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Das angefochtene Urteil wird geändert.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. November 2018 wird - mit Ausnahme der in Satz 4 der Ziffer 3. getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht nach Somalia abgeschoben werden darf - aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens beider Instanzen, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Der Kläger ist nach seinen Angaben am 2. Januar 1993 in Mogadischu, Somalia, geboren, islamischen Glaubens und somalischer Staatsangehöriger. Er reiste am 1. Oktober 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 25. Oktober 2018 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt). Ausweislich einer vom Bundesamt eingeholtenEURODAC-Anfrage hatte der Kläger in Italien am 5. Oktober 2016 einen Asylantrag gestellt.
3Im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt gab der Kläger am 25. Oktober 2018 im Wesentlichen an: Er habe in Somalia zwei Jahre die Schule besucht. Einen Beruf habe er nicht erlernt. Er habe die Familie mit kleinen Hilfsarbeiten unterstützt. Zuletzt habe er als Frisör Haare geschnitten. In Italien habe er auf der Straße leben müssen und sei von der Kirche versorgt worden.
4Auf ein Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamts teilten die italienischen Behörden mit Schreiben vom 6. November 2018 mit, dem Kläger sei in Italien internationaler Schutz gewährt worden.
5Mit Bescheid vom 9. November 2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2.) und forderte den Kläger zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens auf. Dem Kläger wurde für den Fall, dass er der Ausreisefrist nicht nachkomme, die Abschiebung nach Italien oder in einen anderen aufnahmebereiten oder zur Aufnahme verpflichteten Staat angedroht (Ziffer 3. Sätze 1 bis 3). Der Kläger dürfe nicht nach Somalia abgeschoben werden (Ziffer 3. Satz 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG werde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.).
6Am 20. November 2018 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat geltend gemacht: Wegen der Covid-19-Pandemie bestünden in Bezug auf Italien Abschiebungsverbote.
7Der Kläger hat beantragt,
8den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. November 2018 aufzuheben,
9hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG vorliegen und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf null Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen.
10Die Beklagte hat beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 18. Mai 2020 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Dem Kläger drohe aufgrund der ihn in Italien zu erwartenden Lebensumstände keine Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh. Rechtlich hätten international Schutzberechtigte Zugang zu Sozialwohnungen, zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen im selben Ausmaß wie italienische Staatsbürger. Die Sozialleistungen seien grundsätzlich nicht an einen festen Wohnsitz gebunden und nicht nur auf nationaler, sondern auch auf regionaler und kommunaler Ebene zugänglich. Der Zugang zu der Gesundheitsversorgung sei dabei von einer Registrierung abhängig. Durch das System der „vorübergehend aufhältigen Fremden“ (Straniero Temporaneamente Presente, STP) werde auch illegal aufhältigen Migranten der Zugang zu medizinischer Notfallbehandlung ermöglicht. Seit 2014 sei Italien von der Europäischen Union mit fast 1 Mrd. Euro für das Asyl-, Migrations-, Sicherheits- und Grenzmanagement unterstützt worden. Dabei unterstütze die Europäischen Union u. a. auch ein Projekt, mit dem gegen die Ausbeutung der Arbeitskraft von Migranten in der Landwirtschaft vorgegangen und die Integration von Migranten in den regulären Arbeitsmarkt gefördert werden solle. Auch gebe es steuerliche Anreize für die Beschäftigung von international Schutzberechtigten. Laut aktuellen Auskünften hätten international Schutzberechtigte das Recht, für sechs Monate (in besonderen Fällen auch länger) in „SIPROIMI“-Einrichtungen zu wohnen, einer Zweitunterkunft mit dem ideellen Anspruch, die Integration der Geflüchteten zu fördern. In Italien gebe es 875 dieser Einrichtungen mit insgesamt 35.650 Plätzen. Dabei seien 155 Einrichtungen mit 3.730 Plätzen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und 49 Einrichtungen mit 704 Plätzen für Personen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen vorgesehen. Auch durch das sog. Salvini-Dekret sei für den Personenkreis der anerkannten Schutzberechtigten keine Verschlechterung eingetreten. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh folge auch nicht daraus, dass es mangels hinreichend langer Aufenthaltsdauer beim Zugang Schutzberechtigter zu dem im Jahr 2019 eingeführten „Bürgergeld“ faktisch zu Schwierigkeiten kommen könne. Denn das Gericht sei vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen der Überzeugung, dass anerkannt Schutzberechtigten auch ohne diese Unterstützung keine Situation extremer materieller Not drohe, sofern sie die zumutbare Eigeninitiative aufbrächten. Insbesondere wäre auch eine tatsächliche Ungleichbehandlung mit Inländern als solche nicht geeignet, die Prognose einer drohenden extremen materiellen Not zu tragen. Dies gelte insbesondere im vorliegenden Fall. Dem Kläger, der gesund, jung und arbeitsfähig sei, sei es zuzumuten, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Systemische Mängel könnten schließlich auch nicht mit der erforderlichen Überzeugungsgewissheit aufgrund der derzeitigen tatsächlichen Entwicklungen in Italien im Zeichen der durch das COVID-19-Virus ausgelösten Pandemie angenommen werden.
13Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Berufung führt der Kläger im Wesentlichen aus: Das italienische Gesundheitssystem sei aufgrund der Covid-19-Pandemie vollkommen überfordert; seine Rückführung und Überstellung nach Italien führe zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK. Außerdem sei eine Überstellung nach Italien schon wegen seiner hier 2019 und 2021 in Deutschland geborenen Kinder und auch der Kindermutter, deren Asylantrag hier in der Bundesrepublik abgelehnt worden sei, unzulässig.
14Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
15das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. November 2018 - mit Ausnahme der Formulierung zu Ziffer 3 Satz 4, dass er nicht nach Somalia abgeschoben werden darf - aufzuheben,
16hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. November 2018 zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Italien vorliegen.
17Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
18die Berufung zurückzuweisen.
19Sie trägt vor: Zur Begründung werde auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil und auf die Darlegungen des Verwaltungsgerichts Karlsruhe im rechtskräftigen Urteil vom 14. September 2020 - A 9 K 3639/18 -, das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 15. Oktober 2020 - A 19 K 5758/18 -, das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 9. Oktober 2020 ‑ M 13 K 17.45 837 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 28. Januar 2021 - 8 K 6487/17.GI.A - sowie das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Dezember 2020 - 7 A 11038/18 - hingewiesen.
20Mit Schriftsatz vom 16. Juli 2021 hat die Beklagte die Berichte des Bundesamts zur „Situation des Aufnahmesystems seit der Reform des Salvini-Dekrets“ vom 15. Juli 2021 (im Folgenden: Bericht des Bundesamts vom 15. Juli 2021) und „zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien“ vom 2. April 2020 (im Folgenden: Bericht des Bundesamts vom 2. April 2020) übersandt.
21Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
22Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung einer sachverständigen Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die erteilte Auskunft vom 17. Mai 2021 verwiesen.
23Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.
24Entscheidungsgründe:
25A. Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
26B. Die Berufung des Klägers hat Erfolg.
27Der Bescheid des Bundesamts vom 9. November 2018 ist - soweit er streitbefangen ist - rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
28Dabei ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats abzustellen.
29Vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. März 2019 ‑ C‑297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 67 f.
30I. Als Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids kommt § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht in Betracht. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.
31Diese Vorschrift kann für den Fall des Klägers nicht zur Anwendung kommen.
32Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes - der durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in deutsches Recht umgesetzt worden ist - dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 4 GRCh bzw. des diesem entsprechenden Art. 3 EMRK zu erfahren.
33Vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 ‑ C‑540 und 541/17 (Hamed und Omar) ‑, juris; ferner bereits EuGH, Urteile vom 19. März 2019 ‑ C‑163/17 (Jawo) ‑, juris, Rn. 81 bis 97, und vom 19. März 2019 ‑ C‑297/17 u. a. (Ibrahim) ‑, juris, Rn. 83 bis 94; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 -, InfAuslR 2020, 402 (404) = juris, Rn. 23.
34Für die Anwendbarkeit des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32/EU nimmt der EuGH einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh an, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
35Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87 bis 92; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris, Rn. 39; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 29 ff., m. w. N., wonach ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK vorliegt, wenn die elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht befriedigt werden können, ferner Urteile vom 26. Januar 2021 ‑ 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 30, und - 11 A 2982/20.A -, juris, Rn. 32.
36Ausgehend hiervon kann der Asylantrag nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden, weil dem Kläger zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall seiner Rückkehr nach Italien die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK droht. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in Italien in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht wird befriedigen können.
371. Zunächst ist davon auszugehen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien auf sich selbst gestellt ist. Denn Personen mit Schutzstatus erhalten nach ihrer Rückkehr nach Italien im Regelfall keine besondere Unterstützung. Sie sind formell Einheimischen gleichgestellt. Deshalb können sie nach Italien einreisen und sich frei im Land bewegen. Das bedeutet aber auch, dass sie keine Unterstützung am Flughafen erhalten, wie etwa bei der Suche nach Unterkunft, bei der Beschaffung notwendiger Papiere oder bei der Erneuerung ihrer Registrierung im nationalen Gesundheitssystem. Das italienische System basiert auf der Annahme, dass die Menschen arbeiten dürfen und deshalb für sich selbst sorgen können, wenn sie einen Schutzstatus erhalten haben. Personen mit Schutzstatus haben damit bei ihrer Rückkehr zwar formell einen besseren Status als Asylsuchende, sie erhalten jedoch deutlich weniger materielle Unterstützung.
38Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (im Folgenden: SFH), Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 49; Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, S. 5 und 13, www.Raphaelswerk.de; s. hierzu auch Österreichisches Rotes Kreuz, ACCORD (Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (im Folgenden:ACCORD), Auskunft an Hess. VGH vom 18. September 2020, S. 6, m. w. N.
392. Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien in absehbarer Zeit keine menschenwürdige Unterkunft finden, sondern über einen längeren Zeitraum obdachlos sein wird.
40a. Auf der Grundlage der vom Senat eingeholten Auskunft und der dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisse sowie zum Zeitpunkt seiner Entscheidung allgemein zugänglicher Informationen ist davon auszugehen, dass es für international Schutzberechtigte nach ihrer Rückkehr nach Italien äußerst schwierig ist, Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft zu erhalten.
41aa. In Italien anerkannte Schutzberechtigte haben seit dem Inkrafttreten des Gesetzes („legge“) Nr. 173/2020 vom 18. Dezember 2020, das das Gesetzesdekret („decreto legge“) Nr. 130/2020 vom 21. Oktober 2020 modifiziert und bestätigt hat (im Folgenden: Gesetz Nr. 173/2020), Zugang zum als „SAI“ (= Sistema diaccoglienza e di integrazione; im Folgenden SAI-System, vormals SIPROIMI = Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per i minoristranieri non accompagnati) bezeichneten Zweitaufnahmesystem.
42Vgl. hierzu Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 3, und SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 39 ff., sowie SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Ergänzung zum Bericht vom Januar 2020, 10. Juni 2021, S. 10, https://www.fluechtlingshilfe.ch; s. auch Art. 4 des durch das Gesetz Nr. 173/2020 bestätigten Gesetzesdekrets vom 18. Oktober 2020, abgedruckt in Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana vom 21. Oktober 2020, www.gazzettaufficiale.it.
43(1) Das gesetzliche Regelwerk (Gesetz Nr. 173/2020, Art. 4) sieht vor, dass der Zugang zu den Zweitunterkünften „im Rahmen der verfügbaren Plätze“ erfolgt. Insofern steht Schutzberechtigen kein unbedingter Anspruch auf Zugang zum SAI-System zu, sondern es handelt sich um eine Möglichkeit der Unterbringung, die von weiteren Bedingungen abhängig ist.
44Vgl. hierzu Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 1 f.
45(2) Neue Richtlinien zur Regelung des seit dem Gesetz Nr. 173/2020 geltenden SAI-Systems sind bisher nicht herausgegeben worden. Insofern sind weder hinsichtlich des Zugangs von Schutzberechtigten zu den Zweitaufnahmeeinrichtungen (SAI, vormals SIPROIMI, davor SPRAR = Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati) noch hinsichtlich der Dauer der Unterbringung noch in Bezug auf den Verlust des Rechts auf Zugang zu diesen Einrichtungen Änderungen eingetreten.
46Vgl. hierzu Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 2, wonach die Ausführungen des Berichts zu den Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, nach wie vor gültig seien; i. d. S. auch Asylum Information Database(AIDA), Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 182 f., www.asylumineurope.org.
47(a) Anträge für eine Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (nunmehr des SAI-Systems, vormals SIPROIMI) müssen an den „Servizio Centrale“, einen vom Innenministerium eingesetzten Zentralservice, der von der nationalen Vereinigung der italienischen Gemeinden (ANCI) verwaltet wird, gerichtet werden. Die Anträge mit dem entsprechenden Formular werden hauptsächlich von der Präfektur oder der Questura, manchmal auch von Anwältinnen oder Anwälten, beim „Servizio Centrale“ eingereicht. Dieser beurteilt den Antrag und sucht - falls die Person, für die der Antrag gestellt wurde, ein Anrecht auf Unterkunft in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (des SAI-Systems/vormals SIPROIMI) hat - einen freien Platz in einem der Projekte. Wenn ein Platz frei ist, wird die Person sofort dort einquartiert. Der „Servizio Centrale“ ist der einzige Akteur, der einen Überblick über die Projekte und die freien Plätzen in den Projekten hat. Die freien Plätze ändern sich beinahe täglich und werden nicht öffentlich kommuniziert. Für „reguläre“ Fälle, über deren Asylgesuch positiv entschieden worden ist (neue Schutzstatusinhaber), stehen normalerweise Plätze zur Verfügung, ein Platz kann jedoch nicht garantiert werden. Es gibt keine Warteliste. Wenn ein Antrag auf Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (des SAI-Systems/vormals SIPROIMI) bewilligt worden ist und es keinen freien Platz gibt, wird diese Person nicht auf eine Warteliste gesetzt. Die Anwältin oder der Anwalt, die Questura oder Präfektur müssen einen Monat später einen neuen Antrag stellen, und dies so lange wiederholen, bis ein Platz für die jeweilige Person frei wird. In dieser Wartezeit steht der Person keine Unterkunft zur Verfügung.
48Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 54 f.; ACCORD, Auskunft an Hess. VGH vom 18. September 2020, S. 8, m. w. N.
49(b) Der für die SIPROIMI-Zweiaufnahmeeinrichtungen geltende Erlass („decreto“) des Innenministers vom 18. November 2019 sieht in Art. 38 Nr. 1 der im Anhang beigefügten Richtlinien („Allegato A: Linee guida per il funzionamento del sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati“) vor,
50abgedruckt in Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana vom 4. Dezember 2019, www.gazzettaufficiale.it (im Folgenden: SIPROIMI-Richtlinien),
51dass die Unterbringung in einem SIPROIMI-Projekt - vorbehaltlich der in dem nachfolgenden Artikel vorgesehenen Fälle - auf eine Dauer von sechs Monaten beschränkt ist. Ausweislich des Art. 39 Nr. 1 SIPROIMI-Richtlinien kann die Unterbringung um weitere sechs Monate verlängert werden, etwa wenn die weitere Unterbringung für die Integration unerlässlich ist oder außerordentliche Umstände wie Gesundheitsprobleme oder Vulnerabilitäten vorliegen. In Art. 39 Nr. 2 SIPROIMI-Richtlinien ist noch eine weitere Verlängerung um sechs Monate vorgesehen, falls anhaltende, angemessen dokumentierte Gesundheitsprobleme bestehen oder um ein Schuljahr zu beenden.
52Vgl. auch SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 55; und AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 182 f., www.asylumineurope.org.
53(c) Das Recht auf Unterkunft in einem SIPROIMI-Projekt kann ausweislich des Art. 40 SIPROIMI-Richtlinien entzogen werden. Der Entzug kann danach in Fällen einer ungerechtfertigten fehlenden Vorstellung in einer durch den „Servizio Centrale“ zugewiesenen Unterkunft (Art. 40 Nr. 1 b) und bei ungerechtfertigter Abwesenheit von der Einrichtung für mehr als 72 Stunden ohne vorherige Erlaubnis durch die lokalen Behörden (Art. 40 Nr. 1 c) erfolgen.
54Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 55 f.; AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 183, www.asylumineurope.org.
55Das Recht auf Unterkunft kann auch dann entzogen werden, wenn die Person die zugewiesene Unterkunft in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (nunmehr SAI, vormals SIPROIMI bzw. SPRAR) nie genutzt hat. Allein die Zuteilung kann für den Entzug ausreichen. Die Situation muss in jedem Einzelfall genau abgeklärt und der „Servizio Centrale“ konsultiert werden.
56Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 56.
57(d) Es hängt danach vom Einzelfall ab, ob eine Person, die zu dem hinsichtlich der Unterbringung in Zweitaufnahmeeinrichtungen begünstigten Personenkreis gehört, bei ihrer Rückkehr nach Italien (erneut) Zugang zum System hat. Grundsätzlich haben die Personen, die bereits vor ihrer Weiterreise in einem SIPROIMI (oder SPRAR) untergebracht waren und ihren Integrationsprozess abgeschlossen haben, kein Recht mehr auf Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (nunmehr des SAI-Systems/vormals SIPROIMI). Wenn die Person mit internationalem Schutzstatus ihr Recht auf Unterkunft in einem Zweitaufnahmezentrum verliert oder bereits die maximale Aufenthaltsdauer untergebracht war, bietet der italienische Staat keine Alternativunterkunft an. Personen, die es in dieser Zeit nicht geschafft haben, eine Arbeit zu finden, erhalten nach ihrer Zeit in einer Zweitaufnahmeunterkunft keinerlei finanzielle oder sonstige Unterstützung mehr.
58Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 52 und 56; Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2020, S. 2, wonach die Ausführungen des vorstehenden Berichts nach wie vor gültig seien; Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, S. 13 f., www.Raphaelswerk.de.
59(e) Ausweislich einer von Altreconomia im Zeitraum von 2016 bis 2019 durchgeführten Untersuchung auf Grundlage von Angaben von 60 der 106 Präfekturen haben mindestens 100.000 Asylsuchende oder Schutzberechtigte ihr Recht auf Unterbringung verloren.
60Vgl. AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 110, www.asylumineurope.org
61(f) Der „Servizio Centrale“ kann nach Italien zurückkehrenden Schutzberechtigten, die bereits Zugang zum Zweitaufnahmesystem (heute des SAI-Systems/vorher SIPROIMI bzw. SPRAR) hatten, auf Antrag ausnahmeweise die Unterbringung in einer Zweiaufnahmeeinrichtung bewilligen, wenn diese neue Vulnerabilitäten nachweisen können.
62Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 61, unter Hinweis auf Angaben des „Servizio Centrale“ und das von diesem herausgegebene Handbuch „Manuale operativo per l’attivazione e la gestione di servizi di accoglienza e integrazione per richiedenti e titolari di protezione internazionale“ betreffendSIPROIMI-Einrichtungen.
63bb. Für Migrantinnen und Migranten und deshalb auch für in Italien anerkannte sowie dorthin zurückkehrende Schutzberechtigte ist es grundsätzlich schwer,eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt anzumieten und zu finanzieren.
