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Rückkehrenden syrischen Asylbewerbern droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit deswegen politische Verfolgung, weil sie sich dem Wehrdienst in der syrischen Armee durch Flucht nach Deutschland entzogen haben.
Das angegriffene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt der Kläger.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Der Kläger, ein 20jähriger syrischer Staatsangehöriger, gebürtig aus Damaskus, erhielt im Juni 2014 die Aufforderung, am 19.3.2015 seinen Wehrdienst in der syrischen Armee anzutreten. Mitglied in bewaffneten oder politischen Organisationen oder sonst politisch aktiv war er nicht. Im September 2014 verließ er Syrien, verblieb in der Türkei und reiste sodann über die Balkanroute nach Deutschland ein, wo er sich am 2.2.2016 als Asylbewerber meldete. Er ist verheiratet. Seine Großfamilie, insbesondere Ehefrau, Eltern und Geschwister, sind in Syrien verblieben. Tanten leben in den Niederlanden und Belgien. Vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab er an, Syrien wegen des Militärdienstes verlassen zu haben. Er sei in die Türkei gegangen, um hierher kommen zu können und eine bessere Zukunft zu haben. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er persönliche Schwierigkeiten wegen des Militärdienstes. Auch seine Familie könne Schwierigkeiten bekommen, da man behaupten werde, seine Familie hätte ihm bei der Entziehung vom Militärdienst geholfen.
3Mit Bescheid vom 3.8.2016 erkannte die Beklagte subsidiären Schutz zu, weil der Kläger in Syrien an Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ernsthaft bedroht sei, lehnte aber unter Nr. 2 des Bescheides die Zuerkennung weitergehenden Schutzes ab.
4Mit der rechtzeitig erhobenen Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er hat vorgetragen: Syrische Staatsangehörige würden wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerfristigen Aufenthalts im westlichen Ausland bei Rückkehr in Anknüpfung an eine tatsächliche oder vermutete regimefeindliche politische Gesinnung verfolgt.
5Der Kläger hat beantragt,
6die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 des Bescheides der Beklagten vom 3.8.2016 zu verpflichten, gegenüber ihm, dem Kläger, die Flüchtlingseigenschaft festzustellen.
7Die Beklagte hat beantragt,
8die Klage abzuweisen.
9Mit dem angegriffenen Urteil hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben. Dagegen richtet sich die vom Senat zugelassene und rechtzeitig begründete Berufung der Beklagten.
10Sie trägt vor: Nach zutreffender ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats drohe unverfolgt ausgereisten Syrern keine politische Verfolgung wegen illegaler Ausreise, eines Asylantrags und des Aufenthalts im Ausland. Politische Verfolgung drohe auch nicht wegen eventuell drohender Sanktionen bei Wehrdienstentziehung. Die unterschiedslose allgemeine Anwendung von Sanktionen auf alle betroffenen Bevölkerungsgruppen stelle keine politische Verfolgung dar. Es sei nicht ersichtlich, dass Desertion oder Wehrdienstentziehung ohne Hinzutreten besonderer Umstände als Ausdruck politischer Gegnerschaft gewertet und bekämpft werde. Insbesondere sei keine an eine politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung erkennbar. Zur personellen Verstärkung greife das Regime sogar zu einer Generalamnestie für Deserteure und Wehrdienstverweigerer. Das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee spreche dagegen, politische Verfolgung solcher Personen anzunehmen.
11Sie beantragt,
12das angegriffene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
13Der Kläger stellt keinen ausdrücklichen Antrag, tritt aber der Berufung entgegen und trägt vor: Nach wie vor sei davon auszugehen, dass Rückkehrern, die aus Syrien illegal ausgereist seien, einen Asylantrag gestellt und sich im Ausland aufgehalten hätten, vom syrischen Staat eine regimefeindliche Haltung zugeschrieben werde. Sie würden daher bei der obligatorischen Einreisebefragung bis hin zur Folter menschenrechtswidrig behandelt. Die Beklagte habe bis Anfang 2016 syrischen Asylbewerbern den Flüchtlingsstatus zuerkannt. Gründe, dass sich die Situation geändert haben könnte, seien nicht ersichtlich. Aus dem Fehlen von Referenzfällen könne nicht eine fehlende Gefahrensituation gefolgert werden. Der Grund für das Fehlen von Referenzfällen liege vielmehr darin, dass gerade wegen der Verschärfung des innerstaatlichen Konflikts keine Abschiebungen zumindest aus dem westlichen Ausland nach Syrien stattfänden. Zu Recht werde daher nach wie vor durch die Rechtsprechung, so etwa auch noch am 8.3.2017 durch das Verwaltungsgericht Münster, syrischen Asylbewerbern der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Er, der Kläger, sei besonders gefährdet, weil er sich dem Militärdienst entzogen habe. Seit Herbst 2014 seien die Mobilisierungsmaßnahmen der syrischen Armee intensiviert worden. Rückstellungen und Freistellung durch Bestechung seien schwieriger geworden. Deserteure und Wehrdienstentzieher würden verhaftet und verurteilt. Ihnen drohe eine Bestrafung, die über den normalen Strafrahmen hinausgehe, etwa Einzelhaft, Militärverfahren, Folter, lebenslange Haft und Hinrichtung.
14Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Unterlagen Bezug genommen.
15Entscheidungsgründe:
16Die zulässige Berufung ist begründet. Die zulässige Klage ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Ablehnung der Zuerkennung im angegriffenen Bescheid ist rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung ‑ VwGO ‑). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
17Dem Kläger steht kein Flüchtlingsschutz nach § 3 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) zu. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründen) außerhalb des Landes (Herkunftslands) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
18Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG kann als eine solche Verfolgung insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten. Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind u. a. gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.
19Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt.
20Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 ‑ 10 C 52.07 ‑, BVerwGE 133, 55, Rn. 22, 24.
21Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
22Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 ‑ 10 C 23.12 ‑, BVerwGE 146, 67, Rn. 19.
23Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 (ABl. L 337/9) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
24Vgl. BVerwG, Urteil vom 1.3.2012 ‑ 10 C 7.11 ‑, Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG, Nr. 43, Rn. 12, zur Vorgängerrichtlinie.
25Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, nicht durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften.
26Vgl. BVerwG, Urteil vom 1.6.2011 ‑ 10 C 25.10 ‑, BVerwGE 140, 22, Rn. 21 f.
27Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 ‑ 10 C 23.12 ‑, BVerwGE 146, 67, Rn. 32.
29Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Furcht des Klägers vor politischer Verfolgung unbegründet.
30Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer solchen Verfolgung kann nicht festgestellt werden. In Betracht kommt alleine eine Verfolgung durch den syrischen Staat, da eine ‑ hypothetische ‑ Abschiebung alleine über eine Flugverbindung denkbar ist. Insoweit kommt hier ernsthaft nur Damaskus in Betracht.
31Vgl. Auswärtiges Amts, Stellungnahme vom 12.10.2016 gegenüber dem Verwaltungsgericht Trier, Az. 313-516.00 SYR, zu den beiden allein geöffneten Flughäfen Damaskus und dem im Kurdengebiet gelegenen Qamishly. Daneben soll auch noch der unter Kontrolle des syrischen Regimes stehende Flughafen Latakia für internationale Flüge offen stehen, vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 21.3.2017, Syrien: Rückkehr, S. 6.
32Der Senat hat die tatsächliche Situation in Syrien dahin bewertet, dass aus dem Ausland rückkehrenden syrischen Asylbewerbern, auch wenn sie Syrien illegal verlassen haben, keine politische Verfolgung droht wegen einer zugeschriebenen regimefeindlichen Gesinnung.
33Urteil vom 21.2.2017 ‑ 14 A 2316/16.A ‑, NRWE, Rn. 30 ff.
34Daran hält der Senat fest. Auch die dem Senat nach Ergehen dieser Entscheidung zugänglichen Erkenntnisse belegen, dass es belastbare Informationen über die Situation rückkehrender syrischer Asylbewerber nicht gibt.
35Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 21.3.2017, Syrien: Rückkehr, S. 9, zu rückkehrenden abgewiesenen Asylsuchenden.
36Berichtet wird aber, dass etwa im August 2015 mehrere tausend Flüchtlinge über die syrisch-jordanische Grenze zurückgekehrt sind.
37Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an den VGH Bad.-Württ. vom 22.2.2017 und an den Hess. VGH vom 1.2.2017 zu Frage 1.
38Das angegriffene Urteil und das klägerische Vorbringen geben keine Veranlassung zu einer veränderten Bewertung.
39Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung unter dem Gesichtspunkt, dass er sich durch seine Ausreise dem drohenden Wehrdienst entzogen hat und deshalb bei seiner Rückkehr mit einer Bestrafung rechnen muss.
