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Ermittelt ein Arzt wenige Tage vor der Geburt bei einer Ultraschalluntersuchung der adipösen und an Gestionsdiabetes erkrankten Mutter ein Schätzgewicht des Kindes, welches unter dem vor drei Wochen in demselben Krankenhaus ermittelten Schätzgewicht liegt, so kann in dem Unterlassen der Vornahme oder Veranlassung einer Kontrolluntersuchung – vorbehaltlich abweichender sachverständiger Feststellungen im Einzelfall – ein (auch grober) Behandlungs- und Befunderhebungsfehler liegen.
Zur Berücksichtigung von nach den Umständen des Falls mit einem groben Behandlungsfehler einhergehender grober Fahrlässigkeit bei der Bemessung des Schmerzensgeldes.
1. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klägerin zu 1) einen Betrag in Höhe von 75.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.06.2014 zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte zu 1) verpflichtet ist, der Klägerin zu 1) sämtliche künftigen unvorhersehbaren immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen materiellen Schäden, die ihr infolge der Fehlbehandlung im Hause der Beklagten zu 1) von Januar bis Februar 2014 entstanden sind oder noch entstehen werden zu ersetzten, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritter übergegangen sind oder noch übergehen werden.
3. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klägerin zu 2) einen Betrag in Höhe von 4.500,00 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.06.2014 zahlen.
4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte zu 1) verpflichtet ist, der Klägerin zu 2) sämtliche künftigen unvorhersehbaren immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen materiellen Schäden, die ihr infolge der Fehlbehandlung im Hause der Beklagten zu 1) vom Januar bis Februar 2014 entstanden sind oder noch entstehen werden zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritter übergegangen sind oder noch übergehen werden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Gerichtskosten erster Instanz tragen die Klägerin zu 1) 77%, die Klägerin zu 2) zu 6 % und die Beklagte zu 1) zu 17 %. Im Übrigen gilt für die Kosten erster Instanz folgendes: Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 1) tragen die Klägerin zu 1) zu 82 % und die Beklagte zu 1) zu 18 %. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 2) tragen die Klägerin zu 2) zu 87 % und die Beklagte zu 1) zu 13 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) tragen die Klägerin zu 1) zu 13 %, die Klägerin zu 2) zu 1 % und die Beklagte zu 1) zu 86 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2), 3), 4) und 5) tragen die Klägerin zu 1) zu 93% und die Klägerin zu 2) zu 7%.
Die Gerichtskosten zweiter Instanz tragen die Klägerin zu 1) zu 66 %, die Klägerin zu 2) zu 5 % und die Beklagte zu 1) zu 29 %. Im Übrigen gilt für die Kosten zweiter Instanz folgendes: Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 1) tragen die Klägerin zu 1) zu 71 % und die Beklagte zu 1) zu 29 %. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 2) tragen die Klägerin zu 2) zu 79 % und die Beklagte zu 1) zu 21 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) tragen die Klägerin zu 1) zu 13 %, die Klägerin zu 2) zu 1 % und die Beklagte zu 1) zu 86 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 3) und 4) tragen die Klägerin zu 1) zu 93% und die Klägerin zu 2) zu 7%.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Vollstreckung durch die jeweils andere Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e
2I.
3Die am 00.00.2014 geborene Klägerin zu 1) und ihre Mutter, die im Jahr 1974 geborene Klägerin zu 2), werfen den Beklagten Behandlungs- und Aufklärungsfehler im Zusammenhang mit der Geburt der Klägerin zu 1) vor, bei der diese aufgrund einer Schulterdystokie eine Erb´sche Lähmung erlitt.
4Der Beklagte zu 2) ist Chefarzt der gynäkologischen Abteilung der Beklagten zu 1). Die Beklagte zu 3) war am 10.02.2014 die diensthabende Stationsärztin, die Beklagte zu 4) die Oberärztin. Die Beklagte zu 5) betreute die Klägerin zu 2) als Hebamme aufgrund eines Behandlungsvertrages vom 14.10.2013.
5Die Klägerin zu 2) hatte in den Jahren 2003 und 2005 zwei Kinder spontan vaginal entbunden. In beiden Schwangerschaften litt die Klägerin zu 2) an Gestationsdiabetes. Die Kinder hatten ein Geburtsgewicht von 3680 g und 3780 g. Die dritte Schwangerschaft der Klägerin zu 2) mit der Klägerin zu 1) wurde ambulant durch die niedergelassene Frauenärztin D. betreut. Auch in dieser Schwangerschaft wurde im September 2013 ein Gestationsdiabetes festgestellt.
6Am 16.01.2014 (36+1 SSW) stellte sich die Klägerin erstmals im Hause der Beklagten zu 1) zur Geburtsplanung und Untersuchung vor und wurde von dem Beklagten zu 2) untersucht. Dieser führte eine Ultraschalluntersuchung durch und schätzte das Gewicht des Fötus auf 3.475 g. Die Größe der Klägerin zu 2) wurde mit 160 cm, ihr Gewicht mit 104,2 kg festgehalten. In dem an die niedergelassene Frauenärztin gerichteten Arztbrief vom 17.01.2014 heißt es auszugsweise: „… Wir haben uns mit der Patientin über Grenzen und Möglichkeiten der ultrasonographischen Gewichtsschätzung unterhalten und sind auf die Bedeutung des kindlichen Gewichts für die Beurteilung des Schwangerschaftsverlaufs und für die Entbindung eingegangen. Wir haben uns über die verschiedenen Formen des Gestationsdiabetes und ihre Bedeutung für die Betreuung in der Schwangerschaft und für die Entbindung unterhalten. Wir haben auch uns darüber unterhalten, dass bei der Therapie des Gestationsdiabetes verschiedene Aspekte eine Rolle spielen, darunter die Blutzuckerwerte, andererseits aber auch die biometrischen Maße des Kindes, hier insbesondere der Abdomenumfang…(…) Die biometrischen Parameter und das fetale Schätzgewicht deuten auf eine fetale Makrosomie hin, das Schätzgewicht liegt jetzt bei 3.475 g, auch der Abdomenumfang liegt über der Norm.(…) Wir haben der Patientin und ihrem Ehemann die erhobenen Befunde erläutert. Wir haben uns insbesondere über die Bedeutung der Makrosomie unterhalten. Wir haben dargelegt, dass insbesondere makrosome Feten von der ultrasonographischen Gewichtsschätzung her eher zu niedrig eingeordnet werden. Wir sind auf verschiedene mögliche Wachstumskurven eingegangen. Im Augenblick bleibt nichts weiter übrig, als abzuwarten. Jetzt noch eine Umstellung auf eine Insulintherapie, allein aufgrund der biometrischen Parameter, erscheint mir in der 37. SSW nicht sinnvoll. Zudem ist auch noch nicht gesagt, ob wirklich ein weiteres Wachstum des Kindes vorliegt. (…) Wir sind mit Frau S. übereingekommen zunächst einfach abzuwarten und grundsätzlich erst einmal weiterhin eine vaginale Entbindung anzustreben. Diese Entscheidung gilt natürlich vorbehaltlich der weiteren Entwicklung der Schwangerschaft.“
7Die Klägerin zu 2) stellte sich im weiteren Verlauf am 05.02.2014 und 07.02.2014 zum CTG vor, mit jeweils unauffälligem Ergebnis. Am 06.02.2014 wurde erneut ein Ultraschall durch die Fachärztin C. durchgeführt, die ein Gewicht des Fötus von 3.299 g +/-500 g schätzte.
