Die Regelung setzt dem Verkehr mit Betäubungsmitteln Schranken, indem sie die Erlaubniserteilung verbietet. Dadurch wird mittelbar das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben beeinträchtigt. Denn den Suizidwilligen ist es so unmöglich, ihr Leben auf die von ihnen gewünschte Art und Weise durch die - für einen schnellen und schmerzfreien Tod als besonders geeignet geltende - Einnahme von Natrium-Pentobarbital zu beenden. Müssen sie damit auf verschreibungspflichtige Arzneimittel und ggf. die Inanspruchnahme etwa von Sterbehilfevereinen oder Ärzten zurückgreifen (vgl. hierzu nachfolgend), wird die Ausübung des Grundrechts durch § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG jedenfalls erschwert. Diese Beeinträchtigung ist auch von der Zweckrichtung des Betäubungsmittelgesetzes umfasst, die menschliche Gesundheit und das Leben zu schützen. Dass der Gesetzgeber bei der Regelung der Versagungsgründe in § 5 Abs. 1 BtMG die Selbsttötungsfälle nicht im Blick gehabt haben dürfte, ist insoweit unerheblich. Dies führt lediglich dazu, dass das Betäubungsmittelgesetz nicht unmittelbar - im Sinne eines klassischen finalen Eingriffs - darauf ausgerichtet ist, das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu beschränken.
61Vgl. BVerwG, Urteil vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 -, a. a. O. Rn. 26.
62bb. Dieser Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
63Die Beschränkung des Zugangs zu Natrium-Pentobarbital zum Zweck der Selbsttötung durch § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen. Ein grundrechtseinschränkendes Gesetz genügt diesem Grundsatz nur, wenn es geeignet und erforderlich ist, um die von ihm verfolgten legitimen Zwecke zu erreichen, und die Einschränkungen des jeweiligen grundrechtlichen Freiheitsraums hierzu in angemessenem Verhältnis stehen. Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass sich derartige Regelungen in einem Spannungsfeld unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegen. Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, tritt in Kollision zu der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen. Dieses Spannungsverhältnis aufzulösen, ist grundsätzlich Aufgabe des Gesetzgebers, dem bei der Ausgestaltung und Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsraum zukommt. Die verfassungsrechtliche Prüfung erstreckt sich darauf, ob der Gesetzgeber seinen Einschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt hat und dem Konflikt zwischen der Freiheits- und der Schutzdimension des Grundrechts angemessen Rechnung getragen hat.
64Vgl. zum Ganzen BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 223 bis 225, m. w. N.; so auch schon BVerwG, Urteile vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 -, a. a. O. Rn. 29 ff., und vom 28. Mai 2019 - 3 C 6.17 -, a. a. O. Rn. 22.
65Dies zugrunde gelegt, ist der Eingriff in das Recht auf selbstbestimmtes Sterben hier verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
66(1) Der Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG schützt legitime öffentliche Interessen. Die fehlende Erlaubnisfähigkeit des Erwerbs von Betäubungsmitteln zum Zweck der Selbsttötung dient der Suizidprävention, d. h. dem Schutz von Menschen in vulnerabler Position und Verfassung vor Entscheidungen, die sie möglicherweise voreilig oder nur augenblicklich, in einem Zustand mangelnder Einsichtsfähigkeit oder nicht freiverantwortlich treffen, sowie der Verhinderung von Miss- und Fehlgebrauch. Mit der Abwehr solcher Gefahren erfüllt der Gesetzgeber seine in der Verfassung begründete staatliche Schutzpflicht für das Leben.
67Vgl. BVerwG, Urteile vom 28. Mai 2019 - 3 C 6.17 -, a. a. O. Rn. 22, und vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 -, a. a. O. Rn. 30; entsprechend für § 217 StGB auch BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 227 ff.
68(2) Die fehlende Erlaubnisfähigkeit ist zu diesem Zweck geeignet und erforderlich. Auch wenn andere Möglichkeiten der Selbsttötung verbleiben, kann sie den erstrebten Rechtsgüterschutz zumindest fördern. Ist der Zugang zu Natrium-Pentobarbital, womit die Selbsttötung auf schmerzfreie, regelmäßig schnelle und vergleichsweise sichere Weise und bei einer behördlichen Erlaubnis ohne Hinzuziehung von Ärzten oder Sterbehilfevereinen erfolgen könnte, nicht möglich, erschwert das eine Selbsttötung. Denn jedenfalls in Fällen, in denen der Suizidwunsch Folge einer unmittelbaren Reaktion auf eine aktuelle Lebenssituation ist und nicht dauerhaft, stabil, informiert, freiverantwortlich und insbesondere unbeeinflusst von akuten psychischen Störungen besteht, ist die mangelnde freie Verfügbarkeit eines tödlich wirkenden Betäubungsmittels geeignet, die Verwirklichung eines Suizids zu verhüten. Ferner wird einem gesellschaftlichen Druck insbesondere auf vulnerable Personen entgegengewirkt, der durch die Eröffnung einer Erlaubnismöglichkeit entstehen oder empfunden werden könnte, und Missbrauch verhindert. Um diese legitimen Schutzanliegen zu erreichen, ist die Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG auch erforderlich. Weniger eingriffsintensive, vergleichbar effektive alternative Schutzmaßnahmen, mit denen ein unmittelbarer Zugang Privater zu einem tödlichen Betäubungsmittel verhindert werden könnte, sind nicht erkennbar.
