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Zum Begriff des Wohnsitzes in § 4 Abs. 1 BVFG, wenn mehrere Wohnsitze im Sinne des § 7 Abs. 2 BGB vorliegen.
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesverwaltungsamts vom 22. Januar 2014 und des Widerspruchsbescheids vom 13. März 2015 verpflichtet, der Klägerin einen Aufnahmebescheid zu erteilen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Die Klägerin wurde am 29. August 1947 in Kasachstan geboren. Der Ehemann der Klägerin W. U. ist Arzt und arbeitete an der Universität in D. in H. . Nach den Angaben der Klägerin lebte sie in der Zeit von 1978 bis 1981 in B3. , hielt sich seit Oktober 1991 mit Unterbrechungen in H. auf und kehrte immer wieder für mehrere Monate nach Russland zurück; dort hatte sie bis 2004 in U1. und sodann bis 2007 in T. Wohnungseigentum und verfügt in T. über ein im Sommer 2007 fertiggestelltes Haus.
3Ihr Sohn J. U. war als Familienangehöriger im Aufnahmebescheid seiner Schwiegermutter aufgeführt, lebt seit 1996 in der Bundesrepublik Deutschland und ist hier als Arzt tätig. Die Eltern der Klägerin waren der am 17. September 1924 geborene S. B. und die am 28. März 1926 geborene U2. B1. ; die Mutter verstarb 1994, der Vater 1998. Die Großeltern väterlicherseits waren die am 10. September 1895 und im Jahr 1901 geborenen K. B. und P. B. , geb. S1. . Der im Jahr 1929 geborene und inzwischen verstorbenen Schwester ihres Vaters F. M. , geb. B. , war im Jahr 1995 eine Spätaussiedlerbescheinigung ausgestellt worden. Auch die im Jahr 1938 geborene Schwester des Vaters L. B. verfügt über eine im Jahr 1994 ausgestellte Spätaussiedlerbescheinigung. Eine weitere im Jahr 1928 geborene Schwester des Vaters, C. I. , geb. B. , reiste im Jahr 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens in die Bundesrepublik Deutschland ein.
4Unter dem 4. Juli 2013 beantragte die Klägerin die Erteilung eines Aufnahmebescheids. Die Klägerin legte im Aufnahmeverfahren eine Kopie eines am 29. August 2000 ausgestellten Inlandspasses vor, in dem sie mit deutscher Nationalität eingetragen ist, ferner eine am 3. August 2000 ausgestellte Geburtsurkunde, in der ihr Vater mit deutscher Volkszugehörigkeit vermerkt ist. Außerdem reichte sie eine Bestätigung vom 17. Juli 2002 ein, ausgestellt von der Konsularabteilung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in D. , wonach die der Botschaft persönlich bekannte Klägerin über gute Deutschkenntnisse verfüge und eine Bestätigung der Universität in D. vom 8. Juli 2013, wonach sie in ihrer Freizeit den Grundsprachkurs „Deutsch“ durchgeführt habe. Ausweislich einer von ihr zu den Akten gereichten Archivbescheinigung der Verwaltung des Innern des Gebietskomitees U1. vom 12. Februar 1991 lebten der Großvater der Klägerin K. B. , dessen Ehefrau und die Schwestern des Vaters der Klägerin C1. , F. und L. sowie ihr Vater von 1941 bis 1946 in der Sonderansiedlung im Q. S2. in Süd-Kasachstan, wohin sie zwangsumgesiedelt worden waren. Die Klägerin legte darüber hinaus ein Urteil des Gerichts für den Bezirk T1. der Stadt U1. aus dem Jahr 1997 vor, worin festgestellt wurde, dass im Jahr 1946 hinsichtlich des Vaters der Klägerin beim Standesamt für den Bezirk N. der Stadt U1. die Abänderung seines Namens von S. B. in S3. B2. und seiner Nationalität von „Deutscher“ in „Russe“ registriert worden sei. Ausweislich eines weiteren von ihr eingereichten Urteils desselben Gerichts aus dem Jahr 1999 wurde auf den Antrag der Klägerin die Änderung der Angaben in ihrer Geburtsregistereintragung betreffend den Namen ihres Vaters von S3. B2. in S. B. und seiner Nationalität von „Russe“ in „Deutscher“ beschlossen, weil dieser faktisch S. B. heiße und deutscher Nationalität sei.
