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Marokkanischen Staatsangehörigen, die vom Islam zum Christentum übergetreten sind und nicht missionieren, drohen im Herkunftsland weder aufgrund der Konversion noch aufgrund der Teilnahme an öffentlichen Gottesdiensten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG.
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens beider Instanzen trägt der Kläger.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Der am 30. März 1978 geborene Kläger ist marokkanischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit. Seinen am 29. Mai 2015 gestellten Asylantrag begründete er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 23. Februar 2016 im Kern wie folgt: Wirtschaftlich sei es ihm in Marokko sehr gut gegangen. Trotzdem habe er Marokko 2015 verlassen. Er sei 2007 zum Christentum übergetreten. In der Folge sei seine Ehe geschieden und es sei ihm verboten worden, seine Tochter zu sehen. Viele Freunde hätten sich aufgrund seines Übertritts zum Christentum von ihm abgewendet. 2007 habe er Christen kennengelernt, er sei mit ihnen auch in die Kirche gegangen. Außerdem habe er Bücher über das Christentum gelesen. Er sei in Marokko auch getauft worden. Die marokkanischen Gesetze würden es Marokkanern verbieten, ihren Glauben zu wechseln. Wenn er die Möglichkeit gehabt habe, sei er auch in Marokko zur Kirche gegangen. Im Wesentlichen habe er seine Religion aber im Verborgenen ausgeübt. Mit der Polizei habe er grundsätzlich keine Probleme gehabt. Allerdings sei er zweimal von Polizisten beim Verlassen einer Kirche angehalten worden. Sie hätten ihn gefragt, was er als Marokkaner in der Kirche gemacht habe, und hätten ihn gewarnt, er solle „aufpassen“. Ein anderer marokkanischer Christ sei wegen seiner Religion zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. 2014 sei er während des Ramadan an einem Unfall beteiligt gewesen. Da er kurz vor dem Unfall etwas Wasser getrunken habe, habe man ihm die Schuld an dem Unfall gegeben. Seitdem habe er Angst. In Marokko sei er Katholik gewesen. In Deutschland sei er in die evangelische Kirche eingetreten. Die Unterschiede zwischen den Konfessionen seien nicht so groß. Als Katholik hätte er nur erneut heiraten können, wenn seine letzte Frau verstorben wäre. Außerdem sei seine seinerzeitige Freundin, die er am 28. September 2017 geheiratet hat, evangelisch. Der Kläger legte eine Mitgliedsbescheinigung der C. -Gemeinde C1. vor.
3Mit Bescheid vom 26. Februar 2016, dem Kläger zugestellt am 3. März 2016, lehnte das Bundesamt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) wie auch die Anerkennung als Asylberechtigter (Ziffer 2) als offensichtlich unbegründet, die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) als einfach unbegründet ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Darüber hinaus drohte das Bundesamt dem Kläger die Abschiebung nach Marokko an (Ziffer 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die von der Umgebung des Klägers geäußerte Kritik an seiner religiösen Einstellung und der damit für diesen verbundene Ärger reichten für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht aus.
4Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 9. März 2016 Klage erhoben und um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht (10 L 438/16.A). Zur Begründung hat er ausgeführt: Die in der marokkanischen Verfassung garantierte Religionsfreiheit werde nicht gelebt. Dies gelte insbesondere für die Marokkaner, die vom Islam zum Christentum konvertiert seien. Das Aufgeben des muslimischen Glaubens stehe unter Strafe. Konvertiten würden faktisch rechtlos gestellt und müssten ihre Religion heimlich ausüben, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
5Der Kläger hat beantragt,
6die Beklagte unter Aufhebung von Ziffern 1 und 3 bis 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26. Februar 2016 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise ihm subsidiären Schutz zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
7Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
8die Klage abzuweisen,
9und sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung bezogen.
10Mit Beschluss vom 22. März 2016 – 10 L 438/16.A – hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage gegen die im angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung angeordnet.
11In den mündlichen Verhandlungen vom 23. September 2016 und 13. Juli 2018 hat das Verwaltungsgericht den Kläger zu seinem Übertritt zum Christentum und seinen Glaubensvorstellungen befragt. Außerdem hat es eine schriftliche Auskunft des Pfarrers N. -H. von der C. -Gemeinde C1. eingeholt. Dieser hat mit Schreiben vom 7. Dezember 2016 u. a. ausgeführt, dass der Kläger mehrmals im Monat an Gottesdiensten teilnehme und u. a. bei Gemeindeveranstaltungen Kontakt zu anderen Mitgliedern der Gemeinde habe. Der Kläger sei in Marokko von einem katholischen Christen getauft worden. Diese Taufe werde anerkannt, eine erneute Taufe sei grundsätzlich nicht möglich.
12Mit dem angegriffenen Urteil hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 1 und 3 bis 5 des Bescheids des Bundesamts vom 26. Februar 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG lägen vor. Der Kläger habe einen Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 AsylG glaubhaft gemacht. Er sei bereits vor seiner Ausreise zum Christentum übergetreten und der Übertritt beruhe auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel. Der Besuch des Gottesdienstes präge seine religiöse Identität als zentrales Element und sei für ihn unverzichtbar. Aufgrund dessen würden ihm in Marokko mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG drohen. Nach den ihm vorliegenden Erkenntnissen seien marokkanische Konvertiten, die ihren Glauben öffentlich ausüben, insbesondere sich öffentlich zum Christentum und ihrer Abkehr vom Islam bekennen und beharrlich auf die Teilnahme an öffentlichen Gottesdiensten in einer Kirche drängen würden, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit physischer Gewalt durch marokkanische Polizisten und/oder einer Inhaftierung wegen des Vorwurfs der Missionierung oder der öffentlichen Kritik am Islam ausgesetzt. Diese Maßnahmen würden auch das gemäß § 3 Abs. 1 AslyG erforderliche Maß erreichen.
13Die Beklagte hat die vom Senat zugelassene Berufung wie folgt begründet: Es sei grundsätzlich klärungsbedürftig, ob Marokkanern, die im Heimatland zum Christentum konvertieren, ohne dort missionarisch tätig zu sein, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG drohe. Dies werde vom weit überwiegenden Teil der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung verneint. Die Auskunftslage sei eindeutig, eine asylrelevante Verfolgung könne nicht festgestellt werden. Insbesondere habe das OVG NRW in seinem Beschluss vom 17. Oktober 2018 – 1 A 2963/17.A – unter Hinweis auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 14. Februar 2018 ausgeführt, dass der Abfall vom Islam in Marokko zwar als Todsünde gelte, aber nicht strafbewehrt sei.
14Die Beklagte beantragt,
15das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
16Der Kläger beantragt,
17die Berufung zurückzuweisen.
18Hinsichtlich des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll der öffentlichen Sitzung des Senats vom 2. Juli 2019 verwiesen.
19Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verfahrensakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (3 Hefte) Bezug genommen.
20Entscheidungsgründe
21Die zulässige Berufung ist begründet.
22Die zulässige Klage ist nicht begründet.
23A. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, § 113 Abs. 5 VwGO.
24Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
25I. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben. Nach Nr. 2 der Bestimmung umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische oder atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten und öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder in Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.
26Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG gelten auch Handlungen als Verfolgung, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 der Vorschrift beschriebenen Weise betroffen ist.
271. Die Regelungen in § 3a Abs. 1 AsylG entsprechen den Bestimmungen in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Richtlinie), die sie ins nationale Recht umsetzen. Unter welchen Voraussetzungen ein Eingriff in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie zu qualifizieren ist, hat der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung konkretisiert. Danach ist die Religionsfreiheit eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft und stellt ein grundlegendes Menschenrecht dar. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie (wie auch § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten.
28Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung darstellt, die die zuständigen Behörden verpflichten würde, denjenigen, der diesem Eingriff ausgesetzt wird, als Flüchtling anzuerkennen. Aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie ergibt sich vielmehr, dass eine „schwerwiegende Verletzung“ dieser Freiheit vorliegen muss, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt, damit die betreffenden Handlungen als Verfolgung gelten können. Somit sind Handlungen, die gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Ausübung des Grundrechts auf Religionsfreiheit im Sinne von Art. 10 Abs. 1 der Charta darstellen, ohne deswegen dieses Recht zu verletzen, von vornherein ausgeschlossen. Sie sind durch Art. 52 Abs. 1 der Charta gedeckt. Handlungen, die zwar gegen das in Art. 10 Abs. 1 der Charta anerkannte Recht verstoßen, aber nicht so gravierend sind, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, können ebenfalls nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und Art. 1 A GFK gelten.
29Vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012– C-71/11 und C-99/11 –, juris, Rn. 57 ff.
302. Um konkret festzustellen, welche Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gelten können, ist nicht zwischen Handlungen zu unterscheiden, die in einen „Kernbereich“ („forum internum“) des Grundrechts auf Religionsfreiheit eingreifen sollen, der nicht die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfasst, und Handlungen, die diesen „Kernbereich“ nicht berühren.
31Diese Unterscheidung ist nicht mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie vereinbar, die alle Komponenten dieses Begriffs, ob öffentlich oder privat, kollektiv oder individuell, einbezieht. Zu den Handlungen, die eine „schwerwiegende Verletzung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Kreis zu praktizieren, sondern auch Eingriffe in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der Schwere ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt ist, und deren Folgen.
32Vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012– C-71/11 und C-99/11 –, juris, Rn. 62 ff.
333. Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Rechts eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie ist, richtet sich deshalb danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
34Vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012– C-71/11 und C-99/11 –, juris, Rn. 66 f.
35Der Europäische Gerichtshof verwendet in der verbindlichen deutschen Sprachfassung des Urteils (vgl. Art. 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs) zwar nur den Begriff „verfolgt", ohne dies ausdrücklich (nur) auf eine strafrechtliche Verfolgung zu beziehen. Es wäre jedoch zirkulär, den Begriff der „asylerheblichen Verfolgung" durch „Verfolgung" zu definieren. Dafür, dass tatsächlich strafrechtliche Verfolgung gemeint ist, spricht zudem der Vergleich der deutschen Fassung mit den französischen, englischen und italienischen Fassungen des Urteils. In allen drei zum Vergleich herangezogenen Sprachfassungen dürfte von strafrechtlicher Verfolgung die Rede sein; eindeutig ist dies in der englischen und italienischen Fassung der Fall. Darüber hinaus ist auch die im Fall der Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der (physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten.
36Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 25.
374. Um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne § 3a Abs. 1 AsylG gelten können, sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht. Da der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie definierte Religionsbegriff auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, umfasst, kann das Verbot einer solchen Teilnahme eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen, wenn sie in dem betreffenden Herkunftsland für den Antragsteller u. a. die tatsächliche Gefahr heraufbeschwört, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei der Prüfung einer solchen Gefahr wird die zuständige Behörde eine Reihe objektiver wie auch subjektiver Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben.
38Vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012– C-71/11 und C-99/11 –, juris, Rn. 68 ff.
39Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z. B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
40Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 28.
41Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr.
42Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013– 10 C 23.12 –, Rn. 28; so auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11, Rn. 82).
43Ein relevanter subjektiver Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Größe der dem Betroffenen in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion drohenden Gefahr ist, ob ihm die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkungen ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Dies gilt auch, wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis kein zentraler Bestandteil für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist. Aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie geht hervor, dass der Schutzbereich sowohl Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft umfasst, die diese für sich selbst als unverzichtbar empfinden, d. h. „die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen“, als auch Verhaltensweisen, die von der Glaubenslehre angeordnet werden, d. h. „nach dieser [Überzeugung] vorgeschrieben sind“.
44Vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012– C-71/11 und C-99/11 –, juris, Rn. 70 f.
45Dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Glaubenspraxis verzichten müsste. Jedoch muss diese für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen – jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat – nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen.
46Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 30.
475. Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung oder Eingriffen in andere Rechtsgüter (z. B. Leben oder Freiheit) aussetzt. Der Europäische Gerichtshof hat in der Entscheidung vom 5. September 2012 (Rn. 69) erklärt, schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich könne eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung sein, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Daher kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf diese Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen.
48Diesem Verständnis der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem Ausländer bei „Ausübung dieser Freiheit" (dort Rn. 67 und 72) bzw. der „religiösen Betätigung" (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut der entsprechenden Vorlagefragen des Bundesverwaltungsgerichts auf, ohne dass darin eine notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubensausübung zu verzichten.
49Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 26 f.; Lübbe, ZAR 2012, 433, 437.
506. Ob eine solche Verfolgung droht, ist im Rahmen einer Gefahrenprognose anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu prüfen.
51Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 –, juris, Rn. 22.
52Das bedeutet, dass die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Im vorliegenden Fall ist maßgeblich, ob der Kläger berechtigterweise befürchten muss, dass ihm aufgrund einer öffentlichen religiösen Betätigung in Marokko, die zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine schwere Rechtsgutverletzung droht, insbesondere die Gefahr, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „...aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie 2011/95/EU: Art. 2 Buchst. d) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
53Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 32.
54II. Dies zugrunde gelegt droht dem Kläger mit Blick auf die nach seiner Konversion zum Christentum für ihn unverzichtbare Art öffentlicher Glaubensausübung– eine entsprechende Glaubhaftmachung unterstellt – (dazu 1.) ausgehend von den zur Verfügung stehenden Erkenntnissen zur Lage von Konvertiten zum Christentum in Marokko (dazu 2.) nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Handlung, die eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG (dazu 3.) oder eine Kumulation ähnlich gravierender Maßnahmen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist (dazu 4.).
55Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – 1 A 2963/17.A –, juris, Rn. 9 (dort mangels Entscheidungserheblichkeit nicht abschließend geklärt); VG Greifswald, Urteil vom 19. September 2017 – 4 A 1408/17 As GHW –, juris, Rn. 20 ff.; VG Augsburg, Urteil vom 17. Februar 2017 – Au 4 K 16.32864 –, juris, Rn. 20 ff.; VG Oldenburg, Urteil vom 20. April 2018 – 7 A 127/18 –, juris, Rn. 32; anders für den Fall missionarischer Tätigkeit VG Hannover, Urteil vom 19. September 2018 – 3 A 11422/17 –, juris, Rn. 25 ff.
561. Es kann im Ergebnis offen bleiben, ob der Kläger – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – tatsächlich aufgrund einer festen und ernst gemeinten religiösen Überzeugung zum Christentum übergetreten ist und der Besuch von (öffentlichen) Gottesdiensten die religiöse Identität des Klägers prägt und für ihn in diesem Sinne unverzichtbar ist.
57Macht der Schutzsuchende als Verfolgungsgrund geltend, er habe einen neuen Glauben angenommen, muss das Gericht aufgrund der glaubhaft gemachten Beweggründe festgestellt haben, dass die Hinwendung zu der angenommenen Religion auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel und nicht auf Opportunitätserwägungen beruht und der Glaubenswechsel nunmehr die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt. Für die Frage, ob ein ernsthafter Glaubenswechsel vorliegt, kommt es entscheidend auf die Glaubhaftigkeit der Schilderung und die Glaubwürdigkeit der Person des Asylbewerbers an, die das Gericht selbst im Rahmen einer persönlichen Anhörung des Asylbewerbers zu überprüfen und tatrichterlich zu würdigen hat. Da maßgeblich ist, ob sich der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise religiös betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen wird, genügt der Formalakt der Taufe regelmäßig nicht. Von einem Erwachsenen, der sich zum Bekenntniswechsel entschlossen hat, darf im Regelfall erwartet werden, dass er mit den wesentlichen Grundzügen seiner neuen Religion vertraut ist. Überdies wird regelmäßig nur dann anzunehmen sein, dass der Konvertit ernstlich gewillt ist, seine christliche Religion auch im Herkunftsland auszuüben, wenn er seine Lebensführung bereits in Deutschland dauerhaft an den grundlegenden Geboten der neu angenommenen Konfession ausgerichtet hat.
58Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 3. November 2014 - 13 A 1646/14.A - juris, Rn. 4 ff., und vom 17. Mai 2017 – 13 A 1065/17.A – juris, Rn. 7; vgl. zu den Anforderungen an die Aufklärung der religiösen Identität als innere Tatsache im gerichtlichen Verfahren BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 31.
59Erhebliche Zweifel, ob der Kläger nach diesen Maßgaben tatsächlich aufgrund einer identitätsprägenden religiösen Überzeugung vom Islam zu Christentum übergetreten ist, bestehen insbesondere mit Blick auf seine Angaben in der ergänzenden Befragung durch den Senat in der mündlichen Verhandlung vom 2. Juli 2019 zu den Beweggründen für die Konversion. Der Kläger hat nicht ansatzweise einsichtig machen können, was ihn motiviert haben könnte, gerade wegen seiner religiösen Überzeugung die Trennung von seiner Familie und seinen Freunden, berufliche Nachteile, gesellschaftliche Ausgrenzung und schließlich den Verlust seiner Heimat in Kauf zu nehmen.
60Auf die zentrale – weder im Verwaltungs- noch im erstinstanzlichen Verfahren gestellte – Frage, welchen Anlass der Kläger hatte, zum Christentum zu konvertieren, hat er weder ein konkretes Ereignis oder einen ausschlaggebenden Moment geschildert noch einen Prozess der Hinwendung zum Christentum als Ausdruck einer religiösen Reflexion und Neuorientierung. Er teilte insoweit nur mit, die Entscheidung überzutreten „nicht von heute auf morgen“ getroffen und in Marokko „viel gelesen“ und sich „informiert“ zu haben (Seite 3 des Protokolls), wobei sich dies primär auf den Islam und nicht – wie beim Bundesamt behauptet – auf das Christentum bezog. Später ergänzte er, für sich gelesen und mit anderen Menschen gesprochen zu haben, wobei sich alles im Geheimen abgespielt habe (Seite 4 des Protokolls). Diese Angaben sind oberflächlich und inhaltsleer. Auch seinen früheren Aussagen beim Bundesamt und vor dem Verwaltungsgericht ist nicht substantiiert zu entnehmen, wie er in Marokko (erstmals) in Kontakt mit der christlichen Religion und dort konkret mit der römisch-katholischen Kirche gekommen ist, wie sich dieser Kontakt weiterentwickelt hat und schließlich in die angebliche „Taufe“ durch einen „Laienpriester“ gemündet ist. Ungeachtet dessen, dass die römisch-katholische Kirche Laienpriester nicht kennt und Laien nur in– hier nicht ersichtlichen – Notfällen die Taufe spenden dürfen, bleibt völlig unklar, ob er überhaupt etwas und wenn ja, was er über die Inhalte des christlichen Glaubens gelesen und mit welchen anderen Personen er über welche Glaubensfragen oder -inhalte gesprochen haben will. Eine Taufkatechese hat in Marokko ersichtlich nicht stattgefunden.
61Auch aufgrund der übrigen Angaben des Klägers zu seinem Glaubenswechsel kann der Senat eine Loslösung vom Islam und insbesondere eine Hinwendung zum christlichen Glauben aus einem identitätsprägenden religiösen Motiv heraus nicht feststellen. Erkennbar ist allenfalls, dass der Kläger die religiöse Praxis des Islam, der in Marokko Staatsreligion ist, als widersprüchlich und einengend empfindet (z. B. die Pflicht zur Teilnahme am (Freitags)Gebet; Fasten im Ramadan; Seite 3 des Protokolls). Ferner scheint er ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Freiheit zu haben („Wenn ein Mensch keine Freiheit hat, ist er besser tot als lebendig.“; Seite 4 des Protokolls). Dieser Freiheitsdrang mag auch mit einer Präferenz für einen von ihm als liberal wahrgenommenen christlichen Glauben korrelieren. Gründe, dass der Kläger aus einer profunden und als unverzichtbar empfundenen religiösen Einstellung heraus zum Christentum übergetreten ist, hat er aber nicht glaubhaft gemacht. Dem steht schon entgegen, dass er offenbar auch aktuell nicht weiß, was genau in seiner neuen Religion geglaubt wird. Auch in Deutschland hat er sich keiner Glaubensunterweisung unterzogen. Auf die Frage, was für ihn der wichtigste Glaubensinhalt im Christentum sei, gab er lediglich an, man müsse zu sich, zu anderen und auch zu Gott „gut“ sein, dies finde er in keiner anderen Religion, und man sei frei, sich zu entscheiden (Seite 4 des Protokolls). Ungeachtet der redundanten Bemühung des Freiheitsmotivs fehlen in diesen kargen Einlassungen konkrete Angaben von Substanz zum Inhalt seiner neuen Religion. Gleiches gilt für die Angaben des Klägers auf die ausdrückliche Frage seiner Prozessbevollmächtigten, warum er gerade zum Christentum konvertiert sei. Auch hier wies der Kläger pauschal und ohne nähere Erklärung, was er damit eigentlich meint, darauf hin, er empfinde das Christentum als „spiritueller“ als andere Religionen, es verfolge keine materiellen Ziele und er finde dort keine Widersprüche (Seite 4 des Protokolls). Diese äußerst knappen und letztlich nichtssagenden Einlassungen sind beliebig und zeugen nicht von einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem angeblich neu angenommenen Glauben.
62Einer abschließenden Klärung, ob der Kläger nach den oben dargestellten Maßstäben eine Konversion zum Christentum als Verfolgungsgrund glaubhaft gemacht hat, bedarf es indes mit Blick auf die nachfolgenden Ausführungen zur Lage vom Islam zum Christentum übergetretener marokkanischer Staatsangehöriger nicht. Für die Rückkehrprognose unterstellt der Senat zugunsten des Klägers die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass dieser eine asylrechtlich schutzwürdige Konversion und eine für ihn unverzichtbare Glaubensausübung in Form regelmäßiger Besuche öffentlicher Gottesdienste glaubhaft gemacht hat. Es gehört jedoch – unstreitig – nicht zur unverzichtbaren religiösen Überzeugung des Klägers zu missionieren. Die Frage des Verwaltungsgerichts, ob er andere Menschen zum Christentum bekehre, hat er ausdrücklich unter Hinweis darauf verneint, dazu fehlten ihm die richtigen Eigenschaften wie Sprachkenntnisse und Bildung. Dies hat der Kläger im Rahmen der ergänzenden Befragung durch den Senat für den maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung in dem Berufungsverfahren bekräftigt (Seite 4 des Protokolls).
632. Die Auskunftslage zur Situation vom Islam zum Christentum übergetretener marokkanischer Staatsangehöriger stellt sich wie folgt dar:
64a. Religiöse Demografie
65Mit 99 % sind der Großteil der marokkanischen Bevölkerung (ca. 34 Mio.) sunnitische Muslime malektitischer Rechtsschule. Zu den religiösen Minderheiten zählen Juden, Christen, schiitische Muslime und Baha´i. Die Anzahl von Christen wird unterschiedlich beziffert, von wenigen Tausenden auf bis zu 50.000 oder 60.000.