69(3) Die von der Vorschrift ausgehende Einschränkung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben ist auch angemessen.
70Geeignete und erforderliche Maßnahmen sind einer gegenläufigen Kontrolle mit Blick darauf zu unterwerfen, ob die eingesetzten Mittel unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen. Einschränkungen individueller Freiheit sind nur dann angemessen, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Der hohe Rang, den die Verfassung dem Leben und der Autonomie beimisst, vermag grundsätzlich deren effektiven präventiven Schutz zu legitimieren. Die empirisch gestützte Fragilität eines Selbsttötungsentschlusses wiegt gerade deshalb besonders schwer, weil sich Entscheidungen über das eigene Leben naturgemäß dadurch auszeichnen, dass ihre Umsetzung unumkehrbar ist. Die Angemessenheit ist aber nicht mehr gegeben, wenn die staatliche Maßnahme im Gefüge der im Übrigen bestehenden Gesetzeslage die Möglichkeiten einer Selbsttötung in einem solchen Umfang einschränkt, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung der verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt. Angesichts der existentiellen Bedeutung, die der Freiheit zur Selbsttötung für die selbstbestimmte Wahrung der Persönlichkeit zukommen kann, muss die Möglichkeit hierzu bei realitätsgerechter Betrachtung immer gewährleistet sein. Dabei ist zu prüfen, ob der Einzelne ohne Verletzung seines Selbstbestimmungsrechts auf die Inanspruchnahme von Alternativen verwiesen werden kann.
71Vgl. BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 264 ff.
72Hiervon ausgehend ist die fehlende Erlaubnisfähigkeit derzeit angemessen.
73(a) Der nationale Gesetzgeber hat mit § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG seinen Spielraum bei der Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Suizidwilligen einerseits und seiner Schutzpflicht für Leben und Gesundheit andererseits nicht überschritten.
74Vgl. schon OVG NRW, Urteil vom 17. Februar 2017 - 13 A 3079/15 -, a. a. O. Rn. 67 ff.
75Die Zugangsverweigerung zu einer letalen Dosis eines Betäubungsmittels durch § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG schützt die Selbstbestimmung des Einzelnen über sein Leben und damit das hohe Rechtsgut des Lebens als solches. Dies dient, wie bereits ausgeführt, dem Schutz von vulnerablen Menschen gegenüber der Umsetzung von nicht in freier Selbstbestimmung getroffenen Suizidwünschen sowie der Verhinderung von Miss- und Fehlgebrauch.
76Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet den Staat, die Autonomie des Einzelnen bei der Entscheidung über die Beendigung seines Lebens und hierdurch das Leben als solches zu schützen. Der vom Grundgesetz geforderte Respekt vor der autonomen Selbstbestimmung des Einzelnen setzt eine frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung gebildete Entscheidung voraus. Dem Betroffenen müssen alle entscheidungserheblichen Gesichtspunkte bekannt sein. Er muss über seine Lage und Handlungsalternativen beraten und aufgeklärt sein. Der Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, muss von einer gewissen Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit getragen sein. Seine Entscheidung darf nicht durch Zwang, Drohung oder Täuschung oder sonstige Formen der Einflussnahme Dritter beeinträchtigt sein. Angesichts der Unumkehrbarkeit des Vollzugs einer Suizidentscheidung gebietet die Bedeutung des Lebens als ein Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung Selbsttötungen entgegenzuwirken, die nicht von freier Selbstbestimmung und Eigenverantwortung getragen sind. Da der Schutz des Lebens dem Einzelnen von der Verfassung als nicht rechtfertigungsbedürftiger Selbstzweck zugesagt ist und er auf der unbedingten Anerkennung der Person in ihrer bloßen Existenz beruht, darf und muss der Gesetzgeber gesellschaftlichen Einwirkungen wirksam entgegentreten, die als soziale Pressionen wirken können und das Ausschlagen von Suizidangeboten rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen.
77BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 -, a. a. O. Rn. 232 ff.
78Die staatliche Schutzpflicht zugunsten der Selbstbestimmung und des Lebens kann gegenüber dem Freiheitsrecht des Einzelnen den Vorrang erhalten, wo dieser Einflüssen ausgeliefert ist, die die Selbstbestimmung über das eigene Leben gefährden. Diesen Einflüssen darf die Rechtsordnung durch Vorsorge und durch Sicherungsinstrumente entgegentreten.
79BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 -, a. a. O. Rn. 275.
80Vorkehrungen, die eine im vorstehend erläuterten Sinne selbstbestimmte Entscheidung gewährleisten, sieht das Betäubungsmittelgesetz ebenso wenig vor wie Bestimmungen dazu, wie eine sichere Aufbewahrung eines nicht unmittelbar verwendeten Präparats zu gewährleisten ist. Derartige Vorgaben können auch nicht im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung in das Gesetz hineingelesen, d. h. durch die Rechtsprechung oder bei der Gesetzesvollziehung durch die Verwaltung bestimmt werden.
