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1. Ausländisches Recht haben die deutschen Gerichte in seiner tatsächlichen Auslegung und Anwendung durch die ausländischen Gerichte und Behörden im Wege entsprechender Aufklärung des Sachverhalts zu ermitteln. Eine eigene Auslegung dieses Rechts unter Heranziehung der im deutschen Recht anerkannten Auslegungsmethoden ist ihnen versagt (wie st. Rspr. zuletzt BGH, Urteil vom 18. März 2020 IV ZR 62/19 , MDR 2020, 601, juris, Rn. 23 f.).
2. Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die am 24. Mai 1993, dem Tag der Unabhängigkeit Eritreas, auf dem Gebiet des heutigen Äthiopien lebten, haben ihre äthiopische Staatsangehörigkeit nicht kraft Gesetzes nach Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 durch einen Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit verloren (anders VG Münster, Urteil vom 22. Juli 2015, 9 K 3488/13.A , juris, Rn. 70).
3. Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung haben ihre äthiopische Staatsangehörigkeit auch unter Geltung des Art. 20 Abs. 3 äthStAG und der Direktive vom 19. Januar 2004 regelmäßig behalten, es sei denn sie haben eine ihnen etwa zuerkannte eritreische Staatsangehörigkeit durch einen Daueraufenthalt in Eritrea oder in sonstiger Weise aktiv ausgeübt.
4. Personen, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten besitzen, kann kein internationaler Schutz zuerkannt werden, wenn sie den Schutz eines der Länder ihrer Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmen können (wie st. Rspr. zuletzt BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2019 1 C 2.19 , juris, Rn. 13).
5. Äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung drohen in Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine an eine tatsächliche oder vermeintliche eritreische oder halberitreische Abstammung anknüpfende Verfolgungsmaßnahmen (wie BayVGH, Beschluss vom 4. Juli 2019 8 ZB 19.32389 , juris, Rn. 12).
Den Klägern wird Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren bewilligt und Rechtsanwalt N. in N1. beigeordnet.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung in entsprechender Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
2I.
3Der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. reisten am 30. Dezember 2015 in das Bundesgebiet ein und beantragten ohne Vorlage von Personalpapieren Asyl. Der Kläger zu 1. gab an, er sei am XX. Oktober 1989 in Asmara/Eritrea geboren, eritreischer Staatsangehöriger, tigrinischer Volkszugehöriger und christlichen Glaubens. Die Klägerin zu 2. gab an, sie sei am XX. Juli 1984 in Assab/Eritrea geboren und ebenfalls eritreische Staatsangehörige, tigrinische Volkszugehörige und christlichen Glaubens. Beide seien miteinander verheiratet. Der am XX. Dezember 2016 in N1. geborene Kläger zu 3. ist ihr Sohn. Seine Geburt zeigte das Ausländeramt dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 31. Januar 2017 an.
4Bei der Anhörung durch das Bundesamt am 25. Juli 2016 gab der Kläger zu 1. in amharischer Sprache an, an seinen Aufenthalt in Eritrea habe er keine Erinnerung mehr, weil er das Land schon als kleines Kind etwa im Jahr 1992 verlassen habe. Seine Mutter habe ihm lediglich erzählt, dass sie im Stadtteil N2. U. von Asmara in der Nähe der Coca-Cola-Fabrik gewohnt hätten. Etwa 1992 sei er mit seiner Mutter nach Äthiopien umgezogen. Sein Vater sei in Eritrea geblieben. Er und seine Mutter seien getrennt gewesen und hätten keinen Kontakt gehabt. Über Bekannte habe die Mutter erfahren, dass der Vater etwa 1995/1996 in Eritrea verstorben sei. In Asmara lebe noch eine Halbschwester väterlicherseits, die U1. heiße und deren Telefonnummer er habe. Von ihr abgesehen sei er Einzelkind. In Äthiopien hätten seine Mutter und er in einer Mietwohnung in Addis Abeba, Kebele XX, Woreda XX, Hausnr. XX, gelebt. Seine Mutter habe eine Aufenthaltserlaubnis von der Kebele (Ortsverwaltung) gehabt. Er selbst habe nur Schulzeugnisse, aber keinen Ausweis gehabt, weil er noch minderjährig gewesen sei. Er habe die Schule bis zur siebten Klasse besucht. Er habe dort zunächst gut gelebt, zuletzt aber hätten ihm Soldaten der Kebele mit Verhaftung gedroht, weil er Eritreer sei. Deshalb seien seine Mutter und er 2001 gezwungen gewesen, Äthiopien zu verlassen, und seien in den Sudan gegangen. Dort sei 2012 auch seine Mutter verstorben. Er habe keine richtige Ausbildung gehabt, sondern nur in der Gastronomie als Koch gearbeitet.
5Die Klägerin zu 2. gab ebenfalls in amharischer Sprache an, in Eritrea habe sie mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder in Assab im Stadtteil T. gewohnt. Ihren Vater habe sie nie kennengelernt. Ihre Mutter habe ihr nur erzählt, dass er bei der Befreiungsarmee gewesen und gestorben sei. Sie könne sich in Eritrea nur noch an die orthodoxe L. -Kirche in Assab erinnern. Als sie etwa vier Jahre alt gewesen sei, hätten sie Eritrea verlassen und seien nach Äthiopien gegangen. Sie hätten in Addis Abeba, Kebele XX, Bezirk XX im Stadtteil U2. in einer Mietwohnung gewohnt. Sie hätten nie einen Ausweis oder sonstige Dokumente besessen. Ihre Mutter sei sehr arm gewesen und habe es sich nicht leisten können, sie zur Schule zu schicken. Sie habe ihrer Mutter dabei geholfen, die Kleidung anderer Leute zu waschen und Brote zu backen, um sie zu verkaufen. Nach ungefähr zehn Jahren, als zwischen beiden Ländern ein Konflikt bestanden habe, hätten sie Äthiopien als Eritreer verlassen und seien in den Sudan gegangen. Dort habe sie in der Kirche N3. B. die Schule besucht. Als sie in die dritte Klasse versetzt worden sei, habe sie aufgehört. Ihre Mutter sei im Mai 2010 im Sudan verstorben. Ihr Bruder sei nach B1. , eine Gegend im Sudan, gegangen. Sie wisse nicht, ob er noch lebe. Sie selbst habe nach dem Tod ihrer Mutter davon gelebt, weiterhin die Kleidung anderer Leute zu waschen und als Putzfrau in anderen Haushalten zu arbeiten. Sie und der Kläger zu 1. hätten sich am 20. Oktober 2013 in Libyen kennengelernt und dort geheiratet.
6Mit Bescheiden vom 27. Juli 2016 betreffend die Kläger zu 1. und 2. sowie vom 22. November 2017 betreffend den Kläger zu 3. lehnte das Bundesamt jeweils die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), die Anträge auf Asylanerkennung (Nr. 2) und die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4), drohte den Klägern die Abschiebung nach Äthiopien an (Nr. 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Abschiebungsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6). Es bestünden Zweifel an der eritreischen Staatsangehörigkeit der Kläger zu 1. und 2., weil sie in den Jahren 1984 und 1989 in der damals zu Äthiopien gehörenden Provinz Eritrea geboren seien. Sie seien vielmehr äthiopische Staatsangehörige und hätten diese Staatsangehörigkeit weder durch die Entstehung des unabhängigen Staates Eritrea noch durch einen sonstigen Verlusttatbestand verloren. Als äthiopische Staatsangehörige drohe ihnen bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
7Die Kläger haben am 8. August 2016 und am 1. Dezember 2017 Klagen gegen die beiden Bescheide erhoben und ergänzend geltend gemacht, der Kläger zu 1. sei Mitglied in der Eritrean Democratic Party in Frankfurt am Main und habe dort am 5. März 2017 an einem Treffen teilgenommen.
8In der gemeinsamen mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts gab der Kläger zu 1. ergänzend an, die Heirat in Libyen habe 2013 nach religiösem Recht stattgefunden. Seine Eltern seien beide in Asmara geboren und aufgewachsen. Sein Vater sei 1998 gestorben. Auch seine Großeltern hätten aus Asmara gestammt. Die Klägerin zu 2. gab ergänzend an, ihre 2010 verstorbene Mutter sei ebenfalls in Assab geboren.
9Die Kläger haben beantragt,
10die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes vom 27. Juli 2016 und vom 22. November 2017 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG betreffend die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien vorliegen.
11Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
12die Klagen abzuweisen.
13Mit den beiden angefochtenen Urteilen hat das Verwaltungsgericht die Klagen abgewiesen. Aus der Anwendung der Vorschriften des äthiopischen und eritreischen Staatsangehörigkeitsrechts folge, dass sowohl der Kläger zu 1. als auch die Klägerin zu 2. die äthiopische Staatsangehörigkeit besäßen. Diese hätten sie jeweils mit ihrer Geburt in den Jahren 1984 und 1989 erworben. Zu diesen Zeitpunkten hätten sie nur die äthiopische Staatsangehörigkeit erwerben können, weil es damals noch keine eritreische Staatsangehörigkeit gegeben habe. Sie hätten die äthiopische Staatsangehörigkeit auch nicht nachträglich verloren, insbesondere nicht durch einen Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit. Diese hätten sie entgegen ihrer Auffassung nicht erworben. Zum anderen setze der Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit ein voluntatives Element voraus, durch das sich die betreffende Person willentlich für den Erwerb der anderen Staatsangehörigkeit entscheide. Daran fehle es hier.
14Gegen die ihnen am 8. März 2019 zugestellten Urteile haben die Kläger am 8. April 2019 die Berufungszulassung beantragt. Mit Beschluss vom 13. Februar 2020 hat der Senat das Verfahren 19 A 1421/19.A des Klägers zu 3. mit dem Verfahren 19 A 1420/19.A der Kläger zu 1. und 2. verbunden. Im verbundenen Berufungszulassungsverfahren hat der Senat die Berufung mit Beschluss vom 8. April 2020 zugelassen.
15Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
16die angefochtenen Urteile zu ändern und nach den erstinstanzlichen Klageanträgen zu erkennen,
17und
18ihnen Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren zu bewilligen und Rechtsanwalt N. in N1. beizuordnen.
19Die Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
20die Berufung zurückzuweisen.
21Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt der Senat auf den Inhalt der Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und des Verfahrens 19 A 1421/19.A (VG Münster 11 K 7036/17.A) sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug.
22II.
23Der Senat bewilligt den Klägern Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten, weil sie die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aufbringen können und dieses Verfahren hinreichende Erfolgsaussicht hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 114 Abs. 1 Satz 1, 121 Abs. 1 ZPO). Einer Bewilligung von Prozesskostenhilfe steht nicht entgegen, dass der Senat die Berufung der Kläger für unbegründet hält, wie nachfolgend ausgeführt. Prozesskostenhilfe setzt nach § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht voraus, dass die Rechtsverfolgung Erfolg hat, es genügt die hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Prüfung dieser Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen.
24BVerfG, Kammerbeschluss vom 8. Juli 2016 ‑ 2 BvR 2231/13 ‑, NJW-RR 2016, 1264, juris, Rn. 10 m. w. N.
25Der Senat entscheidet über die Berufung durch Beschluss gemäß § 130a Satz 1 VwGO, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Er hat die Beteiligten hierzu gehört (§ 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Bei seiner Ermessensentscheidung gemäß § 130a Satz 1 VwGO legt der Senat die hierzu entwickelten Maßstäbe der höchstrichterlichen Rechtsprechung zugrunde, wonach die Grenzen einer Entscheidung im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung erst erreicht sind, wenn die Sache in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht außergewöhnlich große Schwierigkeiten aufweist.
26BVerwG, Beschlüsse vom 17. Februar 2020 ‑ 1 B 11.20 ‑, juris, Rn. 5, vom 24. April 2019 ‑ 1 B 24.19 ‑, juris, Rn. 22, und vom 28. März 2019 ‑ 1 B 7.19 ‑, juris, Rn. 21 m. w. N.
27Der vorliegende Rechtstreit weist keine solchen außergewöhnlich großen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten auf. Die maßgeblichen Rechtsfragen sind in der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt. Auch die generalisierenden Tatsachenfragen betreffend das Herkunftsland Äthiopien sind durch die obergerichtliche Rechtsprechung anderer Bundesländer und durch die Rechtsprechung der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte so weit aufbereitet, dass der Senat sie mit begrenztem Aufwand und insbesondere ohne Einholung weiterer sachverständiger Gutachten oder Auskünfte beantworten kann. Mit seiner Ermessensentscheidung trägt der Senat vor dem Hintergrund der gegenwärtig noch andauernden Corona-Pandemie auch dem Interesse des vorbeugenden Infektionsschutzes Rechnung. Sie ermöglicht ihm eine Entscheidung in vollständiger berufsrichterlicher Besetzung ohne eine Anreise und gemeinsame Beratung insbesondere auch von ehrenamtlichen Richtern zum Gerichtssitz, deren Mitwirkung nur bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung entfällt (§ 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO i. V. m. § 109 Abs. 1 Sätze 1 und 2 JustG NRW).
28Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die im Berufungszulassungsverfahren verbundene Klage zu Recht abgewiesen. Soweit sie die Zuerkennungs- und Feststellungsbegehren der Kläger betrifft, ist sie als Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Variante 2 VwGO statthaft. Die auf diese Begehren bezogene Klage ist lediglich insoweit unzulässig, als sie auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5, 7 Sätze 1 und 6 AufenthG hinsichtlich des Staates Eritrea gerichtet ist. Für diesen Teil des Klagebegehrens besteht kein Rechtsschutzbedürfnis. In der Regel besteht kein Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage auf vorsorgliche Feststellung von Abschiebungshindernissen bezüglich anderer als der in der Abschiebungsandrohung benannten Staaten. Denn das Gesetz kennt keine Pflicht des Bundesamtes ‑ und folglich keinen Anspruch des Ausländers ‑ auf weltweite Prüfung von Abschiebungshindernissen. Einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes hat der Ausländer hingegen hinsichtlich derjenigen Staaten, für die das Bundesamt verpflichtet ist, eine solche Feststellung zu treffen, eine nachteilige Feststellung bereits getroffen hat oder in die abgeschoben zu werden er aus berechtigtem Anlass sonst befürchten muss.
29BVerwG, Urteil vom 4. Dezember 2001 ‑ 1 C 11.01 ‑, BVerwGE 115, 267, juris, Rn. 12 f.
30Hier hat das Bundesamt über Abschiebungsverbote lediglich betreffend Äthiopien, nicht aber auch betreffend Eritrea entschieden. Es war nicht verpflichtet, über Abschiebungsverbote betreffend Eritrea zu entscheiden, weil die Kläger, wie unten noch näher auszuführen sein wird, zumindest auch äthiopische Staatsangehörige sind und das Bundesamt ihnen die Abschiebung ausschließlich in diesen Staat angedroht hat. Die Kläger haben ferner keinen berechtigten Anlass zu befürchten, nach Eritrea abgeschoben zu werden. Selbst wenn das Bundesamt ihnen gleichwohl die Abschiebung nach Eritrea androhen sollte, stünde ihnen gegen diese Zielstaatsbestimmung eigenständig Rechtsschutz offen.
31Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 2020 ‑ 19 A 2730/19.A ‑, juris, Rn. 3 f. m. w. N.
32Im Übrigen ist die auf die Zuerkennungs- und Feststellungsbegehren der Kläger bezogene Klage zulässig, aber unbegründet. Denn die Kläger haben weder einen Anspruch auf die mit ihrem Hauptantrag verfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 und 4 AsylG, A.) noch auf die mit ihrem ersten Hilfsantrag begehrte Zuerkennung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes (§ 4 Abs. 1 AsylG, B.) noch auf die mit ihrem weiteren Hilfsantrag geltend gemachte Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der Feststellung eines Abschiebungsverbotes in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 6 AufenthG, C.). Die diese Streitgegenstände betreffenden ablehnenden Teilentscheidungen des Bundesamtes in den Nrn. 1 bis 3 seiner beiden Bescheide vom 27. Juli 2016 und vom 22. November 2017 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klage gegen die Abschiebungsandrohungen mit der Zielstaatsbestimmung Äthiopien in Nr. 4 dieser Bescheide (D.) und gegen die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Abschiebungsverbotes in Nr. 5 der Bescheide (E.) ist als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Variante 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig, aber ebenfalls unbegründet. Diese Entscheidungen sind ebenfalls rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
33A. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9, 10 RL 2011/95/EU. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Das Herkunftsland der Kläger ist die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien (I.). Dort ist eine Furcht vor Verfolgung wegen der in §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG bezeichneten Verfolgungsgründe für keinen der Kläger begründet (II.).
34I. Als Herkunftsland der Kläger im Sinn des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a) AsylG haben das Bundesamt und das Verwaltungsgericht zutreffend die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien bestimmt. Denn die Kläger sind äthiopische Staatsangehörige. Die Kläger zu 1. und 2. haben die äthiopische Staatsangehörigkeit durch ihre Geburt erworben (1.) und bis heute nicht verloren (2.). Unerheblich ist, ob sie neben der äthiopischen auch die eritreische Staatsangehörigkeit besitzen (3.). Für den am 21. Dezember 2016 in N1. geborenen Kläger zu 3. gilt im Ergebnis dasselbe (4.).
351. Durch ihre nach eigenen Angaben am 27. Oktober 1989 in Asmara/Eritrea und am 25. Juli 1984 in Assab/Eritrea erfolgten Geburten haben die Kläger zu 1. und 2. die äthiopische Staatsangehörigkeit erworben. Dieser Erwerb richtete sich nach Art. 1 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (äthStAG 1930) vom 22. Juli 1930, das bis zum 22. Dezember 2003 in Kraft war (Art. 27 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (äthStAG) vom 23. Dezember 2003).
