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Der angegriffene Beschluss wird geändert.
Der Antrag des Antragstellers auf "Wiederherstellung" der aufschiebenden Wirkung seiner Klage 6 K 871/20 (VG Aachen) gegen den Genehmigungsbescheid des Antragsgegners vom 10.2.2020 wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge einschließlich der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 30.000 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
2Die Beschwerden sind jeweils zulässig und begründet.
3Das Verwaltungsgericht hat auf den Antrag des Antragstellers,
4"die aufschiebende Wirkung der Klage zum Az. 6 K 871/20 gegen den Genehmigungsbescheid der Beklagten vom 10. Februar 2020 zur Errichtung und zum Betrieb von vier Windenergieanlagen (Az. 10081/2018) vom Typ Enercon E-126 mit einer Nabenhöhe von je 135 m, einer Nennleistung von je 4.200 KW, einer Gesamthöhe von 198,5 m auf dem Grundstück E. , Gemarkung E. , Flur 21, Flurstück 58 und Flur 10, Flurstück 89 und einer Windenergieanlage vom Typ Enercon E-115 mit einer Nabenhöhe von 149,08 m und einer Nennleistung von 3.000 KW, einer Gesamthöhe von 206,94 m auf dem Grundstück E. , Gemarkung T. , Flur 10, Flurstück 89, entgegen der mit Bescheid vom 22.4.2020 zum selben Aktenzeichen angeordneten sofortigen Vollziehung wiederherzustellen,"
5entschieden,
6"Die aufschiebende Wirkung der Klage 6 K 871/20 gegen den Genehmigungsbescheid des Antragsgegners vom 10. Februar 2020 zur Errichtung und zum Betrieb von fünf Windenergieanlagen (Az. 10081/2018) wird wiederhergestellt."
7Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsteller sei analog § 42 Abs. 2 VwGO als anerkannter Umweltverband auf der Grundlage eines Verbandsklagerechts nach § 2 Abs. 1 Satz 1 UmwRG antragsbefugt. Der Antrag sei auch begründet. Bei summarischer Betrachtung bestünden im Ergebnis ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Genehmigungsbescheids vom 10.2.2020. Die Kammer halte an den bereits in ihrem Hängebeschluss vom 4.6.2020 geäußerten Bedenken hinsichtlich des Verstoßes gegen die artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände des § 44 Abs. 1 BNatSchG fest. Nach summarischer Prüfung sei von einem Verstoß gegen das Tötungsverbot nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG mit Blick auf den Rotmilan auszugehen. Grundsätzlich könne auch eine unbeabsichtigte aber unausweichliche Tötung geschützter Tiere durch den Betrieb einer Windenergieanlage gegen § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG verstoßen. Dieser Verbotstatbestand sei individuenbezogen. Bei der eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung sei in Rechnung zu stellen, dass sich die behördliche Prüfung artenschutzrechtlicher Verbotstatbestände in Nordrhein-Westfalen an den Vorgaben des Leitfadens "Umsetzung des Arten- und Habitatschutzes bei der Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen in NRW" des Landesamts für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen vom 10.11.2017 (Leitfaden 2017) zu orientieren habe. Innerhalb eines engeren Radius von 1.000 m sei 2019 eine Brut erfolgt, die dadurch ausgelöste Vermutung eines signifikant erhöhten Tötungsrisikos werde nicht durch gegenläufige Erkenntnisse entkräftet; andererseits belegten die Raumnutzungsanalysen für das Jahr 2018 positiv ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko, so dass es auf die vorgenannte Vermutungswirkung nicht streitentscheidend ankomme.
8Die erstinstanzliche Entscheidung ist mit Blick auf die Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BImSchG) durch Gesetz vom 3.12.2020, BGBl. I S. 2694, in Kraft getreten am 10.12.2020, nach dessen § 63 BImSchG bei Klagen gegen Genehmigungen der hier in Rede stehenden Art die aufschiebende Wirkung entfällt, als stattgebende Entscheidung auf einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu werten. § 63 BImSchG in der seit dem 10.12.2020 geltenden Fassung gilt auch für Genehmigungen, die vor seinem Inkrafttreten erteilt worden sind.
9Offen gelassen in OVG NRW, Beschluss vom 12.2.2021 - 8 B 905/20 -, juris.