81So aber BVerwG, Urteil vom 2. März 2017 - 3 C 19.15 -, a. a. O. Rn. 31, 39 f.
82Das diesbezügliche Schutzkonzept zu entwickeln, soll ein Zugang zu Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung ermöglicht werden, ist vielmehr Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, der insoweit über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügt.
83Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 2020 - 1 BvR 1837/19 -, a. a. O. Rn. 9, sowie Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 338; BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2019 - 3 C 6.17 -, a. a. O. Rn. 22; OVG NRW, Urteil vom 19. August 2015 - 13 A 1299/14 -, a. a. O. Rn. 119; Urteil vom 17. Februar 2017 ‑ 13 A 3079/16 -, a. a. O. Rn. 69 ff., sowie Beschluss vom 24. März 2021 ‑ 9 B 50/21 -, NWVBl. 2021, 301 = juris Rn. 8.
84Welche Anforderungen an den freien Willen, die Dauerhaftigkeit des Selbsttötungsentschlusses oder die Information über Handlungsalternativen zu stellen wären und wie ein Miss- oder Fehlgebrauch verhindert werden könnte, ist auch eine ethische Frage, die gesetzlich beantwortet werden müsste.
85Vgl. auch Gärditz, ZfL 2017, 38 (51 f., 54); Grünewald, JR 2021, 99 (103 f.); Hillgruber, JZ 2017, 777 (784).
86(b) Die fehlende Erlaubnisfähigkeit beschränkt auch nicht in Fällen, in denen sich Menschen wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befinden, unangemessen das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
87BVerwG, Urteil vom 2. März 2017 - 3 C 19.16 -, a. a. O.,
88ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 und die nachfolgende Entwicklung rechtlich und tatsächlich überholt. Damit ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben unabhängig von Erkrankungen anerkannt und damit von den typischen Situationen der Sterbehilfe abgekoppelt worden. Auch ist infolge der Nichtigkeit des § 217 StGB eine tatsächliche Entwicklung im Bereich der Sterbehilfe eingetreten, die nicht mehr mit den Verhältnissen 2017 vergleichbar ist (siehe dazu nachfolgend). Das Bundesverwaltungsgericht hat aber als eine Voraussetzung einer extremen Notlage bestimmt, dass keine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches zur Verfügung steht.
89BVerwG, Urteil vom 2. März 2017 - 3 C 19.16 -, a. a. O. Rn. 31, 34 f.
90Abgesehen davon erfüllt der Kläger zur Überzeugung des Senats auch nicht die vom Bundesverwaltungsgericht bestimmte Voraussetzung, dass die schwere und unheilbare Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist, die bei dem Betroffenen zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können. Der Senat geht davon aus, dass diese Voraussetzung nur erfüllt ist, wenn Schwerstkranke derartig leiden, dass sie unmittelbar ihr Leben beenden wollen. Der Kläger hat aber im Vorfeld der Berufungsverhandlung gegenüber Medien erklärt, derzeit noch nicht sterben zu wollen. Er wolle lediglich die Freiheit haben, sich mit Natrium-Pentobarbital das Leben nehmen zu können, „bevor es katastrophal wird“. Dem Radiosender Deutschlandfunk hat er im Interview gesagt: „Ich will das nicht sofort nehmen. Ich will das nehmen, wenn die Zeit für mich gekommen ist.“
91Vgl. nur den Beitrag im Deutschlandfunk vom 2. Februar 2022, www.deutschlandfunk.de/oberverwaltungsgericht-nrw-entscheidet-ueber-selbsttoetungs-substanz-dlf-cf9c7c41-100.html.
92Darauf in der mündlichen Verhandlung angesprochen, sind der Kläger und sein Prozessbevollmächtigter dem nicht entgegengetreten.
93(c) Die Beschränkung Suizidwilliger durch § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG steht auch nicht deshalb außer Verhältnis zum öffentlichen Interesse des Autonomie- und Lebensschutzes, weil das Recht auf Selbsttötung angesichts der Rechtslage im Übrigen damit faktisch entleert wäre. Vielmehr ist derzeit - über die Möglichkeiten des Abbruchs oder der Ablehnung einer lebenserhaltenden oder -verlängernden Behandlung hinaus ‑ ein zumutbarer Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet und dem Einzelnen die Wahrnehmung seines verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechts so möglich.
94Infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 hat sich die tatsächliche Situation grundlegend verändert. Die Möglichkeit, den Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben zu verwirklichen, ist wesentlich verbessert.
95BVerfG, Beschlüsse vom 10. Dezember 2020 - 1 BvR 1837/19 -, a. a. O. Rn. 4 und 7, und vom 20. Mai 2020 - 1 BvL 2/20 u. a. -, a. a. O. Rn. 15.