40Eine solche Bestrafung droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Bereits die Entziehung von der Einberufung durch Verlassen des Landes ohne Hinterlassen einer Adresse wird in Syrien strafrechtlich mit Haft zwischen drei Monaten und zwei Jahren und Geldbuße verfolgt. Wehrdienstentziehung in Friedenszeiten ist mit Haft zwischen ein und sechs Monaten bedroht. In Kriegszeiten erhöht sich die Strafdrohung auf bis zu fünf Jahre Haft. Besonders hart ist die Strafdrohung, wenn der Betroffene bereits Soldat ist und desertiert. Dann drohen fünf Jahre Haft. Wenn er unter Verlassen des Landes desertiert, ist Haft zwischen fünf und zehn Jahren vorgesehen. Wer im Angesicht des Feindes desertiert oder gar zum Feind überläuft, wird mit der Todesstrafe bedroht.
41Vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Düsseldorf vom 2.1.2017 ‑ 508-9-516.80/48808 ‑, Antwort auf Frage 3.j.
42Es bestehen keine Zweifel, dass diese Strafandrohungen durchgesetzt werden. Ob sie bereits den Charakter einer Verfolgungshandlung annehmen, insbesondere eine unverhältnismäßige Strafverfolgung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG darstellen, kann offen bleiben. Denn es muss davon ausgegangen werden, dass angesichts der faktischen Rechtlosigkeit von Personen in der Gewalt der syrischen Sicherheitskräfte und des Umstands, dass die syrische Führung diesen freie Hand zu gesetzeswidrigem Handeln lässt, Wehrdienstentziehern nicht nur die genannte gesetzmäßige Bestrafung droht, sondern auch extralegale Strafen zugefügt werden. Dass ergibt sich vor allem daraus, dass Haft im Falle der Wehrdienstentziehung aus Sicht des syrischen Staates eine eher kontraproduktive Strafe ist, denn sie hindert, so lange sie andauert, die Verwertung der Wehrkraft des Betroffenen. Sollten für den Betroffenen die Haftbedingungen sogar gegenüber den Gefahren des Kriegseinsatzes vorzugswürdig sein, ginge von der Inhaftierung überhaupt keine abschreckende Wirkung im Hinblick auf Wehrdienstentziehung aus. Das alles legt es aus Sicht des syrischen Staates nahe, als abschreckende Strafe weniger auf Haft und mehr auf Körperstrafen, insbesondere Folter, oder auch auf strafweisen Einsatz in besonders gefährdeten Einheiten zu setzen. Daher wird Folter als beachtlich wahrscheinliche Reaktion auf Wehrdienstentziehung in der obergerichtlichen Rechtsprechung angenommen.
43OVG Rh.-Pf., Urteil vom 16.12.2016 ‑ 1 A 10922/16 ‑, juris, Rn. 147, 152.
44Dies entspricht auch den Erkenntnissen des Senats, wobei gelegentlich darauf verwiesen wird, dass die Reaktionen auf Wehrdienstentziehung sich über eine Bandbreite von Möglichkeiten erstrecken von sofortiger Einberufung über Verbringung an die Front, Folter, Haft und Exekution.
45Vgl. Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an den Hess. VGH vom 1.2.2017 zu Frage 3; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Mission Report. Syria: Military Service, National Defense Forces, armed Groups supporting Syrian Regime, and armed Opposition, S. 12; Danish Refugee Council, Syria, Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG, September 2015, S. 18; Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28.3.2015, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4.
46Fest steht, dass die syrische Armee durch Todesfälle, Desertionen und Überlaufen zum Feind unter schwerem Personalmangel leidet und daher eine intensive Rekrutierung stattfindet, auch mittels Durchkämmung eines Gebietes und Checkpoints.
47Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Syrien, vom 5.1.2017, S. 23 f.; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Mission Report. Syria: Military Service, National Defense Forces, armed Groups supporting Syrian Regime, and armed Opposition, S. 6; Danish Refugee Council, Syria, Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG, September 2015, S. 9 ff.; Auskunft des Auswärtigen Amts, Botschaft Beirut, an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 3.2.2016 auf Frage II.