64(1) Für diesen Personenkreis ist es schwierig, überhaupt eine Mietwohnung zu finden. Wohnungseigentümer verlangen oftmals einen Arbeitsvertrag als Garantie und haben zudem bei der Vermietung an Migrantinnen und Migranten immer häufiger Angst, die Vermietung könnte als Unterbringung Illegaler interpretiert werden, was nach italienischem Gesetz strafbar ist.
65Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 71 f.; s. auch Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, S. 14, www.Raphaelswerk.de; und auch Österreichisches Bundesamt für Fremdwesen (im Folgenden: BFA), Länderinformation der Staatendokumentation Italien vom 11. November 2020, S. 23
66(2) Abgesehen davon sind die Mietkosten für eine Wohnung, insbesondere in den großen Städten hoch. An Mietkosten müssen in Italien etwa für eine Zweizimmerwohnung im Stadtkern durchschnittlich 595,61 Euro und außerhalb des Stadtkerns durchschnittlich 450,91 Euro aufgewandt werden.
67Vgl. Wohnen in Italien, https://sirelo.de.
68cc. International Schutzberechtigte haben grundsätzlich dasselbe Recht auf Zugang zu öffentlichem Wohnraum („case popolari“) und zu Sozialwohnungen („Edilizia Residenziale Sociale“) wie italienische Bürgerinnen und Bürger. Der öffentliche und soziale Wohnungsanteil ist in Italien einem Bericht der Europäischen Kommission von 2019 zufolge jedoch (mit nur etwa 4 % der Wohnungen) einer der niedrigsten in der Europäischen Union. Die Bedingungen für den Zugang zu solchen Wohnungen unterscheiden sich zudem von Region zu Region. In einigen Regionen erfordert der Zugang zu diesen Wohnungen einen Mindestaufenthalt (von bisweilen fünf bis zu zehn Jahren) im Land. Zudem ist die Warteliste lang, selbst wenn die Aufenthaltsbedingung erfüllt ist. Es kann deshalb mehrere Jahre dauern, bis eine berechtigte Person eine Wohnung erhält. In Mailand haben Personen mit internationalem Schutzstatus nach fünf Jahren Aufenthalt formal Zugang zu öffentlichem Wohnraum, allerdings ist auch dort die Warteliste lang. In Rom beträgt die Wartezeit ungefähr sieben Jahre. Personen mit Schutzstatus müssen nachweisen, dass sie ihren Wohnsitz in der Gemeinde haben, in der sie eine öffentliche Wohnung beantragen. Damit ist es für Schutzberechtigte schwierig, Zugang zu öffentlichem Wohnraum zu erhalten.
69Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 66 f.; ACCORD, Auskunft an Hess. VGH vom 18. September 2020, S. 9 f., m. w. N; Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, S. 14, www.Raphaelswerk.de.; AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 183 f., www.asylumineurope.org; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Italien vom 11. November 2020, S. 23.
70dd. International Schutzberechtigte haben Zugang zu Gemeindeunterkünften oder Notschlafstellen.
71(1) Unterstützungsleistungen für obdachlose Personen sind in Italien nicht obligatorisch und bestehen hauptsächlich aus Notfallprogrammen im Winter; allerdings ist keine andere Gemeinde als die Wohnsitzgemeinde verpflichtet, Unterstützungsleistungen zu erbringen. Um Zugang zu (minimalen) Hilfeleistungen durch eine Gemeinde zu bekommen, muss die betroffene Person deshalb ihren Wohnsitz („residenza“) in der betreffenden Gemeinde haben. Durch Art. 13 des Gesetzesdekrets („decreto legge“) Nr. 113/2018 vom 4. Oktober 2018 (im Folgenden „Salvini-Dekret“) war aber die Möglichkeit der Registrierung von Asylsuchenden bei einer Gemeinde abgeschafft worden mit der Folge, dass diese während des Aufenthalts als Asylsuchende nie eine Registrierung des Wohnsitzes erhalten konnten und folglich ohne Wohnsitz waren. Diese Regelung ist zwar durch das Gesetz Nr. 173/2020 aufgehoben worden. Jedoch sind infolge dieser Regelung des „Salvini-Dekrets“ die wenigsten Asylbewerber, die ihren Antrag in den letzten drei Jahren gestellt haben, jemals bei einer Gemeinde registriert worden. Zusätzlich haben Personen, die Italien verlassen haben, ihre „residenza“ verloren.
72Vgl. hierzu Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 3 f.
73(2) Notunterkünfte bieten in der Regel lediglich einen Platz zum Schlafen an und sind auch nicht speziell für Flüchtlinge gewidmet.
74Vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Italien vom 11. November 2020, S. 23.
75(3) Die Stadt Rom hatte (jedenfalls bis Ende 2019) einen Informationsschalter, an dem man sich für einen Platz in einer Gemeindeunterkunft registrieren konnte. Außerdem existiert eine Telefonhotline für soziale Unterstützung, die „Sala Operativa Sociale“ (S.O.S.). Auf ihrer Homepage sind sieben Zentren für erwachsene Obdachlose aufgeführt und fünf für Mütter mit kleinen Kindern. Diese Einrichtungen sind aber nur in der Nacht geöffnet, Schlafplätze können nicht reserviert werden, sie werden der Reihe nach vergeben. Sie sind auch für italienische Obdachlose zugänglich. Es gibt keine spezifisch für Asylsuchende oder Migrantinnen und Migranten reservierten Plätze.
76Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 72 f.
77(4) Trotz Notschlafstellen und temporärer Unterkünfte hat Mailand viele Obdachlose. Schon 2018 wurde von 2608 Obdachlosen berichtet. Rund 73% von ihnen waren Ausländerinnen und Ausländer. Notschlafstellen sind für Ausländerinnen und Ausländer unabhängig von ihrem legalen Status und für italienische Staatsangehörige zugänglich. Es gibt keine speziell für Asylsuchende oder Migrantinnen oder Migranten reservierten Plätze. Die Kapazität der Schlafstellen wird im Winter im Rahmen des „emergenza freddo“-Plans erweitert (November bis März). In dieser Zeit sollte jede Person Zugang zu einem Bett für die Nacht erhalten. In der restlichen Zeit wird die Kapazität der Notschlafstellen reduziert. Nur die schwächsten und schutzbedürftigsten Personen werden dann untergebracht.
78Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 73.
79(5) Die Anzahl der Notunterkünfte hat sich allerdings im Zuge der Corona-Pandemie halbiert.
80Vgl. hierzu Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 4.
81ee. In einigen Städten bieten Nichtregierungsorganisationen (im Folgenden: NGOs) oder Wohltätigkeitsorganisationen ein paar Schlafplätze an, doch deren Kapazitäten sind beschränkt.
82Vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Italien vom 11. November 2020, S. 23.
83ff. In ganz Italien gibt es informelle Siedlungen oder besetzte Häuser, in denen auch Schutzberechtigte leben. Dort herrschen meist unzumutbare Zustände.
84Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 74, unter Hinweis auf einen Bericht von Ärzte ohne Grenzen; s. auch BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Italien vom 11. November 2020, S. 23.
85b. Ausgehend von diesen Erkenntnissen wird der Kläger zur Überzeugung des Senats im Falle seiner Rückkehr nach Italien in absehbarer Zeit keine Unterkunft bekommen. Dabei wirkt sich entscheidend aus, dass der Kläger kein Recht mehr hat, in einer Einrichtung des SAI-Systems zu wohnen und dort versorgt zu werden.
86aa. Der Kläger wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in einer Einrichtung des SAI-Systems unterkommen können. Ein Anspruch darauf, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien einer solchen Einrichtung zugewiesen wird, besteht nach derzeitiger Erkenntnislage nicht.
87(1) Der Kläger gehört nicht (mehr) zu dem hinsichtlich der Unterbringung in einer solchen Einrichtung begünstigten Personenkreis. Selbst wenn es ihm gelänge, unmittelbar nach dem Eintreffen in Italien oder bereits vor seiner Rückkehr dorthin mithilfe einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwalts einen Antrag auf Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung beim „Servizio Centrale“ zu stellen und es zudem freie Plätze in für ihn in Frage kommenden Aufnahmeeinrichtungen gäbe, hätte ein solcher Antrag mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg. Denn zur Überzeugung des Senats steht dem Kläger das Recht auf eine Unterkunft in einer Einrichtung nicht mehr zu bzw. ist es ihm entzogen worden.
88(a) Nach seinen Angaben im Termin zur mündlichen Verhandlung erster Instanz ist ihm in Italien eine Unterkunft „zugesagt“ worden, in der er aber offensichtlich erst gar nicht vorstellig geworden ist oder die er jedenfalls im Rahmen seiner Weiterreise nach Deutschland ohne vorherige Erlaubnis durch die lokalen Behörden verlassen hat. Insofern ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er entweder den Tatbestand des Art. 40 Nr. 1b) oder c) SIPROIMI-Richtlinien verwirklicht hat mit der Folge, dass ihm im Falle seiner Rückkehr grundsätzlich kein Zugang mehr zum SAI-System zusteht.