96Der Erwerb einer letalen Dosis von Natrium-Pentobarbital mit Hilfe einer Erlaubnis des BfArM ist derzeit nicht die einzige zumutbare Möglichkeit Suizidwilliger, ihren Sterbewunsch umzusetzen. Dies hat das Verwaltungsgericht zu Recht unter Auswertung der von ihm eingeholten Auskünfte und herangezogenen weiteren Erkenntnisse angenommen. Darauf wird Bezug genommen.
97Auch wenn weiterhin die Mehrheit der Ärzte aufgrund ihres Selbstverständnisses nicht zur Suizidhilfe bereit sein dürfte,
98vgl. zu statistischen Erhebungen BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 285 ff. m. w. N., siehe auch die Diskussion auf dem 124. Deutschen Ärztetag am 4./5. Mai 2021, Beschlussprotokoll, S. 144 ff.,
99gibt es Ärzte, die tödlich wirkende Arzneimittel verschreiben und andere Unterstützungshandlungen vornehmen.
100So auch BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 2020 - 1 BvR 1837/19 -, a. a. O. Rn. 7; Stellungnahmen des Arztes für Innere Medizin und Rettungsmedizin Dr. med. Dipl. biol. Michael de Ridder vom 29. Oktober 2020 und vom 11. November 2020; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28. November 2021, Nr. 47, S. 15: „Es berührt mich“; Ärztezeitung vom 30. Oktober 2021: In der Regelungslücke bilden sich Suizidhilfe-Strukturen aus.
101Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat als Vorsitzender der DGHS in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt, es gebe bundesweit sechs Ärzte, zu denen sie Sterbewilligen Kontakt vermitteln könnten. Es riefen weiterhin einzelne Ärzte an, die Suizidhilfe leisten wollten. Der Leiter der Bundesopiumstelle Dr. Cremer-Schaeffer hat in der Berufungsverhandlung darauf hingewiesen, dass die Frage der ärztlichen Suizidhilfe auf dem Deutschen Ärztetag im Mai 2021 sehr kontrovers diskutiert worden sei, es also durchaus einige Ärzte gebe, die dazu bereit seien. Ferner hat er erklärt, es riefen bei ihnen immer wieder mal einzelne Ärzte oder Apotheker an, die Suizidwillige unterstützen wollten und nach den rechtlichen Regelungen fragten.
102Das ärztliche Berufsrecht steht der Suizidhilfe nicht mehr generell entgegen. Der 124. Deutsche Ärztetag hat am 4./5. Mai 2021 eine Änderung der Musterberufsordnung beschlossen und § 16 Satz 3 MBO-Ä aufgehoben. Diese Bestimmung sah vor, dass Ärzte keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen. Zwar handelt es sich bei der Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärzte nur um einen Normierungsvorschlag, der erst durch eine Inkorporation in das Satzungsrecht der Landesärztekammern Rechtsverbindlichkeit erlangt.
103BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 292.
104Auch sind erst einzelne Berufsordnungen geändert worden. Allerdings enthielten einige Landesberufsordnungen eine § 16 Satz 3 MBO-Ä entsprechende Bestimmung schon zuvor nicht. Die Berufsordnungen der Ärztekammern in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen untersagen die Hilfe zur Selbsttötung nicht bzw. nicht mehr. Die Berufsordnung der Ärztekammer Westfalen-Lippe bestimmt, dass Ärzte keine Hilfe zur Selbsttötung leisten „sollen“. Soweit die Berufsordnungen der Ärztekammern in Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein und Saarland noch ausdrücklich das Verbot der Hilfe zur Selbsttötung enthalten, kann angesichts der erst im Mai 2021 erfolgten Änderung der Musterberufsordnung im Übrigen nicht davon ausgegangen werden, dass dies künftig so bleibt.
105Dies zugrunde gelegt, kann der Kläger nicht mit Erfolg geltend machen, einen zur Suizidhilfe bereiten Arzt könnten er und andere Suizidwillige nicht finden bzw. es dürfe ihnen nicht zugemutet werden, danach zu suchen. Dabei hält der Senat es mit dem Bundesverfassungsgericht auch für zumutbar, die Suche auf ein Gebiet jenseits des eigenen Wohnorts oder Bundeslands zu erstrecken.
106So auch BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 2020 - 1 BvR 1837/19 -, a. a. O. Rn. 7.
107Infolge der Nichtigkeit des § 217 StGB sind auch geschäftsmäßige Angebote der Suizidhilfe wieder verfügbar. Sterbehilfeorganisationen wie der Hamburger Verein Sterbehilfe oder Dignitas Deutschland haben nach Presseberichten sowie den vom Verwaltungsgericht eingeholten Stellungnahmen ihre Tätigkeit wieder aufgenommen.
108Vgl. Stellungnahme Verein Sterbehilfe vom 12. Oktober 2020; Kölner Stadtanzeiger, 7. September 2020, S. 6: Unsichere Patienten, streitende Ärzte; Die Zeit, 12. Mai 2021, S. 9: Die Freiheit zu sterben; siehe auch WDR, 5. Januar 2022: Diakonie Wuppertal schafft Grundlagen für „assistierte Sterbehilfe“.