36Staatsangehörigkeitsgesetz vom 23. Dezember 2003, veröffentlicht als Proklamation Nr. 378/2003 in Federal Negarit Gazeta X Nr. 13 vom 23. Dezember 2003 (S. 2505 ff.), deutsche Übersetzung bei Nelle, in: Bergmann/Ferid/Henrich/Dutta/Ebert, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Stand: 236. Lfg. Mai 2020, Länderabschnitt Äthiopien, S. 15 ff.; englische Übersetzung http://www.fsc.gov.et/Content/Negarit%20Gazeta/Negarit%20Gazeta/Gazeta-1996/Proc%20No.%20378-2003%20Ethiopian%20Nationality.pdf (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020), auch bei Schweizerisches Bundesamt für Migration (BFM), Focus Äthiopien/Eritrea, Personen eritreischer Herkunft in Äthiopien vom 19. Februar 2010, S. 14 ff. (Anhang 1); äthStAG 1930 bei Nelle, a. a. O., Fn. 2 zur Übergangsregelung in Art. 26 äthStAG, englische Fassung abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/3ae6b52ac.html (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020).
37Nach Art. 1 äthStAG 1930 war äthiopischer Staatsangehöriger, wer als Kind eines äthiopischen Vaters oder einer äthiopischen Mutter in Äthiopien oder außerhalb geboren wurde. Mit dieser Vorschrift hatte bereits das bis 1974 bestehende Kaiserreich Abessinien, der Vorgängerstaat der heutigen Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien, das Abstammungsprinzip als dominierendes Erwerbsprinzip in seinem Staatsangehörigkeitsrecht normiert.
38Zum Abstammungsprinzip im heutigen äthStAG vgl. VG München, Urteil vom 11. April 2017 ‑ M 12 K 16.33001 ‑, juris, Rn. 36: „Abstammung als konstituierendes Merkmal“; Nelle, Äthiopien: Neues Staatsangehörigkeitsrecht, StAZ 2004, S. 234 (234), Nelle, in: Bergmann u. a. , a. a. O., S. 11; Auswärtiges Amt (AA), Lagebericht vom 24. April 2020, S. 24; Auskunft vom 9. Juni 2016 an das VG Schwerin, S. 1.
39Legt man die Angaben der Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zur Abstammung von ihren Eltern sowie zu ihren Geburtsdaten und -orten zugrunde, so haben sie mit ihren jeweiligen Geburten am XX. Oktober 1989 in Asmara und am XX. Juli 1984 in Assab nach Art. 1 äthStAG 1930 die äthiopische Staatsangehörigkeit erworben, weil sie als Kinder von Eltern äthiopischer Staatsangehörigkeit (und tigrinisch-eritreischer Volkszugehörigkeit) in einem damals noch zu Äthiopien gehörenden Gebiet geboren wurden. Denn ihre Eltern waren, soweit den Klägern zu 1. und 2. noch erinnerlich, überwiegend ebenfalls in den damals noch zu Äthiopien gehörenden Städten Asmara oder Assab geboren. Der Kläger zu 1. hat auch für seine Großeltern angegeben, dass sie aus Asmara stammten.
40Hingegen können die Kläger zu 1. und 2. durch ihre Geburten anstelle der äthiopischen keine eritreische Staatsangehörigkeit erworben haben. Denn das Gebiet des erst seit dem 24. Mai 1993 unabhängigen Staates Eritrea war zu diesem Zeitpunkt noch eine unselbständige Provinz Äthiopiens. Wer der dort lebenden eingeborenen Bevölkerung angehörte, wurde von den äthiopischen Behörden und international als äthiopischer Staatsangehöriger angesehen. Die frühere eritreische Staatsangehörigkeit aus der Zeit ab dem 15. September 1952, in der Eritrea auf der Grundlage der UN-Resolution 390 A (V) vom 2. Dezember 1950 autonomer Teilstaat einer Konföderation mit dem Kaiserreich Abessinien mit eigener Regierung, eigenem Parlament, eigener Flagge und eigener Verfassung war, war mit dessen vollständiger Eingliederung in das Kaiserreich am 15. November 1962 entfallen. Diese frühere eritreische Staatsangehörigkeit war ohnehin ein nur im Binnenverhältnis zwischen dem Kaiserreich und dem autonomen Teilstaat Eritrea wirksamer Staatsbürgerschaftsstatus, der vorrangig die Berechtigung zur Teilnahme an den Wahlen zum damaligen eritreischen Teilparlament regelte.
41Schröder, Stellungnahmen vom 20. August 2019 an VG Kassel, S. 5 f. (Rn. 7 f.), vom 3. April 2019 an VG Karlsruhe, S. 6 (Rn. 10 f.), und vom 22. März 2011, S. 6 (Rn. 2); European Asylum Support Office (EASO), Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 15 f.
422. Die Kläger zu 1. und 2. haben ihre durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit auch bis heute nicht verloren. Ein solcher Staatsangehörigkeitsverlust richtet sich nach dem Staatsangehörigkeitsrecht und der Rechts- und Staatspraxis der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien (a). Nach diesem Maßstab haben die Kläger zu 1. und 2. ihre äthiopische Staatsangehörigkeit weder durch einen etwaigen Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit im Zusammenhang mit der Entstehung des Staates Eritrea mit Wirkung vom 24. Mai 1993 (b) noch durch die von ihnen behaupteten Umzüge mit ihren jeweiligen Müttern aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba in den Sudan (c) verloren.
43a) Maßstab für die Frage, ob, unter welchen Voraussetzungen und zu welchem Zeitpunkt ein Staatsangehöriger eines ausländischen Staates seine Staatsangehörigkeit verliert, sind das Staatsangehörigkeitsrecht und die Rechts- und Staatspraxis seines Heimatstaates. § 173 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO in Verbindung mit § 293 ZPO verpflichtet das Gericht im Verwaltungsprozess, ausländisches Recht unter Ausnutzung aller ihm zugänglichen Erkenntnisquellen von Amts wegen zu ermitteln. Dabei hat es nicht nur die ausländischen Rechtsnormen, sondern auch ihre Umsetzung in der Rechtspraxis zu betrachten. Der an diese Ermittlungspflicht anzulegende Maßstab ist streng. Es gilt der Grundsatz der größtmöglichen Annäherung an das ausländische Recht, das in seinem systematischen Kontext, mit Hilfe der im ausländischen Rechtssystem gebräuchlichen Methoden und unter Einbeziehung der ausländischen Rechtsprechung erfasst werden muss. Je komplexer und „fremder“ im Vergleich zum deutschen Recht das anzuwendende Recht ist, desto höhere Anforderungen sind an die richterliche Ermittlungspflicht zu stellen. Mit welchen Erkenntnismitteln das maßgebliche ausländische Recht im Einzelfall festzustellen ist, hat das Tatsachengericht nach seinem Ermessen zu entscheiden. Die Ermittlung ausländischen Rechts und der ausländischen Rechtspraxis ist im Prozess ‑ wenngleich es um Recht geht ‑ der Tatsachenfeststellung und ‑würdigung, nicht hingegen dem Bereich der Rechtserkenntnis zuzuordnen. Dementsprechend ist eine Beweiserhebung zur Bestimmung des ausländischen Rechts und der maßgeblichen Rechtspraxis erforderlich, wenn und soweit das ausländische Recht dem Gericht unbekannt ist.
44BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 ‑ 2 BvR 478/86 u. a. ‑, BVerfGE 76, 143, juris, Rn. 38; BVerwG, Urteil vom 19. Juli 2012 ‑ 10 C 2.12 ‑, BVerwGE 143, 369, juris, Rn. 14, 16 m. w. N., Beschlüsse vom 5. März 2018 ‑ 1 B 155.17 ‑, juris, Rn. 4, und vom 1. September 2014 ‑ 1 B 13.14 ‑, InfAuslR 2014, 420, juris, Rn. 18; BGH, Urteil vom 18. März 2020 ‑ IV ZR 62/19 ‑, MDR 2020, 601, juris, Rn. 23 f., Beschlüsse vom 12. März 2020 ‑ I ZB 64/19 ‑, juris, Rn. 44, vom 17. Mai 2018 ‑ IX ZB 26/17 ‑, WM 2018, 1316, juris, Rn. 12, vom 24. Mai 2017 ‑ XII ZB 337/15 ‑, NJW-RR 2017, 902, juris, Rn. 14, vom 26. April 2017 ‑ XII ZB 177/16 ‑, NJW-RR 2017, 833, juris, Rn. 24, und vom 13. September 2016 ‑ VI ZB 21/15 ‑, BGHZ 212, 1, juris, Rn. 54 f.; OVG NRW, Beschlüsse vom 7. April 2020 ‑ 10 A 2573/19 ‑, juris, Rn. 12, vom 13. Januar 2020 ‑ 19 A 3023/19 ‑, juris, Rn. 7, und vom 22. August 2018 ‑ 19 B 745/18 ‑, juris, Rn. 5, Urteil vom 26. Juli 2016 ‑ 19 A 630/14 ‑, juris, Rn. 43 m. w. N.; Sächs. OVG, Beschluss vom 3. März 2020 ‑ 6 A 593/18.A ‑, juris, Rn. 12 f.; OVG Schl.-Holst., Beschluss vom 9. April 2018 ‑ 4 LA 59/17 ‑, juris, Rn. 11 ff.; OVG Sachs.-Anh., Beschluss vom 6. August 2015 ‑ 2 M 54/15 ‑, ZAR 2015, 402, juris, Rn. 23.
45Mit dieser ständigen höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere zum Staatsangehörigkeits-, Asyl-, Ausländer- und Personenstandsrecht unvereinbar ist die in der erstinstanzlichen Rechtsprechung, auch von der Vorinstanz im vorliegenden Verfahren vertretene Rechtsauffassung (juris, Rn. 34), die genannte Verpflichtung des Gerichts zur Berücksichtigung auch der ausländischen Rechtspraxis bei der Ermittlung des Inhalts ausländischer Rechtsnormen müsse unter der Voraussetzung stehen, dass diese Rechtspraxis „eine zumindest vertretbare Konkretisierung“ oder Auslegung dieser Rechtsnormen vornehme. Eine Rechtspraxis hingegen, die „im eindeutigen Widerspruch zu den gültigen Rechtsnormen des jeweiligen Staates“ stehe, sei für ein deutsches staatliches Gericht im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit „gerade nicht verbindlich“. Im Falle eines evidenten Widerspruchs der staatsangehörigkeitsrechtlichen Rechtspraxis zu den staatsangehörigkeitsrechtlichen Rechtsnormen in dem jeweiligen ausländischen Staat seien für das erkennende Gericht im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit nur die Rechtsnormen maßgeblich.
46VG Münster, Urteile vom 10. September 2019 ‑ 11 K 5924/16.A ‑, juris, Rn. 44, vom 23. Juli 2019 ‑ 11 K 3969/16.A ‑, juris, Rn. 15, vom 23. Juli 2019 ‑ 11 K 5586/16.A ‑, juris, Rn. 33, vom 23. Juli 2019 ‑ 11 K 5754/16.A ‑, juris, Rn. 69, vom 14. Mai 2019 ‑ 11 K 3231/16.A ‑, juris, Rn. 43, vom 5. März 2019 ‑ 11 K 3094/16.A ‑, juris, Rn. 34, und vom 22. Juli 2015 ‑ 9 K 3488/13.A ‑, juris, Rn. 36 f.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 9. November 2015 ‑ 1a K 1802/13.A ‑, S. 9 f. des Urteils; VG Hannover, Urteile vom 23. Januar 2018 ‑ 3 A 6312/16 ‑, juris, Rn. 53, und vom 25. Oktober 2017 ‑ 3 A 5931/16 ‑, juris, Rn. 60; im Grundsatz zustimmend auch VG Cottbus, Urteile vom 2. August 2019 ‑ 6 K 35/16.A ‑, juris, Rn. 33, und vom 1. März 2019 ‑ 6 K 272/17.A ‑, juris, Rn. 41.
47Diese Rechtsauffassung widerspricht dem erwähnten Grundsatz der größtmöglichen Annäherung an das ausländische Recht. Dieser Grundsatz beruht im Ausgangspunkt auf der Erkenntnis, dass den deutschen Gerichten eine eigene Auslegung des ausländischen Rechts unter Heranziehung der im deutschen Recht anerkannten Auslegungsmethoden versagt ist. Vielmehr hat der deutsche Richter das ausländische Recht so anzuwenden, wie es der Richter des betreffenden Landes auslegt und anwendet. Ein Tatsachengericht verfehlt diesen Maßstab, wenn es nicht den Inhalt des ausländischen Rechts in seiner tatsächlichen Auslegung und Anwendung durch entsprechende Aufklärung des Sachverhalts ermittelt, sondern stattdessen die maßgebliche Frage aufgrund einer eigenen Auslegung der ausländischen Rechtsnormen beantwortet.
48BGH, Urteil vom 18. März 2020, a. a. O., Rn. 23, Beschluss vom 17. Mai 2018, a. a. O., Rn. 12, 17 f.; OVG Schl.-Holst., a. a. O., Rn. 13.
49Hiernach ist der deutsche Richter darauf angewiesen, den Inhalt der maßgeblichen ausländischen Rechtsnormen entsprechend einer Tatsachenermittlung mit Hilfe der im ausländischen Rechtssystem gebräuchlichen Auslegungsmethoden und unter Einbeziehung der ausländischen Rechtsprechung und sonstigen Rechtspraxis zu erfassen. Die zitierte erstinstanzliche Rechtsprechung praktiziert hingegen der Sache nach eine unzulässige eigene Auslegung ausländischen Rechts, wenn sie prüft, ob eine bestimmte ausländische Rechtspraxis im Widerspruch zu den gültigen Rechtsnormen des jeweiligen Staates steht, und diese Rechtsnormen wie deutsches Recht nach Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck auslegt (bis hin zu einer „verfassungskonformen Anwendung“ am Maßstab der bis heute nicht in Kraft gesetzten „Verfassung“ der „Einparteiendiktatur“ Eritrea). Zum großen Teil ergibt sich aus den gewählten Formulierungen in den Entscheidungsgründen der zitierten erstinstanzlichen Urteile auch ausdrücklich, dass die jeweils gezogene Schlussfolgerung das Ergebnis einer eigenen „Auslegung“ der jeweils einschlägigen Norm des ausländischen Rechts sei.
50So VG Münster, Urteil vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 32, 50 („teleologische Auslegung“), unter Verweis auf Geimer, in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014 (wie auch aktuell 33. Aufl. 2020), § 293 Rn. 14; der Sache nach ebenso VG Düsseldorf, Urteil vom 21. März 2019 ‑ 6 K 6058/18.A ‑, juris, Rn. 45, 47 („Hierunter ist der Erwerb durch freiwilligen Akt zu verstehen.“, „Eine andere Auslegung, …“); vgl. etwa auch VG Hannover, Urteile vom 23. Januar 2018, a. a. O., Rn. 35 ff., und vom 25. Oktober 2017, a. a. O., Rn. 42 ff., („Die Auslegung des eritreischen Rechts ergibt im vorliegenden Fall …“, „… aus einer verfassungskonformen Anwendung unter Berücksichtigung des Art. 3 Abs. 1 der eritreischen Verfassung von 1997“); VG Chemnitz, Urteil vom 23. März 2018 ‑ 2 K 2902/17.A ‑, juris, S. 7 des Urteils („Rechtsfrage“).
51Die genannte Rechtsauffassung der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte lässt sich insbesondere nicht mit der Erwägung rechtfertigen, dass „sich die ausländische Rechtspraxis in einem Staat ‑ wie in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) ‑ nach den jeweiligen Normen dieses Staates richten“ müsse. Eine in evidentem Widerspruch zu diesen Normen stehende staatsangehörigkeitsrechtliche Rechtspraxis in dem jeweiligen ausländischen Staat könne unter Umständen selbst gegebenenfalls eine flüchtlingsschutzrechtlich erhebliche Verfolgungsgefahr in Form einer Ausbürgerung/Aussperrung begründen.
52So VG Münster, Urteil vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 36.
53Diese Erwägung gibt keine Veranlassung zu einer Überprüfung der vorstehend zitierten ständigen höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung zur Ermittlung des Inhalts ausländischen Rechtsnormen. Das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG bindet die deutschen Gerichte an deutsches Recht einschließlich des darin normierten ordre public-Vorbehalts für die Anwendung von Rechtsnormen eines ausländischen Staates (Art. 6 EGBGB), rechtfertigt aber keine Ermittlung ausländischen Rechts in der fingierten (und damit gerade nicht größtmöglich annähernden) Annahme, dass der jeweilige ausländische Staat unabhängig von der dort tatsächlich verwirklichten Staatsform und Verfassungsordnung bei der flüchtlingsschutzrechtlichen Feststellung seiner Staatsangehörigen durch ein deutsches Gericht so zu behandeln sei, als habe er eine rechtsstaatliche Bindung an Gesetz und Verfassung im Umfang des Art. 20 Abs. 3 GG auch für seinen Rechtskreis verwirklicht. Im Gegenteil hat die zitierte höchstrichterliche und obergerichtliche Rechtsprechung bei der Entwicklung der vorgenannten Maßstäbe zur Ermittlung ausländischen Rechts durchaus mitberücksichtigt, dass sich die Rechtsordnung des jeweiligen Staates unter Umständen ganz erheblich von denjenigen westlicher Demokratien unterscheiden kann. Unter anderem dieser Gesichtspunkt kommt in dem bereits erwähnten Maßstab zum Ausdruck, dass an die richterliche Ermittlungspflicht umso höhere Anforderungen zu stellen sind, je komplexer und „fremder“ das anzuwendende Recht im Vergleich zum deutschen Recht ist.