66Vgl. Landinfo: Marokko: Vom Islam zum Christentum konvertieren, 20. Januar 2014 (Landinfo), S. 2; United States Department of State: Morocco 2017 International Religious Freedom Report, 29. Mai 2018 (USDOS 29. Mai 2018), S. 2; Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko, 21. Dezember 2018 (Lagebericht AA vom 21. Dezember 2018), S. 10; Süddeutsche.de: Papst Franziskus ruft in Marokko zu mehr Dialog auf, 30. März 2019; Vatican News: Marokko: Zahlen und Fakten zur katholischen Kirche, 28. März 2019; Reuters: Christians want marriages recognized in Morocco, 8. Juni 2018.
67Dabei ist zwischen ausländischen Christen, die dauerhaft nach Marokko eingewandert sind oder sich vorübergehend dort aufhalten, und marokkanischen Christen zu unterscheiden. Zu letzterer Gruppe zählen nach unterschiedlichen Angaben knapp 1.000 bis zu 60.000 Personen.
68Vgl. Landinfo, S. 2; USDOS 29. Mai 2018, S. 2; Welt: Marokkos unsichtbare Kirche, 27. Dezember 2008.
69b. Gesetzeslage
70Art. 3 der marokkanischen Verfassung garantiert die individuelle Religionsfreiheit. Die Bestimmung zielt auf die Ausübung der Staatsreligion ab, schützt aber auch die Ausübung anderer anerkannter traditioneller Schriftreligionen wie Judentum und Christentum. Die freie Wahl des Bekenntnisses ist indes nicht geschützt. Der sunnitische Islam malekitischer Rechtsschule ist Staatsreligion in Marokko. Die verfassungsmäßige Stellung des Königs als Führer der Gläubigen und Vorsitzender des High Council of Ulema (Möglichkeit des Erlassens religiös verbindlicher „Fatwas“) ist weitgehend unbestritten.
71Die Zugehörigkeit zum Judentum ist fest im marokkanischen Recht verankert und schließt ein eigenes Personenstandsrecht ein. Nicht-sunnitische oder nicht-jüdische Religionsgemeinschaften müssen sich staatlich registrieren lassen, um als Gruppe ihre Religion ausüben zu können und um z. B. Rechts- oder Finanzgeschäfte tätigen zu können. Zu den registrierten (ausländischen) Religionsgemeinschaften zählen insbesondere die römisch-katholische, russisch-orthodoxe, griechisch-orthodoxe, französisch-protestantische und die anglikanische Kirche, die alle schon vor der Unabhängigkeit 1956 bestanden. Die Religionszugehörigkeit wird nicht auf nationalen Ausweispapieren vermerkt. Es gibt keine gesetzlichen Regelungen zu religiösen Symbolen oder Kleidungsvorschriften im öffentlichen oder privaten Raum.
72Vgl. Lagebericht AA vom 21. Dezember 2018, S. 11.
73Die Apostasie (Glaubensabfall) ist nach marokkanischem Strafrecht nicht strafbewehrt. Art. 220 des marokkanischen Strafgesetzbuchs sanktioniert das Zwingen zu oder Behindern von Religionsausübung bzw. Gottesdienst, sowie Verführung mit dem Ziel, den Glauben eines Muslims ins Wanken zu bringen oder ihn zur Konversion zu einer anderen Religion zu bewegen, wobei egal ist, ob dazu dessen Schwäche oder Bedürfnisse ausgenutzt würden oder ob Bildungs- oder Gesundheits- oder psychiatrische Einrichtungen oder Waisenhäuser dazu „benutzt“ würden. Das Strafmaß beträgt zwischen sechs Monaten Haft plus Geldstrafe von 200-500 Dirham (etwa 18-47 €) und 3 Jahren Haft.
74Nach Art. 222 des Strafgesetzbuchs wird genauso bestraft, wer allgemein bekanntermaßen der islamischen Religion angehört und im Monat Ramadan in der Öffentlichkeit isst, ohne eine religiös anerkannte Rechtfertigung zu haben.
75Der High Council of Ulema, die wichtigste religiöse Autorität in Marokko, erließ– verschiedenen Quellen zufolge 2009, 2012 oder 2013 – eine Fatwa, in der er sich für die Todesstrafe aller vom Islam abgefallener Personen aussprach.
76Vgl. Immigration and Refugee Board of Canada: Morocco: The situation of individuals who abjure Islam, 12. August 2014 (IRB 2014), S. 5; Open Doors Deutschland e. V.: Weltverfolgungsindex 2019, Länderprofil Marokko, Berichtszeitraum 1. November 2017 bis 31. Oktober 2018 (Open Doors), S. 9; Landinfo, S. 2.
77Diese Fatwa ist Berichten zufolge von vielen politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Menschenrechtsanwälten verurteilt worden. Von politischer Seite, zum Teil aber auch aus den Reihen des Rates selbst wurde die Fatwa 2013 als nicht-bindendes, beratendes Dokument, als Meinung, und als nicht offizielle Fatwa, sondern als Interpretation islamischen Rechts bezeichnet, die keine rechtliche oder bindende Wirkung habe.
78Vgl. IRB 2014, S. 5 und 6.
79Die Fatwa soll nie zur Anwendung gekommen sein. Marokko wende keine Todesstrafe gegen Apostaten an.
80Vgl. Immigration and Refugee Board of Canada: Morocco: The situation of people who abjure Islam, 24. April 2018 (IRB 2018), S. 1 und 2,
81Eine andere Quelle teilt demgegenüber mit, dass Apostaten in Marokko unter Anwendung islamischer Jurisprudenz mit dem Tode bestraft würden.
82Vgl. IRB 2018, S. 1 unter Hinweis auf eine Mitteilung des Council of Ex-Muslims of Britain (CEMB).
83Teilweise wird darauf hingewiesen, der Rat habe im Februar 2017 seine frühere Fatwa wieder zurückgenommen. Er habe nun Apostasie als politisches, nicht als religiöses Problem bezeichnet und auf eine Stufe mit Hochverrat gestellt. Hiermit wolle der Rat offenbar erläutern, dass die Todesstrafe für Apostasie heute nicht mehr angemessen erscheint.
84Vgl. Maghreb-Post: Marokkos Religionsgelehrte bewerten Abfall vom Islam neu, 23. März 2017; Morocco World News: Morocco’s High Religious Committee Says Apostates Should Not Be Killed, 6. Februar 2017; Zenit: Hoffnung auf Glaubensfreiheit in Marokko. Religionsgelehrte schaffen Todesstrafe für Abfall vom Islam ab, 10. Februar 2017.
85Anderen Angaben zufolge existiere weder eine neue Fatwa noch gebe es eine Rücknahme der ersten Fatwa; es handele sich insoweit um interne Diskussionen der Mitglieder des Rates.
86Vgl. IRB 2018, S. 2; vgl. auch Open Doors, S. 9.
87Staatliche Stellen behandeln Konvertiten zum Christentum insbesondere familienrechtlich weiter als Muslime. In Marokko gibt es kein einheitliches Familien- und Personenstandsrecht. Es gilt islamisches Personenstands-, Familien- und Erbrecht malekitischer Schule für Muslime und religiöses jüdisches Recht für Juden. Für Marokkaner jeden Glaubens wird nur eines dieser beiden Rechte angewandt. Bei Ausländern führen die Kollisionsnormen oft zu Benachteiligungen für Nicht-Muslime und Nicht-Juden. So kann auch in der Ehe und im Elternverhältnis in der Regel nicht zwischen den Religionen vererbt werden. Nicht-Muslime müssen zum Islam konvertieren, um die Pflegschaft für ein muslimisches Kind übernehmen zu können. Ein muslimischer Mann darf nach marokkanischem muslimischem Recht eine nicht-muslimische Frau heiraten, eine muslimische Frau kann dagegen in keinem Fall einen nicht-muslimischen Mann.
88Vgl. Lagebericht AA vom 21. Dezember 2018, S. 11 f.; vgl. Landinfo, S. 6.; USDOS 29. Mai 2018, S. 4.
89c. Behördenpraxis
90Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sind Fälle staatlicher Verfolgung aufgrund der Ausübung einer anderen als den anerkannten Religionen nicht bekannt. Das im Strafrecht verankerte Missionierungsverbot bedeute aber in der Praxis eine deutliche Einschränkung der Religionsfreiheit. Ausländer hätten freien Zutritt zu christlichen Gottesdiensten. Marokkanische Christen und andere Religionsgemeinschaften übten ihren Glauben in der Regel nur im privaten Raum aus. Sie würden von den überwiegend aus Ausländern bestehenden Kirchengemeinden nicht dazu ermutigt, an deren Gottesdiensten teilzunehmen, da die Gemeinden den Vorwurf des Missionierens fürchteten.
91Vgl. Lagebericht AA 21. Dezember 2018, S. 11 und 12.
92Auch andere Auskünfte führen aus, die Konversion sei in Marokko nicht verboten. Sie habe keine rechtlichen, nur soziale Folgen. Es sei nicht bekannt, dass Konvertiten Opfer von Gewalt seitens des Staates geworden seien.
93Vgl. Landinfo, S. 2.
94Die Konsequenzen einer Apostasie seien in erster Linie sozialer Art.
95Vgl. IRB 2018, S. 5.
96Dagegen schildern andere Quellen, marokkanische Christen seien von der Polizei festgehalten und zu ihrem Glauben und Kontakten befragt worden.
97Vgl. USDOS 29. Mai 2018, S. 5
98Auch sei von Betroffenen über Druck seitens der Behörden, auf ihren Glauben zu verzichten, berichtet worden,
99Vgl. USDOS 29. Mai 2018, S. 5; Humanists International, Morocco: Freedom of Thought Report 2018 (HI 2018), S. 6,
100sowie über Razzien, die die Polizei bei christlichen Gruppen durchgeführt habe.
101Vgl. Landinfo, S. 5.
102Dabei sind die Angaben zur Häufigkeit solcher polizeilicher Maßnahmen unterschiedlich. Teilweise ist von „manchmal“ („at times“) und „einigen“ („some“) festgehaltenen und befragten bzw. unter Druck gesetzten Personen die Rede,
103vgl. USDOS 29. Mai 2018, S. 5,
104oder von „mehreren“ Personen, „beispielsweise“ Christen, die verhaftet und des Prosyletismus beschuldigt worden seien.
105Vgl. HI 2018, S. 6.
106Eine andere Auskunft geht von einer „regelmäßig[en]“ Häufigkeit aus.
107Vgl. Open Doors, S. 4.
108Eine konkrete Zahl ist nur einer Auskunft zu entnehmen, wonach im Jahr 2017 zwei marokkanische Christen verhaftet und zu ihrem Glauben befragt worden seien. Beide hätten eine Beschwerde beim Justizministerium eingelegt, Ermittlungen seien bis zum Ende des Jahres nicht eingeleitet worden.
109Vgl. IRB 2018, S. 3 f. unter Hinweis auf einen Bericht der Narional Federation of Amazigh Associations (FNAA).
110Nach mehreren Berichten nimmt die polizeiliche Ingewahrsamnahme und Befragung ab bzw. habe fast aufgehört.
111Vgl. Le Monde: Au Maroc, la vie cachée des convertis au protestantisme évangélique, 29. März 2019; IRB 2018, S. 5.
112Auch gegen marokkanischen Christen, die missionarisch tätig gewesen sein (Art. 220 des marokkanischen Strafgesetzbuchs), würden relativ selten Gerichtsverfahren eingeleitet. Es sei allerdings nicht möglich, den Umfang solcher Rechtsverfolgungen näher zu beziffern.
113Vgl. Landinfo, S. 5
114Polizeiliche Razzien bei christlichen Gruppierungen seien ebenfalls rückläufig, wobei auch zu deren Umfang keine Informationen vorlägen.
115Vgl. Landinfo, S. 5
116Ferner weisen verschiedene Auskünfte auf eine Überwachung christlicher Gruppen in Form von Telefonanrufen und Hausbesuchen hin. Die Regierung habe religiöse Aktivitäten nichtsunnitischer Muslime und Nicht-Muslime überwacht und in einigen Fällen beschränkt.
117Vgl. USDOS 29. Mai 2018, S. 4 und 7; Landinfo, S. 5.
118Berichtet wird weiter über Behinderungen für marokkanische Christen, „ausländische“ Kirchen zu besuchen und dass diese bei jeder öffentlichen Glaubenspraxis den Vorwurf des Missionierens riskierten.
119Vgl. Landinfo, S. 5; Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko, 14. Februar 2018, Seite 12; so auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Marokko, 17. August 2018, Seite 23. Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21. Dezember 2018 finden sich diese Ausführungen nicht mehr.
120Dagegen wird auch berichtet, dass nicht registrierte religiöse Gruppen unterschiedliche Behandlungen durch Behörden erfahren hätten. Einige hätten mitgeteilt, dass sie ihren Glauben ausüben könnten, andere hingegen, dass ihre Versammlungen verhindert oder aufgelöst worden seien. Andere Gruppen hätten schließlich angegeben, sie hätten mit den Behörden kooperiert und diese gelegentlich über größere Versammlungen informiert, für die ihnen Schutz zur Verfügung gestellt worden sei.
121Vgl. USDOS 29. Mai 2018, S. 7.
122Auch nach anderen Quellen erleben nicht alle Konvertiten negative Reaktionen seitens der Behörden.
123Vgl. Landinfo, S. 4; IRB 2018, S. 5 f.
124Übereinstimmend wird berichtet, dass marokkanische Christen ihren Glauben in der Regel im privaten Raum ausüben, um nicht zu viel unerwünschtes Aufsehen zu erregen.
125Vgl. Lagebericht AA vom 21. Dezember 2018, S. 12; Landinfo, S. 4; USDOS 29. Mai 2018, S. 4; IRB 2018, S. 4.
126d. soziale Folgen
127Der Abfall vom Islam gilt in Marokko als Todsünde. Es gibt einen starken sozialen Druck, die islamischen Glaubensregeln zumindest im öffentlichen Raum zu befolgen. Grundsätzlich ist der freiwillige Religionswechsel Marokkanern nicht verboten, aber in allen Gesellschaftsschichten stark geächtet.
128Vgl. Lagebericht AA vom 21. Dezember 2018, S. 11.
129Die möglichen Reaktionen von Familie und Netzwerk nach einer Konversion vorherzusagen sei unmöglich. Potenzielle Reaktionen könnten Spott, Schikane, Marginalisierung und Ausschluss bis hin zum Bruch mit der Familie sein. Eine Person, die den Islam verlässt, werde unter Ansehensverlust leiden und in den meisten sozialen Rollen marginalisiert werden: als Vertreter der Familie, Ehepartner, Geschäftspartner. Somit könnte das Konvertieren die Möglichkeiten einer Person in der marokkanischen Gesellschaft einschränken, besonders auf dem Arbeitsmarkt, da der Zugang zu Arbeit größtenteils durch Bekannte und Netzwerk geschehe.
130Vgl. Landinfo, S. 4.
131Diese gesellschaftlichen Diskriminierungen seien der Hauptgrund, warum marokkanische Christen ihren Glauben nur im privaten Raum ausübten.
132Vgl. USDOS 29. Mai 2018, S. 10; IRB 2018, S. 5.