109Der Hamburger Verein Sterbehilfe Deutschland hat nach Presseberichten im Jahr 2021 129 Menschen zum Suizid verholfen.
110Vgl. Rheinische Post, 3. Januar 2021: „Sterbehilfe Deutschland“ assistierte 2021 bei 129 Suiziden.
111Auch die DGHS vermittelt seit dem Frühjahr 2020 ihren Mitgliedern Sterbebegleitung durch Teams aus Ärzten und Juristen. Im Jahr 2021 unterstützte die Organisation nach den vom Prozessbevollmächtigten des Klägers in der Berufungsverhandlung bestätigten Angaben in einem Medienbericht 120 Menschen beim Suizid.
112Vgl. Zeit online, 27. Januar 2022: Ein neuer Gesetzentwurf für die Suizidbeihilfe.
113Sterbehilfeorganisationen vermitteln typischerweise auch Kontakt zu Ärzten und Pharmazeuten, die trotz rechtlicher Risiken bereit sind, in der medizinisch und pharmakologisch notwendigen Weise an einer Selbsttötung mitzuwirken.
114Vgl. BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 297.
115Die Inanspruchnahme der Hilfe eines Arztes oder einer Sterbehilfeorganisation zur Verwirklichung des Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben hält der Senat im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für grundsätzlich zumutbar.
116Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10. Dezember 2020 - 1 BvR 1837/19 -, a. a. O. Rn. 4 und 7, und vom 20. Mai 2020 - 1 BvL 2/20 u. a. -, a. a. O. Rn. 15.
117Soweit der Kläger meint, die Mitgliedschaft in einer Sterbehilfeorganisation sei aus weltanschaulichen Gründen nicht zumutbar, sei darauf hingewiesen, dass er selbst vorgetragen hat, Mitglied in einer Sterbehilfeorganisation in der Schweiz sowie in der DGHS zu sein. Dass die Mitgliedschaft und die Inanspruchnahme der Sterbehilfe regelmäßig mit Kosten verbunden ist, führt nicht zu einem faktischen Leerlaufen des Grundrechts. Dass der Kläger die Kosten nicht aufbringen kann, hat er auch nicht behauptet.
118Dass sowohl Ärzte als auch Sterbehilfeorganisationen in Deutschland bisher wohl nicht Natrium-Pentobarbital als Mittel zur Selbsttötung einsetzen, rechtfertigt keine andere Betrachtung. Aus den vom Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführten Gründen kann auf zumutbare und humane Weise eine Selbsttötung erfolgen, indem eine Kombination von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln eingenommen wird, die etwa auch schon vor Inkrafttreten des § 217 StGB Ende 2015 in einer Vielzahl von Fällen von Sterbehilfeorganisationen in Deutschland verwendet wurde. Wegen der weiteren Einzelheiten des Einsatzes einer Arzneimittelkombination wird auf die vom Verwaltungsgericht eingeholte Stellungnahme des Arztes Dr. med. Michael de Ridder vom 29. Oktober 2020, die Stellungnahme des Vereins Sterbehilfe vom 12. Oktober 2020 sowie die Ausführungen des Dr. med. Sitte im Bundestagsausschuss für Gesundheit, BT-Drs. 19/4834, S. 4 f. verwiesen. Der Senat folgt insoweit der näher begründeten Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass einerseits ein erheblich erhöhtes Risiko von Komplikationen bei der Verwendung der Kombination verschreibungspflichtiger Arzneimittel nicht besteht und andererseits es auch bei Natrium-Pentobarbital, das grundsätzlich als schmerzfreies, schnelles und weitgehend risikofreies Tötungsmittel gilt und bei der Sterbehilfe etwa in der Schweiz und in den Niederlanden eingesetzt wird, zu Komplikationen kommen kann. So hat etwa auch die Bundesapothekerkammer darauf hingewiesen, dass letzteres nicht kritiklos als geeignetes Mittel zur Selbsttötung betrachtet werden sollte, da die tödliche Wirkung nicht immer wie beabsichtigt eintrete.
119Stellungnahme der Bundesapothekerkammer vom 1. Juli 2020 zu möglichen Eckpunkten einer Neuregelung der Suizidassistenz, https://www.abda.de/aktuelles-und-presse/stellungnahmen/.
120Hinzu kommt, dass es mit dem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel Thiopental ein anderes, nicht der Anlage III des Betäubungsmittelgesetzes unterfallendes Barbiturat gibt, das bei Selbsttötungen unter anderem von Sterbehilfevereinen - teilweise ergänzt um ein muskelrelaxierendes Mittel - intravenös verwendet wird.
121Vgl. auch Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags, Sachstand, Medikamente zur Selbsttötung, 10. Juni 2020, WD 9 - 3000 - 020/20, S. 8.
122Nach den Angaben des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der Berufungsverhandlung wird dieses auch von den mit der DGHS kooperierenden Ärzten (ausschließlich) eingesetzt und ist damit in mehr als 120 Fällen verwendet worden.