48Der Bedarf an Soldaten zur Auffüllung der Lücken und der Anreiz für Wehrpflichtige, sich wegen der Gefährlichkeit des Kriegseinsatzes dem Wehrdienst zu entziehen, lassen es aus Sicht des syrischen Staates geboten erscheinen, gegen Wehrdienstentzieher aus Abschreckungsgründen harsch vorzugehen. Auch das lässt es als beachtlich wahrscheinlich erscheinen, dass solche Personen in einer Weise bestraft werden, die die Qualität von Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG erreicht.
49Der Wehrpflicht unterliegen jedenfalls Männer zwischen 18 und 42 Jahren. In der Praxis dürften aber wegen des erhöhten Bedarfs auch ältere Männer zum Wehrdienst herangezogen werden.
50Vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Düsseldorf vom 2.1.2017 ‑ 508-9-516.80/48808 ‑, Antwort auf Frage 3.c.; Auskunft der deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 3.2.2016 auf Frage II.: in Ausnahmesituationen bis zum 52. Lebensjahr; Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an das VG Wiesbaden vom 17.1.2017: Einziehung von Reservisten bis 54 Jahre; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Syrien, vom 5.1.2017, S. 24: Einziehung von Reservisten bis 60 Jahre.
51Umstände, die die Auferlegung der Wehrpflicht selbst als politische Verfolgung erscheinen ließen,
52vgl. zu den Anhaltspunkten, die die Auferlegung der Wehrpflicht neben ihrer allgemeinen ‑ asylrechtlich nicht einschlägigen ‑ Intention auch eine Verfolgungstendenz beimessen, BVerwG, Urteil vom 31.3.1981 ‑ 9 C 6.80 ‑, BVerwGE 62, 123 (125); Urteil vom 26.6.1984 ‑ 9 C 185.83 ‑, BVerwGE 69, 320 (322),
53liegen nicht vor.
54Ebenso OVG Rh.-Pf., Urteil vom 16.12.2016 ‑ 1 A 10922/16 ‑, juris, Rn. 140 f.
55Übereinstimmend wird berichtet, dass ‑ unbeschadet möglicherweise intensiverer Rekrutierung unter als regimeloyal geltenden Gruppen ‑ unter allen ethnischen und religiösen Gruppen rekrutiert wird.
56Danish Refugee Council, Syria, Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG, September 2015, S. 10; Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28.3.2015, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 2.
57Nicht erkennbar ist weiter, dass die so als beachtlich wahrscheinlich erscheinenden Verfolgungshandlungen des syrischen Staates in Reaktion auf Wehrdienstentziehungen nach § 3a Abs. 3 AsylG an Verfolgungsgründe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpfen, also an Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, und sei es auch nur in Form einer unberechtigten Zuschreibung dieser Merkmale durch den syrischen Staat (§ 3b Abs. 2 AsylG).
58In Betracht kommt eine Anknüpfung an eine unterstellte politische Überzeugung des Wehrdienstentziehers. Dafür gibt es keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte. Soweit die bloße Behauptung aufgestellt wird, Wehrdienstentziehung werde vom syrischen Staat als Ausdruck politischen Dissenses betrachtet,
59so UNHCR, "Illegal Exit" from Syria and Related Issues for Determining the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Syria, Februar 2017, S. 20,
60werden tatsächliche Umstände für diese Annahme nicht angegeben. Der Hinweis auf drohende Verhaftung und Misshandlung einschließlich Folter führt hinsichtlich der Frage des Vorliegens eines Verfolgungsgrundes nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG nicht weiter. Wie oben ausgeführt wurde, gibt es aus Sicht des syrischen Staates Gründe für brutales Vorgehen gegen Wehrdienstentzieher ohne Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, weil es die Wehrdienstentziehung als solche im Interesse der Aufrechterhaltung der militärischen Schlagkraft des syrischen Staates zu bekämpfen gilt. Die in der genannten Stellungnahme des Hohen Flüchtlingskommissars angegebenen Quellen tragen die Einschätzung nicht. Vielmehr scheint die Stellungnahme von der allgemein von ihm vertretenen, wohl eher politisch als rechtlich motivierten Auffassung getragen zu sein, dass nur in Ausnahmefällen Asylbewerber aus Syrien die Kriterien der Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention nicht erfüllten.
61UNHCR, "Illegal Exit" from Syria and Related Issues for Determining the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Syria, Februar 2017, S. 1; vgl. zur Erfassung praktisch der gesamten Bevölkerung Syriens als schutzbedürftig im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen. 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Rn. 36, 38.