8Am 10.02.2014 nachmittags wurde die Klägerin zu 2) stationär bei der Beklagten zu 1) bei regelmäßiger Wehentätigkeit und auf 6 cm eröffneten Muttermund aufgenommen. Um 18:05 Uhr ging die Klägerin in die Badewanne, hatte dort nach Aufzeichnung der Beklagten zu 5) keine Kraft zum Pressen und wurde um 19:04 Uhr auf das Kreißbett gelagert. Zu diesem Zeitpunkt war die Beklagte zu 3) anwesend. Es erfolgte eine leichte Weheninduktion mit Wehentropf, um 19:09 Uhr presste die Klägerin zu 2) im Sitzen und wurde von der Hebamme dazu angeleitet. Es kam zu einem Herztonabfall bei der Klägerin zu 1) bis auf 80 Schläge pro Minute mit guter Erholung in der Wehenpause. Um 19:12 Uhr wurde die Beklagte zu 4) als diensthabende Oberärztin informiert und war um 19:14 Uhr anwesend. Die Beklagte zu 4) brachte um 19:22 Uhr den Kristellerschen Handgriff zum Einsatz. Um 19:23 Uhr wurde der Kopf der Klägerin zu 1) problemlos geboren. Da sich die Schultern nicht entwickeln ließen, wurde viermal das Mac Roberts Manöver einschließlich suprasymphärem Druck nach Rubin durchgeführt. Um 19:24 Uhr wurde ein weibliches Neugeborenes vollständig entwickelt. Das Kind war schlaff, wurde sofort tief abgesaugt und erhielt Sauerstoff durch die Oberärztin. Um 19:27 Uhr war der Anästhesist anwesend und es wurde der Verdacht auf eine Erb´sche Parese gestellt. Der Beklagte zu 2) legte einen Rucksackverband an. Die Klägerin zu 1) wog bei der Geburt 5.210 g.
9Die Klägerinnen haben erstinstanzlich behauptet, die Lösung der Schulterdystokie unter der Geburt sei nicht ordnungsgemäß erfolgt. Im Vorfeld der Geburt sei es durch die Beklagten schuldhaft unterlassen worden, erforderliche Befunde – insbesondere zum Geburtsgewicht – zu erheben. Bei ordnungsgemäßer Befunderhebung durch den Beklagten zu 2) wäre ein deutlich höheres Schätzgewicht entdeckt worden, welches zu einer Schnittentbindung hätte führen müssen. Auf die Möglichkeit einer Schnittentbindung sei die Klägerin zu 2) fehlerhaft nicht hingewiesen worden, obwohl hierzu eine Indikation bestanden habe.
10Die Klägerin zu 1) leide fehlerbedingt unter einer dauerhaften Lähmung des rechten Armes. Sie müsse sich dauerhafter Krankengymnastik unterziehen. Aufgrund eines unter der Geburt eingetretenen Sauerstoffmangels leide die Klägerin unter Entwicklungsverzögerungen. Die Klägerin zu 2) leide unter Ängsten und Depressionen.
11Die Klägerinnen haben erstinstanzlich beantragt,
121. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1) aus der fehlerhaften Behandlung von Januar bis Februar 2014 ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichtes gestellt wird, mindestens jedoch 100.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.06.2014,
132. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zu 1) sämtliche künftigen unvorhersehbaren immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen materiellen Schäden, die ihr infolge der fehlerhaften Behandlung von Januar bis Februar 2014 entstanden sind oder noch entstehen werden zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritter übergegangen sind oder noch übergehen werden,
143. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 2) aus der fehlerhaften Behandlung von Januar bis Februar 2014 ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichtes gestellt wird, mindestens 10.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.06.2014,
154. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zu 2) sämtliche künftigen unvorhersehbaren immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen materiellen Schäden, die ihr infolge der fehlerhaften Behandlung von Januar bis Februar 2014 entstanden sind oder noch entstehen werden zu ersetzten, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.
16Die Beklagten haben beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Die Beklagten haben eine kunstgerechte Behandlung behauptet. Bei dem erwarteten Geburtsgewicht der Klägerin zu 1) habe weder eine absolute noch eine relative Indikation zur Schnittentbindung bestanden. Dennoch sei über die Möglichkeit eines Kaiserschnittes gesprochen worden, die Klägerin zu 2) habe einen solchen aber nicht gewünscht. Im Hause der Beklagten zu 1) seien alle erforderlichen Befunde im Vorfeld erhoben worden, auch die Geburtsleitung als solche sei nicht zu beanstanden. Die Beklagte zu 5) hat die Auffassung vertreten, sie sei für den Geburtsverlauf nicht verantwortlich gewesen, da stets eine Ärztin anwesend gewesen sei.
19Wegen der Einzelheiten des streitigen Vorbringens der Parteien und der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil (Bl. I 536 ff ) Bezug genommen.
20Das Landgericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines gynäkologischen Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. X., welches dieser unter dem 02.04.2017 erstellt (Bl. I 157 ff.) und in der mündlichen Verhandlung vom 15.05.2018 erläutert hat (Bl. I 253). Die Kammer hat weiterhin ein neuropädiatrisches Sachverständigengutachten des Dr. T. eingeholt, welches dieser unter dem 02.03.2020 erstellt (Bl. I 371 ff.) und in der mündlichen Verhandlung vom 09.03.2021 erläutert hat (Bl. I 403 ff). Schließlich hat die Kammer ein psychiatrisches Sachverständigengutachten von Dr. P. eingeholt, welches dieser unter dem 13.12.2021 (Bl. I 445 ff.) erstellt und in der mündlichen Verhandlung vom 17.01.2023 erläutert hat (Bl. I 530 ff.). Die Kammer hat zudem die Klägerin zu 2) und den Beklagten zu 2) in der mündlichen Verhandlung vom 15.05.2018 (Bl. I 253 ff.) persönlich angehört. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die schriftlichen Gutachten und Sitzungsprotokolle verwiesen.
21Das Landgericht hat sodann die Beklagten zu 1), 3) und 4) als Gesamtschuldner zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 70.000 € nebst Zinsen an die Klägerin zu 1) und von 4.000 € nebst Zinsen an die Klägerin zu 2) verurteilt und hat ferner die Haftung der Beklagten zu 1), 3) und 4) als Gesamtschuldner für die beiden Klägerinnen künftig entstehenden unvorhersehbaren immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen materiellen Schäden aufgrund der Fehlbehandlung festgestellt.