89(b) Mit Blick darauf, dass die italienischen Behörden in den Jahren 2016 bis 2019 mindestens 100.000 Asylsuchenden und Schutzberechtigten das Recht auf Unterbringung in einer Einrichtung entzogen haben - dabei dürfte die tatsächliche Zahl solcher Fälle noch erheblich darüber liegen, nachdem die im Rahmen der Untersuchung von Altreconomia ermittelten „mindestens 100.000“ Fälle auf den Angaben von weniger als zwei Dritteln der 106 italienischen Präfekturen beruhen - und im gleichen Zeitraum in Italien insgesamt 350.868 Asylanträge gestellt worden sind,
90vgl. zu diesen Zahlen: AIDA, Country Report: Italy-2016 Update, 31. Dezember 2016, S. 8, www.asylumineurope.org für 2016; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 22, für 2017 und 2018; AIDA, Country Report: Italy-2019 Update, 31. Dezember 2019, www.asylumineurope.org für 2019,
91muss davon ausgegangen werden, dass die italienischen Behörden einem erheblichen Teil der Asylantragstellenden bzw. Schutzberechtigten das Recht auf eine Unterbringung entweder auf der Grundlage des Art. 23 der Gesetzesverordnung („decreto legislativo“) Nr. 142/2015 vom 18. August 2015 (im Folgenden: Gesetzesverordnung Nr. 142/2015),
92vgl. zu dieser Regelung für Erstaufnahmeeinrichtungen, die durch das Gesetz Nr. 173/2020 nicht geändert worden ist: OVG NRW, Urteil vom heutigen Tag in dem Verfahren 11 A 1689/20.A betreffend eine Klage eines Maliers gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a) AsylG mit Abschiebungsanordnung nach Italien (Urteilsabdruck, S. 19 ff.),
93oder des Art. 40 SIPROIMI-Richtlinien entzogen haben. Wenn zudem mit dem von der Beklagten mit Schriftsatz vom 16. Juli 2021 zu den Akten gereichten Bericht des Bundesamts vom 2. April 2020 davon ausgegangen wird, dass Familien mit minderjährigen Kindern in der Regel nicht von dem Entzug des Rechts auf Unterbringung betroffen sind (s. hierzu nachfolgend unter B.I.8.b.), spricht alles dafür, dass dieses Recht in erster Linie Einzelpersonen - wie dem Kläger - entzogen wird.
94(c) Ausgehend hiervon sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich und auch von der Beklagten nicht dargetan, dass die italienischen Behörden im Falle des Klägers eine Ausnahme gemacht und die Vorschrift über den Entzug des Rechts auf Unterbringung nicht auf den Kläger angewendet haben.
95(2) Es ist auch nicht ersichtlich, dass er auf einen entsprechenden Antrag ausnahmsweise in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht werden könnte. Denn es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass er „neue“ oder überhaupt „Vulnerabilitäten“ nachweisen könnte, die den „Servizio Centrale“ veranlassen könnten, dem Kläger ausnahmsweise die Unterbringung in einer Einrichtung des SAI-Systems zu bewilligen. Dass Vulnerabilitäten in Bezug auf seine Person vorliegen könnten, lässt sich weder den von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsvorgängen noch seinem Vorbringen entnehmen. Da Italien nicht für die Prüfung des Asylantrags seiner - nach Angaben des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung erster Instanz mit ihm „nach muslimischen Brauch“ verheirateten - Ehefrau zuständig ist, deren (nur) in der Bundesrepublik Deutschland gestellter Asylantrag durch Bescheid des Bundesamts vom 17. Juni 2020 abgelehnt worden ist, und sich auch keine Zuständigkeit Italiens für die Prüfung des Asylantrags seines in der Bundesrepublik im Jahr 2019 geborenen Kindes und möglicherweise auch nicht hinsichtlich des weiteren im Jahr 2021 geborenen Kindes ergeben dürfte,
96vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2020 - 1 C 37.19 -, InfAuslR 2020, 399 = juris,
97könnte der Kläger auch mit Blick auf diese Personen keine „Vulnerabilitäten“ geltend machen, die der „Servizio Centrale“ im Rahmen eines Antrags des Klägers auf Unterbringung in einer Einrichtung des SAI-Systems zu berücksichtigen hätte.
98bb. Es ist auch nicht ersichtlich, wie es dem Kläger im Anschluss an seine Rückkehr nach Italien gelingen sollte, eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt zu finden und darüber hinaus erfolgreich einen Mietvertrag abzuschließen. Abgesehen davon erscheint es ausgeschlossen, dass der mittellose Kläger (s. dazu nachfolgend unter B.I.3.) in der Lage wäre, eine solche unmittelbar oder auch nur in naher Zukunft zu finanzieren.
99cc. Eine öffentliche Wohnung oder eine Sozialwohnung könnte der Kläger im Falle seiner Rückkehr nicht erhalten, weil er schon nicht über einen Wohnsitz in einer italienischen Gemeinde verfügt, in der er den Antrag auf Gewährung öffentlichen Wohnraums stellen könnte und darüber hinaus wohl auch in keiner Gemeinde die für die Antragstellung erforderlichen Mindestaufenthaltszeiten von mehreren Jahren erfüllt.
100dd. In Obdachlosenunterkünften oder Notschlafstellen könnte er im Falle seiner Rückkehr nach Italien voraussichtlich ebenfalls nicht (menschenwürdig) untergebracht werden. Zunächst müsste er sich in einer Gemeinde registrieren lassen, um überhaupt Zugang zu Hilfeleistungen zu bekommen. Darüber hinaus ist die bereits vor der Covid-19-Pandemie nicht ausreichende Kapazität temporärer Unterkünfte im Zuge der Pandemie noch geringer geworden, sodass es schon fraglich ist, ob der Kläger überhaupt einen Platz in einer solchen Unterkunft finden könnte. Zudem ist mit der Unterbringung in solchen Unterkünften nicht auch die Versorgung mit für das Überleben notwendigen Mitteln verbunden, vielmehr bieten diese lediglich Plätze zum Schlafen an.
101ee. Über NGOs könnte der Kläger auch keine Unterkunft erhalten; diese verfügen in einigen Städten (lediglich) über wenige Schlafplätze, nicht aber über Unterkünfte, in denen der Kläger über einen längeren Zeitraum wohnen und sich versorgen könnte.
102ff. Der Kläger kann auch nicht auf „informelle Möglichkeiten“ der Unterkunft in verlassenen bzw. besetzten Gebäuden verwiesen werden, denn der Aufenthalt in solchen Gebäuden wäre wegen der dort zumeist herrschenden menschenunwürdigen Zustände nicht nur unzumutbar, sondern vor allem auch illegal.
103Vgl. hierzu auch OVG NRW, Urteile vom 21. Januar 2021 - 11 A 2982/20.A -, juris, Rn. 64, und ‑ 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 62.
1043. Der Kläger wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rückkehr nach Italien ferner nicht in der Lage sein, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen.
105a. Grundsätzlich haben international Schutzberechtigte in Italien freien Zugang zum Arbeitsmarkt.
106aa. Dieser Personenkreis erhält während einer Unterbringung in den Zweitaufnahmeeinrichtungen (jetzt des SAI-Systems/vormals SIPROIMI) über einen Zeitraum von sechs Monaten integrationsfördernde Maßnahmen wie Sprachkurse und Weiterbildungen.
107Vgl. Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, S. 16 f., www.Raphaelswerk.de; ACCORD, Auskunft an Hess. VGH vom 18. September 2020, S. 10.
108Art. 5 des Gesetzes Nr. 173/2020 sieht zusätzliche Integrationsmaßnahmen vor, die am Ende des Aufnahmezeitraums im SAI-Netzwerk umgesetzt werden wie u. a. Sprachtraining und Orientierung zur Arbeitsvermittlung. Diese Angebote werden den zuständigen Verwaltungen im Rahmen ihrer jeweiligen personellen und finanziellen Ressourcen anvertraut.
109Vgl. Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 2.
110Personen mit internationalem Schutz können sich bei lokalen Arbeitsämtern anmelden und werden nach einer Registrierung u. a. über Stellenangebote informiert.
111Vgl. ACCORD, Auskunft an Hess. VGH vom 18. September 2020, S. 10.
112Die Registrierung ist auch ohne Wohnsitznachweis möglich, allerdings verlangen viele Arbeitsämter dennoch einen Wohnsitz.
113Vgl. Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, S. 17, www.Raphaelswerk.de.
114bb. Aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen in Italien ist es für international Schutzberechtigte schwer, Arbeit zu finden. Geringe Sprachkenntnisse und fehlende Qualifikationen oder Probleme bei der Anerkennung von Qualifikationen erschweren die Arbeitssuche zusätzlich. Schwarzarbeit ist sehr verbreitet. Viele Flüchtlinge arbeiten in der Landwirtschaft, z. B. in der saisonalen Erntearbeit, meist unter prekären Arbeitsbedingungen, und werden Opfer von Ausbeutung.
115Vgl. Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, S. 16 f., www.Raphaelswerk.de; ACCORD, Auskunft an Hess. VGH vom 18. September 2020, S. 10; s. auch Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 4; s. auch BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Italien vom 11. November 2020, S. 24.
116Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich im Zuge der Covid-19-Pandemie und der Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage in den Jahren 2020 und 2021 zusätzlich verschärft.
117Vgl. Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 4.
118Die Arbeitslosenquote in Italien lag im Jahr 2020 bei über neun Prozent,
119vgl. Statista, Internationale Länderdaten, Europa, https://de.statista.com (ca. 9,1 %); Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), Arbeitslosigkeit 2020, www. bpb.de (9,2 %),
120im Mai 2021 bei 10,5 Prozent und wird für das Jahr 2021 auf rund 10,3 Prozent prognostiziert.
121Vgl. Statista, Internationale Länderdaten, Europa, https://de.statista.com.
122Die Jugendarbeitslosigkeit liegt derzeit bei 33,7 Prozent - nur in Spanien und Griechenland sind die Werte noch schlechter. Nach der jüngsten Untersuchung des nationalen Statistikamts Istat sind mehr als 30 Prozent aller Verträge bei den 25- bis 34-Jährigen befristet. Bei drei Vierteln aller befristeten Verträge sei die Vertragsart keine bewusste Wahl gewesen, sondern der einzige Weg, um eine Arbeit zu bekommen.