10Dies folgt aus dem Grundsatz, dass Änderungen des Verfahrensrechts mit ihrem Inkrafttreten auch anhängige Verwaltungs- und Gerichtsverfahren erfassen, wenn Übergangsregelungen nichts Abweichendes bestimmen. Letzteres ist nicht der Fall. Auch Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes stehen der Anwendung des vorerwähnten Grundsatzes nicht entgegen.
11Vgl. für Baugenehmigungen nach Inkrafttreten des
12§ 212a BauGB etwa OVG NRW, Beschluss vom 23.1.1998 - 7 B 2984/97 -, juris.
13Die vom Antragsgegner erlassene Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 22.4.2020 ist durch die Gesetzesänderung vom 3.12.2020 gegenstandslos geworden. Der erstinstanzliche Antrag des Antragstellers ist vor diesem Hintergrund seit dem 10.12.2020 der Sache nach als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 6 K 871/20 zu verstehen. Diesem Antrag hat das Verwaltungsgericht entsprochen.
14Die gegen die so verstandene erstinstanzliche Entscheidung vom 18.12.2020 in der Fassung des - lediglich die Bezeichnung der Beigeladenen betreffenden - Berichtigungsbeschlusses vom 7.1.2021 gerichteten Beschwerden der Beigeladenen und des Antragsgegners sind zulässig und in der Sache begründet.
15Die nach § 80 Abs. 5 VwGO maßgebliche Interessenabwägung fällt zuungunsten des Antragstellers aus.
16Bei der in diesem Zusammenhang gebotenen summarischen Beurteilung sind die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers 6 K 871/20 gegen den Bescheid vom 10.2.2020 nicht als überwiegend positiv, sondern allenfalls als offen zu beurteilen (dazu 1.); die danach maßgebliche folgenorientierte Abwägung der gegenläufigen Interessen fällt mit Blick auf die Wertung des § 63 BImSchG zugunsten des mit dem Bescheid vom 10.2.2020 genehmigten Vorhabens der Beigeladenen aus (dazu 2.).
171. Nach dem anzulegenden Prüfungsmaßstab leidet die Genehmigung nicht offensichtlich an dem vom Verwaltungsgericht angenommenen Mangel eines durchgreifenden Verstoßes gegen ein Tötungsverbot nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG in Bezug auf die Spezies Milvus milvus (Rotmilan) (dazu a), ebenso wenig leidet sie an anderweitigen offensichtlichen Mängeln (dazu b).
18a) Es erscheint nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die angefochtene Genehmigung wegen Verstoßes gegen § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG mit Blick auf ein Tötungsverbot in Bezug auf die Exemplare der geschützten Tierart Milvus milvus (Rotmilan) rechtswidrig ist, ob ein solcher Verstoß vorliegt, hält der Senat hier für eine zumindest offene Frage (dazu aa); es kann infolgedessen dahin stehen, ob die Prognose des Weiteren unabhängig davon auch deshalb nicht im Sinne eines eindeutigen Ergebnisses der Rechtswidrigkeit zu treffen wäre, weil hier - eine signifikante Erhöhung des Tötungsrisikos unterstellt - ein Ausnahmetatbestand nach § 45 Abs. 7 BNatSchG in Betracht zu ziehen wäre (dazu bb).
19aa) Summarischer Prüfung zufolge ist die Annahme des Antragsgegners, dass unter Einbeziehung der Vermeidungsmaßnahmen durch das Vorhaben keine signifikante Risikoerhöhung im Sinne von § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BNatSchG zu befürchten ist, nicht etwa unvertretbar, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat, vielmehr ist diese Frage als zumindest offen anzusehen. Dies gilt sowohl mit Blick auf die vom Verwaltungsgericht als tragend präsentierte Begründung, die Raumnutzungsanalysen für das Jahr 2018 belegten ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko (Seite 27 bis 34 des Beschlussabdrucks) als auch für die als nicht tragend dargestellten Erwägungen zu einer durch eine Brut eines Rotmilanpaares im Jahr 2019 innerhalb eines engeren Radius von 1.000 m ausgelösten Vermutung eines signifikant erhöhten Tötungsrisikos und dessen fehlender Entkräftung durch gegenläufige Erkenntnisse (Seite 20 - 27 des Beschlussabdrucks.)
