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Beim Erlass einer Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG darf das Bundesamt die Prüfung von Gesichtspunkten des Familienschutzes nach Art. 5 Buchstaben a) und b) RL 2008/115/EG als inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse auch unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des EuGH weiterhin der Vollzugsentscheidung der Ausländerbehörde einschließlich der dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten vorbehalten (vgl. EuGH, Urteile vom 11. März 2021 ‑ C-112/20 ‑, juris, Rn. 25 ff. (M.A.-Belgien), und vom 14. Januar 2021 ‑ C-441/19 ‑, juris, Rn. 43 ff. (TQ-Niederlande)).
Vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, welche von der äthiopischen Deportations- und Ausbürgerungspraxis nach dem Ausbruch des Grenzkrieges zwischen Äthiopien und Eritrea zwischen Mai 1998 und Frühjahr 2002 verschont geblieben waren und ihren Aufenthalt in Äthiopien hatten beibehalten können, haben ihre äthiopische Staatsangehörigkeit regelmäßig behalten (wie OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020 ‑ 19 A 1420/19.A ‑, juris, 123 ff., 130 ff., 137 ff.).
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Vollstreckungsbetrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung in entsprechender Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Der Kläger reiste nach eigenen Angaben am 26. September 2010 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 1. Oktober 2010 ohne Vorlage von Personalpapieren Asyl. Er gab in amharischer Sprache an, er sei am XX. September 1989 in Assab im heutigen Eritrea geboren und eritreischer Staatsangehöriger protestantischen Glaubens. Er gab an, ledig zu sein. Am 17. Februar 2016 erkannte er die Vaterschaft für die am XX. März 2016 in D. geborene polnische Staatsangehörige N. L. an. Für die am XX. Januar 2021 in I. geborene deutsche Staatsangehörige O. T. erkannte er die Vaterschaft am 6. Januar 2021 an. Deren Mutter befürwortete die Umverteilung des Klägers von C. an ihren Wohnort I. , indem sie unter dem 10. März 2021 an die Bezirksregierung Arnsberg schrieb, sie wolle mit ihm gern als Familie zusammenleben, dies sei wichtig für ihre gemeinsame Zukunft und auch die Zukunft ihrer Tochter.
3Bei der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 12. Oktober 2010 gab der Kläger in amharischer Sprache an, er habe zuletzt in Assab unter der Anschrift D1. T1. , Block B, gewohnt. Es müsse auch eine Nummer gegeben haben, die er aber nicht mehr wisse. Seine Eltern hätten beide zur Volksgruppe der Tigrinya gehört. Seine Mutter sei gestorben, als er drei Jahre alt gewesen sei. Sein Vater sei dann mit ihm nach Bahir Dar in den äthiopischen Bundesstaat Amhara gezogen. Dort habe er die Schule bis zur 8. Klasse besucht und 2003 abgeschlossen. Sein Vater habe eines Tages im Jahr 2005 zu ihm gesagt, eine Behörde habe ihm befohlen, aus Äthiopien herauszugehen. Das sei wegen der politischen Situation gewesen. Er sei mit seinem Vater in einem Auto von Bahir Dar losgefahren, durch die Stadt Mekele gekommen und irgendwo von dem Auto abgesetzt worden. Mit Rucksäcken seien sie zu einem Ort an der Grenze zwischen Äthiopien und Eritrea gegangen, der von einer Hilfsorganisation betreut worden sei. Dort hätten sie weiße Leute getroffen, die ihnen grüne Ausweise und Geld gegeben hätten. Ungefähr einen Monat lang seien sie dort gewesen. In Assab hätten sie mit dem Bruder seines Vaters zusammengelebt, dessen Name A. H. sei, er lebe im Heimatland. Der Vater des Klägers, O1. H. , sei in dieser Zeit im Kopf krank geworden, abgemagert und schließlich gestorben. Er, der Kläger, habe ihn die ganze Zeit gepflegt und sich nur im Haus aufgehalten. Vor zwei Jahren habe sein Onkel für ihn bei der Verwaltung von D1. T1. einen eritreischen Personalausweis ausstellen lassen, der für zwei Jahre gültig gewesen sei. Im Oktober 2009 sei er Anhänger der Pfingst-Bewegung geworden. Bei einer der Versammlungen dieser Bewegung habe die Polizei das Haus gestürmt und sie alle in das Gefängnis Wia gebracht, das etwa 50 oder 60 km von Massawa entfernt liege. Dort seien sie jeden zweiten oder dritten Tag gefoltert worden („Es war dort furchtbar“). Eines Tages sei sein Onkel am Abend gekommen, habe ihn aus diesem Gefängnis „herausgenommen“. Mit einem Sammeltaxi sei er nach Asmara gereist. Von dort aus seien sie mit einem Bus nach Tesseney gefahren, sein Onkel und er seien von dort zu Fuß bis Kassala gegangen. Von Kassala seien sie mit dem Bus nach Khartum gefahren. Von dort aus sei er mit einem Schlepper mit dem Flugzeug nach Frankfurt am Main geflogen. Dort habe er vier Farbige getroffen, die gesagt hätten, er könne bei ihnen übernachten. Er sei mit ihnen gegangen. Sie hätten ihn dann vergewaltigt. Bei Erwähnung dieses Ereignisses brach der Kläger in Tränen aus.
4Zu seinen Sprachkenntnissen gab der Kläger an, er könne Tigrinya verstehen, aber beim Sprechen ein wenig Schwierigkeiten bekommen. Ihm sodann auf Tigrinya gestellte Fragen, etwa nach den Namen, Vornamen und der Anschrift seiner Eltern verstand der Kläger auch nach mehrfacher Wiederholung nicht und bat dann, ihn weiter auf Amharisch zu befragen.
5Mit Bescheid vom 24. April 2013 lehnte das Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 1) und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 2) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a. F. nicht vorliegen (Nr. 3), und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Äthiopien an (Nr. 4). Er sei als äthiopischer Staatsangehöriger geboren und habe nicht glaubhaft gemacht, die äthiopische Staatsangehörigkeit verloren zu haben. Sein Vorbringen zu seiner eritreischen Abstammung, seiner Deportation nach Eritrea, seinem dortigen Aufenthalt seit 2005 und den dortigen Ereignissen sei in wesentlichen Punkten unsubstantiiert, unplausibel und weiche von Auskünften ab. In der Anhörung habe sich gezeigt, dass er allenfalls über äußerst minimale Kenntnisse der Sprache Tigrinya verfüge. Eine Beherrschung dieser Sprache sei aber zu erwarten, wenn er wirklich, wie behauptet, bei seinem tigrinischen Vater aufgewachsen wäre und zusammen mit tigrinischen Verwandten zwischen 2005 und 2010 in Eritrea gelebt hätte. Zudem widerspreche die behauptete Deportation 2005 jeder Wahrscheinlichkeit, weil in diesem Jahr kaum noch äthiopische Staatsangehörige eritreischer oder halberitreischer Abstammung deportiert worden seien. Unglaubhaft sei deshalb auch seine Behauptung, sich der Pfingstbewegung angeschlossen zu haben und deshalb verfolgt worden zu sein.