123Vgl. Handelsblatt, „Unser Sozialsystem hat einfach zu viele Löcher“ - Italiens Arbeitsmarkt gerät in eine tiefe Krise, Artikel vom 23. Juni 2021, www.handelsblatt.de.
124In Italien haben in der Pandemie vor allem Frauen und junge Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Im Unterschied zu früheren Krisen, die hauptsächlich die Industrie belastet haben, bekommt das Dienstleistungsgewerbe den Wirtschaftseinbruch bedingt durch die Pandemie besonders stark zu spüren; betroffen sind insbesondere die Branchen, in denen überwiegend Frauen arbeiten, wie Tourismus, Gastronomie und Hotellerie.
125Vgl. Handelsblatt, „Unser Sozialsystem hat einfach zu viele Löcher“ - Italiens Arbeitsmarkt gerät in eine tiefe Krise, Artikel vom 23. Juni 2021, www.handelsblatt.de; s. auch Süddeutsche Zeitung (SZ), Jung, weiblich, arbeitslos, Artikel vom 25. März 2021, www.sueddeutsche.de.
126Von der Pandemie besonders betroffen ist der Tourismussektor mit einem Rückgang von 69 % im Jahr 2020.
127Vgl. Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 5, m. w. N.
128Nach Angaben des Statistikamts Istat ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone im Jahr 2020 um 8,8 Prozent geschrumpft; das ist der stärkste Einbruch seit dem Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Wirtschaft ist im selben Zeitraum um 5,0 Prozent geschrumpft.
129Vgl. Deutsche Welle (DW), Wirtschaft der Eurozone schrumpft, Beitrag vom 2. Februar 2021, www.dw.com.de.
130Italiens Hoffnung liegt auf dem Wiederaufbaufonds der Europäischen Union; nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Beschäftigung soll wachsen. Allein für das Jahr 2022 wird der Effekt des Fonds mit 2,2 Prozent Wachstum bei der Erwerbsquote bemessen. Die Frauenerwerbsquote soll im kommenden Jahr um 2,6 Prozentpunkte steigen, die der Jugendlichen aus dem Süden sogar um 3,3 Prozentpunkte.
131Vgl. Handelsblatt, „Unser Sozialsystem hat einfach zu viele Löcher“ - Italiens Arbeitsmarkt gerät in eine tiefe Krise, Artikel vom 23. Juni 2021, www.handelsblatt.de; s. auch GTAI, Germany Trade & Invest, Wirtschaftsausblick Italien, Wege aus der Coronakrise, bessere Aussichten für das 2. Halbjahr, Artikel vom 21. Mai 2021, www.gtai.de.
132cc. Schwarzarbeit ist in Italien weit verbreitet. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung Italiens arbeiten nach Angaben des italienischen Statistikamts Istat in der Schattenwirtschaft, eine Million Haushalte leben ausschließlich von irregulärer Arbeit.
133Vgl. Handelsblatt, Schattenwirtschaft, Italien forciert den Kampf gegen Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit, Artikel vom 18. August 2020, www.handelsblatt.com.
134Schwarzarbeit wird europaweit bekämpft. Das Europäische Parlament und der Rat haben durch Beschluss 2016/344/EU vom 9. März 2016 (ABl. L 65 vom 11. März 2016) eine „Europäische Plattform zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit“ eingerichtet, die u. a. den Ländern der Europäischen Union helfen soll, wirksamer den verschiedenen Formen der Schwarzarbeit zu begegnen.
135Vgl. Europäische Kommission, Themenblatt Europäisches Semester „Schwarzarbeit“ vom 10. November 2017, S. 6 f., https://ec.europa.eu.
136Auch Italien versucht, mit umfangreichen Maßnahmen gegen Schwarzarbeit vorzugehen; so drohen etwa bei Verstößen Geldstrafen von 2.000 bis 50.000 Euro.
137Vgl. Handelsblatt, Schattenwirtschaft, Italien forciert den Kampf gegen Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit, Artikel vom 18. August 2020, www.handelsblatt.com.
138b. Angesichts der sich aus diesen Erkenntnissen und Informationen ergebenden derzeitigen Arbeitsmarktsituation und Wirtschaftslage in Italien ist es beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr keine Arbeit finden würde. Bei einer Arbeitslosenquote von ca. 10 %, einer mit 33,7 % deutlich darüber liegenden Jugendarbeitslosigkeit und der zurzeit (noch) herrschenden prekären Beschäftigungssituation im Dienstleistungs-, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe, sowie den einen Zugang zum Arbeitsmarkt zusätzlich erschwerenden persönlichen Handicaps des Klägers - wie der mangelnden Beherrschung der italienischen Sprache, des Fehlens spezifischer beruflicher Qualifikationen und des für einen Drittstaatsangehörigen in einem anderen Land typischen Fehlens privater Netzwerke - erscheint es nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an eine Rückkehr nach Italien eine Arbeit findet, die es ihm gestattet, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Ob der Kläger in Italien eine Beschäftigung im Bereich der sog. Schattenwirtschaft finden könnte, kann offenbleiben. Denn angesichts der oben aufgezeigten Bemühungen der Europäischen Union und insbesondere auch ihres Mitgliedstaats Italien zur Bekämpfung von Schwarzarbeit verbietet es sich von vornherein, diese dadurch zu untergraben, dass anerkannte Schutzberechtigte ‑ wie der Kläger - auf die Möglichkeit verwiesen werden, in Italien zur Sicherung des Existenzminimums ‑ verbotene - Schwarzarbeit aufzunehmen.
1394. Der Kläger wird im Falle seiner Rückkehr nach Italien auch keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen haben, mit deren Hilfe er dort sein Existenzminimum sichern könnte. Auch hier wirkt sich entscheidend aus, dass der Kläger kein Recht mehr hat, in einer Einrichtung des SAI-Systems versorgt zu werden.
140a. Anerkannte Schutzberechtigte haben in Italien grundsätzlich Zugang zum sog. Bürgergeld („reddito di cittadinanza“). Voraussetzung für den Erhalt des Bürgergelds ist aber u. a., dass die antragstellende Person mindestens zehn Jahre in Italien ihren Wohnsitz gehabt haben muss, zwei davon ununterbrochen.
141Vgl. AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 185, www.asylumineurope.org; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 63 f.
142b. Der Kläger ist damit im Falle seiner Rückkehr nach Italien von der Gewährung eines Bürgergelds ausgeschlossen. Denn er hat in Italien keinen Wohnsitz seit mindestens zehn Jahren.
1435. Auch die Unterstützung von Hilfsorganisationen versetzte den Kläger in Italien nicht in die Lage, dort seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.
144a. NGOs befinden sich hauptsächlich in den großen Städten. Viele Hilfsangebote in Italien sind zudem Projekte mit nur kurzer Laufzeit und unzureichend sowie unregelmäßig gefördert. Es existieren deshalb lediglich wenige dauerhafte Unterstützungsstrukturen.
145Vgl. Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, S. 19., www.Raphaelswerk.de; AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 97, www.asylumineurope.org.
146Zudem bieten die Hilfsorganisationen in erster Linie Beratung und Unterstützung an. Sie helfen etwa bei Behördengängen, unterstützen bei der Arbeits- und Wohnungssuche, geben Lebensmittel, vermitteln Notunterkünfte, bieten Sprachförderung oder Freizeitangebote an.
147Vgl. hierzu Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, Auflistung verschiedener Hilfsangebote im Anhang, S. 19. ff., www.Raphaelswerk.de.
148b. Ausgehend hiervon könnte der Kläger von den in Italien nicht flächendeckend vorhandenen Hilfsorganisationen oder Hilfsangeboten im Falle seiner Rückkehr dorthin lediglich Unterstützungsmaßnahmen erwarten, die ihm im Notfall allenfalls als elementares Auffangnetz gegen Hunger dienen, ihm aber nicht (auch nicht für eine Übergangszeit) die für ein Überleben notwendigen Mittel zur Verfügung stellen könnten.
1496. Soweit die Beklagte in ihrer Berufungserwiderung auf verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung verweist, die bestätige, dass anerkannte Schutzberechtigte in Italien im Falle ihrer Rückkehr dorthin keiner erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK ausgesetzt seien, sieht der Senat sich nicht zu einer anderen Einschätzung veranlasst.
150a. Eine andere Beurteilung des Sachverhalts ergibt sich nicht aus dem Hinweis der Beklagten auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gießen.
151Vgl. VG Gießen, Urteil vom 28. Januar 2021 ‑ 8 K 6487/17.GI.A -, juris.