54BVerwG, Urteil vom 19. Juli 2012, a. a. O., Rn. 14 (indisches Eherecht), BGH, Urteil vom 18. März 2020, a. a. O., Rn. 24 (litauisches Pflichtversicherungsrecht), Beschlüsse vom 24. Mai 2017, a. a. O., Rn. 14 (ecuadorianisches Namensrecht), und vom 26. April 2017, a. a. O., Rn. 24 (dänisches Namensrecht).
55Auch besteht kein Wertungswiderspruch darin, einerseits auf der Grundlage der tatsächlichen Handhabung der eigenen staatsangehörigkeitsrechtlichen Vorschriften des Herkunftslandes (selbst wenn diese am Maßstab des Art. 20 Abs. 3 GG evident rechtsstaatswidrig wäre) eine Ausbürgerung anzunehmen und diese andererseits als flüchtlingsschutzerhebliche Verfolgung durch diesen Staat zu werten. Denn wenn die Verfolgung gerade in einer flüchtlingsschutzerheblichen Herbeiführung der Staatenlosigkeit durch den Staat der bisherigen Staatsangehörigkeit liegt, ist dies flüchtlingsrechtlich als (fortdauernde) Verfolgung durch eben diesen Staat der (bisherigen) Staatsangehörigkeit anzusehen.
56BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2009 ‑ 10 C 50.07 ‑, BVerwGE 133, 203, juris, Rn. 25.
57Selbst dann, wenn man dies anders sähe, wäre die dem Anschein nach hinter der genannten Erwägung stehende Befürchtung unbegründet, ein Schutzsuchender erleide möglicherweise rechtliche Nachteile, wenn der Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ihm die Staatsangehörigkeit durch willkürliche, in evidentem Widerspruch zum dort geltenden Staatsangehörigkeitsrecht stehende Maßnahmen entzieht, weshalb es geboten sei, einer solchen Entziehung in Deutschland die rechtliche Anerkennung zu versagen. Denn Herkunftsland im Sinn des Flüchtlingsrechts ist nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b) AsylG auch das Land, in dem der betroffene Ausländer als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Auch unter diesem ohnehin nur auf das Flüchtlingsrecht bezogenen Gesichtspunkt ist keine Ausnahme vom Grundsatz der größtmöglichen Annäherung an das ausländische Recht zu machen, die dazu berechtigen könnte, die ausländische Rechtspraxis außer Acht zu lassen.
58Offengelassen, aber in der Tendenz ebenso Sächs. OVG, a. a. O., Rn. 14.
59Erst recht kann unter diesen Umständen keine Rede davon sein, die hier vertretene Auffassung gerate „in Erklärungsnot“, wenn ein Staat eine hohe Anzahl seiner Bürger ins Ausland deportiere, was konsequenterweise als konkludente Entziehung der Staatsangehörigkeit zu sehen sei.
60VG Hannover, Urteile vom 23. Januar 2018, a. a. O., Rn. 53, und vom 25. Oktober 2017, a. a. O., Rn. 60.
61Jedenfalls missverständlich ist weiter die in diesem Zusammenhang in der erstinstanzlichen Rechtsprechung angeführte Erwägung, die zitierte höchstrichterliche und obergerichtliche Einordnung der Ermittlung ausländischen Rechts und der ausländischen Rechtspraxis als Element der Tatsachenfeststellung, nicht der Rechtsanwendung, beziehe sich „nur auf das Revisionsrecht“ und stehe einer eigenen Auslegung durch die Tatsachengerichte nicht entgegen.
62VG Münster, Urteil vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 34.
63Denn eine solche Beschränkung dieser Einordnung auf das Revisionsrecht lässt sich der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung zu dieser Frage nicht entnehmen. Im Gegenteil ergibt sich daraus gerade für die Tatsachengerichte, dass die Erfassung des ausländischen Rechts und der ausländischen Rechtspraxis vollständig der Sachverhaltsermittlung zuzuordnen ist. Sie obliegt auch grundsätzlich nur den Tatsachengerichten und ist, soweit es die Verwaltungsgerichtsbarkeit betrifft, ebenso wie die sonstige Tatsachenfeststellung nur in den Grenzen des § 137 Abs. 2 VwGO revisionsgerichtlich überprüfbar.
64BVerwG, Beschlüsse vom 5. März 2018, a. a. O., Rn. 4, und vom 28. Juni 1990 ‑ 9 B 15.90 ‑, NVwZ-RR 1990, 652, juris, Rn. 5; Urteile vom 19. Juli 2012, a. a. O., Rn. 16, und vom 26. Juli 1988 ‑ 9 C 51.87 ‑, NVwZ 1989, 69, juris, Rn. 12 ff.
65Nach dieser Vorschrift ist das Bundesverwaltungsgericht an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen „tatsächlichen Feststellungen“ gebunden, außer wenn in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (ähnlich § 559 Abs. 2 ZPO). Wären die Tatsachengerichte hingegen zu einer eigenen Auslegung ausländischen Rechts unter Heranziehung der auch im deutschen Recht gebräuchlichen Auslegungsmethoden berechtigt und verpflichtet, gäbe es keinen Grund, aus dem eine solche Auslegung grundsätzlich irrevisibel und das Bundesverwaltungsgericht auf eine revisionsgerichtliche Überprüfung in den Grenzen des § 137 Abs. 2 VwGO beschränkt sein sollte. Da diese Beschränkung aber besteht, kommt den Tatsachengerichten im Zusammenhang mit der Ermittlung des ausländischen Rechts und der ausländischen Rechtspraxis eine besondere Verantwortung bei der Entscheidung über die Erforderlichkeit von Sachaufklärungsmaßnahmen zu und haben diese den verfügbaren Quellen zu dem jeweils maßgeblichen ausländischen Recht und seiner praktischen Anwendung nachzugehen, auch um gegebenenfalls die Notwendigkeit einer sachverständigen Begutachtung zu prüfen.
66BVerwG, Urteil vom 19. Juli 2012, a. a. O., Rn. 15.
67Hiermit unvereinbar ist es insbesondere, einen Beweisantrag zur Ermittlung des Inhalts ausländischen Rechts und der ausländischen Rechtspraxis mit der Begründung abzulehnen, dass es sich „insoweit um eine Rechtsfrage“ handele, deren Klärung dem Gericht selbst obliege.
68So aber VG Chemnitz, a. a. O., S. 7 des Urteils.
69Keine Rechtfertigung für die eigene Auslegung ausländischer Rechtsnormen ergibt sich weiter aus der häufig zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gemachten Erwägung der zitierten erstinstanzlichen Rechtsprechung, im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit finde der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung Anwendung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
70Etwa VG Münster, Urteile vom 10. September 2019 ‑ 11 K 5924/16.A ‑, juris, Rn. 40, vom 23. Juli 2019 ‑ 11 K 3969/16.A ‑, juris, Rn. 65, und vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 28.
71Fragen der Beweiswürdigung und der Beweislast stellen sich erst, wenn das Tatsachengericht das für die Feststellung der Staatsangehörigkeit eines Schutzsuchenden entscheidungserhebliche ausländische Staatsangehörigkeitsrecht und seine Anwendungspraxis vollständig ermittelt hat, und es darum geht, ermittelte Einzeltatsachen einer Gesamtwürdigung in tatsächlicher Hinsicht zuzuführen und Schlüsse aus Indiztatsachen zu ziehen sowie sich dabei gegebenenfalls auch mit abweichenden Würdigungen sachverständiger Stellen und/oder anderer Tatsachengerichte auseinander zu setzen. Hingegen rechtfertigt der Überzeugungsgrundsatz aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO es nicht, die gebotene Sachverhaltsermittlung durch eine eigene Auslegung des ausländischen Staatsangehörigkeitsrechts zu ersetzen. Das ergibt sich auch nicht aus der in diesem Zusammenhang zitierten Revisionsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts.
72Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Februar 2005 ‑ 1 C 29.03 ‑, BVerwGE 122, 376, juris, Rn. 18.
73Im Gegenteil lässt sich auch dieser Entscheidung eindeutig entnehmen, dass die richterliche Überzeugungsbildung vom Besitz einer ausländischen Staatsangehörigkeit auf einer vollständigen Tatsachengrundlage zu erfolgen hat, die gerade auch bei Fehlen von Ausweispapieren eine Sachverhaltsermittlung und ‑würdigung voraussetzt. Das ergibt sich insbesondere aus dem klarstellenden Hinweis, „dass die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte“.
74Ebenso BVerwG, Urteil vom 13. Februar 2014 ‑ 10 C 6.13 ‑, NVwZ-RR 2014, 487, juris, Rn. 18 ff. m. w. N.
75Speziell bezogen auf das Herkunftsland Äthiopien lässt sich eine eigene Auslegung des dortigen Staatsangehörigkeitsrechts schließlich auch nicht mit der Erwägung rechtfertigen, dass das zu diesem Land vorliegende Quellenmaterial so gut wie keine Rechtsprechung äthiopischer Gerichte zu den jeweiligen staatsangehörigkeitsrechtlichen Normen nachweist. Denn das äthiopische Justizsystem ist völlig überlastet, da es zu wenige Richter gibt. Die Justiz ist offiziell unabhängig, aber in der Praxis Gegenstand politischer Einflussnahme, so dass Urteile selten von der Regierungspolitik abweichen. Erst die Ernennung der Anwältin Meaza Ashenafi zur ranghöchsten Richterin des Landes im November 2018 hat Hoffnungen auf eine Justizreform geweckt. Sie hat versprochen, die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken und die Korruption vor Gericht zu verringern.
76Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (ACCORD), Ethiopia: COI Compilation, November 2019, S. 83 f.; D-A-CH Fact Finding Mission Äthiopien/Somaliland, Bericht von Mai 2010, S. 21.
77Unter diesen Umständen liegt es nahe, dass sich eine Ermittlung der maßgeblichen Rechts- und Staatspraxis zum äthiopischen Staatsangehörigkeitsrecht jedenfalls für die Zeit bis 2018 notwendigerweise auf die Handhabung durch Regierung und nachgeordnete Behörden beschränken muss.
78b) Nach diesen Maßstäben haben die Kläger zu 1. und 2. ihre durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit weder mit der Entstehung des Staates Eritrea mit Wirkung vom 24. Mai 1993 noch in der Zeit danach bis zum Beginn des äthiopisch-eritreischen Grenzkrieges im Mai1998 verloren. In diesem Zeitraum wohnten beide Kläger nach ihren eigenen Angaben als Kinder mit ihren jeweiligen Müttern in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, in die der Kläger zu 1. etwa 1992 mit seiner Mutter von Asmara im heutigen Eritrea und die Klägerin zu 2. etwa 1988, als sie etwa vier Jahre alt gewesen sei, mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder vom Stadtteil T. der eritreischen Hafenstadt Assab umgesiedelt waren.
79Maßgeblich für die Frage eines solchen Staatsangehörigkeitsverlustes war der bis zum 23. Dezember 2003 geltende Verlustgrund in Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930. Nach dieser Vorschrift verlor ein äthiopischer Staatsangehöriger seine Staatsangehörigkeit durch Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit. Die Bestimmung war Ausdruck des Prinzips der Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit im äthiopischen Staatsangehörigkeitsrecht.
80Schröder, Stellungnahmen vom 20. August 2019, a. a. O., S. 6 (Rn. 11), und vom 22. März 2011, S. 7 (Rn. 9).
81Sie ließ im Zusammenhang mit anderen Vorschriften des äthStAG 1930, etwa Art. 4 äthStAG 1930, eine durchweg negative Einstellung des äthiopischen Gesetzgebers gegenüber doppelten Staatsangehörigkeiten erkennen, rechtfertigte aber nicht den Schluss auf eine ausnahmslose Geltung und Durchsetzung des genannten Prinzips. Denn im äthStAG 1930 nicht geregelt war etwa die Frage, ob auch ein Staatsangehörigkeitserwerb einer ausländischen Frau durch Heirat eines äthiopischen Mannes voraussetzte, dass die Frau ihre bisherige fremde Staatsangehörigkeit aufgab (Art. 2 äthStAG 1930).
82Nelle, in: Bergmann u. a., a. a. O., S. 12 (Fn. 4), S. 14.
83Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 regelte nach damaligem äthiopischem Rechtsverständnis den Staatsangehörigkeitsverlust grundsätzlich nur bei gewillkürtem Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit. Hingegen enthielten danach weder diese Bestimmung noch die sonstigen Vorschriften des äthStAG 1930 eine Regelung für den Fall, dass ein äthiopischer Staatsangehöriger kraft Gesetzes eine fremde Staatsangehörigkeit erwarb. Erst dann, wenn ein äthiopischer Staatsangehöriger eine erworbene fremde Staatsangehörigkeit aktiv ausübte, indem er in Äthiopien oder in anderen Staaten als nichtäthiopischer Staatsangehöriger auftrat, führte dies in der äthiopischen Anwendungspraxis zur Aberkennung der äthiopischen Staatsangehörigkeit. Dieses Rechtsverständnis und diese Anwendungspraxis bestanden jedenfalls seit dem 24. Mai 1991, dem Tag der militärischen Einnahme Asmaras und damit der Übernahme der Regierungsgewalt über das eritreische Territorium durch die im Befreiungskrieg siegreiche Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF).
84Schröder, Stellungnahmen vom 20. August 2019, a. a. O., S. 6 (Rn. 11 f.), S. 8 (Rn. 29), und vom 22. März 2011, S. 6 (Rn. 3); AA, Auskunft vom 21. Juli 2003 an VG München, S. 2 („Antragserwerb“); vgl. auch VG Arnsberg, Urteil vom 24. Oktober 2014 ‑ 12 K 1874/13.A ‑, juris, Rn. 51 ff.
85Das genannte Anknüpfen an eine aktive Ausübung einer erworbenen fremden Staatsangehörigkeit, aber auch eine durchaus festzustellende willkürliche Handhabung dieses unbestimmten Merkmals im Einzelfall sind gemeint, wenn die Rechtsprechung formuliert hat, die äthiopische Anwendungspraxis habe hinsichtlich des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 „voluntative Elemente“ mit einbezogen.
86VG Arnsberg, Urteil vom 24. Oktober 2014, a. a. O., Rn. 55 ff.; VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Mai 2013 ‑ 6 K 7333/12.A ‑, juris, Rn. 39; als Wiedergabe entsprechender erstinstanzlicher Ausführungen vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 9. Februar 2010 ‑ 8 A 72/08.A ‑, juris, Rn. 9; ferner VG Berlin, Urteil vom 28. Februar 2019 ‑ 28 K 392.18 A ‑, juris, Rn. 47; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 7. Dezember 2018 ‑ 5 K 1915/16.A ‑, juris Rn. 29; VG Chemnitz, a. a. O., S. 8 des Urteils; VG Potsdam, Urteil vom 17. Februar 2016 ‑ VG 6 K 4063/15.A ‑, juris, Rn. 22.
87Dieses Rechtsverständnis einer Anknüpfung an eine aktive Ausübung einer erworbenen fremden Staatsangehörigkeit für den Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit hat der äthiopische Verfassungsgeber überdies schon wenig später in der am 21. August 1995 in Kraft getretenen neuen äthiopischen Verfassung (äthVerf) festgeschrieben.
88Auszugsweise deutsche Übersetzung abgedruckt bei Nelle, in: Bergmann u. a., a. a. O., S. 15; Nelle, StAZ 2004, S. 234 (235); englische Fassung abrufbar unter http://www.fsc.gov.et/Content/Negarit%20Gazeta/Negarit%20Gazeta/Gazeta-1987/Proc%20No.%201-1995%20Constitution%20of%20the%20Federal%20Democratic%20Repu.pdf (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020).
89Denn nach Art. 33 Abs. 1 Satz 1 äthVerf darf keinem Äthiopier seine Staatsangehörigkeit gegen seinen Willen entzogen werden. Hingegen hat jeder Staatsangehörige das Recht, die äthiopische Staatsangehörigkeit zu Gunsten einer anderen aufzugeben (Abs. 3).
90Vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die in Äthiopien lebten, sah die maßgebliche Anwendungspraxis der äthiopischen Regierung in Übereinstimmung mit diesen verfassungsrechtlichen Bestimmungen in der Zeit zwischen Mai 1993 und dem Ausbruch des äthiopisch-eritreischen Grenzkrieges im Mai 1998 grundsätzlich ohne Rücksicht darauf weiterhin als äthiopische Staatsangehörige an, ob sie aus der Sicht des neu entstandenen eritreischen Staates und/oder aus internationaler Sicht zugleich auch eritreische Staatsangehörige waren. Insbesondere setzten die äthiopischen Passbehörden ihre bis dahin geübte Praxis regelmäßig fort, auch diesem Personenkreis weiterhin äthiopische Identitätskarten und gegebenenfalls auch Pässe auszustellen oder zu verlängern. Sogar zahlreiche Eritreer aus dem Gebiet des neu entstandenen Staates Eritrea, die nach 1991 erstmals in das Gebiet des heutigen Äthiopien umsiedelten, erhielten problemlos eine äthiopische Identitätskarte und oft auch einen äthiopischen Pass und wurden damit als äthiopische Staatsbürger behandelt. Die nach 1992 ausgestellten äthiopischen Identitätskarten enthielten die neu eingeführte Rubrik „ethnische Zugehörigkeit“ (amharisch: beher), die man bei äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung mit dem Eintrag „Eritrean“ versah, um den Inhaber als äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung zu kennzeichnen. Darüber hinaus behielten diese Personen auch ihren etwaigen Immobilienbesitz in Äthiopien, der für Ausländer nach Art. 390 des äthiopischen Zivilgesetzbuches verboten war (vgl. heute auch Art. 40 äthVerf). Entsprechendes galt für Geschäftslizenzen und Berufserlaubnisse, die nur äthiopischen Staatsangehörigen zustanden. Die Regierung Äthiopiens vermied öffentlich jede Erörterung der ungeklärten Frage der Staatsangehörigkeit der in Äthiopien lebenden vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung. Beide beteiligte Regierungen vereinbarten im August 1996, in einer nicht näher bestimmten Zukunft eine Befragung unter diesem Personenkreis nach der bevorzugten Staatsangehörigkeit durchführen zu wollen. Diese Befragung kam jedoch bis zum Kriegsausbruch im Mai 1998 nicht zustande. Erst um den Jahreswechsel 2003/2004 führte die äthiopische Regierung mit der Neuregelung des äthiopischen Staatsangehörigkeitsrechts eine zumindest einseitige Klärung dieser offenen Staatsangehörigkeitsfrage herbei (dazu im Einzelnen unten c)).