62Mangels tatsächlicher Umstände, die eine politische Verfolgung von Wehrdienstentziehern belegen, muss bewertet werden, ob ein asylrechtlich relevanter Verfolgungsgrund aus Sicht des syrischen Staates plausibel ist, ob es also plausible Gründe gibt, die die oben dargestellten anzunehmenden Verfolgungshandlungen ihrem Charakter nach objektiv als auf ein Verfolgungsmerkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gerichtet erscheinen lassen.
63Die Annahme einer politischen Verfolgung von Wehrdienstentziehern liegt noch ferner als für einfache Asylbewerber ohne Zusammenhang mit einer Wehrdienstentziehung. Denn im Gegensatz zu diesen, die regelmäßig "nur" vor den Gefahren des Bürgerkriegs für am Kriegsgeschehen unbeteiligte Zivilisten fliehen, haben Wehrpflichtige den zusätzlichen Fluchtgrund, sich vor den weitaus größeren Gefahren des unmittelbaren Kriegseinsatzes in Sicherheit zu bringen. Die ‑ völlig unpolitische ‑ Furcht Wehrpflichtiger vor einem Kriegseinsatz ist ein typisches und mächtiges Motiv zur Wehrdienstentziehung. Das Motiv ist sogar so stark, dass manche Soldaten es vorziehen, sich selbst zu verletzen, um sich wehrdienstunfähig zu machen und damit dem Wehrdienst zu entgehen. Deshalb gab und gibt es Strafvorschriften, Wehrpflichtige von einer Selbstverstümmelung zum Zwecke der Wehrdienstentziehung abzuhalten. Dies ist eine Erscheinung sowohl des alten deutschen Strafrechts wie ausländischer Rechtsordnungen und auch des geltenden Rechts in der Bundesrepublik Deutschland.
64Heute § 109 des Strafgesetzbuches für einfache Wehrpflichtige, § 17 des Wehrstrafgesetzes (WStG) für Soldaten; zum früheren deutschen und ausländischen Recht dazu Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT‑Drs. 2/3040, S. 56.
65Die Furcht vor einem Kriegseinsatz als Motiv für militärische Straftaten wie etwa ‑ neben der genannten Selbstverstümmelung ‑ Fahnenflucht (§ 16 WStG), Gehorsamsverweigerung (§ 20 WStG) oder Meuterei (§ 27 WStG) hat im deutschen Wehrstrafrecht eine ausdrückliche Regelung erfahren. Der Soldat muss "die menschliche Regung der Furcht vor Gefahr überwinden",
66vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT‑Drs. 2/3040, S. 18,
67weshalb § 6 WStG anordnet: "Furcht vor persönlicher Gefahr entschuldigt eine Tat nicht, wenn die soldatische Pflicht verlangt, die Gefahr zu bestehen."
68Das Ableisten des Wehrdienstes in Syrien ist wegen der Kampfeinsätze in weiten Teilen des Landes und der stark verkürzten Ausbildungszeit sehr gefährlich.
69Vgl. Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an den Hess. VGH vom 1.2.2017 zu Frage 3.
70Die syrische Armee sieht sich daher in hohem Maße dem Problem ausgesetzt, dass sich Wehrpflichtige dem Kriegseinsatz entziehen.
71S. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Syrien, vom 5.1.2017, S. 23; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Mission Report. Syria: Military Service, National Defense Forces, armed Groups supporting Syrian Regime, and armed Opposition, S. 5; Danish Refugee Council, Syria, Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG, September 2015, S. 9; Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28.3.2015, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 1 f.
72Angesichts des kulturübergreifend verbreiteten Phänomens der Furcht vor einem Kriegseinsatz als Motivation zur Wehrdienstentziehung in Kriegszeiten liegt es für jedermann auf der Hand, dass Flucht und Asylbegehren syrischer Wehrpflichtiger regelmäßig nichts mit politischer Opposition zum syrischen Regime, sondern allein mit ‑ verständlicher ‑ Furcht vor einem Kriegseinsatz zu tun hat. Es hieße, dem syrischen Regime ohne greifbaren Anhalt Realitätsblindheit zu unterstellen, wenn angenommen wird, es könne dies nicht erkennen und schreibe deshalb jedem Wehrdienstentzieher eine gegnerische politische Gesinnung zu. Für diese Annahme gibt es keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte, und sie ist derartig unplausibel, dass darauf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung nicht gestützt werden kann. Berechtigt ist allein wegen der für Wehrdienstentzieher drohenden Gefahr der Folter subsidiärer Schutz gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG.