123Diese zumutbaren Alternativen bestehen zur Überzeugung des Senats im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung auch für den Kläger, der krankheitsbedingt vom Schultergürtel abwärts gelähmt ist und an Schluckbeschwerden leidet. Es ist nicht hinreichend und substantiiert, etwa durch die Vorlage aktueller ärztlicher Atteste, glaubhaft gemacht, dass er die Kombination von verschreibungspflichtigen Medikamenten nicht oral zu sich nehmen kann. Die dem Gericht vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen datieren aus der Zeit bis 2018. Im Befundbericht des Universitätsklinikums T. , Klinik für Neurologie, vom 18. Juli 2016 werden bei den anamnestischen Angaben Schluck- und Sprachstörungen genannt, die tagesformabhängig seien. Im Befundbericht derselben Klinik vom 23. Juli 2018 werden Schluckbeschwerden ebenso wenig erwähnt wie im psychiatrischen Gutachten des Dr. med. V. N. vom 14. Juli 2018. In letzterem heißt es bei den Äußerungen zur Suizidabsicht lediglich, eine Besserung der Krankheit sei nicht zu erwarten, eher eine weitere Verschlechterung bis hin zur Schluck- und Atemlähmung.
124In der Berufungsverhandlung hat der Kläger auf Befragen des Gerichts erklärt, dass er seine Nahrung noch normal, also nicht püriert, aufnehme. Trinken ist ihm mithilfe eines Strohhalms möglich, wie der Senat auch in der Verhandlung sehen konnte. Dass er auf Nachfrage seines Prozessbevollmächtigten angeführt hat, es komme immer wieder vor, dass er sich bei der Nahrungsaufnahme verschlucke, rechtfertigt nicht die Annahme, der Kläger könne die Arzneimittelkombination krankheitsbedingt nicht schlucken. Nach der Stellungnahme von Dr. med. de Ridder vom 29. Oktober 2020 werden die zermörserten Tabletten in Fruchtjoghurt oder Apfelmus bzw. in Tee aufgelöst. Der Verein Sterbehilfe führt in seiner Stellungnahme vom 12. Oktober 2020 aus, die von ihnen eingesetzten verschreibungspflichtigen Medikamente würden getrunken (drei Gläser). Dass der Kläger hierzu nicht in der Lage wäre, ist nicht ersichtlich. Auch das von ihm begehrte Natrium-Pentobarbital müsste er in Wasser aufgelöst in einer bestimmten Zeit trinken.
125Darüber hinaus steht mit Thiopental ein intravenös einsetzbares Mittel zur Verfügung, das auch die mit der DGHS kooperierenden Ärzte verwenden. Nach den überzeugenden Ausführungen des Leiters der Bundesopiumstelle Dr. Cremer-Scheffer in der Berufungsverhandlung ist dieses auch für den körperlich stark eingeschränkten Kläger eine zumutbare Alternative, die er mithilfe von Infusionsautomaten/ -pumpen (Perfusoren) realisieren könnte. Diese Geräte seien im freien Verkehr, würden zu Tausenden auf den Intensivstationen verwendet und könnten auch mit einer Bewegung des Kinns oder der Nase gesteuert werden. Dass nach Angaben des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung die durch die DGHS vermittelten sechs Ärzte über solche Apparaturen derzeit nicht verfügten, ist unerheblich. Abgesehen davon, dass diese Angaben nicht näher substantiiert worden sind, hält der Senat es angesichts der nachvollziehbaren Erläuterungen von Herrn Dr. Cremer-Scheffer für möglich, dass der Kläger einen Arzt oder eine Sterbehilfeorganisation findet, die über ein solches Gerät verfügen oder dieses beschaffen. Dass die Sterbehilfeorganisationen grundsätzlich Injektionsautomaten einsetzen bzw. zur Verfügung stellen, ergibt sich etwa aus der Stellungnahme des Hamburger Vereins Sterbehilfe vom 12. Oktober 2020. Ob diese derzeit über Automaten verfügen, die nicht nur per Knopfdruck, sondern etwa auch mit einer Bewegung des Kinns oder der Nase gesteuert werden können, bedarf keiner weiteren Aufklärung. Sollte dies nicht der Fall sein, könnten die Geräte nach den Ausführungen von Herrn Dr. Cremer-Scheffer beschafft werden. Der Senat geht auch davon aus, dass der Kläger nötigenfalls die insoweit anfallenden Kosten - Dr. Cremer-Scheffer hat von etwa 1.500 Euro gesprochen - aufbringen könnte. Gegenteiliges ist weder vorgetragen noch erkennbar. Vielmehr ergibt sich aus dem psychiatrischen Gutachten des Dr. med. V. N. vom 14. Juli 2018, dass der Kläger seit 20 Jahren Eigentümer eines Einfamilienhauses ist, dessen Erdgeschoss er selbst bewohnt und dessen Obergeschoss er vermietet hat.