91Schröder, Stellungnahmen vom 20. August 2019, a. a. O., S. 8 ff. (Rn. 31 bis 37), und vom 22. März 2011, S. 8 f. (Rn. 11 bis 15); Eritrea Ethiopia Claims Commission (EECC), Partial Award, Civilian Claims, Eritrea’s claims 15, 16, 23 & 27-32, S. 12 (Rn. 46 ff.), abrufbar unter https://pca-cpa.org/en/cases/71/ (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020); Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), „Äthiopien: Gemischt eritreisch-äthiopische Herkunft“, Auskunft vom 29. Januar 2013, S. 1; BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, a. a. O., S. 5.
92Diese vorläufige faktische Hinnahme einer doppelten äthiopisch-eritreischen Staatsangehörigkeit betraf insbesondere auch alle diejenigen in Äthiopien lebenden vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung, die sich in der Zeit seit dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ vom 6. April 1992,
93englische Fassung abrufbar unter https://www.refworld.org/docid/3ae6b4e026.html (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020),
94zum Zweck der Teilnahme am Unabhängigkeitsreferendum vom 23. bis 25. April 1993 oder unabhängig davon in der Zeit danach eine eritreische Identitätskarte hatten ausstellen lassen oder die Geldzahlungen an den eritreischen Staat erbracht oder diesen sonst unterstützt hatten. Denn der äthiopischen Regierung war vor Durchführung des Referendums selbstverständlich bewusst gewesen, dass, wer daran teilnehmen wollte, sich zuvor seine damals noch vorläufige eritreische Staatsangehörigkeit durch Ausstellung einer eritreischen Identitätskarte bestätigen lassen musste und er dadurch bei endgültigem Entstehen der eritreischen Staatsangehörigkeit formal den Verlusttatbestand in Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 erfüllen würde. Gleichwohl hatte die äthiopische Regierung die betroffenen Personen nicht etwa auf die absehbaren Folgen eines solchen Staatsangehörigkeitsverlustes für Militärdienst, Berufsausübung und etwaigen Immobilienbesitz hingewiesen und versucht, sie von einer Teilnahme am Referendum abzuhalten. Vielmehr hat sie öffentlich die in Äthiopien lebenden äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung aufgerufen, sich für das Referendum registrieren zu lassen. Folgerichtig haben der Staat Eritrea, internationale Menschenrechtsorganisationen und Völkerrechtler der äthiopischen Regierung später nach dem Grenzkrieg 1998-2000 vorgehalten, durch ihre fortdauernde Behandlung dieser Menschen als äthiopische Staatsbürger diese von der Anwendung des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 ausgenommen und damit die Doppelstaatsbürgerschaft für diesen Personenkreis in legal bindender Weise und nicht nur de-facto akzeptiert zu haben.
95Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 8 (Rn. 31 bis 37), S. 12 (Rn. 46 f.).
96Anderslautende Auskünfte und Gerichtsentscheidungen, nach denen die äthiopischen Behörden diejenigen vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung, die am Unabhängigkeitsreferendum teilgenommen oder Geldzahlungen an den eritreischen Staat erbracht hätten, als Eritreer und somit als Ausländer betrachteten, stehen der vorgenannten, ausschließlich auf die Anwendungspraxis der äthiopischen Regierung in der Zeit zwischen Mai 1993 und Mai 1998 bezogenen Feststellung nicht entgegen. Denn sie beziehen sich ausdrücklich oder sinngemäß auf die äthiopische Sichtweise in der Zeit nach dem Ausbruch des äthiopisch-eritreischen Grenzkrieges im Mai 1998 oder zumindest lässt sich dies nicht ausschließen.
97AA, Auskunft an VG Schwerin vom 9. Juni 2016, S. 2; Institut für Afrikakunde (IAK), Auskunft vom 15. Januar 2001 an VG Kassel, S. 3; OVG NRW, Beschluss vom 9. Februar 2010 ‑ 8 A 72/08.A ‑, juris, Rn. 12; VG Arnsberg, Urteil vom 24. Oktober 2014, a. a. O., Rn. 54 ff.
98Auch vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die in der Zeit zwischen Mai 1993 und Mai 1998 in Drittstaaten lebten oder in einen solchen Staat umsiedelten, behandelte die Anwendungspraxis der äthiopischen Regierung entsprechend dem oben beschriebenen Rechtsverständnis des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 grundsätzlich weiterhin als äthiopische Staatsangehörige, solange sie während ihres Aufenthaltes im Drittstaat keine Handlungen vornahmen, die aus äthiopischer Sicht als eine aktive Ausübung einer etwa erworbenen eritreischen Staatsangehörigkeit zu qualifizieren waren. Da das äthStAG 1930 allein an das Verlassen des äthiopischen Territoriums keinen Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit knüpfte, behielten diese Personen ihre äthiopische Staatsangehörigkeit bei. Erst dann, wenn der Betreffende im Drittstaat die eritreische Staatsangehörigkeit annahm oder als eritreischer Staatsangehöriger auftrat, führte dies in der äthiopischen Anwendungspraxis zur Aberkennung der äthiopischen Staatsangehörigkeit.
99AA, Auskunft an VG Schwerin vom 9. Juni 2016, S. 2; BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, a. a. O., S. 7.
100Nicht ohne weiteres plausibel ist die hiervon abweichende Mitteilung des Gutachters Günter Schröder, Äthiopien habe die in Drittgebieten lebenden Personen eritreischer Abstammung nur dann weiterhin als seine Staatsangehörigen angesehen, wenn sie im Besitz eines äthiopischen Nationalpasses gewesen seien, anderenfalls seien sie als eritreische Staatsbürger angesehen worden, für die Äthiopien nicht länger zuständig gewesen sei.
101Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 8 (Rn. 27 f.).
102Denn diese Mitteilung steht im Widerspruch zu den oben bereits zitierten Aussagen desselben Gutachters, wonach einem äthiopischem Staatsangehörigen die äthiopische Staatsangehörigkeit in der äthiopischen Anwendungspraxis erst dann aberkannt wurde, wenn er eine erworbene fremde Staatsangehörigkeit aktiv ausübte, indem er in Äthiopien oder in anderen Staaten als nichtäthiopischer Staatsangehöriger auftrat.
103Einen Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit nahm die äthiopische Anwendungspraxis in der Zeit zwischen dem 24. Mai 1993 und Mai 1998 lediglich für in Eritrea lebende oder dorthin umgesiedelte vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung an. Die äthiopischen Behörden gingen davon aus, dass das eritreische Recht für alle auf dem Gebiet Eritreas lebenden über 18 Jahre alten vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung zwingend die Ausstellung einer eritreischen Identitätskarte vorschrieb. Unabhängig von der Entgegennahme einer solchen Identitätskarte nahmen die äthiopischen Behörden an, dass alle in Eritrea lebenden vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung auch durch ihre sonstigen Kontakte mit den eritreischen Behörden die ihnen zuerkannte eritreische Staatsangehörigkeit faktisch ausübten und somit die äthiopische Staatsangehörigkeit verloren hätten.
104Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 8 (Rn. 24 ff.).
105Hiernach ließ ein etwaiger Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit mit der Entstehung des Staates Eritrea mit Wirkung vom 24. Mai 1993 durch in Äthiopien lebende vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung deren durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit grundsätzlich unberührt.
106Ebenso Sächs. OVG, a. a. O., Rn. 11; VG Münster, Urteile vom 23. Juli 2019 ‑ 11 K 5754/16.A ‑, juris, Rn. 100, und vom 5. März 2019, a. a. O., Rn. 63; VG Aachen, Urteil vom 26. August 2015 ‑ 7 K 1920/14.A ‑, juris, Rn. 66; VG Magdeburg, Urteil vom 7. Juni 2018 ‑ 8 A 367/17 ‑, juris, Rn. 18; a. A. VG Münster, Urteil vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 70; VG Gelsenkirchen, a. a. O., S. 15 f.; VG Hannover, Urteile vom 23. Januar 2018, a. a. O., Rn. 53, und vom 25. Oktober 2017, a. a. O., Rn. 60.
107Insbesondere vermied es die äthiopische Regierung vorläufig, den formal auch für diesen Personenkreis geltenden Verlustgrund in Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 zwangsweise und sofort auch in der Verwaltungspraxis auf ihn anzuwenden. Vielmehr strebten die Regierungen beider Staaten nach dem oben Ausgeführten eine Optionslösung an, die es den Betroffenen ermöglichen sollte, sich rechtsverbindlich für eine der beiden Staatsangehörigkeiten zu entscheiden. Gerade diese angestrebte Option spricht durchgreifend und zwingend gegen die Annahme, die Betroffenen hätten ihre äthiopische Staatsangehörigkeit aus der Sicht der äthiopischen Staatspraxis bereits mit Wirkung vom 24. Mai 1993 kraft Gesetzes verloren. Denn diese Annahme hätte der angestrebten Optionslösung von vornherein die Grundlage entzogen.
108Ähnlich VG Düsseldorf, Urteil vom 21. März 2019 ‑ 6 K 6058/18.A ‑, juris, Rn. 51.
109In diese Richtung geht auch die in der Rechtsprechung vertretene, wenngleich ebenfalls eher auf die eigene Auslegung äthiopischen Rechts als auf eine Ermittlung und Feststellung der tatsächlichen Anwendungspraxis bezogene Erwägung, dem äthiopischen Gesetzgeber könne „nicht unterstellt werden, dass er es damit dem Staatsangehörigkeitsgesetz eines aus einer äthiopischen Provinz hervorgegangenen Staates ermöglichen wollte, Äthiopien ohne weiteres einen erheblichen Teil seiner bisherigen Staatsangehörigen ipso jure, d. h. unmittelbar durch Gesetz und ohne weiteres Zutun der Betroffenen, zu entziehen.“
110Sächs. OVG, a. a. O., Rn. 14; VG Münster, Urteile vom 23. Juli 2019 ‑ 11 K 5754/16.A ‑, juris, Rn. 103, und vom 5. März 2019, a. a. O., Rn. 66; VG Magdeburg, Urteil vom 7. Juni 2018 ‑ 8 A 367/17 ‑, juris, Rn. 18; VG Chemnitz, a. a. O., S. 8 des Urteils.
111Mit den oben getroffenen tatsächlichen Feststellungen unvereinbar ist die abweichende Auffassung erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte, vor dem 24. Mai 1993 geborene und an diesem Tag in Äthiopien lebende vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung hätten ihre durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit mit der Entstehung des Staates Eritrea ipso iure nach Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 verloren. Die vorstehend beschriebene Anwendungspraxis der äthiopischen Regierung und der ihr unterstehenden Behörden müsse bei der „Auslegung“ des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 unberücksichtigt bleiben, weil sie in evidentem Widerspruch zum Wortlaut dieser ausländischen Rechtsnorm stehe.
112VG Münster, Urteil vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 32, 36, 70, 73; VG Gelsenkirchen, a. a. O., S. 15 f.; VG Hannover, Urteile vom 23. Januar 2018, a. a. O., Rn. 53, und vom 25. Oktober 2017, a. a. O., Rn. 60.
113Diese Auffassung beruht, wie bereits ausgeführt, schon methodisch auf der unzutreffenden Prämisse, als deutsches Verwaltungsgericht zu einer eigenen Auslegung des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 unter Heranziehung von im deutschen Recht gebräuchlichen Auslegungsmethoden, insbesondere der Wortlautauslegung berechtigt zu sein. Diese Prämisse ist unvereinbar mit den oben unter a) genannten Maßstäben aus der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung zur Ermittlung des Inhalts ausländischer Rechtsnormen. Unabhängig davon lässt sich auch kein „evidenter Widerspruch“ der festgestellten äthiopischen Anwendungspraxis in Bezug auf in Äthiopien lebende vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung zum damaligen äthiopischen Rechtsverständnis von Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 feststellen. Vielmehr war durch die Unabhängigkeit Eritreas für diesen Personenkreis eine staatsangehörigkeitsrechtlich ungeklärte Sondersituation entstanden, welche die Betroffenen deutlich von der Situation anderer Äthiopier unterschied, die eine nichteritreische fremde Staatsangehörigkeit erworben hatten. In dieser Sondersituation erschien es völker- und staatsangehörigkeitsrechtlich nicht von vornherein unvertretbar, abweichend von dem das äthiopische Staatsangehörigkeitsrecht grundsätzlich beherrschenden Prinzip der Vermeidung von Mehrfachstaatsangehörigkeit hier ausnahmsweise eine doppelte äthiopisch-eritreische Staatsangehörigkeit vorübergehend bis zu einer staatsvertraglichen Vereinbarung mit dem Staat Eritrea faktisch hinzunehmen.
114Im Ergebnis ebenso VG Magdeburg, a. a. O., Rn. 19.
115Mit den vorstehend getroffenen tatsächlichen Feststellungen allenfalls im Ergebnis vereinbar ist die weitere abweichende Auffassung erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte, die das oben bereits im Zusammenhang mit der äthiopischen Anwendungspraxis angesprochene „voluntative Element“ im Wege unzulässiger eigener Auslegung zum Norminhalt des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 machen wollen. Die Vorschrift sei dahingehend „zu verstehen“, dass ein äthiopischer Staatsangehöriger seine äthiopische Staatsangehörigkeit nur dann verliere, wenn er sich durch einen freiwilligen Akt für den Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit entscheide. Erwerbe er hingegen ohne sein Zutun und möglicherweise gegen seinen Willen ipso iure eine fremde Staatsangehörigkeit, führe dies nicht zu einem automatischen Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit nach Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930. Diese „Auslegung“ werde bereits durch den Wortlaut der Norm indiziert.
116VG Münster, Urteile vom 10. September 2019 ‑ 11 K 5924/16.A ‑, juris, Rn. 80, vom 23. Juli 2019 ‑ 11 K 3969/16.A ‑, juris, Rn. 45, vom 23. Juli 2019 ‑ 11 K 5586/16.A ‑, juris, Rn. 67, vom 23. Juli 2019 ‑ 11 K 5754/16.A ‑, juris, Rn. 86, 100 ff., vom 14. Mai 2019 ‑ 11 K 3231/16.A ‑, juris, Rn. 77 ff., und vom 5. März 2019 ‑ 11 K 3094/16.A ‑, juris, Rn. 63 ff.; VG Düsseldorf, Urteile vom 21. März 2019, a. a. O., Rn. 45, und vom 9. November 2017 ‑ 6 K 2713/17.A ‑, juris, Rn. 61; VG Magdeburg, a. a. O., Rn. 18.
117Auch hierin liegt zunächst eine methodisch unzulässige eigene Auslegung des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 durch ein deutsches Gericht unter Heranziehung von im deutschen Recht gebräuchlichen Auslegungsmethoden. Sie hätte zwangsläufig zur Konsequenz, dass das gefundene „Auslegungsergebnis“ ohne Rücksicht auf die tatsächliche, vor und nach Mai 1998 grundlegend verschiedene äthiopische Anwendungspraxis einheitlich bis zum Außerkrafttreten des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 im Dezember 2003 Geltung beanspruchte. Ebenso beanspruchte es Geltung für einen Staatsangehörigkeitsverlust durch den Erwerb nicht nur der eritreischen Staatsangehörigkeit, sondern auch anderer fremder Staatsangehörigkeiten, selbst wenn die äthiopische Anwendungspraxis gegenüber anderen Staaten wegen Fehlens der oben beschriebenen staatspolitischen und staatsangehörigkeitsrechtlichen Sondersituation gerade der Personen eritreischer Abstammung andere Maßstäbe zugrunde gelegt haben sollte. Beispielsweise hatten mehrere der im Sommer 2018 aus dem Exil zurückgekehrten Vorsitzenden der zuvor als terroristisch eingestuften verbotenen Oppositionsparteien die Staatsangehörigkeit ihres jeweiligen Gastlandes erworben (USA, Großbritannien) und werden daher von den äthiopischen Behörden vorbehaltlich eines Wiedererwerbs der äthiopischen Staatsangehörigkeit als Ausländer ohne politisches Betätigungsrecht angesehen.
118AA, Lagebericht vom 24. April 2020, S. 10 (Wiedererwerb als „wichtige Weichenstellung“); Schweizerisches Staatssekretariat für Migration, Focus Äthiopien, Der politische Umbruch 2018, Bericht vom 16. Januar 2019, S. 7.
119Sollten hiernach die Kläger zu 1. und 2. mit dem Entstehen des unabhängigen Staates Eritrea am 24. Mai 1993 kraft eritreischen Gesetzes und in der Anwendungspraxis der eritreischen Behörden auch die eritreische Staatsangehörigkeit erworben haben, blieb ihre äthiopische Staatsangehörigkeit hiervon unberührt. Denn der Verlusttatbestand in Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 erfasste diesen gesetzlichen Erwerb nach dem damals bis jedenfalls Mai 1998 in Äthiopien vorherrschenden Rechtsverständnis ebenso wenig wie nach der damaligen äthiopischen Anwendungspraxis. Die während des genannten Zeitraums noch minderjährigen Kläger zu 1. und 2. haben nach ihren Angaben in dieser Zeit weder zu irgendeinem Zeitpunkt in Eritrea gelebt noch durch irgendwelche Kontakte mit den eritreischen Behörden eine ihnen aus deren Sicht etwa zuerkannte eritreische Staatsangehörigkeit faktisch ausgeübt.