73Ebenso OVG Rh.-Pf., Urteil vom 16.12.2016 ‑ 1 A 10922/16 ‑, juris, Rn. 153; OVG Saarland, Urteil vom 2.2.2017 ‑ 2 A 515/16 ‑, juris, Rn. 31.
74Demgegenüber ist der Bayerische Verwaltungsgerichtshof der Auffassung, dass Wehrpflichtigen, die sich der Wehrpflicht entziehen, wegen unterstellter oppositioneller Gesinnung Folter drohe. Zutreffend führt er aus, dass der syrische Staat im Interesse des obersten Ziels des Machterhalts jedwede Opposition gewaltsam unterdrückt und namentlich in Einrichtungen der vier Geheimdienste Folter bei völliger Rechtlosigkeit weit verbreitet ist.
75BayVGH, Urteil vom 12.12.2016 ‑ 21 B 16.30372 ‑, juris, Rn. 27 ff.
76Weiter führt das Gericht zutreffend aus, dass bei der im Falle der Rückkehr zu erwartenden Überprüfung bei Wehrpflichtigen festgestellt werde und auch festgestellt werden könne, ob sie die Wehrpflicht geleistet hätten. Wenn die Sicherheitskräfte Verdacht schöpften, hätten sie freie Hand, zu tun, was sie wollten. Die Gefahr, misshandelt zu werden, sei gerade für Männer in wehrpflichtigem Alter besonders groß.
77BayVGH, Urteil vom 12.12.2016 ‑ 21 B 16.30372 ‑, juris, Rn. 57 - 59, 73.
78In dem entscheidenden Punkt, dass nämlich der syrische Staat Wehrdienstentziehern eine oppositionelle Gesinnung unterstelle,
79BayVGH, Urteil vom 12.12.2016 ‑ 21 B 16.30372 ‑, juris, Rn. 72, 78 f.,
80benennt das Gericht jedoch keine tatsächlichen Anhaltspunkte, sondern beschränkt sich auf eine ‑ wie oben dargestellt ‑ unplausible Spekulation. Gerade die vom Gericht zutreffend festgestellten Tatsachen, dass der syrische Staat wegen des bürgerkriegsbedingt hohen Bedarfs an Soldaten versucht, wehrdienstpflichtige Männer im Lande zu halten, Reservisten einzuberufen und nach ungedienten Wehrpflichtigen zu fahnden,
81BayVGH, Urteil vom 12.12.2016 ‑ 21 B 16.30372 ‑, juris, Rn. 60 ff.,
82erklären das brutale Vorgehen gegen Wehrdienstentzieher ohne jeden Zusammenhang mit der politischen Gesinnung der Wehrpflichtigen.
83Soweit eingewandt wird, das syrische Regime sei unberechenbar, rationale Überlegungen könnten ihm nicht unterstellt werden, so mag das zutreffen.
84Zur willkürlichen Gewaltanwendung syrischer Sicherheitskräfte vgl. zuletzt Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 21.3.2017, Syrien: Rückkehr, S. 8 f.
85Daraus folgt aber lediglich, dass mit willkürlicher Anwendung von Folter und willkürlichen Misshandlungen gerechnet werden muss, also gerade nicht mit Verfolgungshandlungen in Verknüpfung mit spezifischen Verfolgungsgründen. Solche willkürliche, von den spezifischen Verfolgungsgründen des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG losgelöste Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung begründen jedoch keinen Flüchtlingsschutz, sondern einen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG.
86Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist auch nicht wegen einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG gerechtfertigt. Danach kann Verfolgungshandlung sein die "Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 fallen". § 3 Abs. 2 AsylG schließt Personen von der Flüchtlingsanerkennung trotz Vorliegens einer grundsätzlich asylrelevanten Verfolgung aus, wenn es sich ‑ verkürzt gesagt ‑ um ‑ vor allem unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten ‑ Schwerkriminelle handelt.