126Bestehen damit zumutbare Alternativen für den Kläger, sein Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu verwirklichen, kommt es auf die Frage, ob § 13 Abs. 1 BtMG verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden kann, dass er eine ärztliche Verschreibung von Natrium-Pentobarbital oder dessen Überlassung zum unmittelbaren Verbrauch und damit einen alternativen Zugang zu dem Betäubungsmittel ermöglicht,
127offen gelassen von BVerfG, Beschluss vom 20. Mai 2020 - 1 BvL 2/20 u. a. -, a. a. O. Rn. 14,
128nicht an. Der Senat weist allerdings auf Folgendes hin: Würde man die Realisierung eines Suizidwunsches mithilfe verschreibungspflichtiger und -fähiger Arzneimittel generell oder im Einzelfall für nicht möglich oder nicht zumutbar halten, wäre die Zugangsmöglichkeit nach § 13 Abs. 1 BtMG, § 2 Abs. 1 lit. b BtMVV eine gegenüber der hier begehrten Erlaubnis zum Erwerb dieses Betäubungsmittels vorrangige Alternative. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in der vorgenannten Entscheidung lediglich diesen Weg, nicht aber den der Erlaubnis nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG angesprochen. So könnten der Schutz der Autonomie und des Lebens von Suizidwilligen jedenfalls in höherem Maße gewährleistet werden.
129Vgl. auch Leopoldina, Neuregelung des assistierten Suizids - ein Beitrag zur Debatte Diskussion Nr. 26, 2021, S. 6; Hillgruber, JZ 2017, 777 (784); Oglakcioglu, MedR 2019, 450 (454); vgl. ebenso die Stellungnahme von Dr. med. de Ridder vom 29. Oktober 2020.
130(d) Das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben wird schließlich entgegen der Auffassung des Klägers nicht deshalb unangemessen beschränkt, weil die genannten zumutbaren Möglichkeiten der Realisierung des Freiheitsrechts nicht seinen Vorstellungen zur Beendigung seines Lebens entsprechen.
131Der Einzelne kann lediglich verlangen, dass sein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben nicht faktisch leer läuft, dass er es also auf humane Weise realisieren kann. Ein unverhältnismäßiger Grundrechtseingriff liegt nicht schon dann vor, wenn eine konkrete, vom Grundrechtsträger für sich gewünschte Art und Weise der Selbsttötung nicht möglich ist. Dass der Kläger, wie er in der Berufungsverhandlung erneut betont hat, vorhandene Alternativen zur Gestaltung des Lebensendes aus persönlichen Gründen nicht wählen möchte, sondern ohne Inanspruchnahme der Hilfe professioneller Dritter mit Natrium-Pentobarbital sein Leben beenden möchte, ist eine nachvollziehbare, zu respektierende Entscheidung, begründet allerdings keine Grundrechtsverletzung.
132Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. Februar 2017 ‑ 13 A 3079/15 -, a. a. O. Rn. 80.
133Das nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestehende Recht auf selbstbestimmtes Sterben beinhaltet entgegen der Auffassung des Klägers keinen Anspruch darauf, dass der Staat ihm den Suizid in der gewünschten Art und Weise ermöglicht.
134Das von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht, sich selbst zu töten, umfasst zwar auch die Freiheit, sich hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen. Es schützt damit vor Verboten gegenüber Dritten, im Rahmen ihrer Freiheit Unterstützung anzubieten.
135Vgl. BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 213.
136Die Rechtsordnung muss aber lediglich sicherstellen, dass der Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe Dritter real eröffnet bleibt. Ein Anspruch gegenüber Dritten, bei einem Selbsttötungsvorhaben unterstützt zu werden, besteht in Anbetracht von deren Gewissensfreiheit hingegen nicht.
137Vgl. BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 284, 289.
138Ebenso lässt sich aus dem Grundrecht grundsätzlich kein Anspruch gegenüber dem Staat darauf ableiten, dass dieser den (unmittelbaren) Zugang zu Natrium-Pentobarbital durch eine Erwerbserlaubnis ermöglicht.
139Vielmehr ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, die Suizidhilfe zu regeln. Dabei darf er deren Zulässigkeit nicht von materiellen Kriterien wie einer unheilbaren oder tödlich verlaufenden Krankheit abhängig machen. Er darf aber ein prozedurales Sicherungskonzept entwickeln und je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens stellen.
140BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 340.
141Ob und wie der Zugang zu einer letalen Dosis eines Betäubungsmittels eröffnet wird, ist deshalb eine Frage, über die in erster Linie der Gesetzgeber innerhalb seines Gestaltungsspielraums zu entscheiden hat.
142Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. Februar 2017 ‑ 13 A 3079/16 -, a. a. O. Rn. 69 ff.; Gärditz, ZfL 2017, 38 (51); Hillgruber, JZ 2017, 777 (784); Teichmann/Camprubi, MedR 2021, 141 (146).
143Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich angeführt, dass „möglicherweise“ Anpassungen des Betäubungsmittelrechts gefordert seien. Weiter hat es darauf hingewiesen, dass es nicht ausgeschlossen sei, im Bereich des Betäubungsmittelrechts verankerte Elemente des Verbraucher- und Missbrauchsschutzes aufrechtzuerhalten und in ein Schutzkonzept im Bereich der Suizidhilfe einzubinden.
144Vgl. BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 341 f.; siehe auch Grünewald, JR 2021, 99 (104).