20Nach dem Zugriffsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG in der Fassung vom 29.9.2017 ist es verboten, wild lebenden Tieren der besonders geschützten Arten nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen oder zu töten oder ihre Entwicklungsformen aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören. Für nach § 15 Abs. 1 unvermeidbare Beeinträchtigungen durch Eingriffe in Natur und Landschaft, die nach § 17 Abs. 1 oder Abs. 3 zugelassen oder von einer Behörde durchgeführt werden, sowie für Vorhaben im Sinne des § 18 Abs. 2 Satz 1 gilt das Zugriffsverbot nur nach Maßgabe des § 44 Abs. 5 Satz 2 bis 5 BNatSchG. Nach § 44 Abs. 5 Satz 2 BNatSchG liegt ein Verstoß gegen das Verbot der Tötung und Verletzung nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG - wenn in Anhang IV Buchstabe a der Richtlinie 92/43/EWG (Habitatrichtlinie) aufgeführte Tierarten, europäische Vogelarten oder solche Arten, die in einer Rechtsverordnung nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 aufgeführt sind, betroffen sind - nicht vor, wenn die Beeinträchtigung durch den Eingriff oder das Vorhaben das Tötungs- und Verletzungsrisiko für Exemplare der betroffenen Arten nicht signifikant erhöht wird und diese Beeinträchtigung bei Anwendung der gebotenen, fachlich anerkannten Schutzmaßnahmen nicht vermieden werden kann.
21Das anhand einer wertenden Betrachtung auszufüllende Kriterium der Signifikanz trägt dem Umstand Rechnung, dass für Tiere bereits vorhabenunabhängig ein allgemeines Tötungs- und Verletzungsrisiko besteht, welches sich nicht nur aus dem allgemeinen Naturgeschehen ergibt, sondern auch dann sozialadäquat sein kann und deshalb hinzunehmen ist, wenn es zwar vom Menschen verursacht ist, aber nur einzelne Individuen betrifft. Denn tierisches Leben existiert nicht in einer unberührten, sondern in einer von Menschen gestalteten Landschaft. Nur innerhalb dieses Rahmens greift der Schutz des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG. Umstände, die für die Beurteilung der Signifikanz eine Rolle spielen, sind insbesondere artspezifische Verhaltensweisen, häufige Frequentierung des durchschnittenen Raums und die Wirksamkeit vorgesehener Schutzmaßnahmen, darüber hinaus gegebenenfalls auch weitere Kriterien im Zusammenhang mit der Biologie der Art.
22Vgl. BVerwG, Beschluss vom 7.1.2020 - 4 B 20.19 -, juris; ebenso OVG NRW, Beschluss vom 20.11.2020 - 8 A 4256/19 -, juris.
23Die Spezies Milvus milvus (Rotmilan) unterfällt nach § 7 Abs. 2 Nr. 14a BNatSchG dem besonderen nationalen Artenschutz, sie ist im Anhang A zur VO EG Nr. 338/97 des Rates vom 9.12.1996 genannt und gehört auch zu den europäischen Vogelarten (vgl. den Anhang I zur Richtlinie 2009/147/EG - Vogelschutzrichtlinie).
24Es erscheint hier zumindest offen und bedarf gegebenenfalls weiterer Prüfung im Hauptsacheverfahren, ob mit Blick auf das Vorbringen des Antragsgegners und der Beigeladenen zur Raumnutzungsanalyse für das Jahr 2018, auf die sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts letztlich allein tragend stützt, die dort angenommene Rechtswidrigkeit des Genehmigungsbescheids vom 10.2.2020 festgestellt werden kann. Der Antragsgegner erschüttert mit seinem Vorbringen ebenso wie die Beigeladene in hinreichender Weise die Annahmen des Verwaltungsgerichts zur Aufenthaltswahrscheinlichkeit von Exemplaren der Spezies Milvus milvus (Rotmilan) in dem in Rede stehenden Bereich und greift hier insbesondere die Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichts an, die dieses aus drei Beobachtungen des Gutachters während 10 Beobachtungstagen gezogen hat.
25Ein Verstoß gegen § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG wäre im Übrigen voraussichtlich auch nicht mit Blick auf die weitere, vom Verwaltungsgericht nicht als tragend angelegte Erwägung anzunehmen.