152aa. Soweit das Verwaltungsgericht Gießen darin zur Unterbringungssituation feststellt, dem dortigen Kläger drohe im Falle seiner Rückkehr nach Italien keine Verletzung von Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRCh, denn selbst wenn er keine Aufnahme in einer SIPROIMI-Einrichtung (jetzt SAI) finden sollte, müsse er sich auf die für alle italienischen Staatsangehörigen geltenden Voraussetzungen hinsichtlich des Empfangs von Sozialleistungen (sog. Inländergleichbehandlung) und auf Unterkünfte verweisen lassen, die von karitativen Einrichtungen, NGOs und einzelnen Kirchen angeboten würden,
153vgl. VG Gießen, Urteil vom 28. Januar 2021 ‑ 8 K 6487/17.GI.A -, juris, Rn. 35,
154kann dem für den hier zu entscheidenden Fall nicht gefolgt werden. Die vom Verwaltungsgericht konstatierte Inländergleichbehandlung betreffend die Gewährung von Sozialleistungen, auf die sich Schutzberechtigte wie der dortige Kläger verweisen lassen müssten, ist nämlich nicht gewährleistet. Das Bürgergeld setzt ‑ wie unter B.I.4.a. beschrieben - voraus, dass die Antragstellenden ihren Wohnsitz seit zehn Jahren in Italien haben, eine Voraussetzung, die italienische Staatsangehörige in der Regel ohne Weiteres erfüllen, anerkannte Schutzberechtigte hingegen grundsätzlich nicht. Ähnlich verhält es sich mit öffentlichen bzw. Sozialwohnungen; der Zugang zu solchen Wohnungen ist in der Gemeinde des Wohnsitzes zu beantragen, zudem sind in der Regel Mindestaufenthaltszeiten in der Gemeinde oder jedenfalls in Italien erforderlich, darüber hinaus gibt es Wartelisten. Zurückkehrende Schutzberechtigte verfügen bei der Rückkehr in der Regel - anders als italienische Staatsangehörige - weder über einen Wohnsitz in einer italienischen Gemeinde noch können sie die überwiegend erforderlichen Mindestaufenthaltszeiten erfüllen. Selbst wenn sie sich alsbald nach ihrer Rückkehr in eine Warteliste eintragen können, sind sie gegenüber in Wartelisten eingetragenen italienischen Staatsangehörigen benachteiligt, die die vorgenannten Bedingungen für die Zuweisung zu solchen Wohnungen deutlich früher erfüllen können als Schutzberechtige. Darüber hinaus müssen sie sich auch auf eine unter Umständen mehrjährige Wartezeit einstellen. Der Verweis auf die Unterbringungsmöglichkeiten von Hilfsorganisationen und Kirchen trägt aus Sicht des Senats auch nicht (mehr). Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg benennt in Bezug auf derartige Unterbringungsmöglichkeiten in seinem Urteil,
155VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 60 f., auf das das VG Karlsruhe in seinem von der Beklagten in der Berufungserwiderung ebenfalls benannten Urteil vom 14. September 2020 - A 9 K 3639/18 -, juris, Rn. 60, verweist, das wiederum das VG Gießen in der oben zitierten Entscheidung in Bezug nimmt, juris, Rn. 35 (das dort vom VG Gießen weiter benannte Urteil des VG Aachen vom 10. November 2020 - 9 K 6001/17.A -, juris, Rn. 59 ff., verweist ebenfalls auf die Entscheidung des VG Karlsruhe),
156Auskünfte aus den Jahren 2016 und 2017, die mithin nicht mehr aktuell sind und die heutige Situation (s. hierzu die Ausführungen unter I.B.2.a.ee. und I.B.5.) auch ansonsten nicht mehr zutreffend wiedergeben.
157bb. Hinsichtlich der Frage, ob der dortige Kläger in Italien eine Beschäftigung finden könne, die seinen Lebensunterhalt sichere, führt das Verwaltungsgericht Gießen zunächst aus, dass es „in Italien auf Grund der hohen Arbeitslosenzahlen generell schwer“ sei, Arbeit zu finden. Noch schwieriger sei die Arbeitssuche für Personen mit Schutzstatus „mit geringen Sprachkenntnissen und ohne Berufsausbildung“. Der italienische Arbeitsmarkt erweise sich auf regionaler Ebene als sehr heterogen, mit stark industrialisierten Regionen im Norden und solchen im Süden, in denen Tätigkeiten in der Landwirtschaft und im Tourismus überwögen. Zwischen 2020 und 2024 seien im italienischen Wirtschaftssystem über 2,5 Millionen der heute Beschäftigen zu ersetzen, weil sie das Pensionsalter erreichten oder aus anderen Gründen aus dem Berufsleben ausschieden. Schon zwischen 2020 und 2021 könnten die Privatsektoren und die öffentliche Verwaltung einen Beschäftigungsbedarf von 272.000 bis 799.000 Personen aufweisen. Im Fünfjahreszeitraum würden Privatsektoren einen Bedarf zwischen 1,2 und 2 Millionen Personen aufweisen. Dabei werde der Nordwesten das größte Kontingent an Beschäftigten benötigen, gefolgt vom Nordosten und von Süditalien. Ausgehend hiervon stellt das Verwaltungsgericht Gießen fest, dass von Schutzberechtigten ‑ wie dem dortigen Kläger - erwartet werden könne, dass sie in Regionen zögen, in denen sie auch ohne Ausbildung Beschäftigungen in der Landwirtschaft und im Tourismus fänden und führt weiter unter Bezugnahme auf das auch von der Beklagten in der Berufungserwiderung benannten Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz aus,
158vgl. OVG Rh.-Pf., Urteil vom 15. Dezember 2020 - 7 A 11038/18 -, juris, Rn. 45,
159dass es im Hinblick auf die oben dargestellte Entwicklung des italienischen Arbeitsmarkts ausgeschlossen erscheine, dass eine arbeitsfähige und -willige Person im gesamten Land keine Beschäftigung finden könne.
160Vgl. VG Gießen, Urteil vom 28. Januar 2021 ‑ 8 K 6487/17.GI.A -, juris, Rn. 30 und 34.
161(1) Der Hinweis auf die zukünftig positive Entwicklung der Arbeitsmarktsituation führt nach Ansicht des Senats in Bezug auf den hier zu entscheidenden Fall nicht weiter, weil es sich dabei zum einen (nur) um eine Prognose (über einen Fünfjahreszeitraum) handelt, die sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zugunsten des Klägers auswirken kann und zum anderen der größte Bedarf für den industrialisierten Norden Italiens prognostiziert wird, in dem der ungelernte und der italienischen Sprache nicht mächtige Kläger mit großer Wahrscheinlichkeit keine Arbeit finden könnte.
162(2) Auch der Verweis auf eine Beschäftigung im Tourismus oder in der Landwirtschaft verfängt aus Sicht des Senats für den Fall des Klägers im vorliegenden Verfahren nicht.
163(a) Ausgehend von der durch die Covid-19-Pandemie bedingten oben beschriebenen Situation im Bereich des Tourismus, die dazu geführt hat, dass insbesondere Frauen ihre Beschäftigung verloren und auch noch nicht wieder erlangt haben, erscheint es unwahrscheinlich, dass gerade der Kläger, der weder über eine spezifische Ausbildung verfügt noch über ausreichende Sprachkenntnisse, den nach Beschäftigung suchenden Frauen vorgezogen würde und zudem eine Anstellung fände, durch die er auch noch ein ausreichendes seinen Lebensunterhalt sicherndes Einkommen erzielte.
164(b) Im Bereich der Landwirtschaft ist - wie unter B.I.3.a.bb. ausgeführt - Schwarzarbeit sehr verbreitet, auf die der Kläger grundsätzlich nicht verwiesen werden darf. Von der durch die italienische Regierung im Mai 2020 geschaffenen Möglichkeit für u. a. in der Landwirtschaft illegal arbeitende Migrantinnen und Migranten, ihre Beschäftigung zu legalisieren,
165vgl. hierzu VG Karlsruhe, Urteil vom 14. September 2020 - A 9 K 3639/18 -, juris, Rn. 44, unter Hinweis auf The New Humanitarian, In the news: Italy to grant undocumented migrants work permits, Artikel vom 14. Mai 2020, https://www. thenewhumanitarian.org; s. auch SZ, Aus dem Schatten in die Legalität, Artikel vom 13. Mai 2020, www.sueddeutsche.de,
166könnte der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien nicht profitieren, weil er die Voraussetzungen für das ohnehin nur bis zum 15. Juli 2020 befristete Angebot nicht erfüllen könnte. Denn die illegal Arbeitenden mussten nachweisen, dass sie schon vor dem 8. März 2020 in Italien waren. Zudem brauchten sie einen Vertrag der Arbeitgeberin oder des Arbeitgebers, die bei der Anmeldung der oder des Angestellten, die bis dahin schwarz beschäftigt waren, der staatlichen Pensionskasse 400 Euro zu entrichten hatten.
167Vgl. dazu SZ, Aus dem Schatten in die Legalität, Artikel vom 13. Mai 2020,www.sueddeutsche.de.
168Dass der Kläger alsbald nach seiner Rückkehr nach Italien eine Beschäftigung in der Landwirtschaft fände, die nicht im Bereich der Schattenwirtschaft liegt, mit der er zudem ein ausreichendes Einkommen erwirtschaften könnte, um seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, ist angesichts der bereits beschriebenen Beschäftigungssituation in diesem Sektor nicht wahrscheinlich.
169b. Soweit in dem von der Beklagten in der Berufungserwiderung benannten und auch vom Verwaltungsgericht Gießen u. a. in Bezug genommenen Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz,
170vgl. OVG Rh.-Pf., Urteil vom 15. Dezember 2020 - 7 A 11038/18 -, juris,
171für den dortigen Kläger, einem in Italien anerkannten Schutzberechtigten aus Eritrea, festgestellt wird, dieser habe im Falle seiner Rückkehr nach Italien eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK nicht zu befürchten, sieht der Senat sich ebenfalls nicht zu einer anderen Einschätzung veranlasst. Denn das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hat festgestellt, dass der dortige Kläger nach einer Rückkehr für sechs Monate Anspruch auf Unterkunft und Versorgung in einer Einrichtung des SIPROIMI (jetzt SAI) habe,
172vgl. OVG Rh.-Pf., Urteil vom 15. Dezember 2020 - 7 A 11038/18 -, juris, Rn. 49,
173d. h. dass ihm mithin ein Anspruch zustehe, den der Kläger im vorliegenden Verfahren mit Blick auf die obigen Darlegungen nicht (mehr) hat.
