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Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens.
Gründe:
2Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet.
3Auf der Grundlage des fristgerechten Beschwerdevorbringens, auf dessen Prüfung das Oberverwaltungsgericht nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ist die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch auf vorübergehende Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer nahegelegenen städtischen Kindertageseinrichtung sowie einen entsprechenden Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, nicht zu beanstanden.
4Das Verwaltungsgericht hat die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer städtischen Kindertageseinrichtung damit begründet, dass der Antragsteller hochgradig wahrscheinlich einen entsprechenden Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII habe. Den Rechtsanspruch des Antragstellers auf frühkindliche Förderung habe die Antragsgegnerin nicht dadurch erfüllt, dass sie dem Antragsteller unter Hinweis auf Kapazitätserschöpfung in Kindertageseinrichtungen Betreuungsmöglichkeiten in Kindertagespflege angeboten habe, weil ihr der Nachweis der Kapazitätserschöpfung nicht gelungen sei. Dabei könne offenbleiben, ob der Nachweis allein für die in kommunaler Trägerschaft betriebenen Kindertageseinrichtungen zu erbringen sei oder ob auch die in freier Trägerschaft befindlichen Einrichtungen in den Blick zu nehmen seien, da die Antragsgegnerin bereits ein fehlerfreies Vergabeverfahren hinsichtlich der Betreuungsplätze in kommunalen Kindertageseinrichtungen nicht belegt habe. Dem Vortrag der Antragsgegnerin könne nicht entnommen werden, dass ein sachgerecht ausgestaltetes und durchgeführtes Vergabeverfahren hinsichtlich dieser Plätze durchgeführt worden sei. Da die Vergabeentscheidung allein durch die jeweilige Leitung der Kindertagesstätte oder deren Träger nach jeweils eigenen Kriterien getroffen werde, lasse sich nicht feststellen, dass der Vergabe der Betreuungsplätze in jedem Fall sachgerechte Entscheidungskriterien zugrunde lägen. Auch habe die Antragsgegnerin nicht dargetan, welche städtischen Kindertageseinrichtungen sie vor ihrer Entscheidung, die Eltern des Antragstellers auf die Kindertagespflege zu verweisen, in den Blick genommen habe. Die Antragsgegnerin habe lediglich vorgetragen, dass dem Antragsteller in keiner der für ihn im Kita-Navigator vorgemerkten Kindertageseinrichtungen ein Platz zur Verfügung gestellt werden könne, und ansonsten ihre Nachforschungen auf Einrichtungen freier Träger beschränkt. Sie habe den Antragsteller auch deshalb nicht auf die Kindertagespflege verweisen dürfen, weil die angebotenen drei Tagespflegestellen nicht zumutbar gewesen seien. In Anbetracht des Umstandes, dass sich in N. ausweislich des Kita-Navigators insgesamt 180 Kindertageseinrichtungen und ca. 290 Angebote der Kindertagespflege, davon mindestens 50 im Innenstadtbereich (Umkreis von ca. 2 km um den E. ) befänden, könne davon ausgegangen werden, dass ein Betreuungsplatz in der Regel fußläufig, jedenfalls in nicht mehr als 15 Minuten zu erreichen sei.
5Das hiergegen erhobene Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin greift nicht durch. Es vermag die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts nicht zu erschüttern, die Antragsgegnerin dürfe den Antragsteller nicht auf eine Betreuung in der Kindertagespflege verweisen, da sie die Durchführung eines ordnungsgemäßen Vergabeverfahrens nicht nachgewiesen habe, und könne sich daher nicht auf eine Erschöpfung der Betreuungskapazitäten in Kindertageseinrichtungen berufen.