5Das Bundesverwaltungsamt lehnte den Antrag durch Bescheid vom 22. Januar 2014 im Wesentlichen mit der Begründung ab: Die Klägerin habe Russland bereits 1989 verlassen und habe gemeinsam mit ihrem Ehemann ihren Lebensmittelpunkt nach H. verlegt, wo sie als Entwicklungshelferin gearbeitet habe. Darüber hinaus halte sie sich nach den Angaben ihres Sohns J. U3. auch jedes Jahr zwei bis drei Monate in Deutschland auf. Dementsprechend erfülle sie nicht die Wohnsitzvoraussetzungen des § 4 BVFG. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies das Bundesverwaltungsamt durch Widerspruchsbescheid vom 13. März 2015 zurück.
6Am 25. März 2015 hat die Klägerin Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt: Aus der Entwicklungstätigkeit, die ihr Ehemann und sie verrichtet hätten, folge, dass der Wohnsitz in Russland nicht aufgegeben worden sei. H. biete keinerlei gesicherte Lebensperspektive. Das Leben dort sei durch ständige Unsicherheit und Gefahren gekennzeichnet, sodass auch deshalb der Aufenthalt dort von vornherein nur temporär gestaltet werde.
7Die Klägerin hat beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesverwaltungsamts vom 22. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. März 2015 zu verpflichten, ihr einen Aufnahmebescheid zu erteilen.
9Die Beklagte hat beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Zur Begründung hat sie ausgeführt: Die Klägerin erfülle das Wohnsitzerfordernis nicht. Sie habe sich seit 1989 fast ausschließlich in H. aufgehalten und sei nur besuchsweise im Aussiedlungsgebiet gewesen. Außerdem fehle bisher ein Nachweis darüber, dass die Klägerin ausreichende deutsche Sprachkenntnisse besitze, auch wenn die Bestätigung des Mitarbeiters der deutschen Botschaft in D. für die Richtigkeit ihrer Angaben spreche. Auch wenn nicht alle Zweifel ausgeräumt seien, unterstelle sie die deutsche Abstammung der Klägerin.
12Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 8. November 2016 im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen: Die Klägerin habe 1989 einen Wohnsitz in D. begründet und dort bisher beibehalten. Dort und nicht in der ehemaligen Sowjetunion seien sie und ihr Ehemann fortlaufend beruflich tätig gewesen. Angesichts der erheblichen Entfernung zum Aussiedlungsgebiet spreche nichts für die Annahme, die Klägerin habe den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse in U1. oder T. gehabt und sich in D. gleichsam nur besuchsweise im Sinne einer Zweitwohnung aufgehalten. Zwar könne nach § 7 Abs. 2 BGB ein Wohnsitz auch an mehreren Orten bestehen. Es müssten dann aber die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 BGB für beide Wohnsitze vorliegen, also beide Orte gleichgewichtig den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse bilden. Dafür bestünden aber im Fall der Klägerin keine Anhaltspunkte. Denn der Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse habe in D. gelegen, weil dort die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz bestanden und die Aufenthalte im Aussiedlungsgebiet jeweils anlassbezogen erfolgt seien, ohne einen dauerhaften Aufenthalt vorauszusetzen. Dem stehe auch nicht die Sicherheitslage in H. entgegen. Der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse hänge nicht von der Sicherheit des Aufenthaltsorts ab. Die Erteilung eines Aufnahmebescheids scheitere damit bereits am Wohnsitzerfordernis, sodass es auf die Klärung der weiteren Voraussetzungen der Spätaussiedlereigenschaft nicht ankomme.
13Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung trägt die Klägerin vor: Zwischenzeitlich habe sich eine neue Situation ergeben. Ihr Ehemann habe seine berufliche Tätigkeit zum 31. Juli 2017 beendet. Folge sei die Beendigung des Aufenthalts in H. . Denn auch die Befugnis, sich dort aufhalten zu können, ende mit der Beendigung der Berufstätigkeit. Außerdem sei ihre einzige Einnahmequelle nunmehr die russische Rente. Sämtliche Steuern und Sozialabgaben habe sie an entsprechende Stellen in Russland abgeführt. Hinzu komme, dass ein Export der russischen Rente ins Ausland ausgeschlossen sei. Diese Perspektivlosigkeit habe von Anfang an bestanden. Von daher sei die Annahme realitätsfern, sie habe sich auf unabsehbare Dauer außerhalb der Russischen Föderation niederlassen wollen.
14Die Klägerin beantragt,
15das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesverwaltungsamts vom 22. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. März 2015 zu verpflichten, ihr einen Aufnahmebescheid zu erteilen.
16Die Beklagte beantragt,
17die Berufung zurückzuweisen.
18Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
19E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
20Die zulässige Berufung ist begründet. Der ablehnende Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 22. Januar 2014 und der Widerspruchsbescheid vom 13. März 2015 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids.
21Rechtsgrundlage für die Erteilung des Aufnahmebescheids sind die §§ 26 und 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG in der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats maßgeblichen Fassung des Gesetzes vom 20. November 2015 (BGBl. I S. 2010).
22Vgl. hierzu etwa BVerwG, Urteil vom 22. April 2004 - 5 C 27.02 -, Buchholz 412.3 § 27 BVFG Nr. 11; auch BVerwG, Urteile vom 16. Juli 2015 ‑ 1 C 29.14 -, BVerwGE 152, 283 (294 ff., Rn. 37 ff.), und - 1 C 30.14 -, juris, Rn. 33 ff., wonach (nur) bei der Anwendung des § 15 Abs. 1 BVFG aus Gründen des materiellen Rechts eine andere Rechtslage maßgeblich sein kann.
23Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG wird der Aufnahmebescheid auf Antrag Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Geltungsbereich des Gesetzes die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen.
24Die Klägerin erfüllt die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG. Spätaussiedler aus dem hier in Rede stehenden Aussiedlungsgebiet der ehemaligen Sowjetunion kann nach § 4 Abs. 1 BVFG nur sein, wer deutscher Volkszugehöriger ist, die Republiken der ehemaligen Sowjetunion nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen hat und zuvor zu bestimmten Zeiten, die hier nicht im Streit stehen, seinen Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten hatte. Deutscher Volkszugehöriger ist nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG, wer von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat. Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum muss nach § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG bestätigt werden durch den Nachweis der Fähigkeit, zum Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung über den Aufnahmeantrag zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen zu können.
25I. Die Klägerin erfüllt das Wohnsitzerfordernis nach § 4 Abs. 1 BVFG. Sie hat ihren Wohnsitz noch in den Aussiedlungsgebieten.
261. Der Wohnsitzbegriff des Bundesvertriebenengesetzes entspricht dem des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), so dass die Frage, ob ein Aufnahmebewerber seinen Wohnsitz (noch) im Aussiedlungsgebiet hat, nach den Vorschriften der §§ 7 bis 11 BGB zu beantworten ist.
27Vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Januar 1989 - 9 B 356/88 -, Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr. 41; OVG NRW, Urteile vom 10. Dezember 1999 - 14 A 4582/96 -, und vom 14. Juni 2012 - 11 A 2169/10 -, juris, Rn. 29 f., m. w. N.
28a. Nach § 7 Abs. 1 BGB begründet, wer sich an einem Orte ständig niederlässt, an diesem Orte seinen Wohnsitz. Der Wohnsitz kann gemäß § 7 Abs. 2 BGB gleichzeitig an mehreren Orten bestehen. Nach § 7 Abs. 3 BGB wird der Wohnsitz aufgehoben, wenn die Niederlassung mit dem Willen aufgehoben wird, sie aufzugeben.
29Die Wohnsitzbegründung setzt in objektiver Hinsicht eine Niederlassung in dem Sinn voraus, dass der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse am Ort der Aufenthaltsnahme gebildet wird. In subjektiver Hinsicht ist der Wille erforderlich, den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse dort dauernd beizubehalten. Die Wohnsitzaufhebung verlangt außer der tatsächlichen Aufgabe der Niederlassung einen Willensakt, den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse nicht am bisherigen Wohnsitz zu belassen. Der Aufgabewille ist aus den konkreten Umständen des Einzelfalles zu ermitteln und kann häufig aus der Tatsache hergeleitet werden, dass die bisherige Niederlassung für lange Dauer, insbesondere mit dem Ziel der Auswanderung, verlassen und ein neuer Wohnsitz begründet worden ist.
30Vgl. OVG NRW, Urteile vom 20. September 1996 - 2 A 3387/93 -, m. w. N., und vom 14. Juni 2012 - 11 A 2169/10 -, juris, Rn. 32 f., m. w. N.
31Dem - zum subjektiven Niederlassungswillen gehörenden - Merkmal der Dauerhaftigkeit steht die Ungewissheit darüber, ob die Niederlassung für immer beibehalten werden kann oder bei Gelegenheit in unbestimmter Zeit wieder aufgegeben werden muss, nicht entgegen. Die Ungewissheit, wie lange ein Aufenthalt dauern wird, kann deshalb kein Abgrenzungsmerkmal zwischen Wohnsitz und bloßem Aufenthalt sein. Deshalb steht der Begründung eines Wohnsitzes nicht schon der Umstand entgegen, dass die Verwirklichung des Willens zum dauernden Aufenthalt von ausländerrechtlichen Genehmigungen abhängig ist. Werden sie nicht erteilt oder nicht verlängert, so führt dies zwar notwendig zur Aufgabe der Niederlassung und damit zum Wegfall der Voraussetzungen eines Wohnsitzes. Die insoweit in der Regel bestehenbleibende rechtliche Ungewissheit schließt aber, solange die mit der Verlegung des räumlichen Lebensmittelpunktes verbundene Niederlassung tatsächlich besteht, den auf dauernde Aufenthaltnahme gerichteten Niederlassungswillen und damit die Begründung des Wohnsitzes nicht aus.
32Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 1989 ‑ 9 C 6.89 -, BVerwGE 82, 177 (179 f.) = juris, Rn. 11, m. w. N.
33Die Annahme des subjektiven Elements der Begründung bzw. der Aufgabe eines Wohnsitzes erfordert eine umfassende Würdigung nicht nur arbeitsvertraglicher, sondern sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls.
34Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Juni 2013 – 5 B 87.12 -, juris, Rn. 8; vorgehend OVG NRW, Urteil vom 30. August 2012 - 11 A 2558/11 -, juris, betreffend eine Balletttänzerin aus der Russischen Föderation, die an der Wiener Staatsoper engagiert war und dort in der Zeit von 2007 bis 2010 Jahresverträge erhalten hatte.
35Allein der Umstand, dass etwa ein Studium im Ausland aufgenommen wird, führt weder zur Aufgabe des Wohnsitzes im Inland noch zur Begründung eines neuen (ausschließlichen) Wohnsitzes im Ausland.
36Vgl. OLG Frankfurt/M. Beschluss vom 9. Februar 2009 - 1 WF 32/09 -, juris; OVG NRW, Urteil vom 14. Juni 2012 - 11 A 2169/10 -, juris, Rn. 38 f., m. w. N.
37b. Ein mehrfacher Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 2 BGB kann nur angenommen werden, wenn die betreffende Person an mehreren Orten Schwerpunkte ihrer Lebensbeziehungen hat. Diese verschiedenen Orte müssen „gleichermaßen“ den Schwerpunkt der gesamten Lebensverhältnisse bilden. Dafür ist zunächst erforderlich (aber nicht ausreichend), dass die Person mehrere eingerichtete Wohnstätten besitzt. Hinzukommen muss, dass diese auch tatsächlich und dauernd - wenn auch nicht gleichzeitig und ununterbrochen - bewohnt werden und auch die sonstigen Lebensverhältnisse zu beiden Orten so gewichtige Bezüge haben, dass für beide Orte die tatsächlichen und willensmäßigen Voraussetzungen des § 7 BGB gegeben sind. Kein Ort darf nur Schwerpunkt eines begrenzten Teils der Lebensbeziehungen sein, z. B. nur eines Teils der gewerblichen Tätigkeit oder einer außerberuflichen politischen Betätigung. Eine Ferienwohnung stellt daher in der Regel keinen zweiten Wohnsitz dar, anders nur dann, wenn sie regelmäßig für bestimmte Jahreszeiten räumlicher Mittelpunkt des gesamten Lebens ist. Nicht ausreichend ist, wenn der Ort nur für Besuchsaufenthalte aufgesucht wird, selbst wenn diese mehrere Monate dauern. Andererseits muss die Person die verschiedenen Wohnungen nicht ständig gleichzeitig bewohnen, sondern kann auch abwechselnd den Schwerpunkt an den einzelnen Orten haben. Auch für die Existenz mehrerer Wohnsitze im Sinne des § 7 Abs. 2 BGB ist die bloße polizeiliche Anmeldung nicht maßgebend, sondern nur ein Indiz. Wer sich nur im Hinblick auf Schul- oder Wahlbezirke oder aus sonstigen taktischen Gründen eine Zweitwohnung nimmt und anmeldet, ohne dort einen wirklichen Lebensschwerpunkt zu setzen, begründet keinen Wohnsitz im Sinne von § 7 BGB.
38Vgl. Kannowski, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2013, § 7 Rn. 17 ff., m. w. N.
392. Gemessen an diesen Maßstäben hat die Klägerin seit 1989 bis Juli 2017 einen Wohnsitz in D. gehabt und ihren Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet ununterbrochen beibehalten.
40a. Die Klägerin hat 1989 mit ihrem Ehemann einen Wohnsitz in D. begründet. Dort hatte sie dauerhaft Aufenthalt genommen; der Wohnsitz in D. bildete einen Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse. Der Aufenthalt war auch anders als im Falle eines Studierenden nicht nur auf den Zeitraum eines Studiums beschränkt, sondern war angesichts der Tätigkeit des Ehemanns der Klägerin auf unbestimmte Dauer angelegt. Allein der Umstand, dass der Ehemann nur Zeitverträge an der Universität in D. erhalten hat, ändert nichts daran, dass sich die Klägerin (auch) dort niedergelassen hat. Denn die Ungewissheit, wie lange ein Aufenthalt dauern wird, ist nach den oben aufgeführten Grundsätzen kein geeignetes Abgrenzungsmerkmal zwischen Wohnsitz und bloßem Aufenthalt. Auch die widrigen Lebensverhältnisse in D. stehen der Wohnsitzbegründung nicht entgegen, zumal sich die Klägerin und ihr Ehemann, wenn auch mit Unterbrechungen, dort fast 30 Jahre aufgehalten haben.
41b. Die Klägerin hat jedoch ihren Wohnsitz in der Russischen Föderation nie aufgegeben. Mit Blick auf den glaubhaften Vortrag der Klägerin, den sie durch ein umfangreiches Unterlagenkonvolut belegt hat, ist ein Aufgabewille nicht zu erkennen. Nach ihren Angaben hat sie in der Russischen Föderation immer eingerichtete Wohnstätten gehabt, erst in U1. und später in T. . Ihre Angaben hat sie u. a. belegt, in dem sie etwa die Wohnung bzw. das Haus in T. betreffende Energieversorgungsverträge, Nebenkostenabrechnungen über mehrere Jahre, Belege über die Anschaffung von Baumaterial und Möbeln und eine Meldebescheinigung vorgelegt hat.
42c. Die Klägerin hatte Mittel- und Schwerpunkte ihrer Lebensbeziehungen an beiden Orten.
43Nach den von der Beklagten unbestrittenen Angaben der Klägerin verfügte sie über zwei Wohnstätten, eine in D. und eine in der Russischen Föderation. Sie hatte auch zu beiden Orten so gewichtige Bezüge, dass für beide Orte die Voraussetzungen des § 7 BGB gegeben gewesen sind. Weder D. noch die Russische Föderation waren Schwerpunkt eines nur begrenzten Teils ihrer Lebensbeziehungen. In D. lag zwar die hauptsächliche Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz, andererseits haben sie und ihr Ehemann Sozialabgaben und Steuern immer in der Russischen Föderation und nicht in H. geleistet. Nur in der Russischen Föderation waren und sind sie krankenversichert; nur dort verfügen sie über Wohnungseigentum; nur dort haben sie den Hausarzt konsultiert.
