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Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig für die Zeit bis zum 6. Mai 2020 eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, die – nach Maßgabe der nachfolgenden Beschlussgründe – den Maßstäben der Unterbringung von Obdachlosen genügt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
2Die Beschwerde, mit der die Antragstellerinnen ihren Antrag,
3der Antragsgegnerin aufzugeben, ihnen im Wege der einstweiligen Anordnung eine ordnungsgemäße Wohnung, die ihre Gesundheit nicht gefährdet, unverzüglich zuzuweisen, um ihre Obdachlosigkeit sofort zu beseitigen,
4weiterverfolgen, hat Erfolg. Sie ist zulässig und – mit der Maßgabe, dass die Antragsgegnerin zur Beschaffung einer "Wohnung" nicht zwingend verpflichtet ist – begründet.
5Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte; einstweilige Anordnungen sind ferner zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der für eine solche Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind vom Antragsteller darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 1 und 2, § 294 ZPO).
6Diese Voraussetzungen sind hier bereits ausgehend von dem unstreitigen Sachverhalt erfüllt.
7Die Antragstellerinnen, eine insgesamt fünfköpfige Familie, bestehend aus der Antragstellerin zu 1. und zwei minderjährigen Töchtern im Alter von 10 Jahren (D. ) und 16 Jahren (O. ) sowie ihren beiden bereits volljährigen Töchtern, den Antragstellerinnen zu 2. und 3., sind nicht in der Lage, sich aus eigenen Kräften mit einer Unterkunft zu versorgen und daher im Rechtssinne obdachlos. Seit dem Verlust ihrer früheren Wohnung im August 2019 haben sie ausweislich des vorliegenden Verwaltungsvorgangs wiederholt beim Sozialamt der Antragsgegnerin vorgesprochen. Von dort ist ihnen aber keine (städtische) Obdachlosenunterkunft zugewiesen worden, für deren Benutzung Gebühren nach Maßgabe des Kommunalabgabengesetz zu erheben wären, sondern lediglich – jeweils für einen begrenzten Zeitraum, zuletzt bis zum 9. März 2020 - die Möglichkeit vermittelt worden, im Hotel X. , einer im Sprachgebrauch der Antragsgegnerin sogenannten "gewerblichen OBG-Unterkunft", im eigenen Namen zwei Zimmer von insgesamt 30 qm Größe zzgl. Mitbenutzung von Gemeinschaftsküche und -bad anzumieten. Hierfür stellt das Hotel X. den Antragstellerinnen 26,75 Euro täglich pro Person (d.h. für 5 Personen 133,75 Euro pro Tag oder 4.012,50 Euro im Monat (gerechnet mit 30 Tagen) in Rechnung. Ohne Berücksichtigung der gemeinschaftlich genutzten Räume entspricht dies einem Preis von 133,75 Euro/qm/Monat.
8Die Antragstellerinnen können aus mehreren Gründen nicht weiter darauf verwiesen werden, diese Unterkunft, die ihnen derzeit bis zum 9. März 2020 zur Verfügung steht, weiterhin anzumieten und so ihre Obdachlosigkeit zu beseitigen. Daraus folgt sowohl die Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (Anordnungsgrund) als auch der geltend gemachte (Anordnungs-) Anspruch.
9Die Unterbringung der 5-köpfigen Familie in zwei Zimmern von insgesamt 30 qm Größe genügt auch unter Berücksichtigung des der Antragsgegnerin im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 1 OBG NRW zustehenden Ermessens nicht den Anforderungen an die Zuweisung einer Unterkunft, zur Unterbringung von Obdachlosen.
10Der Unterbringungsanspruch eines Obdachlosen nach § 14 Abs. 1 OBG NRW ist grundsätzlich auf die Unterbringung in einer menschenwürdigen Unterkunft gerichtet, die Schutz vor den Unbilden der Witterung bietet sowie Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt. Dabei müssen Obdachlose im Verhältnis zur Versorgung mit einer Wohnung weitgehende Einschränkungen hinnehmen. Insbesondere ist Einzelpersonen grundsätzlich auch eine Unterbringung in Sammelunterkünften mit Schlaf- und Tagesräumen für mehrere Personen zumutbar. Nur in Ausnahmefällen kann bei Vorliegen besonderer Einzelfallumstände ein Anspruch auf Versorgung mit einem Raum, der dem Betreffenden für sich allein zur Verfügung steht, bestehen. Die Grenze zumutbarer Einschränkungen liegt allerdings dort, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung nicht eingehalten sind.
11Vgl. so schon OVG NRW, Beschlüsse vom 4. März 1992 - 9 B 3839/91 -, NWVBl. 1992, 258, juris Rn. 7 f., vom 3. Februar 2016 - 9 E 73/16 -, juris Rn. 13 f., und vom 17. Februar 2017 - 9 B 209/17 -, juris Rn. 6.