26Ob hier eine im Ergebnis durchgreifende Vermutungswirkung im Sinne einer signifikanten Risikoerhöhung aufgrund einer Brut eines Rotmilanpaares im Jahr 2019 in einem Abstand von unter 1.000 m vom Vorhabenstandort anzunehmen ist, bedürfte einer eingehenden Prüfung im Hauptsacheverfahren, dies beträfe jedenfalls die weitere Klärung, ob eine etwaige Vermutung, wie vom Antragsgegner und den Gutachtern Fehr und Loske angenommen, durch die Ergebnisse von Raumnutzungsanalysen für das Jahr 2019 in vertretbarer Weise widerlegt ist.
27Vgl. zum Prüfungsmaßstab der Vertretbarkeit: BVerfG, Beschluss vom 23.10.2018 - 1 BvR2523/13 -, BRS 86 Nr. 153 = BauR 2019, 492 = juris.
28Bei der Prüfung dieser Erwägungen ist im Übrigen voraussichtlich auch in den Blick zu nehmen, ob im Jahr 2020 in dem in Rede stehenden Umgebungsbereich ein Rotmilanpaar gebrütet hat. Sofern dies nicht der Fall war - wofür nach Auswertung der vorliegenden Gutachten und Stellungnahmen Überwiegendes spricht - handelte es sich um einen für das Vorhaben der Beigeladenen günstigen Umstand. Ein solcher Umstand müsste bei der Beurteilung im Hauptsacheverfahren nach den maßgeblichen Grundsätzen berücksichtigt werden.
29Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 26.9.2019 - 7 C 5.18 -, juris.
30bb) Falls im Hauptsacheverfahren ein Verstoß gegen den Tatbestand des Tötungsverbots festgestellt werden sollte, so wäre darüber hinaus zu prüfen, ob eine Ausnahme nach § 45 Abs. 7 BNatSchG im Rahmen der Konzentrationswirkung der Genehmigung vom 10.2.2020 (vgl. § 13 BImSchG) erteilt worden ist und erteilt werden durfte. Der Senat weist hierzu lediglich vorsorglich auf Folgendes hin:
31Nach § 45 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG können die für Naturschutz und Landschaftspflege zuständigen Behörden von Verboten des § 44 weitere Ausnahmen zulassen, und zwar etwa nach Nr. 5 aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art. Nach § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG darf eine Ausnahme nur zugelassen werden, wenn zumutbare Alternativen nicht gegeben sind und sich der Erhaltungszustand der Populationen einer Art nicht verschlechtert, soweit nicht Art. 16 der Richtlinie 92/43/EWG weiter gehende Anforderungen enthält. Nach Satz 3 sind Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 92/43 EWG und Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2009/147/EG zu beachten.
32Eine solche Ausnahme nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 BNatSchG kommt grundsätzlich für die Windenergienutzung in Betracht.
33Vgl. etwa HessVGH, Beschluss vom 6.11.2018 - 9 B 765/18 -, ZUR 2019, 169 = juris; Umweltministerkonferenz, Hinweise zu den rechtlichen und fachlichen Ausnahmevoraussetzungen nach § 45 Abs. 7 BNatSchG bei der Zulassung von Windenergievorhaben vom 13.5.2020; Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung für den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes vom 12.4.2017, BT-Drs. 18/11939, Seite 17; Müller-Mitschke, NuR 2015, 741, 744; Lau, in Frenz/Müggenborg, Bundesnaturschutzgesetz, Kommentar, 3. Auflage 2021, § 45 Rn. 29ff.; für ein Abstellen auf § 45 Abs. 7 Nr. 4 (öffentliche Sicherheit) etwa Hofmann, Gutachten "Artenschutz und Europarecht im Kontext der Windenergie - Der Klimaschutz und die Auslegung der Ausnahmeregelungen der Vogelschutzrichtlinie" 2020 sowie VG Wiesbaden, Urteil vom 24.7.2020 - 4 K 2962/16.WI -, ZNER 2020, 582 = juris.
34Eine solche erforderliche oder auch vorsorgliche Ausnahme dürfte der Sache nach summarischer Prüfung zufolge mit dem angegriffenen Bescheid erteilt worden sein. Dies folgt aus § 13 BImSchG, auf den in dem Tenor des Bescheids i. Ü. auch Bezug genommen wird. Die Konzentrationswirkung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung umfasst auch artenschutzrechtliche Ausnahmen nach § 45 Abs. 7 BNatSchG.