6Gegen den Bescheid hat der Kläger am 6. Mai 2013 Klage erhoben und ergänzend geltend gemacht, sein Vater sei in Bahir Dar gut situiert gewesen. Er habe ein Haus und ein Auto gehabt. Das habe ihm auch ermöglicht, nach Beginn der Deportationen während des äthiopisch-eritreischen Kriegs in Äthiopien zu verbleiben. Er und sein Vater seien 2005 nicht deportiert worden, sondern sie hätten das Land „freiwillig“ unter dem Druck verlassen, der auf den Vater ausgeübt worden sei. Sie seien wegen der angespannten Situation aufgrund der Wahlen nach Assab in Eritrea zurückgekehrt und hätten ihr Eigentum in Äthiopien zurückgelassen. Darunter habe sein Vater sehr gelitten, so dass dieser psychisch erkrankt und 2010 verstorben sei. Er, der Kläger, habe sich in Eritrea versteckt gehalten, weil er die Einberufung zum Nationaldienst befürchtet habe. Er habe sich nicht ausschließlich im Haus aufgehalten, aber seinen Vater gepflegt, nur wenig Kontakte zur Außenwelt gehabt und sich insoweit versteckt, als er die regelmäßigen „Runden“ der Sicherheitskräfte auf der Suche nach Wehrdienstpflichtigen umgangen habe. Sein Onkel habe ihn unterstützt. Dieser habe der Pfingstkirche angehört, auch dessen Familie. Auch er selbst, der Kläger, sei über den Onkel in Kontakt zur Mekane Yesus Kirche und deren Priester E. gekommen. Dieser Priester habe ihn 2009 in einem kleinen privaten Raum getauft. An einem Sonntag im Jahr 2010 habe er an einer Versammlung der Mitglieder der Kirchengemeinde teilgenommen. Sie seien festgenommen und nach Wia gebracht worden. Dort sei er fünf bis sechs Monate im Gefängnis gewesen, bevor der Onkel ihn herausgeholt habe. Es habe dort sehr wenig Essen und Trinken gegeben. Er habe jetzt noch Narben an den Beinen von den Stockschlägen, er sei auch mit Eisenstangen geschlagen worden. Außerdem seien sie mit Wasser bespritzt worden. Die Schläge habe er am schlimmsten gefunden, da die Gefangenen teilweise auch aus dem Schlaf gerissen worden seien. Er habe keine ärztliche Behandlung bekommen, obwohl er Malariaschübe gehabt habe. Einmal habe er auch Gelbfieber bekommen. Sie seien mit 20 Leuten in einem kleinen Raum untergebracht gewesen, so dass sie kaum Platz zum Schlafen gehabt hätten. Sie hätten im Sitzen geschlafen. Noch heute habe er Rückenprobleme. Manche Gefangene seien psychisch krank gewesen. Es sei zu Schlägereien gekommen. Zwei Personen seien gestorben.
7Der Kläger hat die Auffassung vertreten, als Kind eritreischer Eltern die eritreische Staatsangehörigkeit zu besitzen. Das Bundesamt habe ihn zu Unrecht als äthiopischen Staatsangehörigen angesehen. Diese Staatsangehörigkeit habe er durch seine Rückkehr nach Eritrea im Jahr 2005 verloren. Seine geringen Sprachkenntnisse in Tigrinya sprächen weder gegen seine tigrinische Volkszugehörigkeit noch gegen seine eritreische Staatsangehörigkeit. Assab sei traditionell ein Gebiet, in dem Amharisch noch weit verbreitet sei, da es nach der Unabhängigkeit Eritreas ein Hauptzuwanderungsgebiet für in Äthiopien geborene Eritreer gewesen sei. Insbesondere D1. T1. , wo er gelebt habe, sei das frühere Zentrum äthiopischen Lebens in Eritrea. Er hat Bescheinigungen der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie T2. C1. aus der Zeit zwischen dem 17. Februar 2014 und dem 1. März 2016 vorgelegt, nach welchen er seit dem 19. August 2013 in ihrer Behandlung sei. Sie gehe diagnostisch von einer seit längerem bestehenden depressiven Entwicklung mit ausgeprägten Schlafstörungen und Anteilen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aus.
8In der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung hat der Kläger ergänzende Angaben zu seinem Verfolgungsschicksal und zu seinem Gesundheitszustand gemacht. Wegen seiner Ausführungen im Einzelnen nimmt der Senat auf die beiden Terminprotokolle vom 20. Januar und 19. Februar 2016 Bezug. Im letztgenannten Termin hat der Kläger die Klage zurückgenommen, soweit sie darauf gerichtet war, ihn unter Aufhebung der Nr. 1 des angefochtenen Bescheids als Asylberechtigten anzuerkennen.
9Der Kläger hat beantragt,
10die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 24. April 2013 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
11Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht das Verfahren im Umfang der teilweisen Klagerücknahme eingestellt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Der Kläger sei äthiopischer, kein eritreischer Staatsangehöriger. Im Zeitpunkt seiner Geburt im Jahr 1989 seien seine Eltern äthiopische Staatsangehörige gewesen, weil Eritrea damals als Staat im völkerrechtlichen Sinn noch nicht bestanden habe. Seine Angaben zu seiner behaupteten eritreischen Abstammung, seiner Ausreise aus Äthiopien nach Eritrea im Jahr 2005, zu seinem Aufenthalt in Eritrea ab dem Jahr 2005 sowie zu seiner Inhaftierung und Folterung in Eritrea seien unglaubhaft. Er habe sich hinsichtlich seiner Behauptung, nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland vergewaltigt worden zu sein, im Verwaltungsverfahren und im gerichtlichen Verfahren in einen wesentlichen, nicht überzeugend aufgelösten Widerspruch verwickelt. In der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung habe er die Frage des Einzelrichters, ob ihm in der Bundesrepublik Deutschland einmal kriminelles Unrecht widerfahren sei, zunächst verneint, und erst auf weitere Nachfragen seiner Prozessbevollmächtigten angegeben, sich nicht gezwungen sehen zu wollen, sich damit zu befassen. Diese Erklärung sei nicht überzeugend. Denn er sei durchaus in der Lage gewesen, von der behaupteten Inhaftierung und Folterung in Eritrea zu berichten. Dabei habe es sich, wenn man diese Ereignisse als wahr unterstelle, um Erlebnisse ebenfalls von einschneidender biographischer Bedeutung gehandelt. Weshalb er über diese, nicht aber auch über die im Verwaltungsverfahren behauptete Vergewaltigung habe berichten können, sei nicht plausibel. Diese Widersprüchlichkeit führe dazu, dass das Gericht auch seinen Angaben zu seiner behaupteten eritreischen Abstammung, seiner Ausreise aus Äthiopien nach Eritrea im Jahr 2005, seinem nachfolgenden Aufenthalt in Eritrea sowie zu seiner Inhaftierung und Folterung in Eritrea keinen Glauben schenken könne.
14Gegen das ihm am 9. März 2016 zugestellte Urteil hat der Kläger am 8. April 2016 die Zulassung der Berufung beantragt. Mit Beschluss vom 15. Januar 2018 hat der Senat die Berufung zugelassen.
15Der Kläger vertritt weiterhin die Auffassung, er sei entgegen der Auffassung des Bundesamts allein eritreischer Staatsangehöriger. Wegen seiner Abstammung von eritreischen Eltern habe er mit der Unabhängigkeitserklärung Eritreas am 24. Mai 1993 auch als damals in Äthiopien lebende Person die eritreische Staatsangehörigkeit erworben. Zugleich habe er die äthiopische Staatsangehörigkeit automatisch verloren. Jedenfalls habe er diese aber dadurch verloren, dass die äthiopischen Behörden Äthiopier eritreischer Herkunft und deren Kinder in der Zeit nach Mai 1998 als eritreische Staatsbürger klassifiziert hätten. Auch seine Ausreise nach Eritrea unterstreiche, dass er die eritreische Staatsangehörigkeit erworben, jedenfalls aber die äthiopische Staatsangehörigkeit verloren habe. Die Ausreise stelle aus der Sicht des äthiopischen Staats eine Handlung dar, mit der er sich freiwillig einem anderen Staat unterstellt habe. Außerdem habe er von den eritreischen Behörden einen Personalausweis erhalten, der zwei Jahre gültig gewesen sei. Im Hinblick auf Äthiopien lägen die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots vor, weil er tigrinischer Volkszugehöriger sei, an einer behandlungsbedürftigen PTBS und einer Depression leide und sich deshalb nach wie vor in psychiatrischer Behandlung befinde. Ein Abbruch der Behandlung führe zu einer wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands bis hin zum Suizid. Die Abschiebungsandrohung sei rechtswidrig, weil das Bundesamt ausweislich neuerer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unionsrechtlich verpflichtet sei, nunmehr als inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse auch Gesichtspunkte des Familienschutzes mit zu berücksichtigen, hier insbesondere die familiäre Bindung des Klägers zu seiner deutschen Tochter.
16Der Kläger beantragt,
17das angefochtene Urteil zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen.
18Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
19die Berufung zurückzuweisen.
20Sie verweist zur Begründung auf die Ausführungen im Bescheid vom 24. April 2013 und im angefochtenen Urteil. Selbst wenn man unterstelle, dass der Kläger die eritreische Staatsangehörigkeit erworben habe, besitze er auf jeden Fall nach wie vor die äthiopische Staatsangehörigkeit. Diese habe er nur verloren, wenn er sie aufgegeben und eine fremde Staatsangehörigkeit erworben habe, etwa durch die Beantragung einer eritreischen ID-Card oder die Teilnahme am eritreischen Unabhängigkeitsreferendum. Das sei vorliegend jedoch nicht der Fall.
21Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt der Senat auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts, der Bezirksregierung Arnsberg und des Landrates des Kreises D. als Ausländerbehörde Bezug.
22Entscheidungsgründe:
23Der Senat entscheidet über die Berufung durch den Vorsitzenden als Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2, 3, § 125 Abs. 1 VwGO).
24Streitgegenstände des Berufungsverfahrens wie auch des erstinstanzlichen Urteils sind und waren alle im Bescheid des Bundesamts vom 24. April 2013 getroffenen Entscheidungen mit Ausnahme der Ablehnung des Antrags auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG in Nr. 1 dieses Bescheids. Diese Ablehnung ist dadurch bestandskräftig geworden, dass der Kläger die darauf bezogene Klage in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat (S. 15 des Terminprotokolls). Über das Begehren des Klägers auf Zuerkennung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes nach § 4 AsylG, § 60 Abs. 2 AufenthG hat das Bundesamt in Nr. 3 des Bescheids auf der Grundlage des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in der bis zum 30. November 2013 geltenden Fassung als Teil des nationalen Abschiebungsschutzes entschieden. Erst mit dem Inkrafttreten des § 4 AsylG und der Änderung des § 60 Abs. 2 AufenthG zum 1. Dezember 2013 ist das Begehren auf Zuerkennung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes nach § 4 AsylG, § 60 Abs. 2 AufenthG eigenständiger Streitgegenstand des erstinstanzlichen Klageverfahrens geworden. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG, die das Bundesamt in Nr. 2 seines Bescheids vom 24. April 2013 abgelehnt hat, und die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG stehen im Verhältnis von Haupt- und Hilfsbegehren.
25BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 ‑ 1 C 29.17 ‑, BVerwGE 162, 44, juris, Rn. 45, vgl. auch Urteile vom 21. November 2017 ‑ 1 C 39.16 ‑, BVerwGE 161, 1, juris, Rn. 16, vom 13. Februar 2014 ‑ 10 C 6.13 ‑, NVwZ-RR 2014, 487, juris, Rn. 11 f., zur Rechtslage vor dem 1. Dezember 2013 BVerwG, Urteile vom 31. Januar 2013 ‑ 10 C 15.12 ‑, BVerwGE 146, 12, juris, Rn. 11, und vom 17. November 2011 ‑ 10 C 13.10 ‑, AuAS 2012, 64, juris, Rn. 11.
26Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage im so definierten Umfang zu Recht abgewiesen. Soweit sie die Zuerkennungs- und Feststellungsbegehren des Klägers betrifft, ist sie als Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alternative 2 VwGO statthaft. Die auf diese Begehren bezogene Klage ist lediglich insoweit unzulässig, als sie auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf den Staat Eritrea gerichtet ist. Das hat das Verwaltungsgericht unter B. b) des angefochtenen Urteils (S. 20) zutreffend entschieden. Für diesen Teil des Klagebegehrens besteht kein Rechtsschutzbedürfnis. In der Regel besteht kein Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage auf vorsorgliche Feststellung von Abschiebungshindernissen bezüglich anderer als der in der Abschiebungsandrohung benannten Staaten.
27BVerwG, Urteil vom 4. Dezember 2001 ‑ 1 C 11.01 ‑, BVerwGE 115, 267, juris, Rn. 12 f.; OVG NRW, Urteil vom 5. März 2021 ‑ 19 A 2373/17.A ‑, juris, Rn. 20, Beschluss vom 29. Juni 2020 ‑ 19 A 1420/19.A ‑, juris, Rn. 25.
28Hier hat das Bundesamt über Abschiebungsverbote lediglich betreffend Äthiopien, nicht aber auch betreffend Eritrea entschieden. Es war auch nicht verpflichtet, über Abschiebungsverbote betreffend Eritrea zu entscheiden, weil der Kläger, wie unten noch näher auszuführen sein wird, zumindest auch äthiopischer Staatsangehöriger ist und das Bundesamt ihm die Abschiebung ausschließlich in die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien angedroht hat. Der Kläger hat ferner keinen berechtigten Anlass zu befürchten, nach Eritrea abgeschoben zu werden. Selbst wenn das Bundesamt ihm gleichwohl die Abschiebung nach Eritrea androhen sollte, stünde ihm gegen diese Zielstaatsbestimmung eigenständig Rechtsschutz offen.
29Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. März 2021, a. a. O., Rn. 22, Beschlüsse vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 27, und vom 13. Januar 2020 ‑ 19 A 2730/19.A ‑, juris, Rn. 3 ff. m. w. N.
30Im Übrigen ist die auf die Zuerkennungs- und Feststellungsbegehren des Klägers bezogene Klage zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf die mit seinem Hauptantrag verfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG (A.) noch auf die mit seinem ersten Hilfsantrag begehrte Zuerkennung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG (B.) noch auf die mit seinem weiteren Hilfsantrag geltend gemachte Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 6 AufenthG (C.). Die diese Streitgegenstände betreffenden ablehnenden Teilentscheidungen des Bundesamts in den Nrn. 2 und 3 seines Bescheids vom 24. April 2013 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klage gegen die Abschiebungsandrohung mit der Zielstaatsbestimmung Äthiopien in Nr. 4 dieses Bescheids (D.) ist als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alternative 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig, aber ebenfalls unbegründet. Auch diese Entscheidung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
31A. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9, 10 RL 2011/95/EU. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Das Herkunftsland des Klägers ist die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien (I.). Dort ist für ihn keine Furcht vor Verfolgung wegen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG bezeichneten Verfolgungsgründe begründet (II.).
32I. Als Herkunftsland des Klägers im Sinn des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a) AsylG haben das Bundesamt und das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien bestimmt. Denn der Kläger ist äthiopischer Staatsangehöriger. Er hat die äthiopische Staatsangehörigkeit durch seine Geburt erworben (1.) und bis heute nicht verloren (2.). Unerheblich ist, ob er neben der äthiopischen auch die eritreische Staatsangehörigkeit besitzt (3.).
331. Durch seine nach eigenen Angaben am XX. September 1989 in Assab im heutigen Eritrea erfolgte Geburt von äthiopischen Eltern tigrinischer Volkszugehörigkeit hat der Kläger die äthiopische Staatsangehörigkeit erworben. Dieser Erwerb richtete sich nach Art. 1 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (äthStAG 1930) vom 22. Juli 1930, das bis zum 22. Dezember 2003 in Kraft war (Art. 27 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (äthStAG) vom 23. Dezember 2003). Danach war äthiopischer Staatsangehöriger, wer als Kind eines äthiopischen Vaters oder einer äthiopischen Mutter in Äthiopien oder außerhalb geboren wurde.
34Dazu vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. März 2021, a. a. O., Rn. 27 ff., Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 32 ff.; VG Münster, Urteil vom 30. November 2020 ‑ 9 K 2206/17.A ‑, juris, Rn. 39 (Vorinstanz zu 19 A 177/21.A).