174c. Auch der Hinweis der Beklagten auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 15. Oktober 2020 - A 19 K 5758/18 - (n. v.) führt nicht weiter. Denn das Verwaltungsgericht Stuttgart hat zur Begründung seiner die Klage abweisenden Entscheidung obergerichtliche Rechtsprechung herangezogen,
175vgl. Nds. OVG, Urteil vom 6. April 2018 - 10 LB 109/18 -, und vom 21. Dezember 2018 - 10 LB 201/18 -, jeweils juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris,
176die im entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht mehr aktuell ist, sich vielmehr zu in Italien in den Jahren 2019 und vorher herrschenden Lebensverhältnissen für international Schutzberechtige verhält, und deshalb für die Beurteilung der hier allein maßgeblichen aktuellen Verhältnisse nicht mehr von Bedeutung sein kann. Ähnliches gilt auch, soweit sich das Verwaltungsgericht bei seiner Bewertung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie für in Italien anerkannte Schutzberechtigte - wie den dortigen Kläger - auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Freiburg gestützt hat.
177Vgl. Verwaltungsgericht Freiburg, Urteil vom 19. August 2020 - A 10 K 3159/18 -, juris.
178Diese Entscheidung mag die Lebensverhältnisse für Schutzberechtigte in Italien im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart mit hinreichender Aktualität wiedergegeben haben. Dies ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats aber nicht mehr der Fall.
179d. Genauso verhält es sich, soweit die Beklagte zur Begründung ihrer Berufungserwiderung das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 9. Oktober 2020 ‑ M 13 K 17.45837 - (n. v.) benennt. Auch das Verwaltungsgericht München nimmt auf die oben bereits zitierte Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg Bezug, die ‑ wie bereits ausgeführt - bei der Bewertung der Lebensverhältnisse für Schutzberechtigte in Italien mangels Aktualität nicht mehr herangezogen werden kann. Für die weiter in Bezug genommene Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs,
180vgl. BayVGH, Beschluss vom 17. September 2019 - 10 ZB 19.50031 -, juris,
181gilt nichts anderes.
182e. Aus dem Hinweis der Beklagten auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 14. September 2020,
183vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 14. September 2020 - A 9 K 3639/18 -, juris,
184können bereits deshalb keine Schlüsse für den Fall des Klägers gezogen werden, weil sich die dortige Klägerin vor ihrer Weiterreise nach Deutschland - anders als der Kläger - fast zehn Jahre in Italien aufgehalten hatte und zudem nach eigenen Angaben über gute Kenntnisse der italienischen Sprache verfügte.
185aa. Die (zwar allgemeingültig formulierten) Feststellungen des Verwaltungsgerichts Karlsruhe in seinem Urteil, weder die Unterbringungssituation für Schutzberechtigte noch die (nur eingeschränkten) Möglichkeiten, ihren Unterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu erwirtschaften, führten in Italien zu mit Art. 4 GRCh für diese Personengruppe unvereinbaren Lebensverhältnissen, vermögen (gleichwohl) nur für den vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfall Geltung zu beanspruchen und nicht - wie es die Beklagte offenbar meint - ohne weitere Würdigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls grundsätzlich für die gesamte Personengruppe der nach Italien zurückkehrenden Schutzberechtigten. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat die Tatsacheninstanz auf Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob in dem Mitgliedstaat, in welchem der Antragsteller als Schutzberechtigter anerkannt worden ist (hier: Italien), entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die gerade den Kläger als anerkannten Schutzberechtigten der Art. 4 GRCh verletzenden Gefahr extremer materieller Not aussetzten, wobei systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen nur dann unter Art. 4 GRCh fallen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falls abhängt. (Hervorhebungen durch den Senat).
186Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 -, juris, Rn. 19, 21.
187bb. Unabhängig davon ist eine andere Kammer des Verwaltungsgerichts Karlsruhe in dem (aktuelleren) Urteil vom 27. Mai 2021 - A 3 K 4489/20 - (n. v.) zu einer von den oben wiedergegeben Feststellungen abweichenden Einschätzung gelangt. Dort wird (vgl. S. 9 des Urteilsabdrucks) ausgeführt, die aktuellen Erkenntnisse lieferten belastbare Hinweise darauf, dass sich die Möglichkeiten für Schutzberechtigte in Italien, eine Unterkunft zu finden und den existenziellen Lebensunterhalt durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu sichern, aufgrund der erheblichen wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie verschlechtert haben könnten. Danach erscheine es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt in Italien, insbesondere der für anerkannte Schutzberechtigte ohne gute Sprachkenntnisse und eine Berufsqualifikation ‑ wie die dortige Klägerin und auch den Kläger im vorliegenden Verfahren - relevante Niedriglohnsektor, zwischenzeitlich derart verschlechtert habe, dass die Möglichkeit, den Lebensunterhalt ohne staatliche Hilfe zu sichern, zweifelhaft sein könne. Der Anstieg der Obdachlosenzahlen in Italien lasse eine Verschärfung der Unterbringungs- und Versorgungssituation auch für anerkannte Schutzberechtigte nicht unwahrscheinlich erscheinen.
188f. Der Auffassung des Verwaltungsgerichts Aachen in dem oben zitierten Urteil vom 10. November 2020 - 9 K 6001/17.A - folgt der Senat für den Fall des Klägers im vorliegenden Verfahren ebenfalls nicht. Darin hatte das Verwaltungsgericht angenommen, dass die Schwierigkeiten der Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung auch daraus resultierten, dass anerkannt Schutzberechtigte die Unterkunft ohne Berechtigung verlassen und sich damit dem staatlichen Aufnahmesystem entzogen hätten, was nicht dazu führen dürfe, diesen Personenkreis gleichsam zu privilegieren, indem man zu seinen Gunsten systemische Mängel annähme; schließlich seien Einschränkungen oder der Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen dem europäischen Asylrecht auch nicht fremd.
189Vgl. VG Aachen vom 10. November 2020 ‑ 9 K 6001/17.A -, juris, Rn. 64.
190Es kann offenbleiben, ob sich der Kläger dem staatlichen Aufnahmesystem in Italien bewusst entzogen hat, als ihm dort eine Unterkunft „zugesagt“ bzw. zugewiesen worden war, er dort aber nicht vorstellig geworden, sondern stattdessen in die Bundesrepublik Deutschland weitergereist ist. Denn der Senat hat ‑ wie oben dargelegt - (nur) auf die Sachlage im Zeitpunkt seiner Entscheidung abzustellen. Zu diesem Zeitpunkt stellt sich die Sachlage für den Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien mit Blick auf die obigen Feststellungen des Senats aber so dar, dass er keine (Wieder-)Aufnahme in einer Einrichtung des heutigen SAI-Systems finden und auch ansonsten seine elementarsten Bedürfnisse dort nicht befriedigen könnte. Allein dies hat der Senat mit Blick auf den Maßstab des Art. 4 GRCh bzw. des Art. 3 EMRK zu beurteilen und nicht die Frage, ob der Kläger sich damals ungerechtfertigt in der ihm zugewiesenen Unterkunft nicht vorgestellt oder diese ohne vorherige Erlaubnis durch die lokale Behörde verlassen hat.
191g. Soweit die Beklagte in Verfahren, die Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a) AsylG nebst Abschiebungsanordnungen nach Italien betreffen, auf eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 23. März 2021 - No. 46595/19 - hinweist, können daraus für den Fall des Klägers keine von der Einschätzung des Senats abweichenden Schlüsse gezogen werden. Denn diese Entscheidung betrifft nicht eine anerkannt schutzberechtigte Person - wie den Kläger -, sondern eine alleinerziehende Frau mit zwei kleinen Kindern aus Eritrea, die zunächst in Italien einen Asylantrag gestellt hatte, dann in die Niederlande weitergereist war und dort abermals um Asyl nachgesucht hat. In Bezug auf diese Person und ihre Kinder hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausgehend von den letzten Gesetzesänderungen in Italien, nämlich dem das „Salvini-Dekret“ ändernden Gesetz Nr. 173/2020, festgestellt, dass diese Asylantragstellerin mit ihren kleinen Kindern berechtigt sei, in einer Aufnahmeeinrichtung des SAI-Systems aufgenommen zu werden; dies gelte umso mehr, weil die Unterbringung ihrer Person, die als alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern zur Kategorie der in Italien als „vulnerabel“ definierten Personen gehöre - was wie oben unter B.I.2.b.aa.(2) ausgeführt für den Kläger nicht zutrifft -, Priorität hätte.
192Vgl. EGMR; Urteil vom 23. März 2021 No. 46595/19, Rn. 54, https://hudoc.echr.coe.int.
1937. Ergänzend weist der Senat auf die Einschätzung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in seinem Beschluss vom 11. Januar 2021 - 3 A 539/20.A - hin, wonach für eine Familie mit drei kleinen Kindern, die (zum Teil) in Italien den Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen und sich dort aus der ihr zugewiesenen Unterkunft entfernt hat, im Falle ihrer Rückführung nach Italien die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie dort in die Obdachlosigkeit entlassen wird und damit extremer materieller Not ausgesetzt würde, die einer unmenschlichen und/oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh gleichzusetzen ist.
194Vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 11. Januar 2021 - 3 A 539/20.A -, juris, Rn 14 ff.
1958. Die von der Beklagten mit Schriftsatz vom 16. Juli 2021 vorgelegten Berichte des Bundesamts vom 15. Juli 2021 und vom 2. April 2020 führen weder zu einer anderen Einschätzung des Senats noch machen sie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich.