120c) Die Kläger zu 1. und 2. haben ihre jeweils durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit auch nicht durch die behaupteten Umzüge mit ihren Müttern aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba in den Sudan verloren. Der Kläger zu 1. gibt als Zeitpunkt dieses Umzugs das Jahr 2001 an, die Klägerin zu 2. teilt mit, sie hätten Äthiopien „nach ungefähr zehn Jahren“ nach ihrem Zuzug aus Eritrea im Jahr 1988, also 1998 „als Eritreer“ verlassen, „als zwischen beiden Ländern ein Konflikt bestanden habe.“ Danach soll der behauptete Umzug jedenfalls im Fall der Klägerin zu 2. in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem am 12. Mai 1998 ausgebrochenen eritreisch-äthiopischen Grenzkrieg gestanden haben, in dessen Verlauf die äthiopische Regierung bis März 2002 mehrere zehntausend äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung von Äthiopien nach Eritrea deportieren ließ und einer noch deutlich höheren Anzahl auch derjenigen, die unter diesem Druck im Wege sog. „freiwilliger Repatriierung“ nach Eritrea oder in ein Drittland ausreisten oder gleichwohl in Äthiopien verblieben, die äthiopische Staatsangehörigkeit faktisch aberkannte, indem sie ihnen Passausstellungen und -verlängerungen verweigerte und sie stattdessen aufforderte, sich als Ausländer registrieren zu lassen und Aufenthaltsgenehmigungen zu beantragen. Auch das verfassungsrechtliche Entziehungsverbot in Art. 33 Abs. 1 Satz 1 äthVerf hat diese Ausbürgerungen von Äthiopiern eritreischer Herkunft nicht verhindert.
121BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, a. a. O., S. 5 f.; Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 15 f. (Rn. 57 ff.); D-A-CH Fact Finding Mission Äthiopien/Somaliland, Bericht von Mai 2010, S. 52.
122Für die Frage, ob auch die Kläger zu 1. und 2. im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen ihre äthiopische Staatsangehörigkeit durch die Ausreise mit ihren jeweiligen Müttern in den Sudan verloren haben, sind die Verlusttatbestände in den Art. 19 ff. des am 23. Dezember 2003 in Kraft getretenen äthStAG und der dazu speziell für Äthiopier eritreischer Abstammung im Januar 2004 ergangenen Direktive sowie deren Handhabung in der äthiopischen Anwendungspraxis maßgeblich. Unerheblich ist hingegen, ob der äthiopische Staat die Kläger zu 1. und 2. in den Jahren zwischen Mai 1998 und Dezember 2003 unter Geltung des Verlusttatbestandes in Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 vorübergehend als Ausländer angesehen haben sollte. Denn erst mit den Art. 19 ff. äthStAG und der Direktive hat die äthiopische Regierung jedenfalls der praktischen Handhabung nach auch rückwirkend den Status und die Rechte von Personen eritreischer Abstammung geregelt, die in den Jahren zuvor von Verfolgungsmaßnahmen der geschilderten Art betroffen waren. Für den Fortbestand der äthiopischen Staatsangehörigkeit der Kläger zu 1. und 2. nach ihrer Übersiedelung in den Sudan kommt es nur auf diese Rechtslage und Staatspraxis ab Dezember 2003 an. Denn in asylrechtlichen Streitigkeiten stellt das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner gerichtlichen Entscheidung ab, soweit nicht hiervon aus Gründen des materiellen Rechts eine Abweichung geboten ist.
123BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2020 ‑ 1 C 1.19 ‑, juris, Rn. 11, vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 45.18 ‑, InfAuslR 2019, 455, juris, Rn. 9, vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 31.18 ‑, InfAuslR 2019, 459, juris, Rn. 10, vom 11. Juli 2018 ‑ 1 C 18.17 ‑, BVerwGE 162, 331, juris, Rn. 11, vom 19. April 2018 ‑ 1 C 29.17 ‑, BVerwGE 162, 44, juris, Rn. 7, Beschluss vom 18. Dezember 2019 ‑ 1 C 2.19 ‑, juris, Rn. 8.
124Nach diesem Maßstab ist hier ist hier auf die Rechtslage und Staatspraxis Äthiopiens ab Dezember 2003 abzustellen.
125So zutreffend auch VG Magdeburg, a. a. O., Rn. 22.
126Seit dem 23. Dezember 2003 richtet sich der Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit auf Grund des Erwerbs einer fremden Staatsangehörigkeit nach den Art. 17, 20 äthStAG. Nach Art. 17 äthStAG darf keinem Äthiopier die Staatsangehörigkeit durch Entscheidung einer Verwaltungsbehörde entzogen werden, es sei denn er verliert seine Staatsangehörigkeit nach den Art. 19 oder 20 äthStAG. Nach Art. 20 Abs. 3 äthStAG wird ein Äthiopier, der aus einem anderen Grund als dem in Abs. 2 genannten ohne eigenes Dazutun eine fremde Staatsangehörigkeit auf rechtlichem Wege erwirbt, so angesehen, als ob er freiwillig auf seine äthiopische Staatsangehörigkeit verzichtet hat, wenn er beginnt, Rechte aus einer derart erworbenen Staatsangehörigkeit auszuüben (Buchstabe a), oder es versäumt, innerhalb eines Jahres der Behörde den Wunsch zu erklären, durch Verzicht auf die fremde Staatsangehörigkeit die äthiopische beizubehalten (Buchstabe b).
127Zur Konkretisierung der Verlusttatbestände des Art. 20 äthStAG in Bezug auf die in Äthiopien lebenden äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung erließ das äthiopische Außenministerium am 19. Januar 2004 die Direktive zur Bestimmung des Aufenthaltsstatus von Eritreern in Äthiopien.
128Ministry of Foreign Affairs, Directive Issued to Determine the Status of Eritrean Nationals Residing in Ethiopia, englische Übersetzung abrufbar unter: http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain?docid=48abd56c0 (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020); dazu Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 21 f. (Rn. 86 ff.); SFH, Äthiopien/Eritrea: Umstrittene Herkunft, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2014, S. 4 f.
129Gegenstand dieser Direktive ist jede Person eritreischer Abstammung, die bei Entstehen der Unabhängigkeit des Staates Eritrea Einwohner in Äthiopien war und die ihren Daueraufenthalt in Äthiopien bis zum Erlass dieser Direktive fortgesetzt hat (Art. 2). Eine Person, die einen eritreischen Pass oder irgendein Dokument hat, das die eritreische Staatsangehörigkeit bestätigt, oder eine Person, die für die eritreische Regierung Dienst in einem Sektor leistet, der exklusiv für eritreische Staatsangehörige reserviert ist, wird als im Besitz der eritreischen Staatsangehörigkeit angesehen (Art. 4.1). Eine Person eritreischer Herkunft, die nicht für die eritreische Staatsangehörigkeit optiert hat, soll so angesehen werden, als habe sie sich für die Beibehaltung seiner oder ihrer äthiopischen Staatsangehörigkeit entschieden, und seine oder ihre äthiopische Staatsangehörigkeit soll garantiert sein (Art. 4.2). In Übereinstimmung mit dieser Direktive muss eine Person, deren eritreische Staatsangehörigkeit auf der Grundlage von Art. 4.1 festgestellt ist, an einem Ort und zu einer Zeit, die von den Behörden festgesetzt werden, registriert werden (Art. 5.1).
130Mit dieser Direktive führte die äthiopische Regierung die oben unter b) angesprochene einseitige Klärung der seit dem 24. Mai 1993 ungelösten Staatsangehörigkeitsfrage für die in Äthiopien lebenden vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung herbei. Sie verschaffte dem grundsätzlichen Prinzip der Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit im äthiopischen Staatsangehörigkeitsrecht auch für diesen Personenkreis wieder uneingeschränkte Geltung, indem sie mit den Abgrenzungskriterien in den Art. 4.1 und 4.2 eine jedenfalls der Rechtslage nach klare Trennung zwischen denjenigen Personen einerseits herbeiführte, welche durch Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit die äthiopische Staatsangehörigkeit zunächst einmal verloren hatten (Art. 4.1) und denen sie nunmehr als in Äthiopien lebenden Ausländern privilegierte Einbürgerungs-, Aufenthalts-, Besitz- und Arbeitsrechte einräumte (Art. 4.3, 6, 8 und 9.2), sowie denjenigen Personen andererseits, welche ab sofort aus äthiopischer Sicht ausschließlich äthiopische Staatsangehörige waren (Art. 4.2). Zugleich beendete sie damit die faktische Behandlung als Doppelstaater aus der Zeit zwischen dem 24. Mai 1993 und Mai 1998 ebenso wie die jedenfalls in ihrem tatsächlichen Ausmaß mit Art. 33 Abs. 1 Satz 1 äthVerf nur schwer in Einklang zu bringende und auch international auf heftige Kritik gestoßene Deportations- und Ausbürgerungspraxis aus der Zeit zwischen Mai 1998 und Frühjahr 2002. Gleichwohl ließ die Direktive die Staatsangehörigkeitsverluste der nach Eritrea deportierten oder ausgereisten und bis Januar 2004 dort verbliebenen Personen eritreischer Abstammung unberührt.
131Im täglichen Leben verbesserte sich die Situation der in Äthiopien lebenden äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer oder gemischt äthiopisch-eritreischer Abstammung durch die Direktive erheblich. Viele, aber keineswegs alle der noch in Äthiopien verbliebenen eritreisch-stämmigen Äthiopier erhielten ihr Eigentum und ihre zuvor gehaltenen Geschäftslizenzen und Führerscheine zurück, viele eritreisch-stämmige Äthiopier sogar auch wieder ihre ehemaligen Stellen im Staatsdienst, teilweise unter Nachzahlung ihres Gehaltes ab dem Zeitpunkt ihrer Entlassung. Berichte legen auch im Übrigen den Schluss nahe, dass die überwiegende Zahl der noch in Äthiopien verbliebenen Personen eritreischer Abstammung tatsächlich als äthiopische Staatsbürger anerkannt wurde und insbesondere die Kebele-Verwaltungen ihnen wieder die für äthiopische Staatsangehörige vorgesehenen Identitätskarten ausstellten. Insofern wurden das äthStAG und die Direktive auf in Äthiopien wohnhafte Personen eritreischer Abstammung grundsätzlich fair angewandt. Es sind nur Einzelfälle bekannt, in denen die Anwendung dieser Vorschriften verweigert wurde. Allerdings waren die Bestimmungen vielen Betroffenen gar nicht bekannt.
132Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 24 f. (Rn. 101, 104 f.); AA, Auskunft vom 9. Juni 2016 an das VG Schwerin, S. 2; D-A-CH Fact Finding Mission Äthiopien/Somaliland, Bericht von Mai 2010, S. 51; vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 9. Februar 2010, a. a. O., Rn. 14 m. w. N.
133aa) Vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die vom 24. Mai 1993 bis zum 19. Januar 2004 permanent in Äthiopien lebten, haben danach in der Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden auf der Grundlage von Art. 4.2 der Direktive ihre äthiopische Staatsangehörigkeit beibehalten, wenn sie im Registrierungsverfahren nach Art. 5.1 der Direktive glaubhaft vortragen und belegen konnten, dass sie die ihnen zuerkannte vorläufige oder endgültige eritreische Staatsangehörigkeit in der Zeit seit dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ vom 6. April 1992 nicht aktiv ausgeübt hatten. Eine große Zahl von eritreisch-stämmigen Äthiopiern, die weder eine eritreische Identitätskarte angenommen noch sonst eine etwa erworbene eritreische Staatsangehörigkeit ausgeübt hatten, wandte sich zum Zweck der Registrierung an die Registrierungsbüros, die in Addis Abeba und in den Regionen eingerichtet worden waren, um sich ihre äthiopische Staatsangehörigkeit eindeutig bestätigen zu lassen. Die überwältigende Mehrheit derjenigen eritreisch-stämmigen Äthiopier, denen dabei der genannte Nachweis gelang, wurde auch tatsächlich als äthiopische Staatsbürger anerkannt.
134Unter Hinweis auf die Schwierigkeit, verlässliche Daten hierzu zu erhalten: Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 21 (Rn. 89), S. 23 f. (Rn. 97 ff.).
135Eine solche Anerkennung einer erwachsenen Person eritreischer Abstammung als äthiopischer Staatsangehöriger im Registrierungsverfahren nach Art. 5.1 der Direktive erstreckten die äthiopischen Behörden grundsätzlich ohne Weiteres auch auf ihre minderjährigen Kinder. Diese Annahme liegt zunächst für die vor dem 24. Mai 1993 geborenen minderjährigen Kinder nahe, weil sie durch ihre Geburt ebenfalls ausschließlich die äthiopische, nicht aber auch die eritreische Staatsangehörigkeit erwerben konnten, sie die Voraussetzung des permanenten Daueraufenthalts in Äthiopien aus Art. 2 der Direktive regelmäßig ebenso erfüllten wie die Eltern oder der Elternteil und darüber hinaus schon wegen ihrer Geschäftsunfähigkeit zu einer aktiven Ausübung von Rechten aus der eritreischen Staatsangehörigkeit außerstande waren. Für jüngere, nach dem 24. Mai 1993 geborene Kinder galt Entsprechendes, weil auf sie zumindest dieser letztgenannte Gesichtspunkt ebenfalls zutraf. Eine solche grundsätzliche Einbeziehung auch minderjähriger Kinder entsprach zudem deren Behandlung im Fall einer Einbürgerung von Ausländern nach Art. 9 äthStAG sowie der Grundannahme der Direktive, dass die von ihr begünstigten Personen eritreischer Abstammung in Anbetracht der historischen Situation durch Heirat mit Äthiopiern und durch die Erziehung von Kindern und Enkelkindern starke Bindungen hergestellt haben (Art. 3.6, gemeint wohl Bindungen zum äthiopischen Staat). Minderjährige Kinder werden nach Art. 13 Abs. 2 äthStAG in die Identitätskarte der Eltern oder des Elternteils eingetragen.
136Zunächst einmal verloren hatten die äthiopische Staatsangehörigkeit durch den Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit in der Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden auf der Grundlage von Art. 4.1 der Direktive hingegen diejenigen Personen eritreischer Abstammung mit dauerhaftem Wohnsitz in Äthiopien zwischen dem 24. Mai 1993 und dem 19. Januar 2004, die von dort aus in der Zeit seit dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ am 6. April 1992 etwa am eritreischen Unabhängigkeitsreferendum vom 23. bis 25. April 1993 teilgenommen und sich zuvor hierfür eine eritreische Identitätskarte hatten ausstellen lassen. Dasselbe galt für Personen, die sich unabhängig von einer Teilnahme am Unabhängigkeitsreferendum eine solche Identitätskarte hatten ausstellen lassen oder andere eritreische Dokumente besaßen oder Dienste für den eritreischen Staat geleistet hatten, die eritreischen Staatsangehörigen vorbehalten waren. Die Anwendungspraxis der äthiopischen Registrierungsbehörden knüpfte hier an den sehr weit gefassten Begriff des Beginns der Ausübung von Rechten aus einer ohne eigenes Dazutun erworbenen ausländischen Staatsangehörigkeit aus Art. 20 Abs. 3 Buchstabe a) äthStAG an, der den äthiopischen Ausführungsorganen einen großen Interpretationsspielraum eröffnete. So wurden im Registrierungsverfahren nach Art. 5.1 der Direktive auch viele eritreisch-stämmige Äthiopier, die keine eritreische Identitätskarte hatten, als eritreische Staatsbürger eingestuft und ihnen damit die ursprünglich erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit zunächst aberkannt, obwohl diese Aberkennung möglicherweise mit dem verfassungsrechtlichen Entziehungsverbot in Art. 33 Abs. 1 Satz 1 äthVerf sowie mit Art. 17 äthStAG schwer in Einklang zu bringen gewesen sein mag.
137Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 21 f. (Rn. 90), S. 24 (Rn. 101).
138Diese aus Sicht der äthiopischen Registrierungsbehörden nunmehr zunächst ausschließlich eritreischen Staatsangehörigen hatten jedoch nach Art. 4.3 der Direktive das Recht, im Registrierungsverfahren nach Art. 5.1 der Direktive den Wiedererwerb der äthiopischen Staatsangehörigkeit auf der Grundlage des Art. 22 Abs. 1 äthStAG zu beantragen. Nach dieser Vorschrift wird zur äthiopischen Staatsangehörigkeit wieder zugelassen, wer äthiopischer Staatsangehöriger war und eine fremde Staatsangehörigkeit auf rechtlichem Wege angenommen hat, wenn er seinen Wohnsitz wieder in Äthiopien nimmt (Buchstabe a)), auf seine fremde Staatsangehörigkeit verzichtet (Buchstabe b)), und bei der Behörde seine Wiedereinbürgerung beantragt (Buchstabe c)). Jedenfalls in Addis Abeba hat nach einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur die Mehrheit der danach zunächst als eritreische Staatsangehörige eingestuften Personen, die sich registrierten, auch den Wiedererwerb der äthiopischen Staatsangehörigkeit beantragt und ab Mai 2004 erhalten.
139Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 23 f. (Rn. 98).
140Sowohl den im Registrierungsverfahren nach Art. 4.2, Art. 5.1 der Direktive unmittelbar als äthiopische Staatsangehörige anerkannten als auch den nach Art. 22 Abs. 1 äthStAG, Art. 4.3 der Direktive wiedereingebürgerten Personen stellten ihre Kebele-Verwaltungen äthiopische Identitätskarten aus, in denen man in die Rubrik „ethnische Zugehörigkeit“ „eritreisch“ oder „eritreisch-tigrinisch“ eintrug. Auch die Ergebnisse der Volkszählung 2007 belegen, dass der größte Teil der weiterhin in Äthiopien lebenden Menschen eritreischer Abstammung zu diesem Zeitpunkt wieder äthiopische Staatsbürger waren. Nach diesem Zensus lebten 2007 nur noch 9.734 eritreische Staatsbürger in Äthiopien, während die Zahl der äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung wohl nahe bei 100.000 Personen lag.
141Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 25 f. (Rn. 105 f.).
142Für diese Personen war mit den Registrierungen nach Art. 4.2, Art. 5.1 der Direktive oder den Wiedereinbürgerungen nach Art. 22 Abs. 1 äthStAG, Art. 4.3 der Direktive aus der maßgeblichen Sicht der äthiopischen Behörden auch der seit dem 24. Mai 1993 entstandene Konflikt mit dem Prinzip der Vermeidung doppelter und mehrfacher Staatsangehörigkeit im äthiopischen Staatsangehörigkeitsrecht ausgeräumt. Denn die wiedereingebürgerten Personen hatten im Zusammenhang mit ihrer Wiedereinbürgerung auf ihre eritreische Staatsangehörigkeit verzichtet (Art. 22 Abs. 1 Buchstabe b) äthStAG). Die auf der Grundlage von Art. 4.2 der Direktive unmittelbar als äthiopische Staatsangehörige anerkannten Personen hatten ihre aus der Sicht Eritreas etwa erworbene eritreische Staatsangehörigkeit nicht aktiv ausgeübt, lebten in Äthiopien, und hatten sich mit ihrer Registrierung ausdrücklich für die äthiopische Staatsangehörigkeit entschieden, so dass man sich auch Eritrea gegenüber als berechtigt ansah, sie als ausschließlich äthiopische Staatsangehörige zu behandeln. Die äthiopischen Behörden stellten dabei die für diesen Kreis von Personen eher theoretische Frage zurück, ob auch Eritrea sie für sich als Staatsangehörige in Anspruch nahm, ob sie also nach eritreischem Staatsangehörigkeitsrecht und aus der Sicht der eritreischen Behörden zugleich auch eritreische Staatsangehörige waren.
143Nur diejenigen in Äthiopien lebenden eritreisch-stämmigen Personen, die sich nicht im Verlauf des Jahres 2004 registrieren ließen, sah die Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden als ausschließlich eritreische Staatsangehörige ohne Wiedereinbürgerungsrecht nach Art. 4.3 der Direktive an. Sie wurden als Gesetzesbrecher und illegale Ausländer behandelt und verpflichtet, ihren Aufenthalt in einem der Flüchtlingslager für Eritreer in Nordäthiopien zu nehmen, z. B. im Lager Shimelba, welches sich direkt an der äthiopisch-eritreischen Grenze befindet. An einer Fortsetzung der Praxis der Deportationen nach Eritrea aus den Jahren zwischen 1998 und 2002 sah man sich durch internationales Recht gehindert.
144Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 23 (Rn. 96), S. 24 f. (Rn. 103); BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, S. 10.
145Der Aufenthalt eines seit dem 24. Mai 1993 in Äthiopien lebenden, vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung in einem Flüchtlingslager für Eritreer in den Jahren nach 2004 ist hiernach regelmäßig ein Indiz dafür, dass die äthiopischen Behörden in ihm einen ausschließlich eritreischen Staatsangehörigen sehen, der seine äthiopische Staatsangehörigkeit auf der Grundlage von Art. 4.1 der Direktive durch Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit verloren und sich entgegen Art. 5.1 der Direktive nicht oder nicht rechtzeitig als Ausländer hat registrieren lassen. Entsprechendes gilt für einen Bewohner eines solchen Flüchtlingslagers, der nach Ausbruch des Grenzkrieges im Mai 1998 aus Eritrea nach Äthiopien geflohen ist.
146Minderjährige Kinder eritreischer Abstammung, die sich ohne Eltern in Äthiopien aufhielten, hatten mangels Geschäftsfähigkeit keine Möglichkeit, ihren staatsangehörigkeitsrechtlichen Status im Registrierungsverfahren nach Art. 5.1 der Direktive einer verbindlichen Klärung zuzuführen. Sie konnten dies allenfalls nachträglich bei Erreichen der Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres nachholen.
147Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 33 (Rn. 148).
148Mit diesen tatsächlichen Feststellungen unvereinbar ist die abweichende Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Bestimmungen der Direktive seien, soweit Personen eritreischer Abstammung eine etwa erworbene eritreische Staatsangehörigkeit aus der Sicht der äthiopischen Behörden nicht aktiv ausgeübt haben und daher auf der Grundlage des Art. 4.2 der Direktive von der äthiopischen Regierung weiterhin als äthiopische Staatsangehörige betrachtet werden, „für das erkennende Gericht … als deutsches staatliches Gericht im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit nicht verbindlich“, weil sie „im Widerspruch zur (höherrangigen) äthiopischen Gesetzeslage (bis 23. Dezember 2003: StAG 1930; danach StAG 2003)“ stünden.
149VG Münster , Urteil vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 86.
150Auch diese Auffassung beruht nach dem oben unter a) Ausgeführten auf der methodisch unzutreffenden Prämisse, als deutsches Verwaltungsgericht zu einer eigenen Auslegung des äthiopischen Staatsangehörigkeitsrechts unter Heranziehung der im deutschen Recht gebräuchlichen Auslegungsmethoden berechtigt zu sein und von diesem Ausgangspunkt aus die äthiopische Direktive vom 19. Januar 2004 wie eine deutsche Verwaltungsvorschrift („Erlass der äthiopischen Behörden“) am „höherrangigen“ äthiopischen Gesetzesrecht des äthStAG messen zu dürfen. Diese Rechtsprechung ist auch im Ergebnis zu beanstanden, weil sie die betroffenen Personen aus Rechtsgründen als eritreische Staatsangehörige einstuft, obwohl die maßgebliche Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden sie als äthiopische Staatsangehörige behandelt.
151bb) Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die am 19. Januar 2004 in Äthiopien lebten, aber dort keinen fortgesetzten Daueraufenthalt seit dem 24. Mai 1993 hatten, sondern erst später aus dem Ausland zugezogen oder zurückgekehrt waren, haben in der Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden ihre äthiopische Staatsangehörigkeit ebenfalls beibehalten, wenn sie zu keinem Zeitpunkt seit dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ vom 6. April 1992 mit der Ausübung von Rechten aus der ihnen zuerkannten vorläufigen oder endgültigen eritreischen Staatsangehörigkeit begonnen hatten. Auf sie fand die Direktive keine Anwendung, weil diesen Personen der in Art. 2 der Direktive vorausgesetzte fortgesetzte Daueraufenthalt in Äthiopien in der Zeit zwischen dem 24. Mai 1993 und dem 19. Januar 2004 fehlte. Stattdessen legten die äthiopischen Behörden der staatsangehörigkeitsrechtlichen Einordnung dieses Personenkreises außerhalb einer Anwendung der Direktive als Abgrenzungskriterium ebenfalls die am Begriff des Beginns der Ausübung von Rechten aus der ausländischen Staatsangehörigkeit aus Art. 20 Abs. 3 Buchstabe a) äthStAG orientierte Annahme zugrunde, dass die genannten Personen ihre frühere äthiopische Staatsangehörigkeit verloren hatten, wenn sie begonnen hatten, die ihnen zuerkannte eritreische Staatsangehörigkeit aktiv auszuüben (z. B. indem sie sich eine eritreische Identitätskarte ausstellen ließen). Bei Personen, die während des genannten Zeitraums aus Eritrea zugezogen oder zurückgekehrt waren, sah man schon allein in dem vorangegangenen Aufenthalt in Eritrea eine zum Staatsangehörigkeitsverlust führende aktive Ausübung von Rechten aus der eritreischen Staatsangehörigkeit (s. bereits oben b)).
152Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 26 f. (Rn. 107 ff.), S. 34 (Rn. 156).
153Hatte ein verheirateter Äthiopier eritreischer Abstammung seine äthiopische Staatsangehörigkeit nach diesem Abgrenzungskriterium verloren, hatte dieser Verlust nach Art. 21 äthStAG keine Auswirkung auf Ehegatten und Kinder.
154cc) Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die am 19. Januar 2004 in Eritrea lebten, behandelte die Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden als ausschließlich eritreische Staatsangehörige. Auch auf diese Personen fand die Direktive aus den oben zu bb) genannten Gründen keine Anwendung. Für diesen Personenkreis kam eine Anwendung der Direktive auch in der Praxis schon von vornherein deshalb nicht in Betracht, weil Art. 5.1 der Direktive eine Registrierung nur in Addis Abeba und in den Regionen Äthiopiens vorsah, nicht aber auch im Ausland. Dementsprechend äußerten sich auch führende Staatsbeamte der äthiopischen Innenverwaltung dahin, dass aus irgendeinem Land nach Äthiopien kommende Eritreer nicht in den Genuss der Direktive kommen könnten.
155Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 26 (Rn. 107); BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, S. 7.
156Der staatsangehörigkeitsrechtlichen Einordnung auch dieses Personenkreises legte die äthiopische Anwendungspraxis das bereits beschriebene, aus Art. 20 Abs. 3 Buchstabe a) äthStAG abgeleitete Abgrenzungskriterium einer aktiven Ausübung der ihnen zuerkannten eritreischen Staatsangehörigkeit zugrunde. Bei den in Eritrea lebenden Personen sahen die äthiopischen Behörden eine solche aktive Ausübung schon allein durch ihren dortigen Aufenthalt als erfüllt an und nahmen bei ihnen dementsprechend einen Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit an. Zu diesem Personenkreis gehörten insbesondere alle diejenigen, die in den Jahren von 1998 bis 2002 nach Eritrea deportiert oder unter im Wege einer sog. „freiwilligen Repatriierung“ dorthin übergesiedelt waren. In Bezug auf die Deportierten hielt die äthiopische Regierung auch 2004 noch ihren politischen Standpunkt aufrecht, sie seien eine Bedrohung für die nationale Sicherheit des Landes.
157Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 21 (Rn. 88), S. 26 (Rn. 107 ff.), S. 33 (Rn. 143 f.).
158In den häufigen Fällen, in denen die Deportation nur einen Teil einer Familie betroffen hatte, meistens den in erster Linie als „Sicherheitsrisiko“ betrachteten Ehemann und Vater, während die Ehefrau mit den minderjährigen Kindern in Äthiopien zurückgeblieben war, wirkte sich der dadurch eingetretene Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit auch aus der nachträglichen Sicht der äthiopischen Behörden in den Jahren seit 2004 nur auf den oder die nach Eritrea deportierten, nicht aber auch auf die in Äthiopien verbliebenen Familienangehörigen aus (Art. 21 äthStAG). Meist waren aber während des Grenzkrieges und in den Jahren danach bis März 2002 auch die zunächst verschonten Familienmitglieder nachträglich aufgegriffen und ebenfalls nach Eritrea deportiert worden. In diesem Fall hatten auch die nachträglich deportierten Familienmitglieder ihre äthiopische Staatsangehörigkeit aus der nachträglichen Sicht der äthiopischen Behörden verloren.
159Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 12 (Rn. 45).
160Zum genannten Personenkreis der aus äthiopischer Sicht ausschließlich eritreischen Staatsangehörigen gehören auch diejenigen Personen eritreischer Abstammung, die nach der Unabhängigkeit des Staates Eritrea am 24. Mai 1993 auf dessen Staatsgebiet geboren sind. Diese Personen konnten mit ihrer Geburt die äthiopische Staatsangehörigkeit schon nicht mehr durch einen Abstammungserwerb nach Art. 1 äthStAG 1930 oder Art. 3 Abs. 1 äthStAG erwerben, weil ihre Eltern eine zuvor etwa bestehende äthiopische Staatsangehörigkeit durch ihren Aufenthalt in Eritrea und ein damit verbundenes aktives Ausüben der eritreischen Staatsangehörigkeit verloren hatten. Erst recht gilt dies für nach dem 24. Mai 1993 in Eritrea geborene Kinder eines Elternteils, den der Staat Eritrea etwa für den Militärdienst zwangsrekrutiert hat.
161AA, Stellungnahme an das VG Potsdam vom 19. September 2018, S. 2 f.
162Eine Fortsetzung der früheren staatsangehörigkeitsrechtlichen Einordnung in Eritrea lebender vormals äthiopischer Staatsangehöriger kommt in der äthiopischen Anwendungspraxis nur ausnahmsweise für solche Personen in Betracht, die äthiopischer Abstammung sind, von den eritreischen Behörden als ausschließlich äthiopische Staatsangehörige angesehen werden und die dementsprechend im Status von äthiopischen Ausländern in Eritrea leben.
163Dazu VG Düsseldorf, Urteil vom 21. März 2019 ‑ 6 K 6058/18.A ‑, juris, Rn. 65 ff.
164Deren Anzahl ist seit der Unabhängigkeit Eritreas immer geringer geworden. Im Verlauf des Grenzkrieges zwischen Mai 1998 bis zum Inkrafttreten des Waffenstillstands am 18. Juni 2000 ließ die eritreische Regierung die im Land lebenden Äthiopier internieren und ausweisen, teils aus Gründen der nationalen Sicherheit, teils als Vergeltungsmaßnahme für die Deportation von Eritreern aus Äthiopien. In der Zeit nach dem Grenzkrieg bis Ende 2009 organisierte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) vereinzelt Rückführungen äthiopischer und eritreischer Staatsangehöriger zur Familienzusammenführung. Seitdem waren diese Rückführungen ausgesetzt, da sowohl Äthiopien als auch Eritrea ihre Mitwirkung verweigerten. Die in Eritrea verbliebenen Äthiopier werden zwar nicht aktiv verfolgt, müssen aber bisweilen mit Diskriminierung und Schwierigkeiten im Alltag rechnen (z. B. bei der Erteilung von Arbeitserlaubnissen oder der Zuteilung von subventionierten Lebensmitteln).
165AA, Lagebericht Eritrea vom 27. Januar 2020, S. 11 f.; Lagebericht Eritrea vom 25. Februar 2018, S. 10.
166In der Zeit der vorübergehenden Grenzöffnung in der Zeit zwischen dem 11. September 2018 und April 2019 hat sich die Anzahl der als äthiopische Ausländer in Eritrea lebenden Personen weiter reduziert, weil in dieser Zeit viele das Land ungehindert verlassen konnten. In dieser Zeit konnten lange getrennte Familien wieder zusammenfinden. Die vorübergehende Grenzöffnung hat zu einer verstärkten Migrationsbewegung von Eritrea nach Äthiopien geführt.
167AA, Lagebericht Eritrea vom 27. Januar 2020, S. 8, 11 f.; Schweizerisches Staatssekretariat für Migration, a. a. O., S. 13 ff.
168dd) Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die am 19. Januar 2004 bereits in Drittländer übergesiedelt waren (wie die Kläger zu 1. und 2., die nach ihren Angaben zu diesem Zeitpunkt bereits von Addis Abeba in den Sudan geflüchtet waren), haben in der Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden ihre äthiopische Staatsangehörigkeit ebenfalls beibehalten, wenn sie zu keinem Zeitpunkt seit dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ vom 6. April 1992 mit der Ausübung von Rechten aus der ihnen zuerkannten vorläufigen oder endgültigen eritreischen Staatsangehörigkeit begonnen haben. Auch auf diese Personen findet die Direktive aus den oben zu bb) genannten Gründen keine Anwendung und scheidet eine solche auch in der Praxis aus den oben zu cc) genannten Gründen aus.
169Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 26 (Rn. 107: „Those Eritreans coming from any country to Ethiopia either couldn't benefit from the directive …“); BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, S. 7, 12.
170Auch Personen eritreischer Abstammung, welche sich bereits vor der Unabhängigkeit Eritreas im Ausland aufgehalten haben, werden von den äthiopischen Behörden weiterhin als äthiopische Staatsangehörige angesehen, sofern sie keine Rechte aus der ihnen zuerkannten eritreischen Staatsangehörigkeit aktiv ausgeübt haben.
171D-A-CH Fact Finding Mission Äthiopien/Somaliland, Bericht von Mai 2010, S. 51.
172In Drittländer übergesiedelte äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung werden in der Praxis der äthiopischen Auslandsvertretungen auch nach 2004 weiterhin als äthiopische Staatsangehörige angesehen und behandelt, wenn sie keine andere Staatsangehörigkeit angenommen haben und ihre Identität und ihre Abstammung von Eltern äthiopischer Staatsangehörigkeit durch entsprechende Dokumente nachweisen. Personen eritreischer Abstammung, denen die äthiopische Staatsangehörigkeit während der Kriegsjahre nicht entzogen wurde, haben heute keinen Verlust ihrer Staatsangehörigkeit mehr zu befürchten. Seit spätestens Ende 2006 hatte die damalige äthiopische Regierung einen Politikwandel hin zu einer wohlwollenden Haltung auch gegenüber den äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung vollzogen, den sie im eigenen Land propagandistisch gegen die eritreische Regierung auswerten konnte. Dadurch hat sich auch die Bereitschaft der äthiopischen Auslandsvertretungen in Europa, Personen eritreischer Abstammung als äthiopische Staatsangehörige anzuerkennen und ihnen Reisedokumente auszustellen, zum Besseren gewendet.
173AA, Lagebericht vom 18. Dezember 2012, S. 26; Auskunft vom 4. Dezember 2006 an das VG Magdeburg, S. 1; BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, S. 11; GIGA Institut für Afrika-Studien, Auskunft an VG Sigmaringen vom 13. August 2009, S. 2 f.
174Dieser Feststellung steht die zum Teil auch deutlich nach 2006 noch anzutreffende Würdigung nicht entgegen, äthiopische Staatsangehörige eritreischer oder halberitreischer Abstammung seien mit administrativen Hindernissen konfrontiert, um ihre Staatsangehörigkeit anerkannt zu erhalten.
175Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), „Äthiopien: Gemischt eritreisch-äthiopische Herkunft“, Auskunft vom 29. Januar 2013, S. 3; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Eritrea, 20. April 2011, S. 8 („administrative obstacles“); Schröder, Stellungnahme vom 2. August 2011, S. 36 f.; vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 9. November 2017, a. a. O., Rn. 91; zur Praxis während des Grenzkrieges und in den Jahren danach Hess. VGH, Urteil vom 19. Februar 2003 ‑ 9 UE 1701/98.A ‑, juris, Rn. 55.
176Denn diese Auskünfte schreiben lediglich Erkenntnisse aus der Zeit vor Ende 2006 fort, in der die äthiopischen Vertretungen im Ausland während des genannten Grenzkrieges und in den Jahren danach konsularische Dienste auch gegenüber solchen Personen verweigert haben, welche zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Weise die eritreische Staatsangehörigkeit angenommen und ausgeübt hatten.
177UNHCR, a. a. O., S. 8 mit dem Verweis in Fn. 39 auf Louise Thomas, Refugees and Asylum Seekers from mixed Eritrean-Ethiopian Families in Cairo, Juni 2006, http://schools.aucegypt.edu/GAPP/cmrs/reports/Documents/Mixedfamilies.pdf (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020).
178Mit der nach Erkenntnissen sowohl des Auswärtigen Amtes als auch anderer europäischer Behörden jedenfalls bei den äthiopischen Auslandsvertretungen in Europa seit etwa dieser Zeit festzustellenden deutlich erhöhten Bereitschaft zur Ausstellung von Reisepapieren an eritreisch-stämmige Staatsbürger setzen sich diese Auskünfte nicht auseinander. Abgesehen davon entsprechen diese Auskünfte spätestens seit der Einleitung des Versöhnungsprozesses zwischen Äthiopien und Eritrea im Sommer 2018 nicht mehr der aktuellen Erkenntnislage.
179Ebenso Bay. VGH, Beschluss vom 4. Juli 2019 ‑ 8 ZB 19.32392 ‑, juris, Rn. 13.
180Von den äthiopischen Behörden weiterhin als äthiopische Staatsangehörige angesehen werden danach insbesondere auch die in die nördlich angrenzende Republik Sudan geflohenen vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung, wenn sie zu der großen Zahl der ohne Registrierung in den Städten lebenden Flüchtlingen gehören, denen der UNHCR und die Sudanesische Commission of Refugees (COR) auch keine Identitätsdokumente für ausländische Flüchtlinge ausgestellt haben. Dasselbe liegt nahe, wenn die genannten Organisationen sie als Flüchtlinge aus Äthiopien registriert und ihnen ein solches Dokument mit äthiopischem Nationalitäteneintrag ausgestellt haben. Haben die genannten Organisationen den Betreffenden hingegen als Flüchtling aus Eritrea registriert und ihm eine Identitätskarte für Flüchtlinge mit eritreischem Nationalitäteneintrag ausgestellt, kommt je nach den Umständen des Einzelfalls in Betracht, dass die äthiopischen Behörden in dieser Registrierung ein aktives Ausüben der eritreischen Staatsangehörigkeit sehen, welche zum Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit geführt hat. Denn der Nationalitäteneintrag dokumentiert bei der großen Zahl von Flüchtlingen, die ohne Papiere in einem Flüchtlingscamp im Sudan eintreffen, den Abreiseort, der sich aus den Umständen der Ankunft ergibt, und aus dem sich die Staatsangehörigkeit des Betroffenen allenfalls vermutungsweise rückschließen lässt.
181UNHCR, Auskunft vom 18. Januar 2017 an VG Schwerin, S. 2 f.; VG Düsseldorf, Urteil vom 30. August 2017 ‑ 6 K 681/17.A ‑, S. 11 des Urteils.
182Dokumentiert der Nationalitäteneintrag einen Abreiseort in Eritrea, kann es aus der Sicht der äthiopischen Behörden für die Frage eines aktiven Ausübens der eritreischen Staatsangehörigkeit darauf ankommen, ob dieser Ort nur Durchreisestation oder Ort eines längeren Aufenthalts war. Im letztgenannten Fall kommt in Betracht, dass die äthiopischen Behörden in der Registrierung ein aktives Ausüben der eritreischen Staatsangehörigkeit sehen, der zum Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit geführt hat.
183Schröder, Stellungnahme vom 3. April 2019, a. a. O., S. 34 (Rn. 153 f.).
184ee) Mit den vorstehend zu aa) bis dd) getroffenen tatsächlichen Feststellungen unvereinbar ist die abweichende Auffassung erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte, die Staatsangehörigkeit der äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung sei durch eine aktive Ausübung der eritreischen Staatsangehörigkeit in der Zeit zwischen Mai 1998 und dem 23. Dezember 2003 schon deshalb unberührt geblieben, weil die Verlusttatbestände in den Art. 19 ff. äthStAG nur auf solche Tatsachen und Vorgänge gestützt werden könnten, die nach dem 23. Dezember 2003 eingetreten seien. Das folge schon daraus, dass sich das äthStAG keine Rückwirkung beimesse und ohne Übergangsregelung gelte. „Die vorbezeichnete Auslegung“ erschließe sich ferner auch deshalb, da Art. 26 äthStAG bestimme, dass derjenige, der bis zum Inkrafttreten des äthStAG gemäß dem äthStAG 1930 die äthiopische Staatsangehörigkeit innegehabt habe, auch weiterhin äthiopischer Staatsangehöriger bleibe.
185VG Arnsberg, Urteil vom 24. Oktober 2014, a. a. O., Rn. 98 ff; vgl. auch das bei Sächs. OVG, a. a. O., Rn. 15, wiedergegebene Urteil des VG Chemnitz vom 23. März 2018 ‑ 2 K 2902/17.A ‑ betreffend einen Umzug in ein Flüchtlingslager für Eritreer in Äthiopien (in der Tendenz bejaht).
186Auch diese Auffassung beruht auf der oben schon mehrfach angesprochenen methodisch unzutreffenden Prämisse, als deutsches Verwaltungsgericht zu einer eigenen Auslegung der Art. 19 ff. äthStAG unter Heranziehung von im deutschen Recht gebräuchlichen Auslegungsmethoden berechtigt zu sein. Sie lässt zudem die Direktive vom 19. Januar 2004 sowie die oben getroffenen Feststellungen zur Handhabung des Verlusttatbestandes in Art. 20 Abs. 3 äthStAG in der Praxis unberücksichtigt. Diese Anwendungspraxis war, wie ausgeführt, gerade auf eine rückwirkende staatsangehörigkeitsrechtliche Bewertung des Verhaltens des jeweils betroffenen Personenkreises in Bezug auf die eritreische Staatsangehörigkeit in der Zeit zwischen dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ vom 6. April 1992 und dem 19. Januar 2004 gerichtet. Ebenso wie die oben zu aa) angesprochene abweichende Rechtsprechung ist auch diese abweichende Auffassung nicht nur methodisch, sondern auch im Ergebnis zu beanstanden. Denn sie stuft die betroffenen Personen aus Rechtsgründen als äthiopische Staatsangehörige ein, obwohl die maßgebliche Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden sie als ausschließlich eritreische Staatsangehörige behandelt, die durch die aktive Ausübung der eritreischen Staatsangehörigkeit ihre äthiopische Staatsangehörigkeit verloren haben.
187ff) Am Maßstab der oben zu dd) getroffenen generalisierenden Tatsachenfeststellungen haben die Kläger zu 1. und 2. ihre durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit weder durch ihre Ausreise in den Sudan in den Jahren 1998 und 2001 noch in den Jahren danach verloren. Insoweit folgt der Senat im Ergebnis der Feststellung des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Urteil betreffend diese beiden Kläger (juris, Rn. 69), sie hätten sich weder aktiv für den Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit eingesetzt, noch hätten sie in der Folgezeit Rechte aus dieser Staatsangehörigkeit ausgeübt. Da sie das Gebiet des späteren unabhängigen Staates Eritrea nach ihren Angaben schon 1988 (Klägerin zu 2.) und 1992 (Kläger zu 1.), also vor der Unabhängigkeit am 24. Mai 1993 verlassen hatten, gab es bei ihnen insbesondere keinen vorangegangenen Aufenthalt im neu entstandenen unabhängigen Staat Eritrea, den die äthiopischen Behörden auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 3 Buchstabe a) äthStAG als eine zum Verlust ihrer äthiopischen Staatsangehörigkeit führende aktive Ausübung von Rechten aus der eritreischen Staatsangehörigkeit hätten werten können.
1883. Besitzen die Kläger zu 1. und 2. hiernach die äthiopische Staatsangehörigkeit, ist für alle Streitgegenstände des vorliegenden Rechtsstreits unerheblich, ob ihre Behauptung zutrifft, daneben auch die eritreische Staatsangehörigkeit zu besitzen.
189Das gilt zunächst für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Personen, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten besitzen, kann die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn sie den Schutz eines der Länder ihrer Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmen können. Das ergibt sich aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes, der den einschlägigen Normen sowohl der RL 2011/95/EU als auch des AsylG zugrunde liegt.
190BVerwG, Beschlüsse vom 18. Dezember 2019, a. a. O., Rn. 13, und vom 14. Juni 2005 ‑ 1 B 142.04 ‑, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 307, juris, Rn. 4; vgl. auch Urteil vom 2. August 2007 ‑ 10 C 13.07 ‑, BVerwGE 129, 155, juris, Rn. 9 (zur RL 2004/83/EG); VG Arnsberg, Urteil vom 24. Oktober 2014, a. a. O., Rn. 38.
191Dasselbe gilt auch für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.
192Sächs. OVG, a. a. O., Rn. 18.
193Für das Begehren der Kläger zu 1. und 2. auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 und 3 AufenthG hinsichtlich des Staates Eritrea besteht aus den eingangs schon näher ausgeführten Gründen kein Rechtsschutzbedürfnis.
1944. Auch der am XX. Dezember 2016 in N1. geborene Kläger zu 3. hat durch seine Geburt von äthiopischen Eltern die äthiopische Staatsangehörigkeit erworben. Rechtsgrundlage dieses Erwerbs war Art. 3 Abs. 1 äthStAG, wonach äthiopischer Staatsangehöriger durch Abstammung ist, wessen beide Eltern oder wessen ein Elternteil äthiopischer Staatsangehöriger ist. Diese Voraussetzungen lagen nach dem oben Ausgeführten im Zeitpunkt seiner Geburt vor. Die Ausführungen zu oben 3. zur Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes und zum Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses für die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote in Bezug auf Eritrea gelten unter diesen Umständen auch für den Kläger zu 3.
195II. Ist hiernach die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien das Herkunftsland der Kläger im Sinn des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a) AsylG, so droht ihnen dort keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung.
196Gemäß § 3a Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Diese Legaldefinition der Verfolgungshandlung setzt die Vorgaben aus Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU um. § 3a Abs. 2 AsylG nennt einzelne Regelbeispiele von Verfolgungshandlungen, die nicht abschließend sind und die im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU stehen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut voraus.
197BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 31.18 ‑, a. a. O., Rn. 12, und vom 19. April 2018, a. a. O., Rn. 11.
198§ 3b Abs. 1 AsylG konkretisiert die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe (Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe). Gemäß § 3b Abs. 2 AsylG ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob dieser tatsächlich die flüchtlingsschutzrelevanten Merkmale aufweist, sofern ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
199Die Verfolgungshandlung muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgungshandlung „wegen“ eines Verfolgungsgrundes erfolgt, mithin auf einen der in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe zurückgeht, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.
200BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 31.18 ‑, a. a. O., Rn. 14, und vom 19. April 2018, a. a. O., Rn. 13.
201Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinn einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU neben sämtlichen mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen unter anderem das maßgebliche Vorbringen des Antragstellers und dessen individuelle Lage zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint.
202BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 31.18 ‑, a. a. O., Rn. 16, und vom 19. April 2018, a. a. O., Rn. 14.
203Nach diesen Maßstäben drohen bei einer Rückkehr nach Äthiopien weder dem Kläger zu 1. (1.) noch der Klägerin zu 2. (2.) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die in § 3 Abs. 1, 3a Abs. 1 AsylG bezeichneten Gefahren.
2041. Dem Kläger zu 1. droht in Äthiopien flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung weder wegen seiner eritreischen Abstammung (a) noch wegen seiner geltend gemachten exilpolitischen Betätigung (b) noch wegen einer etwaigen Wehrdienstleistung (c) noch wegen seiner Asylantragstellung in Deutschland (d) noch wegen einer Einreiseverweigerung (e).
205a) Wegen seiner eritreischen Abstammung droht dem Kläger zu 1. in Äthiopien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung. Unter diesem Gesichtspunkt macht er ohne Erfolg als Ausreisegrund geltend, Soldaten der Kebele hätten ihm mit Verhaftung gedroht, weil er Eritreer sei. Hierzu hat bereits das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend ausgeführt, dass ihm wegen eines solchen, hier in das Jahr 2001 zu datierenden Vorfalls heute keine an seine eritreische Herkunft anknüpfende Verfolgung mehr droht (juris, Rn. 76 f.). Der Senat teilt die generalisierende Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts, dass äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung jedenfalls seit dem Abschluss des Friedensabkommens zwischen Eritrea und Äthiopien im Anschluss an die „Gemeinsame Erklärung über Frieden und Freundschaft“ vom 9. Juli 2018,
206Joint Declaration of Peace and Friendship vom 9. Juli 2018, Wortlaut: http://www.shabait.com/news/local-news/26639-joint-declaration-of-peace-and-friendship-between-eritrea-and-ethiopia (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020), vgl. dazu AA, Lagebericht Eritrea vom 27. Januar 2020, S. 8,
207keine an eine tatsächliche oder vermeintliche eritreische oder halberitreische Abstammung anknüpfenden Verfolgungsmaßnahmen mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
208Ebenso BayVGH, Beschluss vom 4. Juli 2019 ‑ 8 ZB 19.32389 ‑, juris, Rn. 12.
209b) Dem Kläger zu 1. droht in Äthiopien insbesondere auch wegen seiner behaupteten Mitgliedschaft in der Eritrean Democratic Party (EDP) in Frankfurt am Main und wegen seiner Teilnahme an einem dortigen Treffen am 5. März 2017 nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an den Merkmalen des § 3 Abs. 1 AsylG ausgerichtete, flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung. Äthiopische Staatsangehörige sind jedenfalls seit der Entkriminalisierung der politischen Opposition in Äthiopien seit April 2018 im Fall ihrer Rückkehr ohne Hinzutreten besonderer Umstände nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen bedroht, weil sie Mitglied in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation sind und/oder für eine solche Organisation an Demonstrationen oder Versammlungen teilgenommen haben. Hiermit folgt der Senat den entsprechenden generalisierenden Tatsachenfeststellungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. An den anderslautenden Feststellungen des beschließenden Gerichts aus der Zeit vor April 2018 hält er nicht fest.
210BayVGH, Urteile vom 12. Dezember 2019 ‑ 8 B 19.31004 ‑, juris, Rn. 38, und vom 13. Februar 2019 ‑ 8 B 17.31645 ‑, juris, Rn. 43; Beschluss vom 4. März 2019 ‑ 8 ZB 17.31817 ‑, juris, Rn. 5; VG Ansbach, Urteil vom 15. Januar 2020 ‑ AN 9 K 17.30574 ‑, juris, Rn. 28; aus der Zeit vor April 2018: OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 ‑ 8 A 4063/06.A ‑, juris, Rn. 75-97.
211Abgesehen davon ist die EDP eine Partei der eritreischen, nicht der äthiopischen Exilopposition. Ihre exilpolitischen Aktivitäten richten sich gegen den eritreischen Staat, in dem die Partei verboten ist, nicht gegen den äthiopischen Staat. Im Gegenteil hat sie ebenso wie andere eritreische oppositionelle Gruppierungen im Ausland wegen ihrer Nähe zur äthiopischen Regierung keine nennenswerte Anhängerschaft in der Bevölkerung Eritreas.
212AA, Lagebericht Eritrea vom 25. Februar 2018, S. 9, 14 f.
213c) Dem heute 30 Jahre alten Kläger zu 1. droht flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung weiter nicht im Zusammenhang mit einer etwaigen Wehrdienstleistung in der äthiopischen Armee. In Äthiopien existiert keine Wehrpflicht. Die äthiopischen Streitkräfte sind eine Freiwilligenarmee, zu deren Dienst man sich ab einem Mindestalter von 18 Jahren durch Vertrag für eine bestimmte Anzahl von Jahren verpflichten kann. Die Mindestverpflichtungszeit beträgt zwei Jahre. Die Nachwuchsgewinnung bereitet u. a. wegen der vergleichsweise guten Bezahlung sowie einer teilweise auch zivilberuflich nutzbaren Ausbildung keine Probleme.
214AA, Lagebericht Äthiopien vom 24. April 2020, S. 15; Auskunft vom 29. Juli 2019 an BayVGH, S. 2.
215d) Dem Kläger zu 1. droht flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung weiter nicht wegen seiner Asylantragstellung in Deutschland. Die bloße Asylantragstellung im Ausland bleibt für einen äthiopischen Staatsangehörigen ohne flüchtlingsschutzerhebliche Konsequenzen. Unter den Fällen von freiwilligen Rückkehrern und zwangsweise rückgeführten Personen äthiopischer Staatsangehörigkeit aus Europa sind keine Fälle bekannt geworden, in denen zurückgekehrte Äthiopier Benachteiligungen ausgesetzt waren oder diese gar festgenommen oder misshandelt worden wären. Im direkten persönlichen und familiären Umfeld wird eine Rückkehr jedoch häufig als Scheitern gewertet. Daher suchen einige der zwangsweise nach Äthiopien zurückgeführten Personen erneut den Weg nach Europa.
