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Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Der am 25. Oktober 1985 geborene Kläger beantragte am 19. Juni 2018 seine Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz.
3Im Aufnahmeantragsformular gab er an, seine Eltern und seine Großeltern seien russische Volkszugehörige (gewesen). Sein 1898 geborener und 1970 verstorbener Ururgroßvater B. X. sei zwangsumgesiedelt worden und habe von 1941 bis 1956 unter Kommandantur gestanden. Die deutsche Nationalität des Klägers sei nicht im Inlandspass, aber in der Heiratsurkunde und der Geburtsurkunde seiner Tochter T. auf Grund des Gerichtsbeschlusses vom 6. Dezember 2016 eingetragen.
4In der am 7. Februar 2017 neu ausgestellten Heiratsurkunde über die Eheschließung im Jahr 2013 ist der Kläger mit deutscher Nationalität eingetragen. In der ebenfalls am 7. Februar 2017 neu ausgestellten Geburtsurkunde der am 28. Juni 2014 geborenen Tochter T. wird der Kläger ebenfalls mit deutscher Nationalität geführt.
5In der 1964 ausgestellten Geburtsurkunde seines 1939 geborenen Großvaters väterlicherseits, C. B1. , wird dessen Mutter M. X1. mit russischer Volkszugehörigkeit geführt. Auch in der am 1. September 2016 neu ausgestellten Heiratsurkunde über die Eheschließung am 26. November 1936 wird M. X1. mit russischer Nationalität geführt.
6Der Kläger legte ferner eine im Jahr 2016 gefertigte Kopie eines Personalbogens der Sonderkommandantur des Ministeriums für Innere Angelegenheiten Nr. 63, U. , aus dem Jahr 1949 vor. Danach wurde der 1898 in T1. geborene B. X1. , „Deutscher, Muttersprache: russisch“, im September 1941 aus T1. ausgesiedelt und kam im selben Monat am Ort der Zwangsansiedlung in U. an. Dort wurde er am 22. Februar 1956 abgemeldet. Aus einer Archivbescheinigung vom 9. Juni 2016 ergibt sich, dass B. X1. , Nationalität Deutscher, mit seiner Familie am 5. September 1941 ausgewiesen und mit dem Militärtransportzug Nr. 752 nach Nowosibirsk gezogen sei.
7Des Weiteren legte der Kläger einen Beschluss des Bezirksgerichts P. in T2. vom 6. Dezember 2016 vor. Daraus ergibt sich: In der 2013 ausgestellten Heiratsurkunde sei eine Nationalität nicht eingetragen. Bei der Antragstellung auf die Registrierung der Geburt seiner Tochter habe er „unreflektiert die Nationalität des Vaters“ angegeben, so dass in die Geburtsurkunde für ihn „Russe“ eingetragen worden sei. Im September 2016 habe er sich vergeblich an das Standesamt gewandt, um Änderungen zu veranlassen, und zwar jeweils in „Deutscher“. „Eine Änderung der oben genannten standesamtlichen Eintragungen sei für die Feststellung seiner deutschen Volkszugehörigkeit und für die Bereitstellung entsprechender Unterlagen für die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland erforderlich.“ Das Gericht gab seinem Antrag statt, in der Heiratsurkunde und der Geburtsurkunde seiner Tochter seine Nationalität jeweils als „Deutscher“ anzugeben.
8Aus einer Bescheinigung vom 26. September 2016 ergibt sich, dass der Kläger seit 1995 Mitglied des T3. regionalen eingetragenen Vereins Deutsches Zentrum für Kultur und Bildung „Freundschaft“ ist.
9Ferner legte der Kläger Goethe-Zertifikate B1 für die Module Hören, Lesen, Schreiben und Sprechen aus dem Jahr 2018 vor.
10Mit Bescheid vom 10. Januar 2019 lehnte das Bundesverwaltungsamt den Aufnahmeantrag ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, der Kläger könne eine Abstammung von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen nicht geltend machen. Der Hinweis auf die deutsche Volkszugehörigkeit des Ururgroßvaters reiche nicht aus, da sich nach der Rechtsprechung des OVG NRW eine Abstammung nur auf die Generation der Eltern und Großeltern beziehen könne.
11Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 26. März 2019 Widerspruch, zu dessen Begründung er sich auf die deutsche Volkszugehörigkeit seines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters berief. Auf die russischen Nationalitätseintragungen komme es nach der aktuellen Fassung des § 6 Abs. 2 BVFG nicht an. Sein Bekenntnis ergebe sich aus der Eintragung der deutschen Nationalität in der Geburtsurkunde seines Kindes und seinem B1-Zertifikat.
12Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 2019 wies das Bundesverwaltungsamt den Widerspruch zurück und verwies zur Begründung wiederum auf die fehlende Abstammung des Klägers von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen. Die Volkszugehörigkeit der deutschen Vorfahren sei bis zu der ersten vor dem 1. Januar 1924 geborenen Generation zurückzuverfolgen. Daher komme es nur auf die Urgroßmutter M. X1. an, die sich zum russischen Volkstum bekannt habe.
13Am 19. Juni 2019 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat vorgetragen: Sein Vater, der Großvater und der Urgroßvater seien unabhängig vom Eintrag in den Inlandspass deutsche Volkszugehörige gewesen. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 BVFG seien beim Urgroßvater erfüllt. Das Bekenntnis könne er durch den Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1 erbringen.
14Der Kläger hat beantragt,
15die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesverwaltungsamts vom 10. Januar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Mai 2019 zu verpflichten, dem Kläger einen Aufnahmebescheid nach dem Bundesvertriebenengesetz zu erteilen.
16Die Beklagte hat beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Sie hat auf die angefochtenen Bescheide verwiesen.
19Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 5. November 2019 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger habe die Abstammung von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen nicht darlegen können. Zwar möge der Ururgroßvater B. X. (e) deutscher Volkszugehöriger gewesen sein. Die Volkszugehörigkeit sei jedoch bis zur ersten vor dem 1. Januar 1924 geborenen und am 8. Mai 1945 noch lebenden Generation zurückzuverfolgen. Die Urgroßmutter M. X1. sei jedoch russische Volkszugehörige gewesen.
20Zur Begründung seiner mit Beschluss des Senats vom 24. August 2020 zugelassenen Berufung trägt der Kläger vor: Es stehe fest, dass sein Vater, Großvater und Urgroßvater deutsche Volkszugehörige gewesen seien. Die Eintragung der russischen Nationalität in den Geburtsurkunden sei gemäß § 6 Abs. 2 BVFG ohne Belang, da ein Bekenntnis auf andere Weise durch den Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse erbracht werden könne. Er sei in der Geburtsurkunde seines Kindes mit deutscher Nationalität eingetragen und im Besitz eines Sprachzertifikats B1. Der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liege ein weiter, generationenübergreifender Begriff der Abstammung zu Grunde.
21Der Kläger legt ferner geänderte Personenstandsurkunden für seinen Großvater vor, in denen dieser auf Grund eines Beschlusses des Gerichts des Bezirks G. nunmehr mit deutscher Volkszugehörigkeit geführt wird. In der am 28. Juli 2020 neu ausgestellten Geburtsurkunde seines Großvaters wird die Urgroßmutter M. X1. nunmehr mit deutscher Nationalität geführt. B. X1. sei der prägende Elternteil für seine Tochter M. X1. gewesen.
22Der Kläger beantragt,
23das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesverwaltungsamts vom 10. Januar 2019 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheids vom 24. Mai 2019 zu verpflichten, dem Kläger einen Aufnahmebescheid zu erteilen.
24Die Beklagte beantragt,
25die Berufung zurückzuweisen.