22Diese Haftung ergebe sich aus einem zur Überzeugung der Kammer feststehenden behandlungsfehlerbehafteten Handeln der Beklagten zu 3) und 4), für das die Beklagte zu 1) hafte. Die Beklagten zu 3) und 4) hätten es fehlerhaft unterlassen, die Klägerin zu 1) vor der Entbindung erneut sonografisch zu untersuchen und bei bestehender fetaler Makrosomie der Klägerin zu 1) der Klägerin zu 2) eine Entbindung mittels sectio anzubieten. Insoweit sei den Beklagten zu 3) und 4) ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen.
23Zwar habe bei der Messung durch den Beklagten zu 2) am 16.01.2014 noch keine Indikation bestanden, primär eine sectio caesarea als Entbindungsmethode zu planen. Bereits zu diesem Zeitpunkt hätten allerdings mehrere Risikofaktoren für das spätere Auftreten einer Schulterdystokie bestanden, da die Klägerin zu 2) in allen drei Schwangerschaften unter Gestationsdiabetes gelitten habe, bereits bei Beginn der Schwangerschaft ein erhöhter BMI bestanden habe und bei der Klägerin zu 1) Anfang der 37. Woche eine Makrosomie vorgelegen habe. Dies hätte dazu führen müssen, die Klägerin zu 2) in etwa zwei Wochen erneut einzubestellen, um Größe und Gewicht der Klägerin zu 1) durch eine Sonografie durch einen erfahrenen Behandler erneut schätzen zu lassen.
24Die insoweit durchgeführte Messung vom 06.02.2014 könne nicht als ordnungsgemäße Befunderhebung gewertet werden, da hier ein Schätzgewicht von lediglich 3.299 g, also weniger als Wochen zuvor, geschätzt worden sei. Diese Minusdiskrepanz hätte dazu führen müssen, dass ein weiterer Untersucher hätte hinzugezogen werden müssen und die Messung hätte wiederholt werden müssen.
25Die Kammer könne mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass bei Wiederholung der fetalen Messung sich ein reaktionspflichtiger Befund, nämlich ein Schätzgewicht von mehr als 4.000 g, ergeben hätte. Dies hätte zwar noch immer keine klare Indikation zur Schnittentbindung bedeutet, jedoch hätte im Zusammenhang mit den übrigen bestehenden Risikofaktoren die Option einer Schnittentbindung mit der Klägerin zu 2) und ihrem Ehemann diskutiert werden müssen. Hätte man der Klägerin die Möglichkeit einer Schnittentbindung bei den bestehenden Risikofaktoren und insbesondere das mögliche Auftreten einer Schulterdystokie dargelegt, so hätte sich die Klägerin zu 2) für einen Kaiserschnitt entschieden. Dies ergebe sich aus der persönlichen Anhörung der Klägerin.
26Weitere Behandlungsfehler bei der Geburtsleitung, insbesondere beim Lösen der Schulterdystokie, hat die Kammer nicht festgestellt und eine Haftung der Beklagten zu 2) und 5) verneint.
27Als Folge der Schulterdystokie unter der Geburt und der Lösung dieser Schulterdystokie leide die Klägerin zu 1) nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. T. an einer Plexusparese. In der rechten Arm-Handregion seien keine Reflexe auslösbar, es bestehe eine Fallhand mit umfassenden und erheblichen Funktionseinschränkungen, sodass die Hand dauerhaft nur als Hilfshand eingesetzt werden könne. Die Klägerin zu 1) leide unter einer sekundären Wachstumsstörung mit Verkürzung der Handlänge und Atrophie der Muskulatur und einer Asymmetrie der Rumpfhaltung i.V.m. Schulterschiefstand und Ventralneigung des Schulterblattes rechts. Die eingetretenen Bewegungseinschränkungen seien erheblich, da die Klägerin den rechten Arm nur eingeschränkt anheben könne, Ellenbogenbeugung sowie die Pro- und Supination im Unterarm nur mit Mühe gegen die Schwerkraft gelängen und eine Handgelenksstreckung nicht möglich sei. Der Klägerin zu 1) sei insbesondere kein beidhändiger Werkzeuggebrauch möglich. Vier bereits erfolgte chirurgische Operationen und dauerhafte Krankengymnastik seien ebenfalls auf die Schädigung zurückzuführen. Der von den Klägern behauptete Sauerstoffmangel unter der Geburt mit der Folge von Entwicklungsstörungen habe sich hingegen nicht gezeigt, was im Einzelnen ausgeführt wird. Die festgestellten Folgen rechtfertigten ein Schmerzensgeld von 70.000 €.
28Bei der Klägerin zu 2) liege eine leichtgradige depressive Verhaltensstörung für die ersten zwei Jahre nach der Geburt der Klägerin zu 1) vor, die jedenfalls mitursächlich durch die Umstände der Geburt und die lebenslange Behinderung der Klägerin zu 1) verursacht worden sei. Dies gelte ebenso für die nach dem Ablauf der ersten zwei Jahre nach der Geburt andauernde leichtgradige depressive Verhaltensstörung. Dies wird unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. P. im Einzelnen begründet. Hieraus rechtfertige sich ein Schmerzensgeld i.H.v. 4.000 €.
29Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
30Mit ihrer Berufung verfolgen Beklagten zu 1), 3) und 4) das Ziel der Klageabweisung weiter. Sie halten es für rechtsfehlerhaft, dass das Landgericht einen Befunderhebungsfehler darin gesehen habe, dass die Klägerin zu 1) vor der Entbindung nicht erneut mittels Ultraschall untersucht und gemessen worden sei und bei bestehender fetaler Makrosomie der Klägerin zu 1) keine Entbindung durch Sektion angeboten worden sei. Tatsächlich sei nach der Untersuchung vom 16.01.2014 durch den Beklagten zu 2) eine erneute Ultraschalluntersuchung kurz vor der Geburt veranlasst worden und diese Untersuchung sei am 06.02.2014 durch die Fachärztin Frau Anna C. durchgeführt worden. Die Wertung des Landgerichtes, die Ultraschallkontrolle vom 06.02.2014 - bei der im Urteil benannten Untersuchung vom 16.01.14 müsse es sich um ein Versehen handeln - im Ergebnis als nicht erfolgt anzusehen, da sie zu einer minimalen Minusdiskrepanz zur vorangegangenen Ultraschalluntersuchung geführt habe, sei nicht nachvollziehbar und fachlich unzutreffend. Bei einer Gewichtsmessung durch Sonografie handele es sich um eine Schätzung, bei der unterschiedliche Ergebnisse vorkommen könnten. Es bestehe eine grundsätzliche Schätzungsdiskrepanz von +/-20 %, auf die der Sachverständige selbst hingewiesen habe. Insofern sei eine Minusdiskrepanz nicht unüblich; die hier konkret festgestellte Minusdiskrepanz von lediglich 175 g, also nicht einmal 10 %, sei daher nicht alarmierend gewesen. Diesen Sachverhalt habe das Landgericht erkennbar außer Betracht gelassen und insbesondere die Zeugin C. dazu nicht gehört. Das Gericht habe nicht davon ausgehen dürfen, dass die Ärztin einfach davon ausgegangen sei, dass sich der Vorbehandler verrechnet habe. Dabei handele es sich um eine Vermutung des Gerichts, die dieses nicht habe anstellen dürfen. Weiterhin habe das Landgericht die Auffassung vertreten, es sei erforderlich gewesen, aufgrund der schlechten Schallbedingungen einen zweiten Untersucher hinzuzuziehen. Die schlechten Schallbedingungen hätten jedoch in der Adipositas der Klägerin zu 2) gelegen und auch bei einem weiteren Ultraschall nicht verbessert werden können. Die Effektivität eines zweiten Ultraschalls sei daher zweifelhaft.