216AA, Lagebericht Äthiopien vom 24. April 2020, S. 23; ebenso VG München, Urteil vom 15. März 2019 ‑ M 12 K 17.70231 ‑, juris, Rn. 53.
217e) Keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung droht dem Kläger zu 1. schließlich auch unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Einreiseverweigerung durch die äthiopischen Auslandsvertretungen gegenüber Personen eritreischer Abstammung. Äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung droht regelmäßig keine Einreiseverweigerung durch die äthiopischen Auslandsvertretungen und Grenzkontrollbehörden.
218Eine Einreiseverweigerung durch Behörden des Herkunftsstaates kann eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung sein, wenn sie an einen der Verfolgungsgründe des § 3b AsylG, Art. 10 Abs. 1 RL 2011/95/EU anknüpft und wenn sie sich als schwerwiegende Verletzungshandlung im Sinn von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 9 Abs. 1 Buchstabe a) RL 2011/95/EU darstellt.
219So zur Ausbürgerung unter Geltung der RL 2004/83/EG BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2009, a. a. O., Rn. 17 ff.; grundlegend zu Einreiseverweigerungen und Abschiebungsmaßnahmen des Herkunftsstaates BVerwG, Urteile vom 15. Oktober 1985 ‑ 9 C 30.85 ‑, NVwZ 1986, 759, juris, Rn. 12, und vom 12. Februar 1985 - 9 C 45.84 ‑, NVwZ 195, 589, juris, Rn. 11; ferner VG Düsseldorf, Urteil vom 21. März 2019, a. a. O., Rn. 87 ff.; VG Berlin, Urteil vom 28. Februar 2019 ‑ 28 K 247.17 A ‑, juris, Rn. 58.
220Für die Beurteilung der Schwere der Rechtsverletzung im Einzelfall kann, soweit es um eine Ausbürgerung oder eine Einreiseverweigerung durch Behörden des Herkunftsstaates geht, auch von Bedeutung sein, ob und in welchem Maße sich der Betroffene um die Aufhebung der Ausbürgerung und die Wiedererlangung der ihm entzogenen Staatsangehörigkeit oder um deren Nachweis zur Erlangung notwendiger Einreisepapiere bemüht hat, gegebenenfalls auch welche Gründe ihn hiervon abgehalten haben. Eine Einreiseverweigerung durch Behörden des Herkunftsstaates kann nur dann eine schwerwiegende Verletzungshandlung im Sinn von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 9 Abs. 1 Buchstabe a) RL 2011/95/EU sein, wenn sich der Betroffene nachweislich ernsthaft und erfolglos um die (Wieder-)Erlangung der verweigerten Rechte bemüht hat.
221BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2009, a. a. O., Rn. 21; VG Düsseldorf, Urteil vom 21. März 2019, a. a. O., Rn. 89; VG Berlin, Urteil vom 28. Februar 2019 ‑ 28 K 247.17 A ‑, juris, Rn. 59.
222In der Praxis der äthiopischen Auslandsvertretungen ist allein die eritreische Abstammung schon seit vielen Jahren kein Grund mehr, einem äthiopischen Staatsangehörigen die Ausstellung von Reisepapieren für die Einreise nach Äthiopien zu verweigern. Auf den oben unter I. 2. c) dd) beschriebenen, seit spätestens Ende 2006 vollzogenen Politikwandel der damaligen äthiopischen Regierung gegenüber den äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung ist auch in diesem rechtlichen Zusammenhang hinzuweisen. Sofern eine solche Person ihre äthiopische Staatsangehörigkeit nachweist und ein gültiges äthiopisches Reisedokument besitzt, kann sie problemlos nach Äthiopien zurückkehren und sind ihre Abstammung und ihr früherer Wohnort in Äthiopien unerheblich. Dies gilt sowohl für die Gesetzeslage als auch für die Handhabung in der Praxis. Die Einreise wird nur solchen Personen verweigert, die nicht im Besitz gültiger, von der äthiopischen Auslandsvertretung ausgestellter Reisepapiere sind. Abgelaufene Dokumente müssen daher vor der Rückkehr von der zuständigen äthiopischen Auslandsvertretung erneuert oder verlängert werden. Rückkehrwillige äthiopische Staatsangehörige, auch solche eritreischer Herkunft, die über keine Reisepapiere verfügen, können sich von der Auslandsvertretung ein Laissez-Passer zur einmaligen Einreise nach Äthiopien ausstellen lassen, für das sie, falls vorhanden, Kopien von heimatlichen Identitätsdokumenten, Ausweisen oder Schuldiplomen einreichen müssen. Fehlen die notwendigen Unterlagen, kann die betroffene Person bei der Auslandsvertretung vorsprechen, den Verlust begründen und ein Gesuch um neue Dokumente stellen. Entsprechende Gesuche werden an die föderalen Behörden in Addis Abeba weitergeleitet.
223AA, Lagebericht Äthiopien vom 18. Dezember 2012, S. 25 f.; Auskunft vom 4. Dezember 2006 an das VG Magdeburg, S. 1; BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, S. 11; so im Grundsatz auch GIGA Institut für Afrika-Studien, Auskunft an VG Sigmaringen vom 13. August 2009, S. 2 f.
224Dass die äthiopischen Auslandsvertretungen die Ausstellung eines Reisepapiers vom Nachweis der Identität und der äthiopischen Staatsangehörigkeit durch geeignete Dokumente abhängig machen, ist flüchtlingsschutzrechtlich unbedenklich und entspricht international üblichen Gepflogenheiten. Diesen Nachweis können äthiopische Staatsangehörige durch Vorlage einer Geburtsurkunde, einer Identitätskarte oder anderer amtlicher Dokumente erbringen, in denen die Namen, die Personendaten und die genaue Anschrift der betreffenden Person enthalten sind (z. B. Führerschein). Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Herkunft sind ebenso wie solche Personen anderer Volkszugehörigkeit in den Kebele-Familienregistern registriert, so dass sie entsprechende Identitätsdokumente und Personenstandsurkunden bei der Gemeindeverwaltung ihres letzten Wohnortes in Äthiopien erhalten können. Auch im Ausland wohnhafte Äthiopier können diese Dokumente erhalten, indem sie sich bei der Kebele, bei der sie zuletzt registriert waren, mit ihrem Reisepass ausweisen. Wenn sie keine äthiopischen Dokumente mehr besitzen, müssen sie über die Botschaft im Aufenthaltsland eine Vollmacht an eine Person in Äthiopien geben. Diese kann damit das gewünschte Dokument von der Kebele-Verwaltung ausstellen lassen. Unbedenklich und zumutbar ist ferner, dass bei den äthiopischen Auslandsvertretungen mit einer mehrwöchigen Prüfungsdauer zu rechnen ist.
225AA, Lagebericht Äthiopien vom 18. Dezember 2012, S. 26; BFM, Focus Äthiopien vom 12. Mai 2010, S. 9; D-A-CH Fact Finding Mission Äthiopien/Somaliland, Bericht von Mai 2010, S. 29 f., 33.
226Die oben unter I. 2. c) dd) bereits erwähnte abweichende Würdigung sachverständiger Stellen auch noch aus der Zeit deutlich nach 2006, die auf teilweise erhebliche Schwierigkeiten äthiopischer Staatsangehöriger eritreischer oder halberitreischer Abstammung bei der Beschaffung äthiopischer Reisedokumente hinweist, ist auch im vorliegenden Zusammenhang nicht überzeugend. Soweit damit lediglich die nach den vorstehenden Ausführungen internationalen Gepflogenheiten entsprechende und daher zumutbare Beschaffung etwa einer Geburtsurkunde als Identitäts- und Staatsangehörigkeitsnachweis gemeint sein sollte, wäre die genannte unspezifische Würdigung ohnehin unbeachtlich. Unabhängig davon ist ihr aus den oben bereits genannten Gründen entgegenzutreten.
2272. Auch der Klägerin zu 2. droht in Äthiopien flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung weder wegen ihrer eritreischen Abstammung (a) noch wegen der behaupteten exilpolitischen Betätigung des Klägers zu 1. (b). In Bezug auf eine Verfolgung der Klägerin zu 2. wegen ihrer Asylantragstellung und wegen einer möglichen Einreiseverweigerung gelten die Ausführungen betreffend den Kläger zu 1. entsprechend (oben unter 1. d) und e)).
228a) Die Klägerin zu 2. hat sich in erster Linie darauf berufen, Äthiopien „als Eritreerin“ verlassen zu haben, als „zwischen beiden Ländern ein Konflikt bestand.“ Insofern gilt auch für sie die oben unter 1. a) getroffene Feststellung, dass äthiopischen Staatsangehörigen jedenfalls seit dem Friedensabkommen vom Sommer 2018 keine an eine tatsächliche oder vermeintliche eritreische oder halberitreische Abstammung anknüpfende Verfolgungsmaßnahmen mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
229b) Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit flüchtlingsschutzerheblicher Verfolgung der Klägerin zu 2. im Sinn des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG folgt weiter nicht aus einer ihr drohenden Reflexverfolgung wegen der exilpolitischen Betätigung des Klägers zu 1. (Übertragung einer Verfolgung auf Familienangehörige). Dem steht entgegen, dass schon dem Kläger zu 1. selbst wegen dieser exilpolitischen Betätigung nach den oben zu 1. b) getroffenen Feststellungen keine an den Merkmalen des § 3 Abs. 1 AsylG ausgerichtete flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht. Unabhängig davon bestanden in Äthiopien schon vor dem politischen Wandel im Sommer 2018 keine Anhaltspunkte für drohende Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Familienangehörigen allein wegen ihrer Verwandtschaft zu einem tatsächlichen oder vermeintlichen Oppositionellen.
230Ebenso Bay. VGH, Beschluss vom 25. Januar 2018 ‑ 8 ZB 17.31884 ‑, juris, Rn. 7; VG Arnsberg, Urteil vom 7. März 2019 ‑ 12 K 7034/17.A ‑, juris, Rn. 96; VG Düsseldorf, Urteile vom 13. Dezember 2018 ‑ 6 K 4004/17.A ‑, juris, Rn. 134‑146, und vom 8. März 2018 ‑ 6 K 3856/17.A ‑, juris, Rn. 53; VG München, Urteil vom 9. August 2017 ‑ M 12 K 17.41853 ‑, juris, Rn. 35.
231Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen lassen es als fernliegend erscheinen, dass sich hieran seit Sommer 2018 etwas geändert haben könnte.
232B. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes (§ 4 Abs. 1 AsylG). Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG unter anderem unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Voraussetzungen erfüllen die Kläger nicht. Sie haben aus den vorstehenden Gründen keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen in ihrem Herkunftsland Äthiopien ein ernsthafter Schaden im Sinn des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG droht. Insbesondere droht ihnen dort weder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinn des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (I.) noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinn des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG (II.).
233I. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinn des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist. Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird.
234EuGH, Urteil vom 30. Januar 2014 ‑ C-285/12 ‑ Diakité, NVwZ 2014, 573, juris, Rn. 35; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 5. März 2020 ‑ A 10 S 1272/17 ‑, juris, Rn. 46 f.; BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2019, a. a. O., Rn. 60.
235Nach diesen Maßstäben weisen die Kläger keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände auf, welche die Annahme rechtfertigen könnten, dass sie in ihrer Herkunftsregion, der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, stärker als die Allgemeinheit von den ethnisch und/oder religiös motivierten gewaltsamen und teilweise tödlichen Zusammenstößen zwischen den Volksgruppen und den Sicherheitskräften betroffen sein könnten, die seit 2017 in Äthiopien in besorgniserregendem Maß zugenommen haben und die sich in den südlichen Grenzgebieten der Bundesstaaten Oromia, SNNP (Southern Nations, Nationalities, and Peoples‘ Region) und Somalia sowie in den Bundesstaaten Benshangul-Gumuz, Amhara und Tigray konzentrieren. Wegen der dort immer wieder vorkommenden bewaffneten Auseinandersetzungen mit teilweise zahlreichen Todesopfern hatte sich die Zahl an Binnenflüchtlingen in Äthiopien allein in der ersten Jahreshälfte 2018 nach einem Teil der Berichte auf mehr als 1,4 Millionen Menschen erhöht. Mittlerweile hat die Regierung in einer großangelegten Rückführungsaktion die meisten Binnenvertriebenen wieder in ihre Heimatgemeinden zurückgebracht.
236Dazu AA, Lagebericht vom 24. April 2020, S. 5 ff., 13, 17; ACCORD, a. a. O., S. 91; Schweizerisches Staatssekretariat für Migration, a. a. O., S. 30 ff.
237Diese bewaffneten Auseinandersetzungen sind größtenteils kleinräumige Ressourcenkonflikte mit langer Vorgeschichte, deren Aufflammen durch einen Autoritätsverlust der regionalen Behörden in der Folge des Machtwechsels auf nationaler Ebene von 2018 begünstigt ist, die aber ohne unmittelbaren Zusammenhang mit diesem Machtwechsel sind und in keiner Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände erreichen. Die Konflikte zwischen Ethnien, wie sie etwa in der Südregion des Bundesstaates Gambela Peoples oder im Grenzgebiet der Siedlungsgebiete von Oromo und Somalia vorkommen, oder die Auseinandersetzungen der Regierung mit bewaffneten Oppositionsbewegungen, insbesondere in Ogaden, haben trotz begrenzten Einflusses und Kontrolle der Zentralregierung in der Somalia-Region keine bürgerkriegsähnliche Intensität erreicht.
238AA, Ad-hoc Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 17. Oktober 2018, S. 19 f.; Schweizerisches Staatssekretariat für Migration, a. a. O., S. 30 ff.; ebenso BayVGH, Urteile vom 12. Dezember 2019, a. a. O., Rn. 61; vom 29. März 2019 ‑ 8 B 18.30276 ‑, juris, Rn. 50, und vom 12. März 2019 ‑ 8 B 18.30252 ‑, juris, Rn. 53, Beschluss vom 4. Juli 2019, a. a. O., Rn. 18; VG Düsseldorf, Urteil vom 21. März 2019, a. a. O., Rn. 113.
239Jedenfalls lässt sich für die Hauptstadt Addis Abeba, in der die Kläger zu 1. und 2. vor ihrer Ausreise aus Äthiopien zuletzt jahrelang gelebt haben, nicht feststellen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass jede Zivilperson im Fall einer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Insbesondere ist die eritreische Abstammung der Kläger kein gefahrerhöhender persönlicher Umstand in diesem Sinn.
240II. Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinn des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG unter dem Gesichtspunkt der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien scheidet schon deswegen aus, weil die Gefahr eines ernsthaften Schadens insoweit nicht von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht. Dazu gehören nur der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder nichtstaatliche Akteure, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten (§§ 3c, 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG).
241Ebenso Bay. VGH, Beschluss vom 29. März 2019 ‑ 8 B 18.30276 ‑, juris, Rn. 47; zum Erfordernis des Ausgehens von diesen Akteuren BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 ‑, juris, Rn. 13 m. w. N.
242C. Die Kläger haben weiter keinen Anspruch auf Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG (I.). Für sie besteht in Äthiopien auch keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit in direkter Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (II.). Ebenso wenig können sie Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 6 AufenthG wegen einer extremen Gefahrenlage beanspruchen (III.).
243I. Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Die unter diesen Gesichtspunkten einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverwaltungsgerichts ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) erreichen, um ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK zu begründen.
244EuGH, Urteil vom 16. Februar 2017 ‑ C-578/16 ‑, juris, Rn. 68; EGMR, Urteil vom 13. Dezember 2016 ‑ Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien ‑, Rn. 174; BVerwG, Beschlüsse vom 28. Januar 2020 ‑ 1 B 4.20 ‑, juris, Rn. 4, und vom 8. August 2018 ‑ 1 B 25.18 ‑, juris, Rn. 9.
245Unter diesem Gesichtspunkt haben die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebezielstaat weder notwendigen noch ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach dieser Rechtsprechung allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK annehmen zu können. Anderes gilt nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen.
246BVerwG, Beschlüsse vom 13. Februar 2019, a. a. O., Rn. 6, und vom 8. August 2018, a. a. O., Rn. 11.
247Die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen in Äthiopien können hiernach nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen auf ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK führen. Zur Sicherung des existentiellen Lebensunterhalts nehmen 7 Mio. Menschen in Äthiopien ein staatliches Sozialprogramm zur Ernährungssicherung in Anspruch. Die Behandlung akuter Erkrankungen ist durch eine medizinische Basisversorgung gewährleistet.
248AA, Lagebericht vom 24. April 2020, S. 21 ff.
249Nach diesen Maßstäben laufen die Kläger im Fall einer Rückkehr nach Äthiopien nicht tatsächlich Gefahr, dort einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
250II. Den Klägern droht bei einer Abschiebung nach Äthiopien auch keine individuelle erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde. Die allgemeinen Lebensbedingungen in Äthiopien, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage sind allgemeine Gefahren, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen können.
251III. Die Kläger wären nach den Umständen des vorliegenden Einzelfalls bei einer Rückkehr nach Äthiopien auch nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst in so erheblicher Weise von einer extremen allgemeinen Gefahrenlage betroffen, dass ihnen nationaler Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 6 AufenthG zu gewähren ist.
252D. Die vom Bundesamt verfügte Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung mit der Zielstaatsbestimmung Äthiopien in Nr. 5 des Bescheides steht im Einklang mit §§ 34 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG.
253E. Die Befristung des gesetzliche Einreise- und Abschiebungsverbotes in Nr. 6 des Bescheides entspricht § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 AufenthG und lässt keinen Ermessensfehler erkennen.
254Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
255Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
256Der Senat lässt die Revision nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen. Insbesondere kommt dem Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu. Die Rechtsfragen betreffend die Ermittlung ausländischen Rechts durch die Tatsachengerichte sind durch die unter A. I. zitierten Entscheidungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt.