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Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- € festgesetzt.
G r ü n d e :
2Die Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg.
3Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen nicht zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung, mit der das Verwaltungsgericht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat,
4Videoaufnahmen und Videoaufzeichnungen auf dem X. Platz in L. -N. am 14. März 2020 zwischen 15 Uhr bis 18 Uhr durch die dort befindliche stationäre polizeiliche Videoanlage nach außen erkennbar mittels mechanischer Sperren an den Videokameras, z. B. durch das Verhüllen mit einer Mülltüte oder durch das Verwenden einer blickdichten Folie, unmöglich zu machen.
5Der Antragsgegner legt nicht dar, dass die Voraussetzungen des § 123 Abs. 1,Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 294 ZPO bei der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung nicht gegeben sind.
61. a) Der Antragsgegner kann gegen das Bestehen eines Anordnungsanspruchs nicht mit Erfolg einwenden, dass die am X1. Platz im Rahmen einer offenen Videobeobachtung fest installierten Kameras (insgesamt acht, davon vier an Kamerastandorten [Masten]) in Bezug auf die in Rede stehende Versammlung keinen Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG darstellen.
7Versammlungen sind durch Art. 8 Abs. 1 GG als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung geschützt und stellen eine für die Demokratie unentbehrliche Form der Meinungsäußerung und Meinungsbildung dar. Art. 8 Abs. 1 GG schützt den gesamten Vorgang des Sich-Versammelns. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit kann auch durch faktische Maßnahmen beeinträchtigt werden, wenn diese in ihrer Intensität imperativen Maßnahmen gleichstehen und eine abschreckende oder einschüchternde Wirkung entfalten bzw. geeignet sind, die freie Willensbildung und die Entschließungsfreiheit derjenigen Personen zu beeinflussen, die an Versammlungen teilnehmen (wollen).
8Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. November 2015- 2 BvQ 39/15 -, juris Rn. 11, und vom 11. Juni 1991 - 1 BvR 772/90 -, juris Rn. 16 ff.; BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017 - 6 C 46.16 -, juris Rn. 28 und 31 f.; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019- 15 A 4753/18 -, juris Rn. 55.
9Ob dies der Fall ist, kann nur aufgrund einer Würdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls anhand eines objektiven Beurteilungsmaßstabs festgestellt werden. Dabei ist nicht die subjektive Bewertung einzelner konkret betroffener Personen maßgeblich. Vielmehr ist schon aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsanwendungsgleichheit ein objektiver Beurteilungsmaßstab anzulegen und auf die Sichtweise eines sog. verständigen Dritten abzustellen. Entscheidend ist, ob ein vernünftiger Mensch in der Situation des oder der Betroffenen ernsthaft in Betracht ziehen würde, aufgrund der staatlichen Maßnahme von der Teilnahme an der (bevorstehenden) Versammlung in der geplanten Form Abstand zu nehmen.
10Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017- 6 C 46.16 -, juris Rn. 31 und 33; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019 - 15 A 4753/18 -, juris Rn. 57.
11Dabei ist die Anfertigung von Übersichtsaufzeichnungen von einer Versammlung mit Foto- und/oder Videotechnik nach dem heutigen Stand der Technik für die Aufgezeichneten immer ein Grundrechtseingriff, weil die Einzelpersonen auch in Übersichtsaufzeichnungen in der Regel individualisierbar mit erfasst sind. Sie können, ohne dass technisch weitere Bearbeitungsschritte erforderlich sind, durch schlichte Fokussierung erkennbar gemacht werden, so dass einzelne Personen identifizierbar sind. Ein prinzipieller Unterschied zwischen Übersichtsaufzeichnungen und personenbezogenen Aufzeichnungen besteht diesbezüglich, jedenfalls nach dem Stand der heutigen Technik, nicht.
12Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009- 1 BvR 2492/08 -, juris Rn. 130; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019 - 15 A 4753/18 -, juris Rn. 59; ebenso VerfGH Berlin, Urteil vom 11. April 2014 - 129/13 -, juris Rn. 48.