31Der Sachverständige habe zudem die fachliche Kompetenz der untersuchenden Ärztin zu Unrecht angezweifelt. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Zeugin, bei der es sich um eine Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe handele, ihre eigene Kompetenz hätte in Zweifel ziehen müssen und einen „kompetenteren Arzt“ hätte hinzuziehen müssen. Die schlechten Schallbedingungen hätte auch ein anderer Arzt nicht ändern können. Aus der maßgeblichen ex ante-Sicht habe es keinen Grund für eine Überprüfung der Messung gegeben. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass das gemessene Gewicht sehr weit von einem reaktionspflichtigen Befund von 4500 g entfernt gewesen sei und die Klägerin zu 2) trotz ihres Gestationsdiabetes unter denselben Bedingungen bereits zwei Kinder unter 4000 g auf die Welt gebracht habe. Gehe man davon aus, dass das Schätzgewicht der Ultraschalluntersuchung vom 06.02.2014 unzutreffend gewesen sei, so handele es sich allenfalls um einen vertretbaren Diagnoseirrtum. Eine nicht mehr vertretbare Fehlleistung und Fehlinterpretation des erhobenen Befundes liege nicht vor, denn der Sachverständige habe im Rahmen seiner Anhörung auf die Frage, ob es sich um eine vertretbare Deutung der erhobenen Befunde gehandelt habe, lediglich geantwortet: „Retrospektiv natürlich nicht“, wobei nicht der zutreffende Bewertungsmaßstab ex ante eingehalten worden sei. Ein Diagnoseirrtum habe jedoch eine Sperrwirkung für einen Befunderhebungsfehler zur Folge. Eine unterlassene Zweitmeinung führe rechtlich nicht zu einem Befunderhebungsfehler, wie der Senat im Verfahren 5 U 54/05 entschieden habe.
32Die Berufung rügt weiterhin, dass die Kammer rechtsfehlerhaft angenommen habe, dass sich bei Wiederholung der fetalen Messung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiger Befund gezeigt hätte. Die Ausführungen des Sachverständigen dazu seien widersprüchlich, denn dieser habe in seinem schriftlichen Gutachten an einer Stelle gesagt, es sei „eigentlich kaum vorstellbar, dass ein sonografisch kompetenter Untersucher bei sorgfältiger Untersuchung nicht zumindest auf ein Schätzgewicht von mehr als 4000 g gekommen wäre“, während er an anderer Stelle ausgeführt habe: „Nun ist es aber auch nicht klar, ob ein anderer Untersucher auf dieses hohe Schätzgewicht gekommen wäre“. In der mündlichen Anhörung habe er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch ein Schätzgewicht von 3900 g hätte herauskommen können. Es könne demzufolge gerade nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass eine Wiederholung der Messung durch einen anderen Untersucher einen reaktionspflichtigen Befund, d. h. ein Schätzgewicht von mindestens 4.500 g, ergeben hätte. Wenn die Kammer auf Seite 9 der Entscheidungsgründe darauf abstelle, dass das Geburtsgewicht über 5.000 g betragen habe, führe dies nicht dazu, dass eine Ultraschallmessung vier Tage vor der Geburt ein Gewicht in dieser Größenordnung hätte ergeben müssen. Hier hätte explizit auf den Einzelfall abgestellt und insbesondere die Adipositas der Schwangeren und die schlechten Messbedingungen berücksichtigt werden müssen. Soweit die Kammer von einer nicht erfolgten Aufklärung über die Option einer Schnittentbindung ausgegangen sei, überzeuge dies nicht. Die Kammer habe dies ausschließlich damit begründet, dass dies ausweislich der Behandlungsunterlagen nicht erfolgt sei, ohne dabei die informatorische Anhörung des Beklagten zu 2) zu berücksichtigen. Die Anhörung i.V.m. dem an die niedergelassene Gynäkologin gerichteten Arztbrief habe das Landgericht dazu führen müssen, eine Aufklärung am 16.01.2014 durch den Beklagten zu 2) anzunehmen. Im Übrigen habe eine Aufklärungspflicht bereits nicht bestanden. Erst bei einem geschätzten Geburtsgewicht von über 4.500 g bestehe ein derart gehäuftes Auftreten von Schulterdystokien, dass eine Aufklärungspflicht über die Schnittentbindung als alternative Entbindungsmethode in Betracht komme. Die Kammer habe zudem nicht annehmen dürfen, dass sich die Klägerin zu einer Schnittentbindung entschieden hätte. Trotz Gestationsdiabetes habe sie zuvor zweifach vaginal entbunden und dies auch bei der Klägerin zu 1) gewünscht, sogar in Form einer Wassergeburt. Die Schnittentbindung des vierten Kindes sei vor dem Hintergrund des Geburtsgeschehens bei der Klägerin zu 1) nicht als Indiz heranziehbar. Die Beklagten halten schließlich das angenommene Schmerzensgeld von 70.000 € für überhöht.
33Die Kläger verteidigen das angefochtene Urteil nach Maßgabe der Berufungserwiderung. Sie verweisen dabei erneut auf das erstinstanzlich vorgelegte Gutachten des privaten Sachverständigen Prof. Dr. M.. Mit der Anschlussberufung erstreben die Klägerinnen die Erhöhung der Schmerzensgelder entsprechend der erstinstanzlich gestellten Anträge. Die Klägerin zu 1) hält das vom Landgericht mit 70.000 € bemessene Schmerzensgeld für zu gering, bei einer hier vorliegenden maximalen Plexusparese mit Erb´scher Lähmung sei ein Schmerzensgeld von 100.000 € angebracht. Bereits im Jahr 2013 habe das Oberlandesgericht Celle auf 70.000 € erkannt, was nach dem Zeitablauf auf 100.000 € zu korrigieren sei. Auch die vom Landgericht zugesprochenen 4.000 € Schmerzensgeld für die Klägerin zu 2) seien unzureichend, da es bei dieser zu einer dauerhaften depressiven Verhaltensstörung gekommen sei. Für derartige posttraumatische Belastungsstörungen würden regelmäßig 10.000 € zugesprochen, wozu Rechtsprechung zitiert wird.
34Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
35Der Senat hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 27.12.2023 durch Einholung eines gynäkologischen Sachverständigengutachtens. Der mit Beschluss vom 21.02.2024 bestellte Sachverständige Prof. Dr. W. hat sein schriftliches Gutachten unter dem 24.07.2024 erstattet (Bl. II 234 ff.) und in der mündlichen Verhandlung vom 20.01.2025 erläutert (Bl. II 331 ff.). Der Senat hat ferner den Beklagten zu 2), der am Verfahren zweiter Instanz nicht mehr beteiligt war, als Zeugen vernommen und die Klägerin zu 2) persönlich angehört sowie den Vater der Klägerin zu 1) informatorisch angehört. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 20.01.2025 verwiesen.