35Legt man die Angaben des Klägers in der Anhörung durch das Bundesamt, in der Klagebegründung vom 19. Juli 2013 und in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung zur Abstammung von seinen Eltern und Großeltern väterlicherseits sowie zu seinem Geburtsdatum und seinem Geburtsort zugrunde, so hat er mit seiner Geburt am XX. September 1989 in der damals noch zu Äthiopien gehörenden Hafenstadt Assab nach Art. 1 äthStAG 1930 die äthiopische Staatsangehörigkeit erworben, weil er als Kind eines äthiopischen Vaters und einer äthiopischen Mutter in Äthiopien geboren wurde, auch wenn beide Elternteile tigrinischer Volkszugehörigkeit waren. Denn danach war sein 2010 verstorbener Vater O1. H1. etwa im Jahr 1958 in Assab geboren und stammte wiederum dessen Vater H1. I1. , den der Kläger noch kennengelernt hat und an den er sich zumindest bei seiner Anhörung durch das Bundesamt noch ein wenig erinnern konnte, aus der knapp 500 km weiter nördlich gelegenen, damals ebenfalls noch zu Äthiopien gehörenden Hafenstadt Massawa. Seine etwa 1992 verstorbene Mutter B. M. stammte danach ebenfalls aus Assab. Dass seine Eltern am XX. September 1989 anstelle der äthiopischen die eritreische Staatsangehörigkeit besessen haben könnten, ist auszuschließen. Denn das Gebiet des erst seit dem 24. Mai 1993 unabhängigen Staates Eritrea war zu diesem Zeitpunkt noch eine unselbstständige Provinz Äthiopiens. Wer der dort lebenden eingeborenen Bevölkerung angehörte, wurde international als äthiopischer Staatsangehöriger angesehen.
36OVG NRW, Urteil vom 5. März 2021, a. a. O., Rn. 31 f., Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 36 f. m. w. N.
372. Der Kläger hat seine durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit auch bis heute nicht verloren.
38a) Entgegen seiner Auffassung haben weder das Entstehen des Staates Eritrea am 24. Mai 1993 noch die äthiopische Deportations- und Ausbürgerungspraxis in der Zeit zwischen Mai 1998 und Frühjahr 2002 zu einem Verlust seiner äthiopischen Staatsangehörigkeit geführt. Vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die am 24. Mai 1993, dem Tag der Unabhängigkeit Eritreas, auf dem Gebiet des heutigen Äthiopien lebten, haben ihre äthiopische Staatsangehörigkeit entgegen einer in der erstinstanzlichen Rechtsprechung früher vereinzelt vertretenen Auffassung nicht an diesem Tag kraft Gesetzes nach Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 durch einen etwaigen Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit verloren.
39OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 102 ff. m. w. N.; VG Bremen, Urteil vom 23. Februar 2021 ‑ 7 K 445/19 ‑, juris, Rn. 56.
40Auch die genannte äthiopische Deportations- und Ausbürgerungspraxis führte aus der nachträglichen Sicht der äthiopischen Behörden auf der Grundlage des am 23. Dezember 2003 in Kraft getretenen äthStAG und der Direktive des äthiopischen Außenministeriums zur Bestimmung des Aufenthaltsstatus von Eritreern in Äthiopien vom 19. Januar 2004 zu einem fortdauernden Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit nur bei den tatsächlich nach Eritrea deportierten oder „freiwillig“ ausgereisten und bis Januar 2004 dort verbliebenen Personen eritreischer Abstammung, nicht aber auch bei denjenigen, die ‑ wie der Kläger und sein Vater in Bahir Dar ‑, von den Deportations- und Zwangsmaßnahmen verschont geblieben waren und ihren Aufenthalt in Äthiopien hatten beibehalten können. Wer aus diesem Personenkreis ‑ wie der Kläger und sein Vater ‑ vom 24. Mai 1993 bis zum 19. Januar 2004 permanent in Äthiopien lebte, konnte sich entweder im Registrierungsverfahren nach Art. 4.2, Art. 5.1 der Direktive unmittelbar als äthiopischer Staatsangehöriger anerkennen oder aber nach Art. 22 Abs. 1 äthStAG, Art. 4.3 der Direktive wiedereinbürgern lassen. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der in Äthiopien lebenden Menschen eritreischer Abstammung konnte auf einem dieser Wege ihren Aufenthaltsstatus als äthiopische Staatsbürger offiziell klären und alle damit verbundenen bürgerlichen Rechte auch faktisch wiedererlangen. Viele von ihnen erhielten ihr Eigentum und ihre zuvor gehaltenen Geschäftslizenzen und Führerscheine zurück. Die überwiegende Zahl dieser Personen wurde tatsächlich als äthiopische Staatsbürger anerkannt, insbesondere stellten ihnen die Kebele-Verwaltungen wieder die für äthiopische Staatsangehörige vorgesehenen Identitätskarten aus. Insofern wurden das äthStAG und die Direktive auf in Äthiopien wohnhafte Personen eritreischer Abstammung grundsätzlich fair angewandt.
41OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 123 ff., 130 ff., 137 ff.
42Auf der Grundlage der Angaben des Klägers spricht Überwiegendes dafür, dass auch sein Vater im Jahr 2004 keine Schwierigkeiten hatte, sich und seinen damals 15-jährigen Sohn bei den Registrierungsbehörden in Bahir Dar als äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung registrieren zu lassen. Denn der Kläger hat mitgeteilt, dass sein Vater in Bahir Dar zuletzt gut situiert gewesen sei, dort insbesondere ein Haus und ein Auto gehabt habe, weshalb beide von den Deportationen während des äthiopisch-eritreischen Krieges jedenfalls bis 2005 verschont geblieben seien.
43Auch der Kläger selbst bezeichnet es in seiner Klagebegründung vom 19. Juli 2013 lediglich als „denkbar“, dass der Vater der Direktive vom 19. Januar 2004 keine Folge geleistet haben könnte und deshalb noch im Jahre 2005 einer „freiwilligen“ Repatriierung oder Deportation ausgesetzt gewesen sein könnte. Beachtlich wahrscheinlich ist dies indessen nicht, denn diese Personen wurden regelmäßig nicht mehr, wie in den Jahren 1998 bis 2002, zwangsweise nach Eritrea zurückverbracht, sondern verpflichtet, ihren Aufenthalt in einem der Flüchtlingslager für Eritreer in Nordäthiopien zu nehmen.
44OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 140 ff.
45Ein solcher Aufenthalt in einem der Flüchtlingslager für Eritreer in Nordäthiopien lässt sich dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen. Soweit er in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 19. Februar 2016 als „Kindheitserinnerung“ aus seinem immerhin schon 16. Lebensjahr von einem „Auffanglager“ und einer Präsenz von Hilfsorganisationen gesprochen hat, die ihre Dienste angeboten hätten (ähnlich in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat), hat er diese ausdrücklich auf die „eritreische Seite der Grenze“ lokalisiert. Ein hinreichender Anhaltspunkt für eine Verortung dieses Lagers auf der äthiopischen Seite der Grenze ergibt sich auch nicht aus seinen Angaben in der Anhörung beim Bundesamt. Dort hatte er angegeben, sein Vater und er seien mit Rucksäcken „zu einem Ort an der Grenze zwischen Äthiopien und Eritrea“ gegangen, der von einer Hilfsorganisation betreut worden sei und an dem sie während ihres Aufenthalts von ungefähr einem Monat weiße Leute getroffen hätten, die ihnen grüne Ausweise für Flüchtlinge und Geld gegeben hätten. Unabhängig davon sind die Angaben des Klägers zu diesem behaupteten Aufenthalt an der äthiopisch-eritreischen Grenze aus den unten noch näher darzulegenden Gründen unglaubhaft. Die Widersprüche, in welche der Kläger sich insoweit verwickelt hat, erstrecken sich insbesondere auch auf die Frage, ob die Reise von Äthiopien nach Eritrea in Begleitung von äthiopischen Sicherheitskräften stattfand, oder ob sein Vater und er, wie es seine Prozessbevollmächtigte in der Klagebegründung behauptet hat, ohne eine solche Begleitung „freiwillig“ gereist sind.
