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Das angefochtene Urteil wird geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die erstattungsfähig sind.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Kostengläubiger Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Die Kläger wenden sich gegen eine Baugenehmigung, die die Beklagte dem Beigeladenen für einen Anbau an sein Einfamilienhaus erteilt hat.
3Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks Gemarkung E. , Flur 00, Flurstück 000 (T. straße 00 in E. ). Der Beigeladene ist Eigentümer des westlich gelegenen Nachbargrundstücks Gemarkung E. , Flur 00, Flurstück 000 (T. straße 00 in E. ). Die Grundstücke sind grenzständig mit zweigeschossigen Wohngebäuden bebaut. Die Grundstücke liegen im Denkmalbereich „Zechensiedlung E. -M. “ und im Geltungsbereich der Satzung der Stadt E. für die Gestaltung der Zechensiedlung E. -M. vom 21.7.2004.
4Am 30.11.2016 beantragte der Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung im vereinfachten Genehmigungsverfahren für einen gartenseitigen Anbau und die Änderung des Eingangsbereichs. Mit Bescheid vom 16.2.2017 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen die denkmalrechtliche Erlaubnis für den Umbau und mit Bescheid vom 1.9.2017 die beantragte Baugenehmigung. Nach Beginn der Bauarbeiten wandten sich die Kläger mit Schreiben vom 13.3.2018 an die Beklagte und forderten die Stilllegung der Baustelle. Daraufhin übersandte die Beklagte den Klägern mit Schreiben vom 15.3.2018 die Baugenehmigung.
5Die Kläger haben am 20.4.2018 gegen die Baugenehmigung Klage erhoben.
6Zur Begründung der Klage haben sie im Wesentlichen ausgeführt: Sie wehrten sich gegen die Baugenehmigung nur insoweit, als sie den gartenseitigen Anbau an das Haus T. straße 00 betreffe. Die Änderung des Eingangsbereichs sei für sie ohne Interesse, auch wenn diese wahrscheinlich gegen denkmalrechtliche Vorgaben verstoße. Sie seien im Vorfeld nicht angehört worden. Sie hätten der Grenzbebauung auch nicht vorab zugestimmt und seien nicht bereit, diese nachträglich zu genehmigen. Das Vorhaben führe zu einer erheblichen Beeinträchtigung ihres Eigentums. Es verstoße gegen Abstandsflächenrecht und führe zu einer unzumutbaren Verschattung ihrer Terrasse und der zum Garten gerichteten Fenster ihres Hauses. Ein Verzicht auf eine Abstandsfläche für den Anbau auf dem Nachbargrundstück sei in dem Gebiet der Zechensiedlung nicht gerechtfertigt. Es liege ein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot vor. Nach der Verwirklichung des Vorhabens stelle das Gebäude des Beigeladenen gemeinsam mit ihrem Wohnhaus kein Doppelhaus mehr dar. Bei den Häusern T. straße 00 und 00 habe es sich ursprünglich um zwei Doppelhaushälften gehandelt, die baugleich und spiegelverkehrt aufgeteilt gewesen seien. Durch den Anbau werde der weit überwiegende Teil der Gartenfläche des Hauses T. straße 00 überbaut. Der Anbau füge sich nicht harmonisch in den Gesamtbaukörper ein, sondern vermittle den Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus.
7Die Kläger haben beantragt,
8die dem Beigeladenen von der Beklagten erteilte Baugenehmigung vom 1.9.2017 aufzuheben, soweit durch diese eine rückwärtige Erweiterung des Gebäudes auf dem Grundstück Gemarkung E. , Flur 10, Flurstück 000 (T. straße 00, 00000 E. ) zugelassen wird.