13Die polizeiliche Erstellung von Übersichtsaufzeichnungen führt daher zu gewichtigen Nachteilen. Sie begründet für Teilnehmer an einer Versammlung das Bewusstsein, dass ihre Teilnahme und die Form ihrer Beiträge unabhängig von einem zu verantwortenden Anlass festgehalten werden können und die so gewonnenen Daten über die konkrete Versammlung hinaus verfügbar bleiben. Dabei handelt es sich überdies um sensible Daten. In Frage stehen Aufzeichnungen, welche die gesamte - möglicherweise emotionsbehaftete - Interaktion der Teilnehmer optisch fixieren und geeignet sind, Aufschluss über politische Auffassungen sowie weltanschauliche Haltungen zu geben. Das Bewusstsein, dass die Teilnahme an einer Versammlung in dieser Weise festgehalten wird, kann Einschüchterungswirkungen haben, die zugleich auf die Grundlagen der demokratischen Auseinandersetzung zurückwirken. Wer damit rechnet, dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und dass ihm dadurch persönliche Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf die Ausübung seines Grundrechts verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil die kollektive öffentliche Meinungskundgabe eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten demokratischen und freiheitlichen Gemeinwesens ist.
14Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009- 1 BvR 2492/08 -, juris Rn. 131; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019 - 15 A 4753/18 -, juris Rn. 61.
15Dies gilt auch für "flüchtige", d. h. nicht gespeicherte Aufnahmen bzw. Bildübertragungen.
16Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019- 15 A 4753/18 -, juris Rn. 63; Nds. OVG, Urteil vom 24. September 2015 - 11 LC 215/14 -, juris Rn. 22; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 5. Februar 2015 - 7 A 10683/14 -, juris Rn. 31; VG Berlin, Urteile vom 26. April 2012 - 1 K 818.09 -, juris Rn. 23 ff., und vom 5. Juli 2010 - 1 K 905.09 -, juris Rn. 15 f.; VG Münster, Urteil vom 21. August 2009 - 1 K 1403/08 -, juris Rn. 15; Kniesel, in: Dietel/Gintzel/Kniesel, VersG, 18. Aufl. 2019, § 12a Rn. 9; anderer Ansicht Enders, in: Dürig-Friedl/Enders, VersG, 2016, § 12a Rn. 6.
17Ohne Eingriffsqualität können demgegenüber unter Umständen bloße Übersichtsaufnahmen sein, die erkennbar der Lenkung eines Polizeieinsatzes namentlich von Großdemonstrationen dienen und hierfür erforderlich sind, oder die reine Beobachtung durch begleitende Beamte.
18Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019- 15 A 4753/18 -, juris Rn. 65, Beschluss vom 23. November 2010 - 5 A 2288/09 -, juris Rn. 4, unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985- 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 -, juris Rn. 70 - Brokdorf -, wonach der staatsfreie unreglementierte Charakter einer Demonstration nicht durch "exzessive Oberservationen und Registrierungen" verändert werden darf; kritisch zu Übersichtsaufnahmen auch Koranyi/Singelnstein, NJW 2011, 124, 126.
19Gemessen an diesen Maßstäben ist die Annahme des Verwaltungsgerichts, es liege ein Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG vor, bei summarischer Betrachtung nicht zu beanstanden.
20Maßgeblich für diese Einschätzung ist, dass die Versammlungsteilnehmer nicht bzw. nicht hinreichend verlässlich erkennen können, ob die Kamerainstallation während der Versammlung in Betrieb ist oder nicht. Dies konzediert auch der Antragsgegner. Dass er die Kameras bei Versammlungslagen aufgrund einer entsprechenden Anweisung grundsätzlich abschaltet und die Aufzeichnungen einstellt, in die Versammlungsbestätigung einen diesbezüglichen Hinweis aufnimmt und dass der für die Versammlung zuständige Polizeiführer der Videozentrale rechtzeitig vor Versammlungsbeginn mitteilt, dass Bildübertragung und -aufzeichnung einzustellen sind, dürfte nichts an dem - ausschlaggebenden - objektiven Befund einer potentiellen Einschüchterungs- und Abschreckungswirkung der Kameras ändern. Denn diese Vorgehensweise ist den Versammlungsteilnehmern sowie Teilnahmeinteressierten nicht notwendig bekannt.