36II.
37Die Berufung der Beklagten zu 3) und 4) ist begründet (dazu 1.), die Berufung der Beklagten zu 1) hat keinen Erfolg (dazu 2.). Die Anschlussberufung der Klägerinnen zu 1) und 2) hat zum Teil Erfolg (dazu 3.).
381.
39Die Berufung der Beklagten zu 3) und 4) ist erfolgreich und führt zur Abweisung der gegen sie gerichteten Klage. Die Klägerinnen zu 1) und 2) haben gegen die Beklagten zu 3) und 4) keinen Anspruch aus §§ 823 Abs.1, 249, 253 Abs.2 BGB auf Schmerzensgeld und Feststellung der künftigen Haftung. Ein Vertragsverhältnis besteht insoweit nicht. Ein Behandlungsfehler ist ihnen nicht zur Last zu legen. Die Feststellungen der Kammer werden von dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. X. nicht getragen. Im Einzelnen:
40Die Kammer hat die Haftung der Beklagten zu 3) und 4) darauf gestützt, dass diese vor der Entbindung - also am 10.02.2014 - die Klägerin zu 2) nicht erneut sonographisch untersucht haben (Bl. 8 der angefochtenen Entscheidung, Bl. I 539 R). Dabei berücksichtigt die Kammer nicht ausreichend die zeitlichen Abläufe und die tatsächlichen Beteiligungen der Beklagten zu 3) und 4) am Behandlungsgeschehen. Während die Beklagte zu 3) als diensthabende Stationsärztin am Tag der Geburt der Klägerin zu 1) zwar formell die Geburtsleitung seit Eintreffen der Klägerin zu 2) um 16:45 Uhr innehatte, wurde sie aufgrund der zunächst erfolgten Betreuung durch die Hebamme tatsächlich erstmals um 19:02 Uhr zur Klägerin zu 1) gerufen. Die Beklagte zu 4) als Oberärztin ist erstmals am 10.02.2014 um 19:14 Uhr, das heißt zehn Minuten vor Geburt der Klägerin zu 1), im Kreißsaal eingetroffen. Eine Aussage von Prof. Dr. X. zu diesen im Behandlungsverlauf späten Zeitpunkten befindet sich in seinem schriftlichen Gutachten nicht, vielmehr hat er dort für den 07.02.2014 eine vorwerfbar fehlerhaft unterlassene zweite Sonografie gerügt (Bl. I 173). Dass diese Sonografie noch am 10.02.2014, als die Klägerin zu 2) bereits Wehentätigkeit aufwies und der Muttermund geöffnet war, erforderlich gewesen wäre, ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. X. nicht. Auch der Privatgutachter Prof. Dr. M. hat für diesen Zeitpunkt keine mangelnde Befunderhebung gerügt.
41Der in zweiter Instanz eingeschaltete Sachverständige Prof. Dr. W. hat die Notwendigkeit einer erneuten Sonografie zur Schätzung des Geburtsgewichtes für den 10.02.2014 um 16:45 Uhr, bei Aufnahme der Klägerin zu 2), und auch im weiteren Verlauf der Geburtsbetreuung, bei Hinzukommen der Beklagten zu 3) um 19:02 Uhr oder der Beklagten zu 4) um 19:14 Uhr explizit verneint (Bl. II 240). Dies überzeugt angesichts der unmittelbar bevorstehenden Geburt. Einwendungen haben die Klägerinnen in diesem Zusammenhang nicht erhoben.
42Eine Haftung der Beklagten zu 3) und 4) ergibt sich auch nicht aus anderen Gründen. Insbesondere haben weder Prof. Dr. X. noch der Privatgutachter Prof. Dr. M. die Geburtsleitung und dabei konkret die Art und Weise der Lösung der Schulterdystokie durch das McRoberts-Manöver und suprasymphysären Druck als fehlerhaft eingeschätzt. Auch Prof. Dr. W. hat das Vorgehen im Rahmen der Lösung der Schulterdystokie als fachgerecht bewertet.
432.
44Die Berufung der Beklagten zu 1) ist unbegründet. Zu Recht hat das Landgericht einen Befunderhebungsfehler festgestellt, der zu einer Haftung der Beklagten zu 1) für die beiden Klägerinnen entstandenen und entstehenden Schäden führt.
45a. Die am 06.02.2014 von der Ärztin C. vorgenommene Ultraschalluntersuchung entsprach nicht dem Facharztstandard, sondern ist fehlerhaft vorgenommen worden. Der Sachverständige Prof. Dr. W. hat insofern in seiner mündlichen Anhörung erläutert, dass die technische Ausführung der Untersuchung nicht fachgerecht erfolgt sei. Auf dem in den Behandlungsunterlagen befindlichen Ultraschallbild, welches auch der Privatgutachter Prof. Dr. R. in seinem Gutachten abgebildet hat (Bl. II 289), lasse sich erkennen, dass der Außenumfang des Bauches nicht vollständig abgebildet sei, sondern nur im oberen Bereich zu etwa zwei Drittel sichtbar werde. Dies beruhe darauf, dass die Regler des Ultraschallgerätes nicht so eingestellt worden seien, dass die maximal mögliche Tiefe von 20 cm wiedergegeben, sondern lediglich der Bauch bis zu einer Tiefe von 14 cm bei der Untersuchung erfasst worden sei (Bl. II 333). Zusätzlich zu dieser Fehleinstellung sei auch die Bearbeitung des Standbildes, die die Daten zur Berechnung des prognostizierten Geburtsgewichtes generiert, fehlerhaft erfolgt. Es sei erforderlich, an dem Standbild des Sonogramms die Außengrenzen des Abdomens nachzuzeichnen. Im hier vorliegenden Fall sei jedoch die Abgrenzung der äußeren Kontur des Bauches nicht anhand des tatsächlichen Bauchumfangs erfolgt. Die tatsächliche Kontur des Bauchumfangs, soweit sie auf dem Bild zu sehen sei, entspreche der Linie, die Prof. Dr. R. in seinem im Gutachten wiedergegebenen Ultraschallbild eingezeichnet habe. Man könne jedoch anhand der im Ultraschallbild markierten Kreuze erkennen, welche Abmessungen von der Ärztin C. angenommen worden seien, um den Bauchumfang wiederzugeben. Diese seien kleiner als der sichtbare Bauchumfang. In das von der Computersoftware ermittelte Schätzgewicht fließe neben dem Kopfumfang und der Femurlänge vor allem der Bauchumfang ein, sodass eine zu geringe Festlegung des Bauchumfangs zu einer erheblich vom tatsächlichen Zustand abweichenden, zu geringen Gewichtsschätzung führe (Bl. II 336).
46b. Das auf diese Weise fehlerhaft ermittelte Schätzgewicht von 3.299 g, welches unterhalb des im Haus der Beklagten zu 1) am 16.01.2014 geschätzten Wertes von 3.475 g lag, hätte die Ärztin C. dazu veranlassen müssen, eine erneute Fetometrie entweder selbst durchzuführen oder von einem anderen Arzt durchführen zu lassen. Der Sachverständige Prof. Dr. W. hat hierzu ausgeführt, dass es für den Untersucher zum Standardvorgehen gehöre, das Wachstum des Kindes unter Heranziehung von Vorbefunden des Krankenhauses im Intervall zu sehen und zu prüfen, ob es sich um ein perzentilengerechtes Wachstum handele (Bl. II 334). Die Ärztin C. hätte bemerken müssen, dass die am 16.01.2014 vorgenommene Gewichtsschätzung höher war als das von ihr gefundene Gewicht, was mit einem zu erwartenden weiteren Wachstum des Säuglings nicht in Einklang stand. Eine fehlerhafte Messung komme in der Praxis zwar durchaus vor, allerdings müsse eine Prüfung erfolgen, wenn die gefundenen Befunde nicht in sich kongruent und stimmig seien (Bl. II 334). Dies sei hier der Fall gewesen; insbesondere im Hinblick auf den zusätzlichen Risikofaktor eines Diabetes der Kindesmutter und den bereits am 16.01.2014 ausgesprochenen Verdacht einer fetalen Makrosomie hätte Veranlassung bestanden, die Untersuchung und Gewichtsschätzung zu wiederholen (Bl. II 335).
47Diese Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. W. deckt sich mit der bereits in erster Instanz von dem Sachverständigen Prof. Dr. X. vertretenen Auffassung. Dieser hatte in der mündlichen Anhörung vom 15.05.2018 (Bl. I 255) erklärt, die das Ultraschall ausführende Ärztin hätte nicht die frühere Messung als Fehlmessung ansehen und diese ignorieren dürfen, sondern vielmehr eine zweite Meinung einholen müssen (Blatt I 253 R, 255).
48c. Die in zweifacher Hinsicht technisch fehlerhafte Durchführung der Ultraschallmessung verbunden mit der Unterlassung einer weiteren Ultraschalluntersuchung, die den nicht mit einem zu erwartenden Wachstum des Kindes übereinstimmenden zweiten Messwert überprüfte, ist insgesamt als grober Befunderhebungsfehler zu qualifizieren.
49aa. Ein Behandlungsfehler ist als grob zu bewerten, wenn der Arzt oder das medizinische Personal eindeutig gegen bewährte Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt bzw. dem medizinischen Personal schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGH, Urteil vom 25.10.2011, Az. VI ZR 139/10, VersR 2012, 362 Rn. 8; Urteil vom 17.11.2015, Az. VI ZR 476/14, NJW 2016, 563 Rn. 14; Urteil vom 26.06.2018, Az. VI ZR 285/17, VersR 2018, 1192 ff, Rn. 18; Urteil vom 24.05.2022 - VI ZR 206/21 -, juris Rn. 11). Bei der Einstufung des Fehlverhaltens als grob handelt es sich um eine juristische Wertung, die dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliegt. Dabei muss diese wertende Entscheidung des Tatrichters jedoch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können (BGH, Urteile vom 26.06.2018 und vom 24.05.2022, aaO).
50bb. Der Sachverständige Prof. Dr. W. hat zur Qualität des Fehlers ausgeführt, dass es keinerlei Gründe gebe, die es verständlich machten, von der Veranlassung einer Kontrolluntersuchung abzusehen. Nicht nur die nicht erwartbare geringere Schätzung habe einen Hinweis auf eine fehlerhafte Messung gegeben, sondern auch die bekannten Risikofaktoren der fetalen Makrosomie, des erhöhten Gewichts der Kindesmutter mit dem entsprechenden BMI und der bekannte Diabetes hätten Anhaltspunkte dafür sein müssen, ein höheres Schätzgewicht zu erwarten und daher das ermittelte Gewicht von 3.299 g anzuzweifeln und diesen Wert zu überprüfen (Bl. II 335). Es war insoweit zu erwarten, dass die regelmäßige, in den letzten ein bis zwei Monaten der Schwangerschaft stattfindende Gewichtszunahme des Fötus pro Woche von 300 bis 400 g bei einem bestehenden Diabetes um das 1,5-fache höher liegt, bei schlecht eingestelltem Diabetes auch noch mehr (Bl. II 339). Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass für die Untersucherin auf dem Ultraschallschaltbild erkennbar war, dass nicht der gesamte Abdomenumfang abgebildet war und aus der Dokumentation hervorgeht, dass die Ärztin C. sich der schwierigen Schallbedingungen aufgrund der Adipositas der Mutter bewusst war. All diese Umstände insgesamt tragen daher die Bewertung, dass es grob fehlerhaft und nicht mehr verständlich war, in dieser Situation keine erneute Fetometrie selbst durchzuführen oder einen anderen Untersucher beizuziehen.
51d. Bei einer Durchführung der gebotenen Befunderhebung in Form einer erneuten, technisch korrekt ausgeführten Ultraschalluntersuchung hätte sich ein reaktionspflichtiger Befund ergeben. Jedenfalls ist hiervon aufgrund der sich aus dem groben Behandlungsfehler ergebenden Beweislastumkehr prozessual auszugehen.
52aa. Der Sachverständige Prof. Dr. W. hat mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Untersuchungsergebnis ein sehr makrosomes Kind mit einem Schätzgewicht von mehr als 4.500 g angenommen (Bl. II 336). Er hat dies damit begründet, dass bei einer ordnungsgemäß durchgeführten Ultraschalluntersuchung der gesamte Bauchumfang des Kindes sichtbar gemacht hätte werden können. Die tatsächliche Linie des Bauchumfangs hätte dann anders eingezeichnet werden können, was zu einer deutlich erhöhten Schätzung des kindlichen Gewichts hätte führen müssen (Bl. II 336). Die Ausführungen von Prof. Dr. W. stehen im Einklang mit dem Gutachten von Prof. Dr. X. (Bl. I 253 R) und dem Ergänzungsgutachten von Prof. Dr. M. vom 01.06.2017 (Bl. I 205). Soweit der Senat, wie in der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2023 erörtert (Bl. II 150), zunächst nicht die Überzeugung gewinnen konnte, dass eine erneute Durchführung der Untersuchung bei gleich schwierigen Schallbedingungen zu einem anderen Ergebnis als dem, welches die Ärztin C. gewonnen hatte, hätte führen müssen, so bestehen diese Bedenken nach den ergänzenden Erkenntnissen des Gutachters Prof. Dr. W. nicht mehr. Denn das zu gering ermittelte Gewicht von 3.299 g war nicht nur wegen der schwierigen Untersuchungsbedingungen, die bei einem anderen Untersucher oder einer Wiederholung gleichermaßen bestanden hätten, gemessen worden, sondern die Fehlmessung beruhte, wie oben dargestellt, auf einer zweifach technisch fehlerhaften Durchführung. Diese Fehler wären bei einer erneuten, standardgerechten Untersuchung nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge nicht unterlaufen, sodass trotz der bestehenbleibenden schwierigen Untersuchungsbedingungen mit einem realitätsnahen oder -näheren Schätzgewicht zu rechnen war.