35Vgl. etwa Jarass, BImSchG, 12. Auflage, § 13 Rn. 7;
36Hamb. OVG, Urteil vom 1.9.2020 - 1 E 26/18 -, juris.
37Soweit mithin nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 und Satz 2 BNatSchG eine Ausnahme vom Tötungsverbot in Bezug auf den Rotmilan bei anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich wirtschaftlicher Art in Betracht käme, stünde deren Rechtmäßigkeit nicht von Vornherein das Erfordernis des Satzes 2 entgegen (Fehlen zumutbarer Alternativen). Mit Blick auf die Privilegierung der in Rede stehenden Windenergieanlagen im Außenbereich nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB und das Interesse an der Erreichung der Ausbauziele für Windkraft an Land, die von zentraler Bedeutung für die Energiewende ist,
38vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum Gesetz zur Beschleunigung von Investitionen, BT-Drs. 19/22139, Seite 12, 25,
39kann dies nicht dahin verstanden werden, dass ein Betreiber auf irgendwelche anderen Standorte im Bundesgebiet verwiesen werden könnte.
40Vgl. dazu näher Lau, in Frenz/Müggenborg, BNatSchG, Kommentar, 3. Aufl. 2021, § 45 Rn. 29 ff., sowie VG Wiesbaden, Urteil vom 24.7.2020 - 4 K 2962/16.WI -, ZNER 2020, 582 = juris; Umweltministerkonferenz, Hinweise vom 13.5.2020, Seite 13 ff.
41An den Voraussetzungen für die Möglichkeit einer Ausnahmeerteilung nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 BNatSchG fehlt es summarischer Prüfung zufolge auch nicht von Vornherein mit Blick auf unionsrechtliche Vorgaben zum Artenschutz, die durch§§ 44f. BNatSchG umgesetzt werden sollen. Dies gilt namentlich für die Vorgaben der Vogelschutzrichtlinie, deren Schutz als Art des Anhangs I die Spezies Milvus milvus (Rotmilan) unterfällt, nach deren Art. 5 und 9.
42A. A. VG Gießen, Urteil vom 22.1.2020
43- 1 K 6019/18.GI -, ZUR 2020, 430 = juris.
44Insoweit spricht Einiges für ein ungeschriebenes weiteres Tatbestandsmerkmal für eine Ausnahme von den Vorgaben der Vogelschutzrichtlinie im Sinne einer Gleichstellung der Ausnahmemöglichkeiten des Art. 16 der Habitatrichtlinie und des Art. 9 der Vogelschutzrichtlinie.
45Vgl. auch OVG Bln.-Bbg., Beschluss vom 20.2.2020 - OVG 11 S 8/20 -, ZUR 2020, 368 = DVBl 2020, 1417 = juris; vgl. ferner Bick/Wulfert, Artenschutzrechtliche Ausnahme für Vogelarten, NuR 2020, 250.
46Es wird erwogen, dass aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt, dass ein entsprechender Ausnahmetatbestand auch für den Anwendungsbereich der Vogelschutzrichtlinie gilt.
47Vgl. Müller/Klostermeier, Entscheidungsbesprechung zu 1 K 6019/18.GI, NVwZ 2020, 774,
48und auch die Gesetzentwurfsbegründung BT-Drs. 16/5100 zu § 42 BNatSchG a. F.; kritisch dazu Gellermann, "Windkraftnutzung und Schutz europäischer Vogelarten" Rechtswissenschaftliche Stellungnahme im Auftrag des Antragstellers vom 15.7.2020, der bis zu einer Entscheidung des EuGH eine entsprechende Auslegung nach der Systematik der Vogelschutzrichtlinie für ausgeschlossen hält.
49Schließlich dürfte die Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahme auch nicht von Vornherein im Hinblick auf die Ausgestaltung des § 45 Abs. 7 BNatSchG als Ermessensvorschrift ausscheiden. Die Betätigung dieses Ermessen dürfte im Sinne einer Ausnahmegewährung vorgezeichnet (intendiert) sein, wenn die strengen tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 und Satz 2 BNatSchG erfüllt sind.
50Vgl. etwa OVG Koblenz, Urteil vom 6.11.2019 - 8 C 10240/18 -, DVBl. 2020, 459 = juris; sowie auch die Hinweise der Umweltministerkonferenz vom 13.5.2020, Seite 23 m. w. N. zur Literatur.