145Der Gesetzgeber ist zwar dieser - von ihm im Gesetzgebungsverfahren zu § 217 StGB anerkannten - Aufgabe bisher nicht nachgekommen. In der abgelaufenen 19. Wahlperiode gab es verschiedene Diskussions- und Gesetzentwürfe, zu einem konkreten Gesetzgebungsverfahren ist es aber nicht gekommen.
146Gesetzentwurf der Abgeordneten Künast und Keul, Entwurf eines Gesetzes zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben; Gesetzentwurf der Abgeordneten Helling-Plahr, Lauterbach, Sitte, Schulz und Fricke, Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Suizidhilfe; Diskussionsentwurf des Gesundheitsministeriums, Entwurf eines Gesetzes zur Neufassung der Strafbarkeit der Hilfe zur Selbsttötung und zur Sicherstellung der freiverantwortlichen Selbsttötungsentscheidung; Eckpunktepapier von Castellucci, Heveling, Kappert-Gonther, Gröhe u. a.; ferner: Borasio/Jox/Taupitz/Wiesing, Selbstbestimmung im Sterben - Fürsorge zum Leben, ein verfassungskonformer Gesetzesvorschlag zur Regelung des assistierten Suizids; DGHS, Entwurf eines Gesetzes zum Umgang mit Suizid und Sterbehilfe; Deutsche Stiftung Patientenschutz, Vorschlag für eine Neufassung des § 217 STGB, 19. Juni 2020; Dorneck/Gassner/Kersten u. a., Sterbehilfegesetz, Augsburg-Münchner-Hallescher-Entwurf, Tübingen 2021; Leopoldina, Neuregelung des assistierten Suizids - ein Beitrag zur Debatte, 2021, Diskussion Nr. 26; zu einigen der Entwürfe auch Neumann, NJOZ 2021, 385 ff.
147Im Koalitionsvertrag der derzeit regierenden Parteien ist lediglich die Rede davon, es werde begrüßt, wenn durch zeitnahe fraktionsübergreifende Anträge das Thema Sterbehilfe einer Entscheidung zugeführt werde.
148Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, S. 113; vgl. jüngst fraktionsübergreifender Vorschlag eines Gesetzentwurfs: https://kappertgonther.de/2022/01/vorschlag-zur-neuregelung-der-sterbehilfe/; dazu: Zeit online, 27. Januar 2022: Ein neuer Gesetzentwurf für die Suizidhilfe; ZDF, 26. Januar 2022: Wie weiter mit der Sterbehilfe.
149So ist inzwischen nicht nur ein weitgehend regelungsloser und im Hinblick auf den Lebensschutz problematischer Zustand im Bereich der geschäftsmäßigen Suizidhilfe entstanden, sondern auch die Frage des Einsatzes von Betäubungsmitteln zur Selbsttötung nach wie vor nicht ausdrücklich geregelt. Dies kann aber, jedenfalls solange das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben zumutbar realisiert werden kann, nicht dazu führen, einen Erlaubnisanspruch anzunehmen. Damit würde die gesetzgeberische Gestaltungsentscheidung faktisch vorweggenommen.
150Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 2020 - 1 BvR 1837/19 -, a. a. O. Rn. 9.
1514. Die Europäische Menschenrechtskonvention, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist, gebietet keine andere Bewertung.
152Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleistet als Ausprägung des Rechts auf Achtung des Privatlebens das Recht des Einzelnen, darüber zu entscheiden, wann und wie er sein Leben beenden möchte. Dieses Recht kann aber aus Gründen des Lebensschutzes und der Autonomie eingeschränkt werden. Bei der Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen und der aus Art. 2 EMRK abgeleiteten Schutzpflicht des Staates für das Leben kommt den Staaten ein erheblicher Einschätzungs- und Ermessensspielraum zu.
153Vgl. zum Ganzen EGMR, Urteile vom 14. Mai 2013 - 67810/10 (Gross) -, Rn. 58 ff., m. w. N., vom 19. Juli 2012 - 497/09 (Koch) -, NJW 2013, 2953 = juris Rn 68 f., sowie vom 20. Januar 2011 - 31322/07 (Haas) -, NJW 2011, 3773, Rn. 51 ff.; BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. -, a. a. O. Rn. 302 ff.; BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2019 - 3 C 6.17 -, a. a. O. Rn. 25.
154Hiervon ausgehend stehen die vorstehenden Bewertungen im Einklang mit Art. 8 Abs. 1 EMRK. Der den Mitgliedstaaten zustehende Spielraum ist aus den oben ausgeführten Gründen mit der fehlenden Erlaubnisfähigkeit des Erwerbs eines Betäubungsmittels zur Selbsttötung nicht überschritten.
155Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
156Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
157Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Im Hinblick auf den Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG stellen sich infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u. a. - sowie der nachfolgenden Beschlüsse vom 20. Mai 2020 - 1 BvL 2/20 u. a. - und vom 10. Dezember 2020 - 1 BvR 1837/19 - Rechtsfragen, die höchstrichterlich noch nicht entschieden sind.