6Die Antragsgegnerin hat die Annahme des Verwaltungsgerichts, es fehle bereits deshalb an einem ordnungsgemäßen Vergabeverfahren, weil in Anbetracht der Vergabe der Betreuungsplätze durch die jeweiligen Kita-Leitungen nicht festgestellt werden könne, dass der Vergabe der Betreuungsplätze in jedem Fall sachgerechte Entscheidungskriterien zugrunde lägen, nicht widerlegt. Soweit die Antragsgegnerin in Anlage 4 zu ihrem Beschwerdebegründungsschriftsatz vom 10. August 2017 Kriterien zur Vergabe von Betreuungsplätzen in Kindertageseinrichtungen aufführt, sind diese nicht geeignet, eine einheitliche Vergabe sicherzustellen. Diese Kriterien eröffnen zum Teil weitreichende Wertungsspielräume. So ergibt sich weder aus Anlage 4 noch aus der übrigen fristgerecht eingereichten Beschwerdebegründung, auf welche Weise, insbesondere nach welchem Maßstab, der individuelle Betreuungsbedarf im Sinne des 2. Kriteriums festgestellt wird. Ebenso wenig ist bestimmt, wonach sich bemisst, ob das Kind in die Gruppenstruktur passt (6. Kriterium). Ferner erscheint unklar, wie das 4. Kriterium "Kinder bzw. Familien aus dem Wohnbereich" zu verstehen ist. Während der Wortlaut nahelegt, dass es lediglich darauf ankommt, ob das Kind im Wohnbereich der Kindertageseinrichtung wohnt oder nicht, differenziert die Antragsgegnerin weiter nach der Entfernung zwischen dem jeweiligen Wohnort der Kinder und der betreffenden Kindertageseinrichtung. So begründet die Antragsgegnerin den Vorrang eines Kindes gegenüber dem Antragsteller damit, dass es zwar wie der Antragsteller nicht im Wohnbereich der Kita S. wohne, sein Wohnort jedoch näher an dieser Kindertageseinrichtung liege als der des Antragstellers. Für eine solche Binnendifferenzierung gibt weder das 4. Kriterium selbst noch Anlage 4 etwas her.
7Zu den bei vorstehenden Kriterien aufgezeigten Wertungsspielräumen kommt hinzu, dass es nach der Anlage 4 auf die unter Ziffern 1 - 8 beschriebenen Aufnahmekriterien dann nicht ankommt, wenn eine Einzelfallentscheidung getroffen wird, die aus besonderem Grund unabhängig von den genannten Voraussetzungen möglich ist. In solchen Fällen entscheidet die dafür beauftragte Stelle des Trägers gegebenenfalls unter Beteiligung des Amtes für Kinder, Jugendliche und Familien. Kriterien für die Bestimmung des besonderen Grundes werden nicht genannt. Dass der Begriff mit "Notfall" gleichzusetzen sei, wie die Antragsgegnerin meint, erschließt sich so nicht. Auch wenn ein "Notfall" regelmäßig einen besonderen Grund darstellen dürfte, kommen auch andere Sachverhaltsgestaltungen als besondere Gründe i. S. dieser Regelung in Betracht. Neben diesen Unklarheiten hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Einzelfallentscheidung ist auch das in diesem Fall durchzuführende Verfahren nicht hinreichend bestimmt geregelt. Wann eine Beteiligung des Amtes für Kinder, Jugendliche und Familien der Antragsgegnerin erforderlich ist, legt die Regelung in Anlage 4 ("ggfs.") nicht fest.
8Diese Gestaltungs- und Wertungsspielräume stehen einem transparenten und einheitlichen Vergabeverfahren entgegen. Da nach Darstellung der Antragsgegnerin die Betreuungsplätze durch die Leitungen der jeweiligen Kindertageseinrichtungen vergeben werden, ist die unterschiedliche Handhabung der Kriterien vorgezeichnet. Sie erscheinen jedenfalls bei der in diesem Verfahren gebotenen summarischen Betrachtung insgesamt nicht geeignet, ein sachgerecht ausgestaltetes Vergabeverfahren sicherzustellen, das für die Eltern eines zu betreuenden Kindes verlässlich und nachvollziehbar ist.