44Die Aufenthalte der Klägerin in der Russischen Föderation dienten auch immer wieder Zwecken, die Wohncharakter hatten und nicht mit bloßen Aufenthalten in Ferienwohnungen vergleichbar waren. Die Klägerin war weder nur (kurzfristig) besuchsweise in der Russischen Föderation noch hielt sich dort jeweils allein zur Regelung von familiären Angelegenheiten auf. Sie hat immer wieder für längere Zeiträume in der Russischen Föderation gelebt, etwa weil ein Sohn dort noch zur Schule ging, ein anderer Sohn operiert wurde, die Mutter erkrankte und verstarb, sie das Enkelkind über einen Zeitraum von sechs Monaten betreut hat, der Vater erkrankte und verstarb, sie sich um die von den Eltern ererbte Wohnung kümmern und dafür neue Mieter finden musste, neues Wohnungseigentum erwarb, den Neubau des Hauses in T. begleitete, wegen des Verkaufs von Garage, Auto und Garten, weil der Bruder verstarb und weil Anschlüsse und weitere Arbeiten am neuerrichteten Haus fertiggestellt werden mussten.
45d. Auch der Umstand, dass sie sich bei ihrem Sohn J. , der seit 1994 in Deutschland lebt, immer wieder längere Zeit aufgehalten hat, spricht nicht für eine Aufgabe ihres Wohnsitzes in der Russischen Föderation. Denn dort war und ist sie - wovon auch die Beklagte ausgeht - jeweils nur besuchsweise.
46e. Der am 23. Juli 2010 ausgestellte Inlandspass der Klägerin belegt im Übrigen ihre Reisetätigkeit zwischen ihren Wohnsitzen. Er weist verschiedene Stempel über Ein- und Ausreisen per PKW oder Flugzeug aus und nach H. bzw. aus der und in die Russischen Föderation für die Jahre 2011 bis 2015 auf.
47II. Die Klägerin erfüllt auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 BVFG.
481. Sie stammt von einem deutschen Volkszugehörigen ab.
49a. Der im Jahr 1924 geborene Vater ist von den russischen Behörden als deutscher Volkszugehöriger angesehen worden. Er hatte zwar im Jahr 1946 und damit vor der Geburt der Klägerin ein Gegenbekenntnis zum russischen Volkstum abgelegt, indem er seinen deutschen Namen und seine Nationalität änderte und sich mit einem russischen Namen und russischer Nationalität beim Standesamt in U1. registrieren ließ. Dies dürfte zum einen mit Blick auf den Zeitpunkt, in dem er dieses Gegenbekenntnis abgegeben hat, nicht beachtlich sei (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 4 BVFG). Zum anderen war er, so die nach seinem Tod getroffenen Feststellungen des Gerichts für den Bezirk T1. der Stadt U1. in seinem Urteil vom 20. Mai 1999, „Faktisch“ „Deutscher“; entsprechend dem Urteilsausspruch wurde auch die Geburtsurkunde der Klägerin geändert und der Vater mit deutscher Nationalität eingetragen.
50b. Die Klägerin kann das Merkmal der Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen auch von ihren Großeltern väterlicherseits K. und P. B. ableiten. Der in § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG verwendete Abstammungsbegriff erfasst auch die Großeltern.
51Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2008 ‑ 5 C 8.07 -, BVerwGE 130, 197 (199 f., Rn. 14) = juris, Rn. 14.
52Die Schwestern des Vaters verfügen über Aufnahmebescheide bzw. Spätaussiedlerbescheinigungen, d. h. sie erfüllten das für die Erteilung dieser Bescheide bzw. die Ausstellung dieser Bescheinigungen notwendige Merkmal der Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen, weil festgestellt worden war, dass ihre Eltern, die Großeltern der Klägerin, deutsche Volkszugehörige waren.
53Abgesehen davon bestreitet die Beklagte das Tatbestandsmerkmal der Abstammung nicht (mehr).
542. Die Klägerin hat ein Bekenntnis durch Nationalitätenerklärung abgegeben. Sie ist in ihrem am 29. August 2000 ausgestellten Inlandspass mit deutscher Nationalität eingetragen.
553. Die Klägerin hat auch den nach § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG erforderlichen Nachweis erbracht, dass sie über die Fähigkeit verfügt, zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen zu können. Denn als ein solcher Nachweis ist die Bestätigung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in D. vom 17. Juni 2002 anzusehen, wonach sie über gute deutsche Sprachkenntnisse verfügt. Auch aus der Bestätigung der Universität in D. vom 8. Juli 2013 ergibt sich, dass sie ausreichende deutsche Sprachkenntnisse hat; denn danach hat sie an der Universität den Grundsprachkurs „Deutsch“ gegeben.
56Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
57Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.
58Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.