1333. Diese Auskunftslage zugrunde gelegt droht dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Marokko nicht beachtlich wahrscheinlich eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Die Situation der vom Islam zum Christentum übergetretenen marokkanischen Staatsangehörigen, die ihren Glauben öffentlich, insbesondere durch Gottesdienstbesuche in Kirchen, ausüben wollen, die aber nicht missionarisch tätig sind, stellt sich zwar problematisch dar. Behördliche Repressionen sind nicht auszuschließen. Eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden, lässt sich jedoch nicht zur nötigen Überzeugung des Senats feststellen. Dies gilt sowohl mit Blick auf die Apostasie des Klägers als verfolgungsträchtiges Verhalten (a.) als auch hinsichtlich einer öffentlichen Ausübung seines christlichen Glaubens in dem von ihm als unverzichtbar empfundenen Umfang (b.).
134a. Der Abfall vom Islam ist nach dem marokkanischen Strafgesetzbuch nicht strafbewehrt. Eine Strafandrohung für Apostasie lässt sich auch dem islamischem Recht nicht mit der nötigen Gewissheit entnehmen. Die Fatwa des High Council of Ulema, die sich für die Todesstrafe im Falle einer Apostasie ausspricht, hat nach den ganz überwiegenden Auskünften keine rechtlich bindende Wirkung und es sind keine Fälle bekannt, in denen die Todesstrafe gegen Apostaten verhängt worden ist. Zudem hat der Rat die fragliche Fatwa nach verschiedenen Berichten selbst relativiert.
135Vgl. IRB 2018, S. 1 und 2; US DOS 29. Mai 2018, S. 5.
136Sonstige staatliche Sanktionen, die allein an eine Apostasie als solche anknüpfen, sind ebenfalls nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellbar. Im Gegenteil ist mehreren Auskünften übereinstimmend zu entnehmen, dass vom Islam zum Christentum übergetretene marokkanische Staatsangehörige weitestgehend von staatlichen Reaktionen unbehelligt bleiben, solange sie den neu angenommen Glauben im privaten Bereich ausüben.
137Vgl. IRB 2018, S. 4; Landinfo, S. 5; Lagebericht AA vom 21. Dezember 2018, S. 12.
138b. Auch mit Blick auf die von der von der Religionsfreiheit geschützte öffentliche Glaubensausübung lässt sich jedenfalls bei Personen in der Situation des Klägers, für die die öffentliche Glaubensausübung im Wesentlichen im Besuch von Gottesdiensten in Kirchengebäuden besteht, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gefahr schwerwiegender Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG feststellen.
139aa. Dem Kläger droht nicht hinreichend wahrscheinlich eine Strafverfolgung oder Freiheitsentziehung durch marokkanische Behörden. Die Ausübung einer anderen Religion als der Islam als Staatsreligion ist in Marokko nicht unter Strafe gestellt. Strafrechtlich relevant nach Art. 220 des marokkanischen Strafgesetzbuchs ist ein Verhalten (erst) dann, wenn es darauf zielt, den Glauben eines Muslims zu erschüttern oder ihn zu einer anderen Religion zu konvertieren. Missionarische Tätigkeiten sind indes nicht Bestandteil der Glaubensausübung des Klägers.
140Unbeschadet dieser Gesetzeslage sind auch nach der Praxis marokkanischer Behörden keine polizeilichen Verhaftungen marokkanischer Christen in der Situation des Klägers beachtlich wahrscheinlich. Zwar existieren Auskünfte, die über solche polizeilichen Maßnahmen berichten. Hier handelt es sich allerdings um Einzelfälle, für die ohne Hinzutreten besonderer, jedenfalls beim Kläger nicht gegebener Umstände kein reales Risiko besteht. Die Auskünfte zu Verhaftungen marokkanischer Konvertiten enthalten ganz überwiegend keine genauen und belastbaren Angaben zu Häufigkeit und Anzahl der betroffenen Personen. Ebenfalls fehlen nachvollziehbare Beschreibungen konkreter Fälle. Vielmehr erschöpfen sich die Erkenntnisse in pauschalen Hinweisen auf „einige“ („some“)
141Vgl. USDOS 29. Mai 2018, S. 1 und 5.
142oder „mehrere“ („several“) Betroffene, „zum Beispiel“ („for instance“) Christen.
143Vgl. HI 2018, S. 6.
144Lediglich eine Auskunft weist konkret auf zwei Personen hin, die von der Polizei festgehalten worden seien, gegen die aber offenbar nach einer Beschwerde zum Justizminister keine weiteren Ermittlungen eingeleitet wurden.
145Vgl. IRB 2018, S. 3.
146Den Ausführungen des internationalen überkonfessionellen christlichen Hilfswerks evangelikaler Prägung „Open Doors“,
147so die Beschreibung im Wikipedia-Eintrag der Organisation (https://de.wikipedia.org/wiki/Open_Doors)
148wonach Christen muslimischer Herkunft in Marokko „regelmäßig festgehalten und über ihre Motive und Kontakte befragt“ werden, folgt der Senat nicht. Hierbei handelt es sich um eine Behauptung ohne Beleg. Weder werden konkrete Fälle beschrieben noch Quellen angegeben, auf die sich die Einschätzung stützt.
149Vgl. Open Doors, S. 2.
150Dass freiheitsentziehende polizeiliche Maßnahmen gegenüber marokkanischen Konvertiten mit regelmäßiger Häufigkeit erfolgen, wird durch keine andere Auskunft bestätigt. Schließlich geht die Lagebeurteilung von Open Doors offenbar von der Prämisse aus, der Glaubenswechsel vom Islam zum christlichen Glauben sei illegal und könne nach marokkanischem Recht bestraft werden.
151Vgl. Open Doors, S. 8.
152Dies ist nach den obigen Ausführungen gerade nicht der Fall.
153Des Weiteren weisen unterschiedliche Auskünfte darauf hin, dass die Anzahl von Razzien und Verhaftungen rückläufig sei bzw. dass es fast keine Verhaftungen mehr gebe.
154Vgl. Landinfo, S. 5, und IRB 2018, S. 5.
155Diese Tendenz entspricht auch anderen Erkenntnissen, wonach der marokkanische König einen toleranten Islam vertritt und den interreligiösen Dialog fördert,
156vgl. Deutschlandfunk: Marokko. Des Königs neuer Glaube, 6. September 2017,
157und christliche Konvertiten von einem gewissen Klima der Toleranz profitieren.
158Vgl. Le Monde: Au Maroc, la vie cachée des convertis au protestantisme évangélique, 29. März 2019.
159So war im März 2019 der Papst zu Besuch in Marokko und feierte dort eine Messe mit Christen,
160vgl. Süddeutsche.de: Papst Franziskus ruft in Marokko zu mehr Dialog auf, 30. März 2019; Süddeutsche.de: Papst Franziskus feiert Messe mit Christen in Marokko, 31. März 2019,
161und es wird z. B. auch über die Gründung eines gemeinsamen Ausschusses mit dem Vatikan zur Förderung des interreligiösen Dialogs, über ein Treffen zwischen dem marokkanischen Nationalen Rat für Menschenrechte mit christlichen Gruppen und über eine Konferenz von Christen, Shia-Muslimen und Baha´i, die mehr Schutz für religiöse Minderheiten forderte und die von Behörden nicht behindert wurde, berichtet.
162USDOS 29. Mai 2018, S. 9 und 10.
163Neben diesen jüngsten Entwicklungen ist ferner zu berücksichtigen, dass die in den obigen Auskünften berichteten Verhaftungen zum Teil einen Zusammenhang mit dem betroffenen Konvertiten vorgeworfenen missionarischen Tätigkeiten aufweisen,
164vgl. HI 2018, S. 6,
165wobei es anderen Angaben zufolge auch bei missionarischen Aktivtäten relativ selten zu Gerichtsverfahren kommen soll.
166Vgl. Landinfo, S. 3.
167Über ein erhöhtes Risiko behördlicher Reaktionen wird schließlich auch im Falle einer aktiven und militanten Leugnung des Islams oder Kritik an ihm berichtet.
168Vgl. Landinfo, S. 5; HI 2018, S. 7.
169Diese Verhaltensweisen haben einen Bezug zu den Straftatbeständen des Art. 220 des marokkanischen Strafgesetzbuchs. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass der betroffene Konvertit nicht nur seine Religion gewechselt und seinen neuen Glauben (öffentlich) praktiziert hat, sondern dabei zusätzlich missioniert oder den Islam als Staatsreligion öffentlich kritisiert. (Nur) Für solche Fälle liegen auch substantiierte Informationen mit konkreten Angaben zu den betroffenen Personen und den Hintergründen vor: Nach dem Bericht von Humanists International wurde im Mai 2013 der Gründer des Rates der marokkanischen Ex-Muslime, der Atheist Imad Iddine Habib, von Behörden belästigt. In 2012 wurde Khalid Gueddar, ein bekannter Karikaturist, wegen Beleidigung des Islams verhaftet. In 2012 wurde der Atheist Zakaria Zine Al-Abidine, ebenfalls ein Karikaturist, zu einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren wegen bestimmter Kommentare auf seiner Facebook-Seite zum Propheten Mohammed verurteilt. Schließlich wurde dem Atheist und Blogger Kacem El Ghazzali – wenngleich wohl nicht seitens marokkanischen Behörden – vorgeworfen, gegen Art. 220 des marokkanischen Strafgesetzbuch verstoßen zu haben, nachdem er in einem Fernsehinterview über Atheismus gesprochen hat.
170Vgl. HI 2018, S. 7.
171In diesen Fällen waren stets solche Personen von staatlicher (Straf-) Verfolgung betroffen, die aus der Masse der marokkanischen Apostaten herausragen, weil sie eine öffentliche Funktion wahrgenommen haben oder mit ihrer (nicht-) religiösen Überzeugung durch Karikaturen, Blogs, soziale Medien oder Präsenz im Fernsehen in hervorgehobener Weise in die Öffentlichkeit getreten sind.
172Vergleichbare Umstände, die begründete Anhaltspunkte für eine solche gesteigerte Gefahrenlage geben könnten, lassen sich im Streitfall für den Kläger nicht feststellen. Über die Konversion vom Islam zum Christentum als solche und die öffentliche Glaubensausübung im Rahmen öffentlicher Gottesdienste hinaus hat der Kläger keine exponierten religiösen Aktivitäten, namentlich solche, die eine Kritik am Islam oder missionarische Tätigkeiten umfassen, vorgetragen.
173Nach alledem sind für Personen in der Situation des Klägers allenfalls einzelne Fälle von Verhaftungen nachvollziehbar, die ihrer Größenordnung nach auf einige oder mehrere Personen beschränkt sind. Auch unterstellt, dass nur ein geringer Teil der konvertierten Christen in Marokko von insgesamt zwischen (knapp) 1.000 bis 8.000 Personen den Glauben öffentlich ausüben, lässt sich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für den Kläger, einer Strafverfolgung oder Freiheitsentziehung ausgesetzt zu sein, nicht mit der nötigen Gewissheit feststellen.
174Vgl. zu der im Rahmen der Gefahrenprognose erforderlichen, an eine Gruppenverfolgung anlehnende Relationsbetrachtung zwischen der Anzahl der Personen in der Situation des Klägers und der Häufigkeit von Verfolgungsakten BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 33 und 41.
175bb. Eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG droht dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unter dem Gesichtspunkt physischer Gewalt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch marokkanische Behörden. Dabei verkennt der Senat nicht, dass marokkanische Behörden nach verschiedenen Auskünften die freie Ausübung der Religion behindern und einschränken. Berichtet wird – wie oben unter A. II. 3. b. dargestellt – über Überwachung von Christen durch Telefonanrufe und Hausbesuche sowie über Razzien bei christlichen Gruppen. Ebenso werden Polizeikontrollen vor Kirchengebäuden mitgeteilt sowie verbale Warnungen und Drohungen durch die Polizei, worauf auch der Kläger in seinen Befragungen im erstinstanzlichen Verfahren in Bezug auf seine eigene Person hingewiesen hat.
176Vgl. USDOS 29. Mai 2018, S. 7; IRB 2018, S. 3; HI 2018, S. 6.
177(1) Solche Eingriffe drohen dem Kläger allerdings nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit. Konkrete Angaben zu Anzahl und Häufigkeit derartiger Maßnahmen beinhalten die betreffenden Auskünfte nicht. Zudem stehen den vorgenannten Informationen andere, differenzierende Erkenntnisse gegenüber, wonach marokkanische Christen eine unterschiedliche Behandlung erfahren würden. So sei teilweise zwar von christlichen Gruppen über polizeiliche Repressionen berichtet worden, teilweise seien aber auch keine Beeinträchtigungen bei der Glaubensausübung mitgeteilt worden. Darüber hinaus hätten christliche Gruppen angegeben, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Sie würden die Behörden über größere Veranstaltungen informieren und ihnen sei Schutz zur Verfügung gestellt worden. Schließlich verweisen Quellen (allgemein) darauf, dass eine Konversion in Marokko keine rechtlichen, sondern primär soziale Konsequenzen habe.
178Vgl. USDOS 29. Mai 2018, S. 7; IRB 2018, S. 4; Landinfo, S. 2 und 4.
179Bei einer wertenden Gesamtschau der unterschiedlichen Erkenntnisse bietet sich dem Senat ein differenziertes Bild. Es kann zu den dargestellten Repressalien gegenüber konvertierten Christen kommen – ebenso können sie auch ausbleiben. Belastbare Anhaltspunkte für die Annahme, dass über Einzelfälle hinaus ein überwiegender oder zumindest erheblicher Anteil der zwischen (knapp) 1.000 bis 8.000 vom Islam zum Christentum konvertierten marokkanischen Staatsangehörigen im Falle einer öffentlichen Glaubensausübung staatlichen Schikanen ausgesetzt wäre, existieren nicht. Solche Maßnahmen sind nicht auszuschließen, aber eben auch nicht beachtlich wahrscheinlich.
180Soweit das Verwaltungsgericht seine gegenteilige Auffassung u. a. auf die Erwägung stützt, der Umstand, dass sich nur wenige Berichte über staatliche Maßnahmen gegen christliche Konvertiten fänden, beruhe ganz wesentlich darauf, dass sich diese angesichts einer realen Gefahr, solchen Maßnahmen ausgesetzt zu sein, ihren Glauben nicht öffentlich ausübten, bleibt dies letztlich spekulativ und wird dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht gerecht. Vor allem lässt die Argumentation aber außer Betracht, dass es mehrere Auskünfte gibt, die (jedenfalls auch) auf eine von staatlichen Eingriffen unbehelligte Glaubensausübung hinweisen. Ferner wird ausgeblendet, dass nach verschiedenen Erkenntnissen die Ursache für die regelmäßige Ausübung des christlichen Glaubens nur im privaten Bereich nicht allein die vom Verwaltungsgericht (ausschließlich) angeführte Sorge vor staatlichen Repressionen ist. Grund hierfür ist auch– und bestimmten Auskünften zufolge sogar in erster Linie – der gesellschaftliche Druck und die sozialen Folgen, die dem Betroffenen aus einem Bekanntwerden des Glaubensübertritts in der Familie, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz erwachsen können.
181Vgl. zu den sozialen Folgen aus „Hauptgrund“: IRB 2018, S. 4 und 5; USDOS 29. Mai 2018, S. 10.
182(2) Ungeachtet dessen erreichen die in Rede stehenden Repressionen auch ihrer Schwere nach nicht den Grad einer asylerheblichen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung. Keine der in Frage kommenden Maßnahmen besteht in der Ausübung (physischer) Gewalt oder in einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung.