9Zum Nachweis der Kapazitätserschöpfung hätte die Antragsgegnerin zudem jedenfalls darlegen müssen, welche der zu vergebenden Plätze in städtischen Kindertageseinrichtungen sie für den Antragsteller in den Blick genommen hat und warum ihm keiner dieser Plätze zugeteilt werden konnte. An einer solchen Darlegung fehlt es ebenfalls auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens. Zwar führt die Antragsgegnerin in der Beschwerdebegründung (Schriftsatz vom 10. August 2017, dort insbesondere in Anlage 3) aus, dass und aus welchen Gründen dem Antragsteller in den städtischen Kindertageseinrichtungen I.---straße , S. und H.-----straße kein Platz zugewiesen werden konnte. Ob und wenn ja welche weiteren städtischen Kindertageseinrichtungen für den Antragsteller geprüft worden sind, legt sie hingegen nicht dar. Das ist auch nicht etwa deshalb entbehrlich, weil offensichtlich von den städtischen Kindertageseinrichtungen lediglich die vorgenannten für die Betreuung des Antragstellers geeignet sind. Zwar ist nach der Rechtsprechung des Senates die Einbeziehung von Kindertageseinrichtungen in weit entfernten Bereichen, für die eine zumutbare Erreichbarkeit offenkundig nicht mehr gewährleistet ist, nicht erforderlich.
10OVG NRW, Urteil vom 20. April 2016
11- 12 A 1262/14 -, juris Rn. 97.
12Es ist jedoch nicht dargelegt, dass alle anderen Kindertageseinrichtungen der Antragsgegnerin von vornherein offensichtlich für den Antragsteller unzumutbar sind. Aus dem Umstand, dass in der angefochtenen Entscheidung lediglich die vorgenannten städtischen Kindertageseinrichtungen aufgeführt sind, folgt nicht, dass andere Einrichtungen nicht hätten in den Blick genommen werden müssen. Denn das Verwaltungsgericht hat diese drei städtischen Einrichtungen lediglich aufgrund ihrer Belegenheit in einem beispielhaft gezogenen Umkreis von 2 km um die Wohnung des Antragstellers und seiner Eltern hervorgehoben, ohne die jenseits dieses Umkreises liegenden Einrichtungen als unzumutbar auszuschließen.
13Selbst wenn man zu Gunsten der Antragsgegnerin die Einrichtungen berücksichtigen wollte, die in Anlage 12 des außerhalb der Beschwerdebegründungsfrist zur Akte gelangten Schriftsatzes vom 6. September 2017 genannt sind, folgte hieraus nichts Abweichendes. Denn die Antragsgegnerin begründet nicht, aus welchen Gründen der Antragsteller in keiner der dort unter I. aufgeführten Kindertageseinrichtungen einen Betreuungsplatz erhalten konnte.
14Schließlich legen die Ausführungen der Antragsgegnerin in der - nachträglich angefertigten - allgemeinen Prüfungsmatrix zur Platzvergabe (Anlage 3 zum Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 10. August 2017), nach denen Kindertageseinrichtungen, die mehr als 2 km vom Wohnort des Antragstellers entfernt sind, bei der Feststellung der Platzkapazitäten unberücksichtigt bleiben können, nahe, dass sie bei einer eventuellen Vergabe von Betreuungsplätzen in städtischen Kindertageseinrichtungen auf der zweiten Stufe den Kreis der in den Blick genommenen Einrichtungen in unzulässiger Weise auf Einrichtungen beschränkt hat, die sich innerhalb dieses Radius befinden. Nach der Rechtsprechung des Senates ist jedoch das Kriterium einer starren Entfernungsgröße, unabhängig von seinem Anknüpfungspunkt (Luftlinie/Fahr-strecke), als Grundlage einer abschließenden einzelfallbezogenen Zumutbarkeitsbeurteilung ungeeignet.
15Vgl. dazu schon OVG NRW, Beschluss vom 14. August 2013 - 12 B 793/13 -, juris Rn. 17.