87Diese Vorschriften beruhen unionsrechtlich auf Art. 9 Abs. 1 Buchst e, 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlament und des Rates vom 13.12.2011 (Vorgängervorschriften: Art. 9 Abs. 2 Buchst. e, Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004). Ursprünglich empfahl der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen wegen eines vermeintlich in der Entstehung befindlichen Rechts auf Wehr- und Kriegsdienstverweigerung, Flüchtlingsschutz zu gewähren, wenn die Ableistung des Militärdienstes im Widerspruch zur politischen, religiösen oder moralischen Überzeugung oder zu anzuerkennenden Gewissensgründen des Wehrpflichtigen stehen würde. Die Kommission konnte sich mit einem daran ausgerichteten Vorschlag nicht durchsetzen, weil mehrere Mitgliedstaaten sich grundsätzlich gegen eine flüchtlingsrechtliche Privilegierung der Ablehnung des Militärdienstes aus subjektiven Erwägungen oder Überzeugungen wandten. Stattdessen wurde das objektive Kriterium des Zwangs zur Teilnahme an einer völkerrechtswidrigen Militäraktion eingeführt.
88Vgl. zur Entstehungsgeschichte Hailbronner, Ausländerrecht, Ordner 3, Loseblattsammlung (Stand: Dezember 2016), § 3a AsylVfG, Rn. 29 ff.; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 9, Rn. 200 f.; Keßler in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl., § 3a AsylVfG/AsylG, Rn. 17.
89Bei Vorliegen dieser objektiven Kriterien liegt in der Strafverfolgung oder Bestrafung eine Verfolgungshandlung, die aber, um asylrelevant zu sein, wie alle Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund aufweisen muss.
90In tatbestandlicher Hinsicht ist der Kreis der erfassten Wehrdienstverweigerer nicht auf bestimmte Militärangehörige etwa nach Dienstgrad oder konkret ausgeübter Tätigkeit beschränkt, sondern umfasst alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen und des Unterstützungspersonals.
91EuGH, Urteil vom 26.2.2015 ‑ C-472/13 ‑, juris, Rn. 33, 37.
92Allerdings sind nicht alle Militärangehörigen schon deshalb tatbestandlich erfasst, wenn das Militär Verbrechen oder Handlungen begeht, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Denn das Gesetz fordert, dass "der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen" dieser Art "umfassen" muss, es knüpft also an den vom Asylbewerber geforderten Militärdienst an. Erfasst sind daher nur Personen, bei denen es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass sie sich bei der Ausübung ihrer Funktionen in hinreichend unmittelbarer Weise an solchen Handlungen beteiligen müssten. Dabei kann, da es um die Verweigerung künftiger Handlungen solcher Art geht, nicht gefordert werden, dass feststehen muss, dass die Einheit, der der Antragsteller angehört, bereits Kriegsverbrechen begangen hat.
93EuGH, Urteil vom 26.2.2015 ‑ C-472/13 ‑, juris, Rn. 38.
94Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die syrischen Streitkräfte Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG begehen, insbesondere Kriegsverbrechen in Form kriegerischer Angriffe einschließlich des Einsatzes chemischer Kampfstoffe gegen Zivilpersonen.
95Zum Begriff des Kriegsverbrechens in § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AsylG in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten unter Bezugnahme auf Art. 8 Abs. 2 Buchst. c bis f des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.7.1998 ‑ BGBl 2000 II S. 1394 ‑ vgl. BVerwG, Urteil vom 16.2.2010 ‑ 10 C 7.09 ‑, BVerwGE 136, 89, Rn. 27; s. zu den von den syrischen Streitkräften 2016 begangenen Kriegsverbrechen Amnesty International, Amnesty Report 2017, Syrien, Berichtszeitraum 1.1.2016 bis 31.12.2016, https://www.amnesty.de/jahresbericht/2017/syrien; zum Zeitraum 21.7.2016 bis 28.2.2017 s. den Bericht der Unabhängigen internationalen Untersuchungskommission für Syrien vom 10.3. 2017 an den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, S. 6 ff., http://www.ohchr.org/EN/ HRBodies/HRC/IICISyria/Pages/Documentation.aspx; Auskunft des Auswärtigen Amts, Botschaft Beirut, an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 3.2.2016 auf Frage IV. zum Einsatz von Fassbomben auf zivile Ziele; zum jüngsten Chemiewaffeneinsatz s. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Syrien, Der Giftgasangriff von Khan Sheikhun und seine Folgen, vom 7.4.2017.