21Es ist bei summarischer Prüfung unerheblich, dass die Kamerainstallation im Normalbetrieb keinen versammlungsspezifischen Bezug hat. Denn jedenfalls greift sie nach den dargelegten Maßstäben bei Durchführung einer Versammlung auf der observierten Fläche in die Versammlungsfreiheit ein.
22Die Kamerainstallation weist aufgrund ihres sichtbaren Vorhandenseins während der Versammlung einen räumlichen und zeitlichen Versammlungsbezug auf, mit dem der besagte potentielle - objektive - Einschüchterungs- und Abschreckungseffekt losgelöst von der eigentlichen Zweckrichtung der Kamerabeobachtung verknüpft ist. Da die Zielrichtung der Kamerapräsenz nicht offen zu Tage tritt, kann deren Eingriffscharakter prinzipiell nicht davon abhängen, wie es die Beschwerde postuliert, ob die Sicherheitsbehörden diese gerade aus Anlass der Versammlung herstellen. Aus der Sicht der Versammlungsteilnehmer ist ebenso gut denkbar, dass die Polizei die- aus an sich versammlungsunabhängigen Gründen - vorhandenen Kameras nutzt, um ein sich vor diesen Kameras entfaltendes Versammlungsgeschehen zu beobachten und aufzunehmen.
23Dass das Selbstbestimmungsrecht des Versammlungsveranstalters dadurch zu einer unverhältnismäßigen Beeinträchtigung der staatlichen Befugnisse führen könnte, ist nicht zu befürchten. Der Antragsgegner trägt selbst vor, dass die Kameras während eines Versammlungsgeschehens grundsätzlich abgeschaltet werden. Dass eine konkrete Gefahrensituation vorliegt oder sich entwickeln könnte, die den jederzeitigen und sofortigen Zugriff auf die installierten Kameras erforderte, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.
24b) Nach Lage der Dinge ist dem Antragsgegner nicht darin zu folgen, dass eine Abdeckung der Kameras praktisch nicht umsetzbar wäre. Gerade die Option eines Verhüllens mit Mülltüten, Folien o. ä. stellt sich mit den der Polizei zur Verfügung stehenden bzw. leicht beschaffbaren technischen Mitteln als machbar dar. Eine derartige Maßnahme wäre für die Versammlungsteilnehmer auch ohne Weiteres erkennbar.
252. Gegen das Bestehen eines die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden Anordnungsgrunds wendet der Antragsgegner ebenfalls nichts Durchgreifendes ein. Würde die einstweilige Anordnung nicht ergehen, bestünde der Eingriff in Art. 8Abs. 1 GG im Hinblick auf die für morgen angemeldete Versammlung fort. Er kann augenscheinlich nicht anders als durch die ergangene einstweilige Anordnung abgewendet werden. Der Zeitpunkt der Antragstellung durch die Antragsteller ist für diese Wertung nicht relevant, zumal eine Bescheidung des am 6. März 2020 gestellten Antrags dem Antragsgegner im Lauf dieser Woche noch möglich gewesen sein dürfte.
26Auch die ins Feld geführten wesentlichen Nachteile für die polizeiliche Aufgabenwahrnehmung stehen dem Erlass der einstweiligen Anordnung bei summarischer Prüfung nicht entgegen. Es erscheint als möglich, dass der Antragsgegner die Abdeckung der Kameras - mit Mülltüten, Folien o. ä. - so gestaltet, dass diese kurz vor Beginn der Versammlung angebracht und mit Beendigung der Versammlung wieder entfernt wird. Die polizeiliche Videobeobachtung eines Schwerpunkts der Straßenkriminalität kann vorher und anschließend ungehindert durchgeführt werden. Dass aufgrund dessen - namentlich in Ansehung der streitgegenständlichen Versammlung - absehbar ein unzumutbarer Zeit- und Personalaufwand entsteht, lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen. Während der Versammlung sind Beamte des Antragsgegners ohnehin vor Ort präsent.
27Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
28Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.
29Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).