9Die Beklagte hat beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie hat im Wesentlichen geltend gemacht: Die Baugenehmigung sei rechtmäßig und verletze die Kläger nicht in ihren Rechten. Die Kläger hätten vor Erteilung der Baugenehmigung nicht angehört werden müssen. Es liege auch keine Abweichung vor, so dass eine Benachrichtigung der Angrenzer entfalle. Selbst wenn eine Anliegerbeteiligung verfahrensfehlerhaft unterblieben wäre, ergäbe sich hieraus keine für die Kläger günstige Rechtsposition. Die Baugenehmigung sei auch materiell rechtmäßig. Für das Vorhabengebiet existiere kein Bebauungsplan. Die Gestaltungssatzung lasse in § 14 Abs. 2 rückwärtige Anbauten bis zu einer Tiefe von max. 5 m zu. Es liege kein Abstandsflächenverstoß vor. Nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW a. F. sei innerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen eine Abstandsfläche nicht erforderlich gegenüber Grundstücksgrenzen, gegenüber denen nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand gebaut werden müsse oder dürfe. Planungsrechtliche Vorschrift sei auch das Einfügungsgebot des § 34 Abs. 1 BauGB. Bereits im direkten Umfeld, also lediglich auf die Häuser mit ungeraden Hausnummern in der T. straße (z.B. Nrn. 00 und 00) bezogen, fänden sich Anbauten im rückwärtigen Bereich, die § 14 Abs. 2 der Gestaltungssatzung entsprächen. Zudem seien die Häuser auch mit dem genehmigten Umbau noch als einheitliches Doppelhaus erkennbar. Bei § 34 BauGB komme es allein auf die Lage der zur Bebauung bestimmten Fläche, nicht dagegen auf die formalen Grundstücks- oder Parzellengrenzen oder eine Relation des Bauvorhabens zum Gesamtgrundstück an. Das Vorhaben des Beigeladenen halte sich im Rahmen der Umgebungsbebauung. Für vergleichbare oder gar identische Anbauten im rückwärtigen Bereich gebe es mehrere prägende Beispiele. Es komme nicht darauf an, dass die anliegenden Grundstücke tiefere Gärten hätten, als die Grundstücke der Kläger und des Beigeladenen. Auch halte sich der Anbau nach der neueren Rechtsprechung im zulässigen Rahmen. Ein wie im Ortstermin des Verwaltungsgerichts geforderter minimaler Rückbau sei völlig unverhältnismäßig.
12Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Er hat auf ein Schreiben seines Architekten verwiesen, nach dessen Inhalt dieser im Vorfeld der Planung Kontakt zu den Klägern aufgenommen und das Vorhaben erläutert habe sowie die Grenzproblematik erörtert worden sei.
13Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 10.4.2019 der Klage stattgegeben und ausgeführt, die Baugenehmigung verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme, weil sich in die Eigenart der näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB nur ein Vorhaben in offener Bauweise (§ 22 Abs. 2 BauNVO) einfüge, das Vorhaben des Beigeladenen aber nicht mehr Teil eines Doppelhauses sei; von dem Vorhaben gehe zudem eine unzumutbare erdrückende Wirkung auf das Grundstück der Kläger aus. Wegen der weiteren Begründung wird auf die Entscheidungsgründe verwiesen.
14Die Beklagte trägt zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung im Wesentlichen vor: Aus den Hausakten des Gebäudes T. straße 00/00 ergebe sich, dass es sich bei dem Gebäude nie um ein sogenanntes Doppelhaus gehandelt habe. Vielmehr sei es als Mehrparteienhaus mit zwei Wohnungen und einer gemeinsamen Brandwand errichtet worden. Mit Baugenehmigung vom 20.8.1920 sei die Genehmigung zum Bau auf einem Grundstück erteilt worden. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg sei der Wiederaufbau eines Wohnhauses beantragt worden. Die Baugenehmigung sei im März 1949 erteilt worden. Mit Beginn der Fünfzigerjahre sei eine Parzellierung des Geltungsbereichs erfolgt. Das Grundstück T. straße 00/00 sei im Jahr 1950 in zwei Flurstücke aufgeteilt worden. Deshalb sei die "Doppelhausrechtsprechung" des Bundesverwaltungsgerichts nicht anwendbar. Es könne unabhängig von der Einhaltung der Grenzabstände an das Haus angebaut werden. Die Baugenehmigung verletze auch nicht das Rücksichtnahmegebot. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtes sei nicht nur die Ansicht der Rückseite des Gebäudes maßgeblich. Ein wesentlich größeres Gewicht für die Beurteilung habe die identische Straßenansicht mit einheitlicher Hausfront, die gleiche Geschosszahl und Breite der Gebäude, die gleichen Dachformen und Dachneigungen und der sich daraus ergebende Gesamteindruck. Auch die Tiefe des Anbaus mit 5 m halte sich bei einer Gebäudetiefe von 8,26 m in einem angemessenen Rahmen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht durch die Höhe des Anbaus. Die Ausgestaltung des Anbaus als Hochparterre sei aufgrund der örtlichen Gegebenheiten und des bestehenden Denkmalschutzes unumgänglich. Zu berücksichtigen sei auch, dass die kleinen Zechenhäuser nach heutigen Maßstäben keinen ausreichenden Wohnraum böten. Dem Anbau komme auch keine erdrückende Wirkung zu und er verschatte das Grundstück der Kläger nicht wesentlich. Es sei von einer geschlossenen Bauweise auszugehen. In der näheren Umgebung befänden sich an vielen Häusern genehmigte Anbauten, die dem vom Beigeladenen errichteten Anbau entsprächen.