53bb. Bei Feststellung eines Schätzgewichtes von 4.500 g oder mehr wäre es erforderlich gewesen, der Kindesmutter die sectio als einzig vernünftige Alternative zu empfehlen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. war aufgrund der bei der Mutter bestehenden Adipositas und des Diabetes als zusätzlichen Risikofaktoren nicht mehr davon auszugehen, dass eine Spontangeburt und ein Kaiserschnitt gleichwertige Alternativen darstellten (Bl. II 335), denn die zusätzlichen Risiken erhöhten die Gefahr des Eintritts einer Schulterdystokie nochmals, das heißt über das bloße hohe Geburtsgewicht hinaus.
54Den Inhalt der erforderlichen Aufklärung der Mutter hat Prof. Dr. W. wie folgt dargestellt (Bl. I 336,337): Es wäre notwendig gewesen, die Klägerin zu 2) darüber aufzuklären, dass sich ein Schätzgewicht von über 4.500 g ergeben habe und dass daher eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Verwirklichung von mit der Geburt verbundenen Risiken bestehe. Insbesondere hätte man darauf hinweisen müssen, dass es sein könne, dass zunächst der Kopf geboren wird, aber die Schulter des Kindes hängen bleibe. Auch auf die erhöhte Gefahr für einen Geburtsstillstand mit der Folge eines im Geburtsverlauf durchzuführenden Kaiserschnitts, der höhere Risiken als ein primärer Kaiserschnitt beinhalte, hätte hingewiesen werden müssen. Schließlich hätte der Mutter vor Augen geführt werden müssen, dass das Outcome besonders schwerer Kinder bei einer Spontangeburt grundsätzlich schlechter sein könne als nach einem primären Kaiserschnitt. Gleichermaßen hätte die Patientin über die Risiken des Kaiserschnittes für die Mutter aufgeklärt werden müssen, insbesondere über die aufgrund der Adipositas der Mutter erhöhten Risiken einer Wundheilungsstörung im Bereich des Schnittes, einer thromboembolischen Reaktion und einer Infektion. Die Risiko-Nutzen-Abwägung würde den Arzt dazu bringen, der Patientin einen Kaiserschnitt als gegenüber dem Versuch einer Spontangeburt vorzugswürdig zu empfehlen.
55cc. Das Unterlassen einer solchen Aufklärung würde sich wiederum als grob fehlerhaft darstellen, und zwar vor dem Gesichtspunkt der gegebenen Risikofaktoren Adipositas und Diabetes und der möglichen erheblichen Schädigung des Kindes bei einer Spontangeburt. Diese Bewertung fußt auf den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. in seiner mündlichen Anhörung (Bl. II 337), die mit der im schriftlichen Gutachten von Prof. X. (Bl. I 173) niedergelegten Auffassung übereinstimmen.
56dd. Der Senat kann davon ausgehen, dass die Klägerin zu 2) auf die gebotene Aufklärung hin, dass ein primärer Kaiserschnitt bei Abwägung der Chancen und Risiken medizinisch vorzugswürdig sei, sich aufklärungsrichtig verhalten hätte. Dies ergibt sich auch aus der persönlichen Anhörung der Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung vom 20.01.2025. Sie hat authentisch erklärt, sie hätte sich bei einer Aufklärung über Risiken für ihr Kind sofort für einen Kaiserschnitt entschieden. Dies ist insbesondere deshalb plausibel, als auch der Beklagte zu 2) in seiner Zeugenvernehmung erklärt hat, bei dem Beratungsgespräch vom 16.01.2014 sei aus seiner Sicht die Klägerin zu 2) offen gewesen, ob eine Spontangeburt oder ein Kaiserschnitt erfolgen solle (Bl. II 341).
57e. Das Unterlassen der gebotenen Befunderhebung mit der Konsequenz, dass eine Aufklärung über die Notwendigkeit eines primären Kaiserschnitts und ein primärer Kaiserschnitt nicht erfolgt sind, hat dazu geführt, dass die Klägerin zu 1) eine Plexusparese rechts mit einer Erb`schen Lähmung erlitten hat. Die insoweit von der Kammer auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen Dr. T. getroffenen Feststellungen zu Art und Umfang der bei der Klägerin zu 1) vorliegenden Beeinträchtigungen (insoweit ausführlich Bl. 12-14 der angefochtenen Entscheidung) werden von der Berufung nicht angegriffen; sie sind im Übrigen uneingeschränkt überzeugend. Bei einem primären Kaiserschnitt wäre das Risiko einer Plexusschädigung nach den Ausführungen von Prof. Dr. W. so gering gewesen, dass sich dessen Verwirklichung im Rahmen der Beweiswürdigung als theoretische und unbeachtliche Möglichkeit darstellt. Ohnehin gehen Zweifel infolge der sich aus dem groben Behandlungsfehler ergebenden Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten zu 1).
58Auch hinsichtlich der Klägerin zu 2) hat die unterlassene Befunderhebung zu kausalen Schäden geführt. Die Kammer hat auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen Dr. P. bei der Klägerin zu 2) eine leichtgradige depressive Verarbeitungsstörung angenommen, die jedenfalls mitursächlich auf die Geburt und Schädigung der Tochter zurückzuführen sei. Auch diese Feststellungen greift die Berufung nicht konkret an.
593.
60Die Anschlussberufung der Klägerinnen zu 1) und 2) hat in geringem Umfang Erfolg. Sie führt zu einer Erhöhung des der Klägerin zu 1) zuzusprechenden Schmerzensgeldes auf 75.000 € und des der Klägerin zu 2) zustehenden Schmerzensgeldes auf 4.500 €. Die von der Kammer vorgenommene Bemessung der Schmerzensgelder ist vom Senat insgesamt nicht zu beanstanden; allerdings war der sich erst in zweiter Instanz herauskristallisierte Aspekt der groben Fahrlässigkeit zusätzlich zu berücksichtigen. Im Einzelnen:
61a. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind die folgenden höchstrichterlichen Vorgaben zu berücksichtigen:
62aa. Die Festsetzung der Höhe des Schmerzensgeldes ist an der Funktion des Schmerzensgeldes auszurichten. Diese besteht einerseits darin, dem Verletzten einen Ausgleich für erlittene Schmerzen und Leiden zugute kommen zu lassen. Das Schmerzensgeld soll ihn in die Lage versetzen, sich Erleichterungen und Annehmlichkeiten zu verschaffen, die die erlittenen Beeinträchtigungen jedenfalls teilweise ausgleichen. Darüber hinaus soll es dem Geschädigten Genugtuung für das verschaffen, was der Schädiger ihm angetan hat (vgl. BGHZ 18, 149; BGH NJW 1995, 781; BGHZ 212, 48; OLG Nürnberg NJW 1998, 2293).