196a. Der Bericht des Bundesamts vom 15. Juli 2021 enthält keine Ausführungen zu der im Falle des Klägers entscheidungserheblichen Frage, ob sich seit der Reform des „Salvini-Dekrets“ durch das Gesetz Nr. 173/2020 auch hinsichtlich des Verlusts des Rechts auf Zugang zu den Aufnahmeeinrichtungen Änderungen ergeben haben. Aus dem Bericht lässt sich jedenfalls an keiner Stelle entnehmen, dass etwa die Regelungen in Bezug auf den Verlust dieses Rechts, namentlich des Art. 40 SIPROIMI-Richtlinien oder des Art. 23 der Gesetzesverordnung Nr. 142/2015, keine Gültigkeit mehr haben, aufgehoben oder etwa durch neue Regelungen ersetzt worden sein könnten.
197b. Auch der Bericht des Bundesamts vom 2. April 2020 veranlasst den Senat nicht zu einer anderen Beurteilung des Falls des Klägers.
198aa. Dieser Bericht betrifft schon ausweislich der Überschrift die „Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien“, mithin zurückkehrende asylsuchende Familien und nicht eine zurückkehrende Einzelperson mit Schutzstatus wie den Kläger. Der Bericht ist ausweislich der Einleitung (S. 3) aus „Anlass der Entscheidung des BVerfG vom 10. Oktober 2019“ erstellt worden, „in der es festgestellt hat, dass aufgrund der Änderungen in der Rechtslage durch das Decreto Legge Salvini und des Berichts der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 8. Mai 2019 nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden könne, dass eine Mutter mit einem minderjährigen Kind sofort nach ihrer Ankunft in Italien Zugang zu einer angemessenen Unterkunft haben würden und das Risiko einer Obdachlosigkeit bestünde“. Am Ende der Einleitung heißt es zudem: „Der Bericht fokussiert auf den rechtlichen, organisatorischen und sozialen Bedingungen bei der Aufnahme von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung nach Italien“. Entsprechend beziehen sich die im Verlaufe des Berichts und im Fazit getroffenen Feststellungen im Wesentlichen auf im Wege des Dublin-Verfahrens zurückkehrende Familien mit minderjährigen Kindern. So verhalten sich die Ausführungen (etwa auf den Seiten 28, 31, 38, 40, 43) hauptsächlich zu im Dublin-Verfahren zurückkehrenden Familien, denen unmittelbar nach ihrer Rückkehr ein Unterkunftsplatz zur Verfügung gestellt würde und die deshalb eine Obdachlosigkeit nicht zu befürchten hätten. Insbesondere im Fazit wird ausdrücklich festgestellt, dass „die Sorge, dass eine Familie mit minderjährigen Kindern nach ihrer Dublin-Rückkehr nicht unmittelbar angemessen untergebracht“ werde und „ungewollt auf der Straße landen“ könne, unbegründet sei.
199bb. Unabhängig davon findet die Feststellung des Senats, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien nicht (mehr) in einer Einrichtung des SAI-Systems (vormals SIPROIMI) unterkommen kann, sogar ihre Bestätigung.
200(1) Denn in dem Bericht (S. 19) wird ausdrücklich festgestellt, dass eine Person nicht mehr „in die Erstaufnahmeeinrichtung zurückkehren“ könne, wenn sie diese „unentschuldigt verlassen hat“; dabei wird auf die für Erstaufnahmeeinrichtungen geltende Regelung „Artikel 23 des Gesetzesdekrets vom 18 August 2015 Nr. 412“ (gemeint ist wohl Art. 23 der Gesetzesverordnung („decreto legislativo“) Nr. 142/2015 vom 18. August 2015) verwiesen, die sich auf die „centri governativi di prima accoglienza“ (vormals „centri di accoglienza per richiedenti asilo“ = CARA/Art. 9 der Gesetzesverordnung Nr. 142/2015) und die „strutture temporanee“ (bzw. „centri di accoglienza straordinaria“ = CAS/Art. 11 der Gesetzesverordnung Nr. 142/2015), also Erstaufnahmeeinrichtungen bezieht,
201vgl. hierzu die in dem Verfahren 11 A 1689/20.A eingeholte Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 6,
202und einen ähnlichen Regelungsgehalt hat, wie der für die SIPROIMI-Einrichtungen (heute SAI) geltende Art. 40 SIPROIMI-Richtlinien [vgl. hierzu die Ausführungen unter B.I.2.a.aa.(2)(c)]. Insofern geht dieser Bericht ‑ wie auch der Senat - davon aus, dass eine Person, die den Tatbestand einer Regelung über den Entzug des Rechts auf Unterbringung verwirklicht hat, nicht mehr in eine Aufnahmeeinrichtung zurückkehren bzw. dort nicht mehr unterkommen kann.
203(2) Soweit in dem Bericht (S. 36) davon die Rede ist, zurücküberstellte Familien mit Kindern und Vulnerable könnten unabhängig davon, wie lange sie eine Einrichtung verlassen hätten, wieder dort aufgenommen werden, und es an anderer Stelle heißt (S. 44), im Falle von Familien mit Kindern sei der Ausschluss aus einer Unterkunft, auch wenn sie diese zuvor verlassen hätten oder untergetaucht gewesen seien, ausgeschlossen, betreffen auch diese Ausführungen Familien mit Kindern und nicht den Fall des Klägers, der (mangels einer Zuständigkeit Italiens für seine minderjährigen Kinder) als Einzelperson nach Italien zurückkehrte.
204Abgesehen davon findet sich in dem Bericht (S. 36) in diesem Zusammenhang auch der Hinweis darauf, dass zudem die Regelungen des Art. 23 der Gesetzesverordnung Nr. 142/2015 vom 18. August 2015 gälten, in dessen Nr. 1 die Tatbestände über den Entzug des Rechts auf Unterbringung aber - wie an anderer Stelle im Bericht (S. 19) angesprochen - geregelt sind,
205vgl. zu Art. 23 Nr. 1 a) und b) der Gesetzesverordnung Nr. 142/2015: OVG NRW, Urteil vom heutigen Tag in dem Verfahren 11 A 1689/20.A (Urteilsabdruck, S. 19 f.),
206und nach dessen Nr. 2 der Präfekt bei seiner Entscheidung über den Entzug des Rechts auf Unterbringung besondere Umstände einer Vulnerabilität der oder des Asylsuchenden [also (nur) etwa im Falle von Familien mit minderjährigen Kindern oder Vulnerablen, nicht aber im Falle nicht vulnerabler Einzelpersonen] zu berücksichtigen hat.
207II. Vor dem Hintergrund der unter B.I. getroffenen Feststellungen bedarf es keiner Entscheidung, ob eine Rückführung des Klägers nach Italien überhaupt in Betracht kommt oder ob ihr nicht der grund- und konventionsrechtliche Schutz aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK entgegensteht, weil für die Prüfung des Asylantrags seines hier im Jahr 2019 geborenen Kindes die Bundesrepublik Deutschland und nicht Italien zuständig ist,
208vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2020 - 1 C 37.19 -, InfAuslR 2020, 399 = juris,
209und das Kind deshalb voraussichtlich nicht mit dem Kläger (und der Mutter, für deren Asylverfahren Italien ebenfalls nicht zuständig ist) nach Italien überstellt werden kann und dem Kind hier zudem ein Bleiberecht zustehen dürfte; Gleiches könnte möglicherweise auch für das im Jahr 2021 ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland geborene weitere Kind des Klägers gelten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedenfalls für die Prognose der bei Rückkehr in das Herkunftsland drohenden Gefahren - für die Rückkehr von anerkannten Schutzberechtigten nach Italien dürfte nichts anderes gelten - in Bezug auf die einzubeziehenden Personen auch zu berücksichtigen, unter welchen Voraussetzungen es überhaupt zu einer Rückkehr kommen kann und wird. Der grund- und konventionsrechtliche Schutz des bestehenden Kernfamilienverbands wirkt auf diese Rückkehrkonstellation ein und lässt auch bei bestehender Bleibeberechtigung einzelner Mitglieder eine getrennte Betrachtung einzelner Familienmitglieder für den Rückkehrfall in der Regel nicht zu. Bereits das Bundesamt hat davon auszugehen, dass Art. 6 GG/Art. 8 EMRK einer Trennung der in familiärer Gemeinschaft lebenden Kernfamilie entgegenstehen und es daher zur Rückkehr - wegen bestandskräftiger Bleiberechte - entweder nicht oder nur im Familienverband kommen wird. Das Bundesamt entscheidet damit nicht über inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, die es auch nicht einzelfallbezogen inzident zu prüfen hat. Es berücksichtigt im Rahmen der realitätsnahen Prognose lediglich das im Regelfall aus Art. 6 GG/Art. 8 EMRK folgende Trennungsverbot bei der von ihm zu treffenden Prognoseentscheidung über die den einzelnen Familienmitgliedern im Herkunftsland (bzw. im anderen Mitgliedstaat) drohenden Gefahren.
210Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, BVerwGE 166, 113 (120) = juris, Rn. 21.
211III. Die unter Ziffer 2. des Bescheids getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist verfrüht ergangen, weil das Bundesamt nach Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung verpflichtet ist, den Asylantrag des Klägers materiell zu prüfen und sodann über Abschiebungsverbote zu entscheiden. Die auf § 35 AsylG gestützte Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. Sätze 1 bis 3 des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig, weil der Asylantrag des Klägers mit Blick auf die unter B. I. getroffenen Feststellungen nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden durfte. Infolgedessen entfällt auch die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4. des Bescheids.
212C. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.
213Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.
214D. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen. Insbesondere hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die hier entscheidungserheblichen Rechtsfragen - insbesondere zur Anwendbarkeit des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und die Maßstäbe für einen Ausschluss der Unzulässigkeitsentscheidung wegen einer drohenden Verletzung des Art. 4 GRCh oder des Art. 3 EMRK - sind geklärt.