46b) Der Kläger hat seine äthiopische Staatsangehörigkeit auch nicht durch die behauptete Flucht seines Vaters mit ihm aus der äthiopischen Provinzhauptstadt Bahir Dar zurück nach Assab im Jahr 2005 und den sich daran angeblich anschließenden fünfjährigen Aufenthalt in dieser eritreischen Hafenstadt verloren. Seine Behauptung dieses fünfjährigen Aufenthalts in Assab ist unglaubhaft. Zur Überzeugung des Senats steht nach dem Eindruck vom Kläger in der zweitinstanzlichen mündlichen Verhandlung vielmehr fest, dass er in dieser Stadt nicht für einen längeren Zeitraum gelebt haben kann, und dass darüber hinaus zweifelhaft ist, ob er sie überhaupt jemals betreten hat. Er hat im Verlauf seiner persönlichen Vernehmungen Angaben gemacht, die sich mit den realen Lebensbedingungen in Eritrea nur so schwer vereinbaren lassen, dass sie deshalb durchgreifend gegen den Wahrheitsgehalt seiner Behauptung sprechen, sich vom 16. bis zum 21. Lebensjahr und damit ganz überwiegend im dienstpflichtigen Alter in Eritrea aufgehalten zu haben und während dieser Zeit trotz mehrerer behaupteter unmittelbarer oder mittelbarer Kontakte mit eritreischen Sicherheitskräften und Behörden einer Einziehung zum Nationaldienst entgangen zu sein. Das gilt sowohl für seine Schilderung der angeblichen Flucht mit seinem Vater im Jahr 2005 aus Bahir Dar nach Eritrea (aa)), vor allem aber für sein behauptetes zurückgezogenes Leben mit dem pflegebedürftigen Vater bei seinem Onkel in Assab im Stadtteil D1. T1. über fünf Jahre hinweg zwischen 2005 und 2010 (bb)), als auch für die angebliche Haft mit Folter im Gefängnis Wia im Jahr 2010 (cc)).
47aa) Wenig realitätsgerecht sind zunächst die Angaben des Klägers zu der angeblichen Flucht mit seinem Vater im Jahr 2005 aus der äthiopischen Stadt Bahir Dar nach Eritrea. Hierzu hat er in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung am 19. Februar 2016 behauptet, sein Vater und er hätten die äthiopisch-eritreische Grenze zu Fuß überquert und seien dann auf der anderen Seite von eritreischen Soldaten in Empfang genommen, körperlich durchsucht und dann in einem Auffanglager untergebracht worden. Wenig plausibel an dieser Behauptung eines unmittelbaren Kontakts mit eritreischen Grenzsoldaten sofort beim Grenzübertritt ist, dass er sich dadurch der Gefahr einer sofortigen Rekrutierung zum Nationaldienst ausgesetzt hätte. Auch wenn das dienstpflichtige Alter für eritreische Jugendliche nach der Gesetzeslage erst mit dem Volljährigkeitsalter von 18 Jahren beginnt, sind in der Praxis durchaus Fälle von eritreischen Minderjährigen zwischen 14 und 17 Jahren dokumentiert, welche die eritreischen Sicherheitskräfte in Razzien rekrutiert haben, weil sie aufgrund ihres Aussehens und der Einschätzung ihres Alters als körperlich tauglich erschienen.
48OVG NRW, Beschluss vom 21. September 2020 ‑ 19 A 1857/19.A ‑, Asylmagazin 2020, 372, juris, Rn. 54.
49Auch der Kläger selbst hat sich in seiner Klagebegründung vom 13. Januar 2016 unter Hinweis auf eine Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) darauf berufen, dass in Eritrea „auch Minderjährige zwangsrekrutiert werden“ und er deshalb „aus Angst, zum Wehrdienst eingezogen zu werden“, „nur wenig Kontakt zur Außenwelt gehabt“ habe, „nachdem er in Eritrea eingetroffen war.“ Wenig plausibel erscheint dann aber, dass sein Vater und er sich angeblich sogleich nach dem Grenzübertritt in die Hände eritreischer Grenzsoldaten begeben haben, anstatt einen unkontrollierten Weg nach Eritrea außerhalb eines überwachten Grenzübergangs zu wählen.
50Hierfür liefert auch die Schilderung des Klägers keine plausible Erklärung, „mit einem Polizeiwagen abgeholt“, „zur äthiopisch-eritreischen Grenze gebracht“ und dann „aufgefordert“ worden zu sein, „zu Fuß die Grenze zu überqueren.“ Denn auch diese Behauptungen sind unglaubhaft, weil der Kläger den Ablauf der Ausreise seines Vaters mit ihm aus Äthiopien wiederholt als zwangsweise und begleitete Rückführung („Deportation“), einmal hingegen ausdrücklich als unbegleitetes Verlassen des Landes „unter Druck“ („freiwillig“) geschildert hat: Seine Äußerungen beim Bundesamt deuteten zunächst auf eine begleitete Rückführung hin („uns dies befohlen worden“, „irgendwo hat uns das Auto abgesetzt“). In der Klagebegründung modifizierte seine Prozessbevollmächtigte sodann diese Schilderung mit der ausdrücklichen Klarstellung: „Es handelte sich dabei nicht um eine begleitete Rückführung wie in den Jahren 1998 bis 2000. Vielmehr wurde Druck auf den Vater ausgeübt, das Land zu verlassen.“ Diese Version hat der Kläger sodann ebenso ausdrücklich konterkariert mit seiner Schilderung in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung am 19. Februar 2016, dass sein Vater „einen schriftlichen Ausweisungsbescheid bekommen“ habe und er und sein Vater dann „ein paar Tage später … mit einem Polizeiwagen abgeholt“, „zur äthiopisch-eritreischen Grenze gebracht“ und „dann aufgefordert“ worden seien, zu Fuß die Grenze zu überqueren. Für diesen zweifachen Versionswechsel liefert auch der Hinweis in der Klagebegründung keine plausible Erklärung, der damals noch minderjährige Kläger habe bei seiner Schilderung in der Anhörung beim Bundesamt „nicht genau differenzieren“ können, „ob es sich um eine ‚freiwillige‘ oder zwangsweise Rückkehr gehandelt hat.“ Denn bereits das Bundesamt hatte ihm im Zusammenhang mit der angeblichen Rückkehr nach Eritrea im Jahr 2005 zu Recht vorgehalten, dass er zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt gewesen sei. Abgesehen davon vermag das von der Prozessbevollmächtigten angeführte altersbedingt mangelnde Differenzierungsvermögen keine plausible Erklärung für die grundlegend verschiedenen Darstellungen zu liefern, weil der Kläger insbesondere in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung am 19. Februar 2016 lediglich eigene Beobachtungen („Polizeiwagen“) und ihm gegenüber getätigte Äußerungen seines Vaters wiedergegeben hat („schriftlicher Ausweisungsbescheid“).
51Unabhängig davon ist seine Behauptung einer Flucht des Vaters mit ihm im Jahr 2005 als damals 16-jährigem Jugendlichen zurück in ihrer beider angeblichen Geburtsort Assab im zwischenzeitlich eigenständigen kommunistisch-diktatorischen Staat Eritrea schon unter Berücksichtigung der damaligen historischen Situation im Ausgangspunkt sehr unwahrscheinlich. Denn der Vater hatte, wie bereits ausgeführt, seit Anfang 2004 die Möglichkeit, seinen Status als eritreisch-stämmiger Äthiopier in Bahir Dar offiziell zu klären, indem er sich entweder als äthiopischer Staatsangehöriger eritreischer Abstammung registrieren ließ oder aber, falls man ihn als eritreischen Staatsangehörigen ansah, sich wiedereinbürgern zu lassen. Wenig realitätsgerecht ist schließlich seine Behauptung, der Vater sei bis dahin wegen seines Hauses, seines Autos und seines Berufes als Automechaniker von den allgemeinen Deportations- und Repatriierungsmaßnahmen des äthiopischen Staates gegenüber Personen eritreischer Abstammung verschont geblieben. Eher umgekehrt zielten die Äthiopier in der praktischen Umsetzung der Deportationen vielmehr oftmals gerade auch auf die Vermögenswerte der Eritreer.