16Soweit der Senat die Zulassung eines solchen pauschalen Kriteriums auf der ersten Ebene eines Vergabeverfahrens für die Bestimmung des Kreises der in den Blick zu nehmenden Einrichtungen erwogen hat,
17vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. April 2016
18- 12 A 1262/14 -, juris Rn. 99,
19hat er dies davon abhängig gemacht, dass jedenfalls Raum für eine nachgelagerte umfassende Prüfung der Zumutbarkeit bleibt und die Reichweite der Betrachtung durch die zugrunde gelegte Entfernung nicht sachwidrig verkürzt wird. Die Beschränkung auf einen Umkreis von lediglich 2 km stellt jedoch eine solche sachwidrige Beschränkung dar.
20Schließlich waren Kindertageseinrichtungen nicht - wie ausweislich des Hinweises d) in Anlage 3 zum Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 10. August 2017 geschehen -bereits wegen deren Öffnungszeiten auszuscheiden, da die Eltern des Antragstellers den dort zugrundegelegten Zeitkorridor für die Betreuung nicht vorgegeben haben.
21Hat die Antragsgegnerin nach alledem nicht dargelegt, dass der Vergabe der Betreuungsplätze in städtischen Kindertageseinrichtungen ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren vorausgegangen ist, ist es der Antragsgegnerin verwehrt, den Antragsteller auf einen Betreuungsplatz in der Kindertagespflege zu verweisen. Auf die Frage der Zumutbarkeit der nach Darstellung der Antragsgegnerin angebotenen Kindertagespflegestellen kommt es daher nicht an.
22Dem vom Verwaltungsgericht bejahten Anordnungsanspruch steht auch nicht entgegen, dass Kindertageseinrichtungen für die Betreuung des Antragstellers bereits deshalb generell nicht in Betracht kommen, weil der Antragsteller - wie die Antragsgegnerin meint - eine Betreuung über mehr als 45 Stunden begehrt. Dies ist ausweislich der Ausführungen unter Ziffer I. des Antragsschriftsatzes vom 3. Juli 2017, unter der ausdrücklich von "einer gewünschten Betreuung von 45 Stunden" die Rede ist, nicht der Fall. Auf die Frage, ob die Eltern in Anbetracht ihrer Arbeitszeiten sowie der entsprechenden Wegezeiten den Antragsteller täglich zur Kindertageseinrichtung bringen und von dort auch wieder abholen können, kommt es nicht an. Gegebenenfalls müssen sie die Begleitung anderweitig organisieren. Dass dies auch geplant ist, zeigt bereits die Benennung der Großmütter des Antragstellers als Begleitpersonen in Anlage 7 zum zwischenzeitlich abgeschlossenen Kita-Betreuungsvertrag.
23Auch soweit die Antragsgegnerin ausführt, mit der Verpflichtung, dem Antragsteller einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung zur Verfügung zu stellen, die in nicht mehr als 15 Minuten von der Wohnung des Antragstellers erreichbar ist, habe das Verwaltungsgericht einen zu kleinen Radius um den Wohnort des Antragstellers gezogen, war der angefochtene Beschluss nicht abzuändern. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Bestimmung zur Belegenheit der Kindertageseinrichtung Gegenstand der Ausübung des gerichtlichen Auswahlermessens betreffend den Inhalt der einstweiligen Anordnung ist und die Ermessensausübung durch das Verwaltungsgericht, die beispielhaft vom Innenstadtbereich N ausgeht, nicht zu beanstanden ist. Im Übrigen enthält die Beschwerdebegründung keine konkreten Zahlen, die belegen, dass Kindertageseinrichtungen in der Innenstadt stärker nachgefragt sind als solche in den Außenbezirken. Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass diese auf das Eilverfahren beschränkte Ermessensausübung nicht bedeutet, dass dem Antragsteller eine Betreuung in einer Kindertageseinrichtung jenseits des genannten Radius unzumutbar ist.
24Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.
25Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.