51b) Andere Gründe, die die Annahme einer voraussichtlichen Rechtswidrigkeit der Genehmigung vom 10.2.2020 rechtfertigen könnten, vermag der Senat ebenso wenig zu erkennen. Hierzu ist mit Blick auf die erstinstanzlich erörterten artenschutzrechtlichen Erwägungen zur Spezies Ciconia nigra (Schwarzstorch) darauf hinzuweisen, dass diese Aspekte in der Regelung des Bescheids vom 10.2.2020 mit Vorgaben für ein ornithologisches Monitoring und daran anknüpfende Abschaltanordnungen für bestimmte sensible Zeiträume aufgegriffen sind. Deshalb dürfte voraussichtlich ein Verstoß gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG nach Maßgabe der Signifikanzregelung des § 44 Abs. 5 Satz 2 BNatSchG fern liegen. Die im Rahmen der Klagebegründung in der Hauptsache hierzu vorgebrachten Einwände des Antragstellers (Akte 6 K 871/20, Bl. 150 ff. Abschnitt C.) sind danach abschließend im Hauptsacheverfahren zu prüfen. Das gleiche gilt für die artenschutzrechtlichen Erwägungen des Antragstellers zu den Tierarten Haselhuhn und Wildkatze sowie zu Fledermäusen. Ebenso muss es der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, ob vorliegend Anforderungen an die Umweltverträglichkeitsprüfung im Hinblick auf das von dem Antragsteller gesehene Vorliegen eines gemeinsamen Einwirkungsbereichs in Bezug auf den "Windpark" E. I bis III unter Einbeziehung der bestehenden Anlagen zu stellen sind (vgl. dazu Bl. 150 ff., 271 der Akte 6 K 871/20 Abschnitt D. I.). Das Gleiche gilt für die Erwägungen zu vom Antragsteller befürchteten Beeinträchtigungen benachbarter Naturschutzgebiete sowie des benachbarten FFH-Gebiets "N. C. und Q. ". Es gilt schließlich auch für Erwägungen zum Bauverbot im Landschaftsschutzgebiet.
522. Bei der - angesichts der mithin offenen Erfolgsaussichten der Klage gebotenen - folgenorientierten Abwägung überwiegen die Interessen, die für eine sofortige Vollziehbarkeit der Genehmigung vom 10.2.2020 sprechen.
53Hier kommt dem Umstand, dass die Klage nach § 63 BImSchG in der Fassung der Änderung durch das Gesetz vom 3.12.2020 keine aufschiebende Wirkung hat, maßgebliche Bedeutung zu.
54In den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1, 2 und 3 VwGO hat der Gesetzgeber einen grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses angeordnet, sodass es besonderer Umstände bedarf, um eine hiervon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen. Aufgrund dieser gesetzlichen Entscheidung sind die Gerichte in diesem Fall zu einer Einzelfallbetrachtung grundsätzlich nur im Hinblick auf solche Umstände angehalten, die von den Beteiligten vorgetragen werden und die Annahme rechtfertigen können, dass im konkreten Fall von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ausnahmsweise abzuweichen ist.
55Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 10.10.2003 - 1 BvR 2025/03 -, NVwZ 2004, 93.
56Im Falle des gesetzlich angeordneten Sofortvollzugs ist bei der Gesamtwürdigung die gesetzgeberische Entscheidung für den grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses zu berücksichtigen. Die Folgen, die sich für den einzelnen Antragsteller mit dem Sofortvollzug verbinden, sind regelmäßig nur dann beachtlich, wenn sie nicht schon als regelmäßige Folge der gesetzlichen Anordnung des Sofortvollzugs in der gesetzgeberischen Grundentscheidung Berücksichtigung gefunden haben.
57Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 24.8.2011 - 1 BvR 1611/11 -, NVwZ 2012,104.
58Hiervon ausgehend sind in die Abwägung auf der einen Seite namentlich die Belange des Artenschutzes einzustellen; auf der anderen Seite sind nicht nur die wirtschaftlichen Belange der Beigeladenen zu berücksichtigen, sondern auch das schon in der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Antragsgegners vom 22.4.2020 hervor gehobene öffentliche Interesse an einer ausreichenden und sicheren Energieversorgung mit erneuerbarer Energie im Rahmen der Energiewende.
59Vgl. dazu auch die Begründung des Regierungsentwurfs zum EEG 2021, BT-Drs. 19/23482, Seite 96 sowie zur unionsrechtlichen Bedeutung des Belangs der Stromversorgungssicherheit: EuGH, Urteil vom 29.7.2019 - C-411/17 -, juris.
60So ist in § 1 Abs. 2 und 4 EEG 2021 festgeschrieben, dass der Anteil des aus erneuerbaren Energien - dazu zählt vornehmlich die Windenergie - erzeugten Stroms bis 2030 auf einen Anteil von 65 % des Bruttostromverbrauchs steigen soll und dass der Ausbau erneuerbarer Energie stetig erfolgen soll. Der Ausbaupfad wird in § 4 Nr. 1 EEG 2021 für die Windenergieanlagen an Land näher dahin bestimmt, dass jeweils bestimmte Vorgaben für die im Ergebnis zu erreichende Steigerung der installierten Leistung festgeschrieben werden (57 Gigawatt im Jahr 2022, 62 Gigawatt im Jahr 2024, 65 Gigawatt im Jahr 2026, 68 Gigawatt im Jahr 2028 und 71 Gigawatt im Jahr 2030). Damit sind die Zielvorgaben nach der früheren Fassung des EEG nachgeschärft worden. Das öffentliche Interesse an einer ausreichenden und sicheren Versorgung mit erneuerbarer Energie hat auch zudem nach den Zielen des Bundesnaturschutzgesetzes nach § 1 Abs. 3 Nr. 4 BNatSchG besondere Bedeutung.
61Ein Überwiegen von Artenschutzbelangen gegenüber den genannten Belangen der öffentlichen Energieversorgung im Sinne der genannten Ziele der Energiewende und den Eigentümerinteressen der Beigeladenen, das hier ausnahmsweise eine Abweichung von der gesetzlichen Wertung des § 63 BImSchG rechtfertigen könnte, kann der Senat nicht feststellen. Dabei ist im Rahmen der Interessenabwägung mit Blick auf den Zweck des Artenschutzes, der - auch wenn er sich wie in § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG individuenbezogener Verbote bedient - auf den Schutz der Population und nicht des Individuums gerichtet ist,
62vgl. Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, 3. Auflage, Rn. 278 m. w. N.,
63zu berücksichtigen, dass der Bestand der Population der Spezies Milvus milvus (Rotmilan) nach den vorliegend nicht erschütterten Feststellungen des Gutachters vom 12.8.2019 in NRW und im Bundesgebiet als nicht gefährdet beurteilt wird.
64Der Artenschutz, den die Spezies Milvus milvus als Art des Anhangs I der Vogelschutzrichtlinie genießt, rechtfertigt nicht etwa deshalb ein anderes Abwägungsergebnis, weil das Unionsrecht in Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, einen vollständigen und wirksamen Rechtsrahmen zu erlassen.
65Vgl. EuGH, Urteil vom 17.4.2018 - C-441/17 -, ZUR 2018, 349 = juris sowie EuGH, Urteil vom 4.3.2021
66- C-473/19 - und C-474/19.
67Daraus folgt nicht, dass für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens mit ungewissem Ausgang durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung jegliche Verluste geschützter Exemplare verhindert werden müssten. Die Belange einer sicheren Energieversorgung mit erneuerbaren Energien haben neben ihrer völkerrechtlichen Fundierung auch nach dem Unionsrecht eine besondere Bedeutung,
68Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 29.7.2019 - C 411/17 -, juris; sowie die Hinweise der Umweltministerkonferenz vom 13.5.2020, Seite 5, m. w. N.,
69sie müssen jedenfalls bei dem hier gegebenen Bestand der geschützten Art nicht für die Dauer des Hauptsacheverfahrens hintan gestellt werden, um bei ungewisser Rechtslage individuenbezogen irreparable Folgen durch Verluste einzelner Exemplare des Rotmilans zu vermeiden. Angesichts der Wertung des Gesetzgebers, die sich aus dem grundsätzlichen Wegfall der aufschiebenden Wirkung nach § 63 BImSchG n. F. ersehen lässt, bleibt es damit bei der sofortigen Vollziehbarkeit der Genehmigung.
70Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 3 VwGO.
71Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 GKG.
72Dieser Beschluss ist unanfechtbar.