15Die Beklagte beantragt,
16das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
17Der Beigeladene beantragt ebenfalls,
18das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
19Er trägt im Wesentlichen vor: Es liege kein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme vor. Im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB sei auf die Umgebungsbebauung abzustellen. Die Doppelhäuser in der Umgebung seien in der Regel identisch mit seinem Vorhaben. Es gebe auch identische Anbauten im rückwärtigen Bereich, so dass der Baukörper des Anbaus sich in Höhe und Tiefe nicht von mehreren Vergleichsobjekten in der Umgebung unterscheide. So sei in der C. straße 00 ein ähnlicher Anbau vorhanden. Das Gebäude wahre auch nach dem Umbau den Doppelhauscharakter. Ursprünglich sei der Kläger mit der Planung einverstanden gewesen. Er habe erklärt, zeitnah einen Wintergarten grenzständig errichten zu wollen. Die Begehung beim Ortstermin habe ergeben, dass sich in der näheren Umgebung des klägerischen Grundstücks viele Häuser mit Anbauten befänden, die seinem Anbau entsprächen. Dabei handele es sich um genehmigte Anbauten.
20Die Kläger beantragen,
21die Berufungen zurückzuweisen.
22Sie tragen zur Begründung im Wesentlichen vor: Es werde bestritten, dass es sich bei dem Gebäude T. straße 00/00 nur um ein Grundstück handele bzw. gehandelt habe. Zumindest handele es sich jetzt um ein Gebäude auf zwei Grundstücken. Der Anbau verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Das Grundstück des Beigeladenen habe eine Gesamtgröße von 224 m² und weise nach dem Umbau eine Wohnfläche von 148 m² auf. Damit liege die Voraussetzung eines Gebäudes mit einer geringen Wohnfläche im Sinne des § 14 Abs. 2 der Gestaltungssatzung nicht vor. Das Gebäude sei auch nicht nur eingeschossig. Es sei zwingend erforderlich, dass der Anbau die Grenzabstände achte. Nach dem Umbau könne nicht mehr von einem Doppelhaus gesprochen werden. Der Anbau sei derart erheblich, dass er zusammen mit dem Hauptgebäude des Beigeladenen ein einheitliches Gebäude, losgelöst von dem Gebäudeteil T. straße 00 darstelle. Von dem Anbau gehe eine erdrückende Wirkung auf ihr Grundstück aus. Insbesondere führe der Anbau zu einer erheblichen Verschattung ihres Grundstücks. Eine Bezugnahme auf das Grundstück C. straße 00 verbiete sich. Dieses liege nicht mehr in der unmittelbaren Umgebung des Vorhabens. Auch würden die Abstandsflächen nicht eingehalten. Es liege kein Anwendungsfall von § 6 Abs. 16 BauO NRW a. F. vor. Ihr Gartenbereich werde zu bestimmten Uhrzeiten vollständig verschattet.
23Der Berichterstatter des Senats hat die Örtlichkeit am 6.7.2020 besichtigt. Wegen der dabei getroffenen Feststellungen wird auf die dazu gefertigte Niederschrift Bezug genommen.
24Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
25E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
26Der Senat entscheidet im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, §§ 125, 101 Abs. 2 VwGO.
27Die zulässigen Berufungen der Beklagten und des Beigeladenen sind begründet.
28Die zulässige Klage ist unbegründet.
29Die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 1.9.2017 verletzt keine Nachbarrechte der Kläger.
30Die Genehmigung verstößt nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme, weil die Gebäude der Kläger und des Beigeladenen durch die Umsetzung der angefochtenen Baugenehmigung möglicherweise ihre Doppelhauseigenschaft verloren haben könnten, wie das Verwaltungsgericht es seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. Die "Doppelhausrechtsprechung" findet hier keine Anwendung.
31Die maßgebliche nähere Umgebung des Vorhabens ist nicht in offener oder - wie die Beklagte geltend macht - geschlossener Bauweise bebaut; es handelt sich nach den Eindrücken des Berichterstatters im Ortstermin, die er dem Senat in der Beratung vermittelt hat, und dem vorliegenden Kartenmaterial vielmehr um eine Gemengelage zwischen offener und abweichender Bauweise i. S. d. § 22 Abs. 4 BauNVO mit prägenden Vorbildern für das Vorhaben des Beigeladenen.
32In einem unbeplanten Gebiet mit teils offener, teils geschlossener Bebauung sind regelmäßig beide Bauweisen planungsrechtlich zulässig, daran ändert sich nichts, wenn die eine Bauweise zahlenmäßig überwiegt. Entsprechendes gilt in einer gegebenen Gemengelage aus offener und abweichender Bauweise; in einem bei quantitativer Betrachtung überwiegend in offener Bauweise bebauten Bereich fügt sich eine abweichende Bebauung ein, wenn dafür in der maßgeblichen Umgebung (prägende) Vorbilder vorhanden sind, bei denen es sich nicht nur um Fremdkörper handelt.
33Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 11.3.2019 - 7 B 53/19 -, juris, und vom 3.8.2017 - 7 A 1830/16 -, juris, m. w. N.
34Die maßgebliche nähere Umgebung des Vorhabens wird durch die beidseitige Bebauung entlang der T. straße (Nrn. 00-00 und 00-00) geprägt. Die dortigen Wohnhäuser sind überwiegend in der offenen Bauweise errichtet. In der offenen Bauweise können nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO die Gebäude mit seitlichem Grenzabstand als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen errichtet werden, wobei nach Satz 2 die Länge der in Satz 1 bezeichneten Hausformen höchstens 50 m betragen darf. Daneben befinden sich in der näheren Umgebung aber auch abweichende einseitig an der Grundstücksgrenze errichtete Anbauten, die nach den anzulegenden Maßstäben,
35vgl. BVerwG, Urteil vom 19.3.2015 - 4 C 12.14 -, BRS 83 Nr. 114 = BauR 2015, 1309,
36wegen ihrer Bebauungstiefe im Verhältnis zum Haupthaus und ihres Gesamterscheinungsbildes nicht mehr als Doppelhaus oder Hausgruppe eingestuft werden können. Dabei handelt es sich um die Wohngebäude T. straße 00, 00, 00 und 00. Die Gebäude T. straße 00, 00, 00 und 00 sind ebenfalls Zechenhäuser mit ähnlicher Bautiefe der Hauptgebäude, wie die Häuser der Kläger und des Beigeladenen. Sämtliche Gebäude besitzen gartenseitig genehmigte oder zumindest seitens der Beklagten geduldete und zu Wohnzwecken genutzte Anbauten.
37Insbesondere die Anbauten an die Wohngebäude T. straße Nrn. 00, 00 und 00 sind mit dem hier genehmigten Bauvorhaben des Beigeladenen vergleichbar und dienen diesem als Vorbild. Ausweislich der Nachtragsgenehmigung vom 18.7.2001 beträgt die Ausbautiefe des an das Wohnhaus T. straße 00 angebauten Kellers (Hobbyraum) und Erdgeschosses (Wohnraum) 5 m bei einer Gebäudetiefe des Haupthauses von 7,90 m (vgl. Beiakte 10 Blatt 12-18, 19). An dem Wohngebäude T. straße 00 befindet sich - abweichend von der Genehmigungslage (Baugenehmigung für den Neubau eines Wintergartens vom 21.2.2006, Beiakte 15) nach den Feststellungen im Ortstermin ein geschlossener Anbau mit ähnlicher Bebauungstiefe (vgl. Lichtbild Blatt 325 elektronische Gerichtsakte). Auch am Wohnhaus T. straße 00 befindet sich nach den Feststellungen im Ortstermin und ausweislich des Fortführungsrisses vom 5.10.2006 (Beiakte 16) ein Anbau mit angeschlossenem Wintergarten mit einer Gesamttiefe von über ca. 6 m. Aufgrund der Vielzahl vergleichbarer Anbauten handelt es sich bei diesen nicht um Fremdkörper.
38Der Senat kann nicht feststellen, dass das streitige Vorhaben unter dem Gesichtspunkt einer erdrückenden Wirkung zulasten der Kläger gegen das Rücksichtnahmegebot verstößt.
39Eine erdrückende Wirkung wird angenommen, wenn eine bauliche Anlage wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem es diesem förmlich "die Luft nimmt", wenn für den Nachbarn das Gefühl des "Eingemauertseins" entsteht oder wenn die Größe des "erdrückenden" Gebäudes auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalls - und gegebenenfalls trotz Wahrung der erforderlichen Abstandsflächen - derartig übermächtig ist, dass das "erdrückte" Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem "herrschenden" Gebäude dominierte Fläche ohne eigene Charakteristik wahrgenommen wird.
40Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9.12.2020 - 7 B 1264/20 -, juris, m. w. N.
41Diese Voraussetzungen liegen ersichtlich nicht vor. Der eingeschossige Anbau des Beigeladenen liegt an der westlichen Grundstücksgrenze des Grundstücks der Kläger. Nach Osten und Süden schließen sich an das klägerische Grundstück die Gärten der Grundstücke L. straße 00 und 00 und eine Wegefläche an. Südlich dieses Weges liegen die Gärten der Gebäude L. straße 00-00. Von einem "Eingemauertsein" kann auch unter Berücksichtigung des besonderen Zuschnitts des Grundstücks der Kläger somit nicht die Rede sein.
42Bei dieser Sachlage liegt auch unter dem Aspekt der Verschattung kein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot vor. Grundstückseigentümer haben es innerhalb bebauter innerstädtischer Bereiche grundsätzlich hinzunehmen, dass Grundstücke innerhalb des Rahmens baulich genutzt werden, den das Bauplanungsrecht und das Bauordnungsrecht vorgeben und dass es dadurch auch zu einer gewissen Verschattung von Grundstücken kommt, die in innerstädtischen bebauten Bereichen üblich ist.
43Vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.6.2019 - 7 A 2386/17 -, BRS 87 Nr. 129 = BauR 2019, 1406.
44Eine darüber hinausgehende vorhabenbedingte unzumutbare Verschattung ist aufgrund der Lage der Gebäude auf den Grundstücken nicht zu erkennen.
45Die Genehmigung verletzt auch keine bauordnungsrechtlichen Vorschriften, die Nachbarrechte der Kläger schützen.
46Allein in Betracht zu ziehende Verstöße gegen Abstandsrecht führen nicht zum Erfolg der Klage.
47Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW a. F. sind vor den Außenflächen von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Die Abstandsflächen müssen nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BauO NRW a. F. auf dem Grundstück selbst liegen. Nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW a. F. ist innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche eine Abstandsfläche nicht erforderlich gegenüber Grundstücksgrenzen, gegenüber denen nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand oder mit einem geringeren Grenzabstand als nach den Absätzen 5 und 6 gebaut werden muss (lit. a) oder gegenüber denen nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand gebaut werden darf, wenn gesichert ist, dass auf dem Nachbargrundstück ohne Grenzabstand gebaut wird (lit. b.).
48Soweit der Anbau grenzständig an die seitliche Grundstücksgrenze der Kläger genehmigt ist, sind die Voraussetzungen hinsichtlich der zweiten Alternative erfüllt.
49Das Gebäude darf nach planungsrechtlichen Vorschriften grenzständig errichtet werden, § 6 Abs. 1 Satz 2 lit. b BauO NRW a. F. Es liegt aus den vorstehenden Gründen eine planungsrechtliche Konstellation vor, in der eine grenzständige Bebauung planungsrechtlich zulässig ist. In einem solchen Fall darf im Sinne der genannten Bestimmung ohne Grenzabstand gebaut werden.
50Es ist auch davon auszugehen, dass im Sinne des Gesetzes gesichert ist, dass auf dem Nachbargrundstück ohne Grenzabstand gebaut wird. Hierfür bedarf es nicht einer öffentlich-rechtlichen Sicherung. Ausreichend ist das Vorhandensein eines legalen Gebäudes ohne Grenzabstand, das geeignet ist, die Funktion der Grenzbebauungsverpflichtung zu übernehmen. Das bestehende Gebäude und der Neubau müssen sich auf einer nennenswerten Länge überdecken, sodass von einer gemeinsamen Grenzbebauung gesprochen werden kann.
51Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 30.4.2019 - 10 A 1693/17 -, juris, m. w. N.
52Die bestehende Überdeckung der Gebäude der Kläger und des Beigeladenen von 8,17 m bei einer Gesamtgrenzbebauung von 13,17 m genügt diesen Anforderungen.
53Auch der rückwärtige Abstandsflächenverstoß des Vorhabens des Beigeladenen führt nicht zum Erfolg der Klage.
54Nach der im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung maßgeblichen Bestimmung des § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW a. F. bestand ein Anspruch auf Zulassung einer Abweichung zur Legalisierung des bestehenden Abstandsflächenverstoßes.
55Soweit in diesem Gesetz oder in aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften nichts anderes geregelt ist, kann die Genehmigungsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen dieses Gesetzes und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind, § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW a. F. Nach Absatz 1 Satz 2 der Vorschrift sind Abweichungen von § 6 insbesondere zulässig, wenn durch das Vorhaben nachbarliche Interessen nicht stärker oder nur unwesentlich stärker beeinträchtigt werden als bei einer Bebauung des Grundstücks, die nach § 6 zulässig wäre.
56Aufgrund der atypischen Zuschnitte der Grundstücke der Kläger und des Beigeladenen sind die Voraussetzungen für eine Abweichungserteilung gegeben. Der den Abstandsflächenregeln zugrunde liegende Normalfall ist ein auf einem rechteckig geschnittenen Grundstück errichtetes Gebäude, wobei die seitlichen Grundstücksgrenzen rechtwinklig zur Erschließungsstraße verlaufen.
57Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 22.10.2007 - 7 B 1598/07 -, juris, und vom 2.3.2007 - 10 B 275/07 -, BRS 71 Nr. 126 = BauR 2007, 1027; Boeddinghaus in Boeddinghaus/Hahn/Schulte/Radeisen, BauO NRW, § 6 Rn. 142.
58Davon weichen die Grundstückszuschnitte hier erheblich in atypischer Weise ab. Die hintere Grundstücksgrenze des klägerischen Grundstücks ist in Richtung Westen abgewinkelt; allein deshalb fällt die hintere Abstandsfläche des Anbaus auf das klägerische Grundstück (vgl. grüne Schraffur im Lageplan zum Entwurf einer Baulastverpflichtung, Beiakte 3 Blatt II 13).
59Durch die Abweichung werden die nachbarlichen Interessen der Kläger nur unwesentlich stärker beeinträchtigt. Die Abstandsfläche fällt lediglich auf den hinteren Gartenbereich des klägerischen Grundstücks. Nach den Eindrücken des Berichterstatters bei der Ortsbesichtigung, die er dem Senat in der Beratung vermittelt hat, sind insbesondere auch keine Anhaltspunkte für eine vorhabenbedingte zusätzliche Verschattung des Grundstücks gegeben, die einer Abweichung entgegen stünde.
60Bei der im vorliegenden Einzelfall gegebenen atypischen Grundstückssituation besteht hinsichtlich des in § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW a. F. eingeräumten Ermessens eine Bindung im Sinne einer Verpflichtung zur Zulassung einer Abweichung.
61Vgl. zur Ermessensreduzierung bei einem vergleichbaren Sachverhalt: OVG NRW, Beschluss vom 12.2.1997 - 7 B 2608/96 -, BRS 59 Nr. 162.
62Soweit die Kläger eine fehlende Beteiligung i. S. d. § 74 geltend machen, folgt daraus nichts anderes. Aus der fehlenden Angrenzerbeteiligung im Sinne von § 74 BauO NRW a. F. kann der Nachbar keine abwehrfähige Rechtsposition herleiten, da ein solcher Verfahrensfehler unabhängig von einer materiellen Rechtsverletzung des Nachbarn keinen Anspruch des nichtbeteiligten Nachbarn auf Aufhebung des Verwaltungsaktes begründen kann.
63Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18.2.2014 - 7 B 1416/13 -, juris.
64Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 2 und 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass den Klägern auch die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen auferlegt werden, denn der Beigeladene hat Berufung eingelegt und sich damit selbst einem Kostenrisiko ausgesetzt (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).
65Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO und §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
66Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision ergibt sich aus § 132 Abs. 2 VwGO; Zulassungsgründe sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.