52bb) Maßgeblich gegen die Glaubhaftigkeit seines behaupteten Eritrea-Aufenthaltes zwischen 2005 und 2010 sprechen die Angaben des Klägers zu seinem angeblich zurückgezogenen Leben mit seinem pflegebedürftigen Vater bei seinem Onkel in Assab im Stadtteil D1. T1. über fünf Jahre hinweg bis zu der angeblichen Festnahme im Jahr 2010. Hierzu hatte er in der Anhörung durch das Bundesamt am 12. Oktober 2010 behauptet, er habe in Assab „mit dem Bruder meines Vaters zusammengelebt“, „die ganze Zeit meinen Vater gepflegt“, sich „nur im Haus aufgehalten“, als „einzigen Kontakt“ denjenigen zu seinem Onkel gehabt, und „vor zwei Jahren“ ‑ also im Jahr 2008 ‑ habe sein Onkel für ihn bei der Verwaltung von D1. T1. einen eritreischen Personalausweis ausstellen lassen, der für zwei Jahre gültig gewesen sei. Diese Behauptungen hat seine Prozessbevollmächtigte in ihren schriftlichen Klagebegründungen dahin modifiziert, dass er „sich nicht ausschließlich im Haus aufgehalten“, „aber seinen Vater gepflegt“, „aus Angst, zum Wehrdienst eingezogen zu werden … nur wenig Kontakte zur Außenwelt gehabt“ und „sich insoweit versteckt [zu haben], als er die regelmäßigen ‚Runden‘ der Sicherheitskräfte auf der Suche nach Wehrdienstpflichtigen umgangen“ habe.
53Zunächst liegt in dieser Darstellung wiederum ein Wechsel zwischen zwei verschiedenen Versionen (Aufenthalt „nur im Haus“ oder „nicht ausschließlich im Haus aufgehalten“), für den der Kläger keine plausible Erklärung geliefert hat, und der daher auf die Unglaubhaftigkeit des fraglichen Vorbringens führt. Unabhängig davon ist aber mit keiner dieser beiden Versionen vereinbar, dass der Kläger sich angeblich einen Personalausweis hat ausstellen lassen und damit noch nahezu zwei Jahre in Assab aufgehalten hat, ohne in dieser Zeit zum Nationaldienst eingezogen worden zu sein. Angesichts der Bedeutung des Nationaldienstes in Eritrea erscheint es als nahezu ausgeschlossen, dass die Verwaltung von D1. T1. einem 19-jährigen Dienstpflichtigen einen eritreischen Personalausweis ausstellt, ohne zugleich seine sofortige Einziehung zum Nationaldienst zu veranlassen. Keine plausible Erklärung für diesen Widerspruch liegt in der Antwort des Klägers auf den Vorhalt, ob er spezifizieren könne, welcher Teil der Verwaltung von D1. T1. ihm den Ausweis ausgestellt habe. Seine Antwort, er wisse das nicht, weil sein Onkel dies für ihn gemacht habe, ändert nichts daran, dass er sich auch mit der Einschaltung seines Onkels der Gefahr der Einziehung zum Nationaldienst ausgesetzt haben würde. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vermochte der Kläger diesen gravierenden inneren Widerspruch in seiner Verfolgungsgeschichte nicht plausibel aufzulösen. Im Gegenteil verwickelte er sich hierzu in weitere Widersprüche, die erkennen ließen, dass er mit den realen Lebensverhältnissen eines 19-jährigen Dienstpflichtigen in Eritrea auch nicht ansatzweise vertraut ist (fehlende Kenntnis der Staatsgewalt von seinem genauen Aufenthaltsort, obwohl er zugab, dass die Anschrift im Personalausweis stand).
54Realitätsfern ist schließlich die vom Kläger angegebene Gültigkeitsdauer des Ausweises von zwei Jahren. Bis Februar 2014 stellte der Staat Eritrea jedem volljährigen eritreischen Staatsangehörigen die schon 1992 vor der Unabhängigkeit eingeführte hellblaue Identitätskarte („tasera“) aus, in der kein Ablaufdatum eingetragen war.
55Schweizerisches Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea ‑ Identitäts- und Zivilstandsdokumente, 21. Januar 2021, S. 19 f.
56cc) Sind danach die Angaben des Klägers zu seinem behaupteten Aufenthalt in Assab von 2005 bis 2010 unglaubhaft, so gilt dasselbe auch für die behauptete Festnahme mit anschließender Haftverbüßung mit Folter im Gefängnis Wia im Jahr 2010, die behauptete Befreiung aus diesem Gefängnis durch seinen Onkel und die angeblich gemeinsame Flucht mit ihm bis in die sudanesische Hauptstadt Khartum.
57c) Andere Verlustgründe für die äthiopische Staatsangehörigkeit des Klägers als seine unglaubhafte Flucht mit seinem Vater nach Assab im Jahr 2005 kann der Senat nicht feststellen. Für eine Teilnahme seiner Eltern am Unabhängigkeitsreferendum für den Staat Eritrea im Jahr 1992 ergeben sich aus den Angaben des Klägers keine Anhaltspunkte. Im Übrigen bestehen auch keine glaubhaften Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger in Bahir Dar oder im T1. zu irgendeinem Zeitpunkt Rechte aus einer ihm wegen seiner eritreischen Abstammung etwa zuerkannten eritreischen Staatsangehörigkeit ausgeübt hat.
58Vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 5. März 2021, a. a. O., Rn. 43 f., Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 165 ff.
593. Besitzt der Kläger hiernach die äthiopische Staatsangehörigkeit, ist für alle Streitgegenstände des vorliegenden Rechtsstreits unerheblich, ob er daneben auch die eritreische Staatsangehörigkeit besitzt.
60Das gilt zunächst für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Personen, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten besitzen, kann die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn sie den Schutz eines der Länder ihrer Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmen können. Das ergibt sich aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes, der den einschlägigen Normen sowohl der RL 2011/95/EU als auch des AsylG zugrunde liegt.
61BVerwG, Beschlüsse vom 18. Dezember 2019 ‑ 1 C 2.19 ‑, Buchholz 402.251 § 26 AsylG Nr. 2, juris, Rn. 13, und vom 14. Juni 2005 ‑ 1 B 142.04 ‑, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 307, juris, Rn. 4; vgl. auch Urteil vom 2. August 2007 ‑ 10 C 13.07 ‑, BVerwGE 129, 155, juris, Rn. 9 (zur RL 2004/83/EG); OVG NRW, Urteil vom 5. März 2021, a. a. O., Rn. 46 f., Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 186 f.; VG Münster, Urteil vom 30. November 2020, a. a. O., Rn. 19.
62Dasselbe gilt auch für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.
63OVG NRW, Urteil vom 5. März 2021, a. a. O., Rn. 48 f., Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 188 f.; Sächs. OVG, Beschluss vom 3. März 2020 ‑ 6 A 593/18.A ‑, juris, Rn. 18.
64Für das Begehren des Klägers auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Staates Eritrea besteht aus den eingangs schon näher ausgeführten Gründen kein Rechtsschutzbedürfnis.
65II. Ist hiernach die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien das Herkunftsland des Klägers im Sinn des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a) AsylG, so droht ihm dort keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung.
66Gemäß § 3a Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention ‑ EMRK, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Diese Legaldefinition der Verfolgungshandlung setzt die Vorgaben aus Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU um. § 3a Abs. 2 AsylG nennt einzelne Regelbeispiele von Verfolgungshandlungen, die nicht abschließend sind und die im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU stehen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut voraus.
67BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 31.18 ‑, InfAuslR 2019, 459, juris, Rn. 12, und vom 19. April 2018, a. a. O., Rn. 11.
68§ 3b Abs. 1 AsylG konkretisiert die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe (Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe). Gemäß § 3b Abs. 2 AsylG ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob dieser tatsächlich die flüchtlingsschutzrelevanten Merkmale aufweist, sofern ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
69Die Verfolgungshandlung muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgungshandlung „wegen“ eines Verfolgungsgrundes erfolgt, mithin auf einen der in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe zurückgeht, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.
70BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019, a. a. O., Rn. 14, und vom 19. April 2018, a. a. O., Rn. 13.
71Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinn einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU neben sämtlichen mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen unter anderem das maßgebliche Vorbringen des Antragstellers und dessen individuelle Lage zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint.
72BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019, a. a. O., Rn. 16, und vom 19. April 2018, a. a. O., Rn. 14.