12Dabei kommt es nach der Rechtsprechung des Senats immer auch auf die Einzelfallumstände an. So kann durchaus in Ausnahmefällen selbst auch bei Einzelpersonen ein Anspruch auf Versorgung mit einem Raum, der dem Betreffenden für sich allein zur Verfügung steht, bestehen. Liegen besondere Umstände wie etwa Alter, körperliche und psychische Erkrankungen sowie Pflegebedürftigkeit vor, bedarf es einer einzelfallbezogenen Prüfung, ob eine grundsätzlich zur Unterbringung von Obdachlosen geeignete Unterkunft auch für den jeweiligen Antragsteller zumutbar ist.
13Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. Februar 2016 - 9 E 73/16 -, juris Rn. 15.
14Darüber hinaus muss die zugewiesene Unterkunft den schutzwürdigen Belangen von minderjährigen Kindern Rechnung tragen und nach ihrem Zuschnitt Rückzugsmöglichkeit für einzelne (erwachsene) Familienangehörige bieten.
15Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 7. September 2018 - 9 E 803/18 - und vom 17. Mai 2018 - 9 E 344/18 -, sowie VG Neustadt (Weinstraße), Beschluss vom 3. Juni 2014 - 5 L 469/14.NW -, juris Rn. 22.
16Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung ferner davon aus, dass zur menschenwürdigen Unterbringung auch gehört, dass dem Unterzubringenden eine gewisse Mindestfläche zur Verfügung steht, wenngleich die Anschauungen hierüber nach den Zeitumständen Wandlungen unterworfen sein mögen. Ferner kann zu berücksichtigen sein, ob zusätzlich zum Schlafraum Gemeinschaftseinrichtungen wie Küche und Tagesraum zur Verfügung stehen. Zudem ist z.B. Familienmitgliedern oder jüngeren Personen gleichen Geschlechts und Alters zumutbar, auf engerem Raum zu leben als Personen, die weder durch Familienzusammengehörigkeit noch durch vergleichbare Lebensumstände verbunden sind.
17Vgl. schon OVG NRW, Beschluss vom 9. August 1996 - 9 B 1779/96 - (Unterbringung von Eltern mit 6 Kindern zwischen einem Monat und 15 Jahren in einer aus 4 getrennten Räumen – einer Küche, 2 Schlafräumen und einem Aufenthaltsraum – bestehenden Unterkunft von 60 qm zzgl. Sanitärräumen noch eben zumutbar).
18Dabei kann im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung auch berücksichtigt werden, ob es sich um eine absehbar nur kurzfristige obdachmäßige Unterbringung handelt,
19vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. April 2001 - 9 B 429/01 -, wonach ein "kurzfristiges Zusammenrücken" eines Elternpaares mit seinen zzt. anderweitig untergebrachten drei minderjährigen Kindern auf 48,17 qm als zumutbar angesehen wurde, unter Hinweis auf den Beschluss vom 1. August 1991 - 9 B 2042/91 -, zur Zumutbarkeit einer nur vorübergehenden Unterbringung einer fünfköpfigen Familie in einer 37 qm großen Unterkunft,
20oder ob die Obdachlosigkeit perspektivisch länger dauern wird.
21Das vorliegende Eilverfahren bietet keine Möglichkeit, eine generelle Aussage dazu zu treffen, welche Mindestgröße für die Annahme einer menschenwürdigen Unterbringung nach obdachlosenrechtlichen Maßstäben erforderlich ist. Die wohnungsaufsichtsrechtlichen Anforderungen von 9 m2 je Bewohner über 6 Jahren - für fünf Personen hier also 45 m2 (vgl. § 9 Abs. 1 WAG NRW) können allerdings als Ausgangspunkt für die einzelfallbezogene Würdigung mit Blick auf die vorstehend aufgeführten Einzelfallumstände dienen.
22Für die Annahme einer Mindestfläche von 10 qm als "Faustformel" vgl. etwa VG Neustadt (Weinstraße), Beschluss vom 3. Juni 2014 - 5 L 469/14.NW -, juris Rn. 19, und VG Augsburg, Beschluss vom 12. Januar 2015 - Au 7 E 14.1792 -, juris Rn. 42.
23Dies zugrunde gelegt ist die derzeitige Unterkunft schon wegen ihrer geringen Größe von nur 30 qm ungeachtet aller Einzelfallumstände jedenfalls für die hier nach Lage der Dinge nicht nur auf eine kurzfristige Notlage beschränkte, sondern immerhin schon seit über 6 Monaten andauernde Situation unzumutbar. Die nur zur gemeinschaftlichen Benutzung mit anderen "Hotelbewohnern" zur Verfügung stehenden Sanitärräume und Küche ändern an dieser Bewertung nichts.