96Hier fehlt es an dem Merkmal des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, wonach der Militärdienst für den Kläger solche Verbrechen und Handlungen umfassen muss. Ausgehend von dem oben dargestellten Maßstab des Gerichtshofs der Europäischen Union erscheint es bei vernünftiger Betrachtung nicht plausibel, dass sich der Kläger bei Ausübung eines zukünftigen Wehrdienstes in hinreichend unmittelbarer Weise an den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Handlungen beteiligen müsste. Der Kläger ist als ungedienter Wehrpflichtiger überhaupt keiner Einheit zugeteilt, sondern muss seine militärische Ausbildung noch durchlaufen. Erst danach könnte sich überhaupt erst absehen lassen, ob und wie er tatsächlich mit den genannten Handlungen in Berührung kommen könnte.
97Weiter fehlt es an dem Merkmal, dass eine Wehrdienstverweigerung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit stattgefunden hat oder zu erwarten ist. Der Kläger hat den Wehrdienst nicht verweigert, sondern er hat sich dem Wehrdienst durch Flucht entzogen. Der Begriff der Wehrdienstverweigerung erfordert mehr als die bloße Nichterfüllung des Wehrdienstes durch Flucht, sondern die Versagung, die Abschlagung des Verlangens nach Erfüllung des Wehrdienstes, also die explizite Ablehnung des Wehrdienstes.
98Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Nachdruck von 1984 der Erstausgabe von 1956, Bd. 25, Sp. 2173 (Stichwort: Verweigerung).
99Auch das deutsche Wehrstrafrecht differenziert zwischen bloßem Ungehorsam in Form der Nichtbefolgung eines Befehls (§ 19 WStG) und Gehorsamsverweigerung durch Auflehnung gegen einen Befehl mit Wort oder Tat oder Beharren, einen wiederholten Befehl nicht zu befolgen (§ 20 WStG). Dieses Element erklärter Ablehnung des angesonnenen Tuns ist auch den entsprechenden Begriffen des Art. 9 Abs. 1 Buchst e der Richtlinie 2011/95/EU in anderen EU-Amtssprachen eigen, etwa im Englischen dem Begriff "refusal to perform military service", im Französischen dem Begriff "refus d'effectuer le service militaire", im Italienischen dem Begriff "rifiuto di prestare servizio militare" und im Spanischen dem Begriff "negativa a cumplir el servicio militar". Erforderlich ist also eine inhaltlich ablehnende Erklärung zum Wehrdienst.
100Der Kläger hat weder in Syrien den Wehrdienst verweigert noch auch nur behauptet, dass er im hypothetischen Fall einer Rückkehr nach Syrien den Wehrdienst verweigern werde. Auch eine solche Behauptung müsste glaubhaft sein, wobei dabei zu berücksichtigen ist, dass schon die Wehrdienstentziehung durch Ausreise Verfolgungshandlungen nach sich zieht und wie konkret eine Beteiligung an Kriegsverbrechen absehbar ist. Das Gericht müsste sich gemäß § 108 Abs. 1 VwGO aufgrund eines vollständig und richtig festgestellten Sachverhalts die Überzeugung bilden und dazu die Gründe im Urteil angeben, dass eine hinreichend unmittelbare Beteiligung an etwa kriegsverbrecherischen Handlungen und eine Wehrdienstverweigerung im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich zu erwarten wäre.
101Zur asylrechtlichen Prognose bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Asylsuchenden in seinen Heimatstaat und der insoweit zu fordernden angemessenen und methodisch einwandfreien Erarbeitung der tatsächlichen Grundlagen sowie zur Offenlegung der maßgeblichen Umstände in nachprüfbarer und nachvollziehbarer Weise vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 ‑ 9 C 72.90 ‑, BVerwGE 87, 141 (149 f.).
102Selbst wenn hier eine hinreichend unmittelbare Beteiligung an den inkriminierten Handlungen und eine Wehrdienstverweigerung in Rede stünden, erfordert § 3a Abs. 3 AsylG, dass die dann drohende Strafverfolgung oder Bestrafung mit einem Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG verknüpft ist. Welche Anforderungen insoweit zu stellen sind, bedarf angesichts des Fehlens des Tatbestands keiner weiteren Prüfung.
103Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 10 sowie 711 der Zivilprozessordnung.
104Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen. Die hier allein entschiedene Frage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist die Tatsachenfrage, ob eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG für nach Syrien rückkehrende Asylbewerber wegen Wehrdienstentziehung besteht. Das unterliegt nicht der Beurteilung des Revisionsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO).
105Vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 24.4.2017 ‑ 1 B 22.17 ‑.