73Nach diesen Maßstäben drohen dem Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien die in § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1 AsylG bezeichneten Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weder wegen seiner eritreischen Abstammung (1.) noch wegen seiner Zugehörigkeit zum pfingstchristlichen Glauben (2.) noch wegen einer etwaigen Wehrdienstleistung (3.) noch wegen seiner Asylantragstellung in Deutschland (4.) noch wegen einer Einreiseverweigerung (5.).
741. Wegen seiner eritreischen Abstammung droht dem Kläger in Äthiopien heute mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung mehr. Diesen Gesichtspunkt hat er als Grund dafür angeführt, dass angeblich sein Vater und er Äthiopien 2005 verlassen haben („Die Situation für Eritreer in Äthiopien wurde zunehmend schwierig“). Äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung drohen jedenfalls seit dem Abschluss des Friedensabkommens zwischen Eritrea und Äthiopien im Anschluss an die „Gemeinsame Erklärung über Frieden und Freundschaft“ vom 9. Juli 2018 keine an eine tatsächliche oder vermeintliche eritreische oder halberitreische Abstammung anknüpfenden Verfolgungsmaßnahmen mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
75OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 202 ff.
762. Sofern man eine Zugehörigkeit des Klägers zum pfingstchristlichen Glauben unabhängig von den oben bezeichneten Widersprüchen in seinem Verfolgungsvorbringen als glaubhaft gemacht ansieht, drohen ihm in Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Verfolgungsmaßnahmen in Anknüpfung an seine pfingstchristliche Religion.
77Zur Religionsfreiheit in Äthiopien vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Äthiopien, Ad hoc aktualisierte Fassung vom 10. Februar 2021, S. 13 f.
783. Dem heute 31 Jahre alten Kläger droht flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung weiter nicht im Zusammenhang mit einer etwaigen Wehrdienstleistung in der äthiopischen Armee.
79Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. März 2021, a. a. O., Rn. 65 f., Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 210 f. m. w. N.
804. Ebenso wenig droht dem Kläger flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung wegen seiner Asylantragstellung in Deutschland. Die bloße Asylantragstellung im Ausland bleibt für einen äthiopischen Staatsangehörigen ohne flüchtlingsschutzerhebliche Konsequenzen.
81OVG NRW, Urteil vom 5. März 2021, a. a. O., Rn. 67 f., Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 210 f. m. w. N.
825. Keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung droht dem Kläger schließlich auch unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Einreiseverweigerung durch die äthiopischen Auslandsvertretungen. Äthiopischen Staatsangehörigen droht regelmäßig keine Einreiseverweigerung durch die äthiopischen Auslandsvertretungen und Grenzkontrollbehörden. Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Herkunft sind ebenso wie solche Personen anderer Volkszugehörigkeit in den Kebele-Familienregistern registriert, so dass sie entsprechende Identitätsdokumente und Personenstandsurkunden bei der Gemeindeverwaltung ihres letzten Wohnortes in Äthiopien erhalten können. Auch im Ausland wohnhafte Äthiopier können diese Dokumente erhalten, indem sie sich bei der Kebele, bei der sie zuletzt registriert waren, mit ihrem Reisepass ausweisen. Wenn sie keine äthiopischen Dokumente mehr besitzen, müssen sie über die Botschaft im Aufenthaltsland eine Vollmacht an eine Person in Äthiopien geben. Diese kann damit das gewünschte Dokument von der Kebele-Verwaltung ausstellen lassen.
83OVG NRW, Urteil vom 5. März 2021, a. a. O., Rn. 67 f., Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 214 ff., 221 m. w. N.
84Der Kläger hat angegeben, nach dem Tod der Mutter und dem Umzug seines Vaters mit ihm in die äthiopische Provinzhauptstadt Bahir Dar etwa im Jahr 1992 habe sein Vater dort ein „Dokument von der Kebele“ gehabt, auf dem als Nationalität „Eritrea“ gestanden habe. Außerdem habe sein Vater ein Haus und ein Auto gehabt und er selbst, der Kläger, sei dort bis zur achten Klasse zur Schule gegangen. Diese Angaben rechtfertigen den Schluss, dass sowohl der Vater als auch der Kläger im Kebele-Familienregister ihres ehemaligen Wohnbezirks in Bahir Dar als äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung registriert waren und der Vater sich eine äthiopische Identitätskarte hatte ausstellen lassen, welche die seit 1992 neu eingeführte Rubrik „ethnische Zugehörigkeit“ (amharisch: beher) enthielt und welche die Kebele-Verwaltungen bei äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung mit dem Eintrag „Eritrean“ versahen, um den Inhaber als äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung zu kennzeichnen. Auszuschließen ist danach hingegen, dass der Vater und der Kläger als Ausländer mit eritreischer Staatsangehörigkeit im Kebele-Familienregister registriert waren und der Vater ein Dokument besaß, welches ihn als in Äthiopien lebenden eritreischen Staatsangehörigen auswies. Denn ein Immobilienbesitz war für Ausländer in Äthiopien nach Art. 390 des äthiopischen Zivilgesetzbuchs verboten (vgl. heute auch Art. 40 äthVerf). Entsprechendes galt für Geschäftslizenzen und Berufserlaubnisse, die nur äthiopischen Staatsangehörigen zustanden.
85OVG NRW, Beschluss vom 29. Juni 2020, a. a. O., Rn. 87 f. m. w. N.
86Das schlichte „Ja“ des Klägers auf die Frage des Einzelrichters in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung, ob der Vater ein Dokument gehabt habe, das ihn als in Äthiopien lebenden eritreischen Staatsangehörigen auswies, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Denn diese kurze Antwort lässt offen, ob dem Kläger der rechtliche Unterschied zwischen eritreischer Staatsangehörigkeit und eritreischer Abstammung („Nationalität“) bekannt war.
87B. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes (§ 4 Abs. 1 AsylG). Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG unter anderem unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht. Insbesondere wäre er an seinem Herkunftsort Bahir Dar nicht von der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der äthiopischen Zentralregierung mit der Volksbefreiungsfront von Tigray (Tigray People‘s Liberation Front, TPLF) im benachbarten äthiopischen Bundesstaat Tigray betroffen.
88Vgl. dazu VG Münster, Urteil vom 30. November 2020, a. a. O., Rn. 56.
89C. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der Feststellung eines Abschiebungsverbotes in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 6 AufenthG. Insoweit beruft er sich in der zweitinstanzlichen mündlichen Verhandlung nur noch auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK unter dem Gesichtspunkt seiner tigrinischen Volkszugehörigkeit. Mit diesem Begehren dringt er schon deshalb nicht durch, weil äthiopischen Staatsangehörigen tigrinischer Volkszugehörigkeit aus den oben unter A. II. 5. bereits erörterten Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Maßnahmen der in diesen Vorschriften vorausgesetzten Art drohen.
90Ebenso wenig besteht ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Darauf hat er sich zuletzt mit der Begründung berufen, er leide an einer behandlungsbedürftigen PTBS und einer Depression, weshalb ihm bei einer zwangsweisen Rückkehr nach Äthiopien eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes bis hin zum Suizid drohe. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (Satz 3). Im Fall des Klägers kann der Senat keine in diesem Sinn „erhebliche“ Gefahr aus gesundheitlichen Gründen feststellen. Die von seiner Prozessbevollmächtigten zuletzt im Schriftsatz vom 16. Februar 2018 behauptete PTBS fand schon damals in den hierfür vorgelegten fachärztlichen Bescheinigungen der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie T2. C1. aus der Zeit bis zuletzt März 2016 eine Grundlage nur teilweise insoweit, als sie lediglich „Anteile“ einer PTBS und eine „seit längerem bestehende depressive Entwicklung mit ausgeprägten Schlafstörungen“ diagnostiziert hatte. Weder die genannten „Anteile“ noch die Schlafstörungen hatten nach den eigenen Angaben des Klägers in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 19. Februar 2016 einen im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG erheblichen Einfluss auf seinen Gesundheitszustand. Er gab an, er nehme im Moment Schlaftabletten, und es gehe im „soweit gut“. Für eine seitdem eingetretene Verschlechterung seines Gesundheitszustandes bestehen keine Anhaltspunkte, insbesondere hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat von den genannten Erkrankungen nichts mehr erwähnt.
91D. Die vom Bundesamt verfügte Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung mit der Zielstaatsbestimmung Äthiopien in Nr. 4 seines Bescheids vom 24. April 2013 steht im Einklang mit § 34 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG. Insoweit stellt der Senat klar, dass, sollte der Kläger auf dieser Grundlage abgeschoben werden, diese Abschiebung nach gegenwärtiger Rechtslage kein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für ihn auslöst. Durch diese Vorschrift in der seit dem 21. August 2019 geltenden Neufassung hat der Gesetzgeber ausdrücklich klargestellt, dass ein solches Verbot nur noch auf der Grundlage einer behördlichen Einzelfallentscheidung entstehen kann und die zuvor in der Rechtsprechung vielfach als fehlend gerügte hinreichend bestimmte gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für ein durch Verwaltungsakt zu erlassendes Einreise- und Aufenthaltsverbot geschaffen.
92Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucksache 19/10047 vom 10. Mai 2019, S. 31; dazu OVG NRW, Beschlüsse vom 20. Januar 2021 ‑ 19 A 4624/19.A ‑, juris, Rn. 8 ff., und vom 16. Dezember 2020 ‑ 19 A 555/19.A ‑, juris, Rn. 19.
93Für eine solche Einzelfallentscheidung ist das Bundesamt erst während des erstinstanzlichen Klageverfahrens mit Wirkung vom 1. August 2015 zuständig geworden (§ 75 Nr. 12 Alternative 1 AufenthG). Im Bescheid vom 24. April 2013 hat es dementsprechend kein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet. Ebenso wenig hat es seit dem 1. August 2015 nachträglich von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.
94Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers, die seine Prozessbevollmächtigte in der zweitinstanzlichen mündlichen Verhandlung geäußert hat, ist die nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG am aktuell geltenden Recht zu messende Abschiebungsandrohung auch unionsrechtskonform. Insbesondere macht die Prozessbevollmächtigte ohne Erfolg geltend, das Bundesamt müsse auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des EuGH zur Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) als inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse nunmehr auch Gesichtspunkte des Familienschutzes mitberücksichtigen, hier insbesondere die familiäre Bindung des Klägers zu seiner am XX. Januar 2021 in I. geborenen Tochter deutscher Staatsangehörigkeit O. T. . Diese Rechtsauffassung findet keine Stütze in den beiden von der Prozessbevollmächtigten hierfür angeführten Urteilen des EuGH.
95EuGH, Urteile vom 11. März 2021 ‑ C-112/20 ‑, juris, Rn. 25 ff. (M.A.-Belgien), und vom 14. Januar 2021 ‑ C-441/19 ‑, juris, Rn. 43 ff. (TQ-Niederlande).
96Nach § 34 Abs. 2 Satz 1 AsylG soll die Abschiebungsandrohung mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. Die Vorschrift knüpft an Art. 6 Abs. 6 RL 2008/115/EG an. Danach sollen die Mitgliedstaaten durch diese Richtlinie nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen. § 34 Abs. 2 Satz 1 AsylG füllt den Spielraum zur Ausgestaltung durch innerstaatliche Rechtsvorschriften unionsrechtskonform aus, den Art. 6 Abs. 6 RL 2008/115/EG den Mitgliedstaaten belässt.
97BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020 ‑ 1 C 1.19 ‑, BVerwGE 167, 366, juris, Rn. 18 ff.
98Namentlich erfüllt das nationale deutsche Recht die in der Rechtsprechung des EuGH aufgestellte Grundbedingung für eine solche Verknüpfung einer Rückkehrentscheidung mit der Ablehnung des Schutzantrags, dass es dem Betroffenen möglich sein muss, „sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände zu berufen, die in Anbetracht der RL 2008/115 und insbesondere ihres Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung ihrer Situation haben kann.“
99EuGH, Urteil vom 19. Juni 2018 ‑ C-181/16 ‑, NVwZ 2018, 1625, juris, Rn. 60 ff., 64 (Gnandi).
100Insbesondere ermöglicht das nationale deutsche Recht die Berücksichtigung nachträglich eingetretener Änderungen von Umständen, welche das nach Art. 5 Buchstabe a) RL 2008/115/EG zu berücksichtigende Wohl des Kindes und die nach Art. 5 Buchstabe b) RL 2008/115/EG zu berücksichtigenden familiären Bindungen betreffen. Dem steht auch nicht entgegen, dass diese Umstände nach nationalem Verständnis lediglich inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse zu begründen geeignet sind, welche der Betroffene grundsätzlich in einem gesonderten Verfahren gegen die für den Vollzug der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde geltend machen muss, hingegen grundsätzlich nicht im Verfahren betreffend die Abschiebungsandrohung des Bundesamts. Diese Aufteilung der Rechtsschutzmöglichkeiten ist durch den dem nationalen Gesetzgeber verbliebenen Spielraum zur Ausgestaltung der Rechtsschutzverfahren gedeckt und insbesondere auch mit Art. 6 Abs. 4 RL 2008/115/EG vereinbar, der bei einer Aufenthaltsberechtigung aus humanitären Gründen die Aussetzung der Rückkehrentscheidung zulässt und weder zwingend den Verzicht auf diese noch deren Rücknahme verlangt.
101BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020, a. a. O., Rn. 23 f.; Dörig, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Asylrecht im Jahr 2020, DAR 2021, 66 (71).
102Die von der Prozessbevollmächtigten des Klägers zitierten beiden EuGH-Urteile rechtfertigen keine andere Beurteilung. Insbesondere geben sie keine Veranlassung, der von ihr vertretenen Rechtsauffassung näher zu treten, unionsrechtlich sei abweichend vom nationalen deutschen Recht das Bundesamt bei seiner Entscheidung über den Erlass einer Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG auch zur Berücksichtigung des Wohls des Kindes nach Art. 5 Buchstabe a) RL 2008/115/EG und der familiären Bindungen nach Art. 5 Buchstabe b) RL 2008/115/EG verpflichtet. In seinem erstgenannten Urteil vom 11. März 2021 wiederholt der Gerichtshof vielmehr lediglich seine schon früher getroffene Aussage zu Art. 5 Buchstabe a) RL 2008/115/EG, dass das Kindeswohl nicht nur dann zu berücksichtigen ist, wenn Adressat der Rückkehrentscheidung der Minderjährige selbst ist, sondern auch dann, wenn Adressat sein Elternteil ist (Rn. 33, 43). Das Urteil enthält keine Aussage des Inhalts, dass die nationale Asylbehörde diese Kindeswohlprüfung bei ihrer Rückkehrentscheidung nicht mehr der Vollzugsentscheidung der Ausländerbehörde einschließlich der dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten vorbehalten dürfe. Auch dem zitierten Urteil vom 14. Januar 2021 lässt sich keine solche Aussage entnehmen. Der dieser Entscheidung zugrunde liegende Fall eines unbegleiteten Minderjährigen ist dem Fall des Klägers noch weniger vergleichbar. Insbesondere spielt die zentrale Frage dieses Verfahrens im vorliegenden Fall keine Rolle, wie und wann ein Mitgliedstaat zu prüfen hat, ob für den fraglichen unbegleiteten Minderjährigen im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht (Rn. 55).
103Der Senat kann offenlassen, ob das Bundesamt zur Berücksichtigung der Belange nach Art. 5 Buchstaben a) und b) RL 2008/115/EG verpflichtet ist, wenn es nach § 11 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, § 75 Nr. 12 Alternative 1 AufenthG nach Ermessen über die Länge der Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots entscheidet.
104Dazu BVerwG, Urteile vom 22. Februar 2017 ‑ 1 C 27.16 ‑, BVerwGE 157, 356, juris, Rn. 23, und vom 10. Juli 2012 ‑ 1 C 19.11 ‑, BVerwGE 143, 277, juris, Rn. 42; OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2016 ‑ 18 A 610/14 ‑, juris, Rn. 100.
105Denn der hier im Streit befindliche Bescheid vom 24. April 2013 enthält, wie bereits ausgeführt, kein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
106Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
107Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, § 711, § 713 ZPO.
108Der Senat lässt die Revision nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.