26Sie trägt ergänzend vor: Aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergebe sich nicht zwingend, dass hinsichtlich der Bezugsperson nur auf die erste vor dem 1. Januar 1924 geborene und am 8. Mai 1945 noch lebende Generation zurückgegriffen werden könne. Allerdings habe der Kläger ein Gegenbekenntnis abgegeben, indem er anlässlich der Geburt seiner Tochter im Juni 2014 seine eigene Volkszugehörigkeit mit russisch angab. Seine Erklärung beim Bezirksgericht im Bezirk P. der Stadt T2. , die Änderung seiner Volkszugehörigkeit sei für die Bereitstellung entsprechender Unterlagen für die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland erforderlich, mache aber deutlich, dass sein Entschluss, sich nunmehr mit deutscher Volkszugehörigkeit in der Geburtsurkunde seiner Tochter eintragen zu lassen, allein durch äußere Umstände veranlasst gewesen sei und seine Ursache nicht in seinem schon vorher vorhandenen inneren Bewusstsein hatte, ausschließlich dem deutschen Volk als national geprägter Kulturgemeinschaft angehören zu wollen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (1 Hefter) Bezug genommen.
28Entscheidungsgründe:
29Die Berufung ist unbegründet. Der Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 10. Januar 2019 und sein Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 2019 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids.
30Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG wird der Aufnahmebescheid auf Antrag Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Geltungsbereich des Bundesvertriebenengesetzes die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen. Spätaussiedler aus dem hier in Rede stehenden Aussiedlungsgebiet der ehemaligen Sowjetunion kann nach § 4 Abs. 1 BVFG nur sein, wer deutscher Volkszugehöriger ist, die Republiken der ehemaligen Sowjetunion nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen hat und zuvor zu bestimmten Zeiten, die hier nicht im Streit stehen, seinen Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten hatte. Deutscher Volkszugehöriger ist nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG, wer von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat. Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG kann das Bekenntnis auf andere Weise insbesondere durch den Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse entsprechend dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen oder durch den Nachweis familiär vermittelter Deutschkenntnisse erbracht werden. Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG muss das Bekenntnis zum deutschen Volkstum bestätigt werden durch den Nachweis der Fähigkeit, zum Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung über den Aufnahmeantrag zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen zu können. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht vollständig.
311. Der Kläger kann sich im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG auf die Abstammung von seinem Ururgroßvater B. X. (e) berufen, der deutscher Volkszugehöriger war.
32a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt den §§ 4 Abs. 1 Nr. 3 und 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG ein weiter, generationenübergreifender Abstammungsbegriff zu Grunde, der neben den Eltern auch die Voreltern, mithin die Großeltern und gegebenenfalls auch die Urgroßeltern erfasst.
33Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2019 ‑ 1 C 43.18 ‑, BVerwGE 167, 9 = juris, Rn. 12; a. A. noch OVG NRW, Urteil vom 2. Juli 2018 ‑ 11 A 2091/17 ‑, juris, Rn. 22 ff.
34Der Begriff der Voreltern ist nach dieser Rechtsprechung nicht auf eine bestimmte Zahl von Generationen begrenzt. Er stehe vielmehr für eine unbestimmte Bezeichnung der entfernteren Ahnen. Eines auf die Voreltern bezogenen ungeschriebenen „Generationenschnitts“ bedürfe es nicht, da das Gesetz den Erwerb des Spätaussiedlerstatus in § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG durch den Verweis auf die Stichtagserfordernisse des § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BVFG und den „Zeitschnitt“ der Geburt des Aufnahmebewerbers vor dem 1. Januar 1993 sowie in § 6 Abs. 2 BVFG durch das Bekenntnis zum deutschen Volkstum und dessen Bestätigung ausdrücklichen zeitlichen und sachlichen Beschränkungen unterwerfe.
35Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2019 ‑ 1 C 43.18 ‑, BVerwGE 167, 9 = juris, Rn. 13, 15.
36Danach kommt als Bezugsperson auch der 1898 geborene und 1970 verstorbene Ururgroßvater B. X. (e) in Betracht. Die vom Verwaltungsgericht vertretene Auffassung, die deutsche Volkszugehörigkeit sei nur bis zur ersten vor dem 1. Januar 1924 geborenen und am 8. Mai 1945 noch lebenden Generation zurückzuverfolgen, ist mit dem rechtlichen Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts nicht vereinbar.
37b) Die deutsche Volkszugehörigkeit der Person, von der die Abstammung hergeleitet wird, beurteilt sich im Rahmen sowohl des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG als auch des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG nach der Rechtslage zum Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers. Zum Zeitpunkt der Geburt des Klägers im Jahr 1985 galt § 6 BVFG in der bis zum 31. Dezember 1992 gültigen Fassung vom 19. Mai 1953, BGBl. I S. 201 (im Folgenden: a. F.). Nach dieser Vorschrift ist deutscher Volkszugehöriger, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. Das Bekenntnis muss im Zeitraum unmittelbar vor Beginn der gegen die deutsche Bevölkerungsgruppe gerichteten Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen abgelegt worden sein. Diese Maßnahmen begannen in der ehemaligen Sowjetunion nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941.
38Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 1995 ‑ 9 C 392.94 ‑, BVerwGE 98, 367 (368 f.).
39Ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum im Sinne des § 6 BVFG a. F. besteht in dem von einem entsprechenden Bewusstsein getragenen, nach außen hin verbindlich geäußerten Willen, selbst Angehöriger des deutschen Volkes als einer national geprägten Kulturgemeinschaft zu sein und keinem anderen Volkstum anzugehören, sich dieser Gemeinschaft also vor jeder anderen nationalen Kultur verbunden zu fühlen. Ein Bekenntnis in diesem Sinne kann sich zum einen unmittelbar aus Tatsachen ergeben, die ein ausdrückliches Bekenntnis oder ein Bekenntnis durch schlüssiges Gesamtverhalten dokumentieren. Zum anderen kann ein Bekenntnis mittelbar aus hinreichend vorhandenen Indizien, namentlich den in § 6 BVFG a. F. genannten objektiven Bestätigungsmerkmalen, gefolgert werden.
40Vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1989 ‑ 9 C 18.89 ‑, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 62, und vom 29. Juni 1993 ‑ 9 C 40.92 ‑, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 71; zusammenfassend BVerwG, Urteil vom 13. Juni 1995 ‑ 9 C 392.94 ‑, BVerwGE 98, 367 (368 f.).
41c) Ein solches Bekenntnis des Ururgroßvaters liegt vor. Der Kläger hat bereits mit dem Aufnahmeantrag Unterlagen vorgelegt, nach deren Inhalt B. X. (e) zwangsumgesiedelt worden sei und von 1941 bis 1956 unter Kommandanturaufsicht gestanden habe. Dies ist ein typisches Vertreibungsschicksal eines Mitglieds der deutschen Volksgruppe in der ehemaligen Sowjetunion.
42Vgl. zusammenfassend etwa BVerwG, Urteil vom 13. Juni 1995 ‑ 9 C 392.94 ‑, BVerwGE 98, 367 (371 f.); ferner Information zur politischen Bildung Nr. 267/2000, S. 21.
43Die deutsche Volkszugehörigkeit des B. X. (e) sowie die biologische Abstammung des Klägers ist auch von der Beklagten während des gesamten Verfahrens nicht bestritten worden.
44d) Demgegenüber sind die Eltern und Großeltern des Klägers sowie seine Urgroßmutter M. X1. russische Volkszugehörige gewesen. Dies ergibt sich aus den Angaben des Klägers im Aufnahmeverfahren und den von ihm vorgelegten Urkunden. Da sich die Nationalität der Vorfahren nach der Rechtslage zum Zeitpunkt der Geburt des Klägers im Jahr 1985 richtet, sind die vom Kläger später veranlassten Änderungen in den Personenstandsurkunden nicht entscheidungserheblich.
452. Der Kläger erfüllt jedoch die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BVFG nicht, weil er ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum nicht erbracht hat.
46a) Der Kläger hat ein B1-Zertifikat vorgelegt, das grundsätzlich gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG als Bekenntnis „auf andere Weise“ in Betracht kommt. Allein durch den Nachweis von Deutschkenntnissen kann ein Bekenntnis auf andere Weise aber nur erbracht werden, wenn der Betroffene kein ausdrückliches Bekenntnis zu einem anderen Volkstum abgegeben hat. Liegt ein derartiges Gegenbekenntnis vor, genügt nicht ein Verhalten, das nach dem Willen des Gesetzgebers ein Bekenntnis auf andere Weise darstellen kann, sondern bedarf es eines glaubhaften Abrückens von diesem Gegenbekenntnis.
47Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 ‑ 1 C 5.20 ‑, juris, Rn. 21.
48b) Hier liegt ein Bekenntnis des Klägers in Form eines Gegenbekenntnisses zum russischen Volkstum vor. In der Angabe einer anderen als der deutschen Volkszugehörigkeit gegenüber amtlichen Stellen liegt grundsätzlich ein die deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis zu einem fremden Volkstum.
49Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 5.20 -, juris, Rn. 22, unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 29. August 1995 - 9 C 391.94 -, BVerwGE 99, 133 (141) = juris, Rn. 22.
50Der Kläger hat in dem gerichtlichen Verfahren, mit dem er durch Beschluss des Bezirksgerichts P. in T2. vom 6. Dezember 2016 erwirkt hat, dass in seiner Heiratsurkunde und in der Geburtsurkunde seiner Tochter T. für ihn jeweils die deutsche Nationalität eingetragen wird, vorgetragen, er habe bei der Antragstellung auf die Registrierung der Geburt seiner Tochter im Jahr 2014 „unreflektiert die Nationalität des Vaters angegeben“, so dass für ihn „Russe“ eingetragen worden sei. Mit dieser freiwilligen „unreflektierten“ ‑ also für ihn selbstverständlichen ‑ Angabe hat der zum damaligen Zeitpunkt fast 29‑jährige Kläger nach außen hin gegenüber einer Behörde zum Ausdruck gebracht, dass er sich als Angehöriger des russischen Volkstums sieht. Dieses Bekenntnis zum russischen Volkstum ist schlüssig, weil sowohl seine Eltern als auch alle Großeltern und Urgroßeltern als russische Volkszugehörige geführt wurden. Seinen 1970 verstorbenen Ururgroßvater B. X. (e) hat der Kläger nicht mehr kennengelernt. Es ist daher nicht ersichtlich, wie der in einer ausschließlich russischen Familie in russischer Umgebung und mit russischer Schulbildung aufgewachsene Kläger das Bewusstsein entwickelt haben könnte, Angehöriger nur des deutschen Volks zu sein und keinem anderen Volkstum zuzugehören. Seine Behauptung vor dem Bezirksgericht in T2. , die Eintragung der russischen Nationalität entspreche nicht der Wirklichkeit und er halte sich für einen Deutschen, ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar und wirkt verfahrensangepasst.
51c) Der Kläger ist von diesem Gegenbekenntnis nicht wirksam abgerückt.
52aa) Allerdings ist es möglich, von einer in früherer Zeit abgegebenen Erklärung zu einer nichtdeutschen Nationalität bis zum maßgebenden Zeitpunkt durch Hinwendung zum deutschen Volkstum abzurücken. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das innere Bewusstsein, einem bestimmten Volkstum zuzugehören, in der Regel mit der Bekenntnisfähigkeit abgeschlossen ist. Um gleichwohl einem trotz Ablegung eines Bekenntnisses zu einem bestimmten ‑ hier dem russischen ‑ Volkstum ergriffenen Verhalten einen Bekenntnischarakter für ein anderes ‑ hier das deutsche ‑ Volkstum beimessen zu können, bedarf es daher weiterer äußerer Tatsachen, die einen Bewusstseinswandel erkennen lassen. Damit sind bei einem ausdrücklichen Gegenbekenntnis zu einem nichtdeutschen Volkstum besondere Anforderungen an die Ernsthaftigkeit eines späteren Bekenntniswandels und dessen äußere Erkennbarkeit zu stellen.
53Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 ‑ 1 C 5.20 ‑, juris, Rn. 23 und 25, unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 29. August 1995 ‑ 9 C 391.94 ‑, BVerwGE 99, 133 (146) = juris, Rn. 29.
54bb) Nach diesen Maßstäben liegt ein Abrücken des Klägers von seinem 2014 abgegebenen Gegenbekenntnis nicht vor. Seiner Erklärung vor dem Bezirksgericht T2. im Jahr 2016 liegt kein ernsthafter Bekenntniswandel zugrunde. Sie erfüllt daher nicht die Voraussetzungen für ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG.