183Wann eine solche Behandlung vorliegt, hängt nach der insoweit vor allem maßgebenden Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss ein Minimum an Schwere erreichen, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Die Bewertung dieses Minimums ist jedoch, in der Natur der Sache, relativ. Kriterien hierfür sind aus allen Umständen des Falles abzuleiten. Hierzu gehören etwa die Art der Behandlung oder Bestrafung und der Zusammenhang, in dem sie erfolgte, die Art und Weise ihrer Vollstreckung, ihre zeitliche Dauer, ihre physischen und geistigen Wirkungen, und in einigen Fällen Geschlecht, Alter u. Gesundheitszustand des Opfers. Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer gegen Menschenrechte verstoßen wird.
184Vgl. EGMR, Urteil vom 7. Juli 1989– 1/1989/161/217 –, NJW 1990, 2183, 2186 (Rn. 100); Bergmann/Dienelt/Bergmann, Aus-länderrecht, 12. Aufl. 2018, § 4 AsylG, Rn. 10.
185Von einer unmenschlichen Behandlung ist insbesondere dann auszugehen, wenn ein bestimmtes Verhalten vorsätzlich für mehrere Stunden am Stück angewandt wurde und entweder eine körperliche Verletzung oder intensive physische oder psychische Leiden verursacht hat. Als Standardfall lässt sich die Misshandlung in Form von Schlägen herausfiltern, wobei es nicht um die Erzwingung einer Aussage und damit nicht um Folter geht. Erniedrigend ist eine Behandlung, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, geeignet, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen. Es kann ausreichen, dass ein Opfer in seinen Augen erniedrigt ist, auch wenn andere das nicht so sehen. Ob Zweck der Behandlung war, das Opfer zu erniedrigen oder zu demütigen, ist zu berücksichtigen, aber auch wenn dies nicht gewollt war, ist die Feststellung einer erniedrigenden Behandlung nicht zwingend ausgeschlossen.
186Vgl. Kluth, in: BeckOK zum Ausländerrecht, Stand 1. November 2018, § 4 AsylG, Rn. 15 f. m. w. N.
187Keine der nach den Erkenntnissen in Frage kommenden Maßnahmen weist die danach erforderliche Schwere auf. Dies gilt auch für die in Rede stehende Überwachung, für Razzien bei religiösen Versammlungen, für polizeiliche Kontrollen einschließlich der Aufnahme der Personalien oder für etwaige verbale Bedrohungen seitens der Polizei. Dass es bei den polizeilichen Repressionen nicht zu Handlungen kommt, die als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung zu qualifizieren sind, deckt sich mit den Schilderungen des Klägers zu den ihm zweimal widerfahrenen Polizeikontrollen beim Besuch einer Kirche in Casablanca. Über die Feststellung der Personalien und Warnungen der Polizei für den Wiederholungsfall hinaus ist es nach seinen Angaben nicht zur Anwendung von Gewalt oder zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gekommen.
188cc. Eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung ist schließlich nicht mit Blick auf die familien- und personenstandsrechtliche Behandlung von zum Christentum konvertierten marokkanischen Staatsangehörigen erkennbar. Nach den bereits dargestellten Erkenntnissen sind zum Christentum übergetretene Marokkaner gezwungen, nach den Vorgaben islamischen Rechts zu heiraten. Gleiches gilt für Beerdigungen und im Erbrecht. Durch diese Einschränkungen ist indes eine Verletzung der Rechtsgüter Leib, Leben oder Freiheit oder eine Strafverfolgung bzw. unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nicht zu besorgen.
189dd. Die nach den zur Verfügung stehenden Auskünften möglichen, durchaus gravierenden sozialen Folgen in Form einer Ächtung eines konvertierten marokkanischen Staatsangehörigen durch Familie, Freunde oder am Arbeitsplatz gehen nicht vom marokkanischen Staat als tauglicher „Verfolger“ im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG aus. Anhaltspunkte dafür, dass die marokkanischen Behörden nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung, die von einem nichtstaatlichen Akteur ausgeht, zu bieten (§ 3c Nr. 3 AsylG), bestehen ebenso wenig wie dafür, dass es dem Kläger nicht möglich wäre, insoweit internen Schutz nach § 3e Abs. 1 AsylG zu erlangen.
1904. Dem Kläger drohen im Falle einer Rückkehr nach Marokko keine Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, und die so gravierend ist, dass er davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 der Vorschrift beschriebenen Weise betroffen ist.
191Bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG sind zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu nehmen, und zwar Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen. Es dürfen Handlungen nicht vorschnell deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen.
192Führen – wie hier – die einzelnen in Betracht kommenden Eingriffshandlungen nicht zu einer Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung beim Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von Nr. 1 der Vorschrift.
193Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 37.
194Die gebotene Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A GFK (vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Neuauflage Dezember 2011, Rn. 53). In die Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z. B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen (vgl. UNHCR Richtlinie vom 28. April 2004 zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rn. 17). Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entspricht.
195Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 36.
196Im Streitfall kann anhand einer Gesamtbetrachtung aller relevanten Eingriffshandlungen (vgl. A. II. 3. b.) allerdings schon deswegen eine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht angenommen werden, weil es (auch bzw. erst recht) der insoweit vorausgesetzten Kumulation mehrerer staatlicher Maßnahmen an der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit fehlt. Drohen dem Kläger (außer der familienrechtlichen Weiterbehandlung als Muslim) schon die einzelnen Maßnahmen nicht ausreichend wahrscheinlich, ist es noch unwahrscheinlicher, dass mehrere solcher Maßnahmen kumulieren. Ungeachtet dessen führt die Gesamtbetrachtung auch in qualitativer Hinsicht nicht auf eine Betroffenheit des Klägers, die einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gleichkommt. Bei einer Summation der möglichen staatlichen Diskriminierungen und Schikanen (polizeiliche Kontrollen, Überwachungen und Drohungen, familien- bzw. personenstandsrechtliche Diskriminierungen) ist der Kläger nicht derart gravierend betroffen, wie er es wäre, wenn er einer nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG maßgeblichen Verletzung der Rechtsgüter Leben, Leib oder Freiheit bzw. einer Strafverfolgung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt wäre.
197B. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 AsylG oder auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Zur Begründung wird gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid des Bundesamts verwiesen. Insoweit greift auch der Vortrag des Klägers nicht durch, er sei wegen eines ihm– seiner Ansicht nach zu Unrecht – angelasteten Autounfalls durch ein marokkanisches Strafgericht zu einer Geldstrafe verurteilt worden, die er nicht bezahlt habe, so dass ihm bei Wiedereinreise nach Marokko eine sofortige Verhaftung drohe. Stichhaltige Gründe, dass dem Kläger anknüpfend an eine Strafvollstreckung ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG droht, bestehen nicht. Dieser Vortrag ist nicht nur unsubstantiiert. Der Kläger hat auch keine Nachweise zu der angeblichen Verurteilung beigebracht oder hierfür Hinderungsgründe glaubhaft gemacht.
198C. Die vom Bundesamt im angegriffenen Bescheid ausgesprochene Abschiebungsandrohung und die vorgenommene Befristungsentscheidung nach § 11 Abs.1 und 2 AufenthG begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Hierzu wird wiederum auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid verwiesen.
199Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
200Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
201Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht gegeben sind. Ob nach den zur Verfügung stehenden Auskünften vom Islam zum Christentum konvertierten marokkanischen Staatsangehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG drohen, ist eine Frage der Tatsachenwürdigung und keine grundsätzlicher Klärung bedürftige abstrakte Rechtsfrage.
202Vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. April 2017– 1 B 22/17 –, juris, Rn. 4 ff.