24Das im Beschwerdeverfahren von der Antragsgegnerin gemachte Angebot, die Antragstellerin zu 1. mit ihren zwei minderjährigen Töchtern in ein in einem anderen "Hotel" (Gästehaus M. ) anzumietendes Zimmer von 22 qm zzgl. Bad zu vermitteln, und die Antragstellerinnen zu 2. und 3. in einem der bisher genutzten Zimmer (also auf ca. 15 qm) im Hotel X. zu belassen, genügt den Anforderungen an eine obdachmäßige Unterkunft ebenfalls nicht. Das für die Antragstellerin und ihre jüngeren Töchter vorgesehene Zimmer ist mit 22 qm für 3 Personen schon für sich genommen selbst unter Berücksichtigung der engen familiären Beziehung für eine längerfristige Unterbringung eher zu klein. Darüber hinaus bietet es keinerlei Rückzugsmöglichkeiten für die Töchter, etwa zur Anfertigung von Hausaufgaben, oder auch für die Mutter, die ausweislich des bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Berichts der Uniklinik B. vom 23. Januar 2020 jedenfalls gesundheitlich beeinträchtigt ist. Auf eine Depression hat sie schon bei der ersten Vorsprache beim Sozialamt der Antragsgegnerin im August 2019 hingewiesen. Es steht der Antragsgegnerin frei, einen Amtsarzt hinzuziehen. Anhaltspunkte für einen Anspruch auf eine barrierefreie Unterkunft oder, etwa mit Blick auf eine erhöhte Infektanfälligkeit, die Notwendigkeit eines eigenen Badezimmers ergeben sich aus dem vorgelegten Bericht der Uniklinik allerdings bislang nicht, wenngleich die Antragstellerin zu 1. wohl eine Lungenerkrankung hat.
25Angesichts dessen bedarf hier keiner Entscheidung, ob die Vermittlung einer Anmietungsmöglichkeit in einem offenkundig weit überteuerten "Hotel" überhaupt eine geeignete Maßnahme zur Beseitigung von Obdachlosigkeit sein kann. Die Antragstellerinnen konnten und können sie nur unter der Prämisse in Anspruch nehmen, dass die Kosten, wie bislang soweit ersichtlich geschehen, weiterhin von Sozialleistungsleistungsträgern übernommen werden. Ungeachtet aller sich objektiv aufdrängenden Bedenken gegen ein solches Vorgehen der Verwaltung bedeutet die hier in Rede stehende Praxis insbesondere, dass die Antragstellerinnen notgedrungen von jeglichen Bemühungen, ihren Lebensunterhalt selbstständig sicherzustellen, für die Dauer der Obdachlosigkeit absehen müssen. Das ist erkennbar widersinnig und widerspricht dem Zweck der auf § 14 Abs. 1 OBG NRW gestützten obdachlosenmäßigen Unterbringung.
26Die Antragsgegnerin ist daher im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Obdachlosigkeit der Antragstellerinnen durch Zuweisung einer geeigneten Unterkunft, die den oben beschriebenen Anforderungen genügt, zu beseitigen, wobei es in ihrem Ermessen steht, die fünfköpfige Familie entweder gemeinsam unterzubringen oder die Antragstellerin zu 1. mit den minderjährigen Töchtern und die Antragstellerinnen zu 2. und 3. getrennt unterzubringen. Dabei darf eine Mindestgröße von 10 qm pro Person wegen der bereits länger andauernden und allem Anschein nach auch nicht kurzfristig endenden Obdachlosigkeit nicht unterschritten werden, und es müssen jeweils für die Antragstellerin zu 1. und ihre zwei minderjährigen Töchter getrennte Räume zur Verfügung stehen.
27Nach Lage der Dinge wird es sich daher am ehesten für die Antragsgegnerin anbieten, im Gespräch mit den Antragstellerinnen eine einvernehmliche Lösung zu finden, beispielsweise ihnen eine Unterkunft zur alleinigen Benutzung zuzuweisen, oder, falls eine solche, da die Antragsgegnerin offenkundig trotz der schon seit Jahren anhaltende Enge auf dem Wohnungsmarkt nicht genügend Obdachlosenunterkünfte vorhält, nicht unmittelbar verfügbar sein sollte, auf dem freien Wohnungsmarkt anzumieten. Ihrer ordnungsrechtlichen Verpflichtung zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Unterbringung (ungewollt) obdachloser Personen kann sich die Antragsgegnerin jedenfalls nicht dadurch entziehen, dass sie keine eigenen Obdachlosenunterkünfte vorhält. Ausgehend von dem finanziellen Aufwand, den die Antragsgegnerin bislang in Kauf genommen hat, erscheint selbst die Anmietung einer Ferienwohnung nicht ausgeschlossen und sogar preisgünstiger. Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerinnen gänzlich "unvermittelbar" sein könnten, ergeben sich aus den Akten nicht; sie werden dort (Beiakte, Blatt 9) ausdrücklich als "unauffällig" beschrieben.
28Im Hinblick darauf, dass es im vorliegenden Verfahren nur um eine vorläufige Rechtsschutzgewährung geht und sich die Verhältnisse jederzeit ändern können, wird die einstweilige Anordnung auf einen Zeitraum von zwei Monaten befristet, in denen es Sache der Beteiligten ist, sich nachhaltig um Beschaffung einer Mietwohnung zu bemühen.
29Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
30Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG. Sie berücksichtigt, dass die Antragstellerinnen zu 2. und 3. volljährig sind und einen eigenständigen Unterbringungsanspruch geltend machen.
31Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO sowie §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).