55Der Kläger hat in dem o. a. Gerichtsverfahren im Jahr 2016 ausdrücklich vorgetragen, eine Änderung der standesamtlichen Eintragung sei für die Feststellung seiner deutschen Volkszugehörigkeit und für die Bereitstellung entsprechender Unterlagen für die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland erforderlich. Er verfolgte in diesem Gerichtsverfahren ersichtlich den Zweck, die Anspruchsvoraussetzungen des § 6 Abs. 2 BVFG zu erfüllen, um einen Aufnahmebescheid gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG zwecks Übersiedlung nach Deutschland erlangen zu können. Der Kläger hat in einer Erklärung vom 1. Juni 2021 zudem ausgeführt, er habe (erst) vor sechs Jahren „über das Programm für Spätaussiedler erfahren“, sodann die verlorengegangenen Unterlagen und Urkunden seiner Vorfahren gesucht, zwei Jahre Deutsch gelernt und 2018 ein B1-Zertifikat erworben. Auch dieser zeitliche Ablauf lässt erkennen, dass der Kläger die Erklärung, der deutschen Nationalität zuzugehören, als „Lippenbekenntnis“ zu dem Zweck abgelegt hat, um in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, und nicht, um im Aussiedlungsgebiet als Deutscher angesehen und behandelt zu werden.
56Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. August 1995 ‑ 9 C 391.94 ‑, BVerwGE 99, 133 (146) = juris, Rn. 29, zu einem Bekenntnis während des laufenden Aufnahmeverfahrens.
573. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass in der vorliegenden Fallgestaltung der vom Gesetz in den Fällen des § 4 Abs.1 BVFG – im Gegensatz zu § 4 Abs. 2 BVFG – vermutete Vertreibungsdruck aufgrund eines Kriegsfolgenschicksals nicht erkennbar ist.
58Vgl. hierzu Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz – KfbG) vom 7. September 1992, BT-Drs. 12/3212, S. 19 f., 22.
59Der 1985 geborene Kläger hat seinen bereits im Jahr 1970 verstorbenen letzten deutschen Vorfahren B. X. (e) - selbst die Urgroßmutter M. X1. wurde bereits seit 1936 mit russischer Volkszugehörigkeit geführt - nicht mehr kennengelernt und ist - wie unter 2. dargelegt - in einer ausschließlich russischen Familie aufgewachsen. Er selbst ist von den russischen Behörden erst auf seinen ausdrücklichen Wunsch seit 2016 als Deutscher geführt worden, nachdem er von dem „Programm für Spätaussiedler“ erfahren hatte, und hat dementsprechend keine an die deutsche Volkszugehörigkeit anknüpfenden Benachteiligungen erlitten. Die Vermittlung eines Vertreibungsdrucks über eine in der Familie gelebte deutsche Volkszugehörigkeit,
60vgl. hierzu ausführlich OVG NRW, Urteil vom 14. Juni 2012 - 11 A 2169/10 -, juris, Rn. 72 ff., mit zahlreichen Nachweisen,
61bzw. eine „generationenübergreifende kulturelle Identitätsvermittlung“,
62so etwa BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2008 – 5 C 8.07 -, BVerwGE 130, 197 (200) = juris, Rn. 14,
63und damit ein Bezug zu den Spätfolgen der gegen die deutsche Volksgruppe gerichteten Vertreibungsmaßnahmen ist daher nicht ersichtlich. Soweit der Kläger in seiner Erklärung vom 1. Juni 2021 auf ein Interesse an deutscher Kultur bereits seit seiner Kindheit, auf seine Mitgliedschaft im Verein „Freundschaft“ und auf humanitäre Hilfe für seine Familie aus Deutschland in den 1990er Jahren verweist, ergibt sich hieraus kein Bezug zu einem Kriegsfolgenschicksal, das die Familie des Klägers bis hin zur Urgroßelterngeneration ohnehin nicht erlitten hat.
64Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
65Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2 und 711 Satz 1 ZPO.
66Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.