63Unter Berücksichtigung dieser Zielsetzung finden bei der Schmerzensgeldbemessung neben dem Ausmaß und der Schwere der Verletzungen und den aus der Behandlungsbedürftigkeit resultierenden Belastungen für den Verletzten auch die Dauer und der Umfang der schädigungsbedingten Behandlungsmaßnahmen sowie etwa bestehende Unsicherheiten hinsichtlich des weiteren Krankheitsverlaufs und einer endgültigen Heilung Berücksichtigung (vgl. Grüneberg-Grüneberg, BGB 81. Auflage, § 253 Rn. 16; BGHZ 212, 48).
64bb. Ergänzend zu berücksichtigen sind auch etwaige besondere Umstände in der Person des Verletzten wie auch in der Person des Schädigers, insbesondere die konkreten Umstände der Verletzungshandlung und die Schwere des dem Schädiger zur Last fallenden Verschuldens. Auch wenn bei der ärztlichen Behandlung das Bestreben der Behandlungsseite im Vordergrund steht, dem Patienten zu helfen und ihn von seinen Beschwerden zu befreien, stellt es unter dem Blickpunkt der Billigkeit einen wesentlichen Unterschied dar, ob dem Arzt grobes - möglicherweise die Grenze zum bedingten Vorsatz berührendes - Verschulden zur Last fällt oder ob ihn nur ein geringfügiger Schuldvorwurf trifft. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass grobe Fahrlässigkeit nicht bereits dann zu bejahen ist, wenn dem Arzt ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist. Ein grober Behandlungsfehler ist weder mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen noch kommt ihm insoweit eine Indizwirkung zu. Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ein objektiv grober Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein noch nicht den Schluss auf ein entsprechend gesteigertes persönliches Verschulden. Vielmehr ist ein solcher Vorwurf nur dann gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet. Damit sind auch Umstände zu berücksichtigen, die die subjektive, personale Seite der Verantwortlichkeit betreffen, und konkrete Feststellungen nicht nur zur objektiven Schwere der Pflichtwidrigkeit, sondern auch zur subjektiven Seite zu treffen (BGH NJW 2022, 1443 Rn. 13 ff.).
65b. Unter Berücksichtigung der vorstehend genannten Grundsätze hat die Kammer zunächst zutreffend alle bezüglich der jeweiligen Klägerin relevanten, gesundheitlichen Umstände für die Bemessung der Schmerzensgelder zugrundegelegt.
66aa. Bei der Klägerin zu 1) hat die Kammer berücksichtigt, dass die unter der Geburt erlittene Schulterdystokie zu einer Zerrung und Zerreißung im Armvenengeflecht geführt hat, was wiederum einen Ausfall der nachgeordneten Muskulatur verursacht hat. Die rechte Hand der Klägerin zu 1) ist trotz zahlreicher bereits erfolgter mikrochirurgischer Operationen dauerhaft umfassend und erheblich in ihrer Funktion eingeschränkt und kann nur als Hilfshand eingesetzt werden. Eine sekundäre Wachstumsstörung mit Verkürzung der Handlänge und Atrophie der Muskulatur sowie eine Asymmetrie der Rumpfhaltung mit Schulterschiefstand und Ventralneigung des Schulterblattes rechts führt zu zusätzlichen motorischen Einschränkungen. Der Klägerin zu 1) ist dauerhaft ein Werkzeuggebrauch mit der rechten Hand nicht möglich; sie muss zudem zum Erhalt der durch die erfolgten Operationen zumindest partiellen Einsatzmöglichkeit der rechten Hand in der Stützfunktion dauerhaft Krankengymnastik absolvieren. Der Klägerin zu 1) war und ist der Besuch eines regulären Kindergartens und einer Regelschule möglich.
67bb. Bei der Klägerin zu 2) hat die Kammer zutreffend eine leichtgradige depressive Verarbeitungsstörung für die ersten zwei Jahre nach der Geburt ihrer Tochter in die Schmerzensgeldbemessung einbezogen. Die Klägerin zu 2) hat nach dem Gutachten von Dr. P. stets eine potente antidepressive Medikation einnehmen müssen (Bl. I 467), unter dieser Medikation allerdings ein hohes Leistungsniveau im Alltags- und Erwerbsleben mit leicht vermehrter emotionaler Labilität gezeigt (Bl. I 468).
68cc. Unter Berücksichtigung der zuzurechnenden Schadensfolgen, deren Umfang von der Anschlussberufung auch nicht angegriffen wird, stellen sich die von der Kammer festgesetzten Schmerzensgelder für die Klägerin zu 1) von 70.000 € und für die Klägerin zu 2) von 4.000 € als angemessen, aber auch ausreichend dar. Insbesondere entspricht das für die Klägerin zu 1) ausgesprochene Schmerzensgeld vergleichbaren, vom Senat bereits bearbeiteten bzw. entschiedenen Fällen zu Schulterdystokien. So hat der Senat im Verfahren 5 U 131/16, in dem vergleichbare Folgen vorlagen, einen Abfindungsvergleich von 150.000 € (unter Einschluss materieller Schäden) vorgeschlagen. Im Verfahren 5 U 69/16, bei dem eine Schulterdystokie unter der Geburt allerdings geringere Dauerfolgen nach sich zog als bei der Klägerin zu 1), ist ein Schmerzensgeld von 30.000 € zugesprochen worden. Im Hinblick auf die Klägerin zu 2) ist zu sehen, dass die depressive Verarbeitungsstörung nicht ausschließlich auf der traumatischen Geburt und Behinderung ihrer Tochter beruht, sondern weitere private Gründe hatte, wie sich aus dem Gutachten von Dr. P. ergibt. Die von der Anschlussberufung zitierten Urteile sind damit nicht vergleichbar.
69dd. Einer Anpassung bedürfen die vom Landgericht festgestellten Schmerzensgeldbeträge allerdings, da in zweiter Instanz aufgrund der zusätzlichen Feststellungen zur Ultraschallmessung vom 06.02.2014 zusätzlich eine grobe Fahrlässigkeit der Ärztin C. zu berücksichtigen ist.
70aaa. Bei der Ärztin C. lag ein gesteigertes persönliches Verschulden im Sinne einer auch subjektiv schlechthin unentschuldbaren Pflichtverletzung vor. Die Ärztin konnte erkennen, dass das Ultraschallbild nicht den gesamten Abdomenumfang zeigte, und dokumentierte die Messbedingungen auch als schwierig. Ihr waren sowohl die vorhergehende Messung des Chefarztes bekannt als auch die bei der Klägerin zu 2) vorliegenden Risikofaktoren, die auf eine erhöhte Wachstumsrate des Kindes schließen ließen und das gemessene Ergebnis unwahrscheinlich machten. Aus ihrer eigenen Sicht konnte es nach dem Sach- und Streitstand des vorliegenden Verfahrens keine Gesichtspunkte geben, aufgrund derer sie von einer höheren Verlässlichkeit ihrer Gewichtsermittlung als derjenigen durch den ehemaligen Beklagten zu 2), der der ihr vorgesetzte, erfahrenere Arzt war, ausgehen durfte. Vor diesem Hintergrund war es auch in subjektiver Hinsicht nicht verständlich, eine solche Kontrolle nicht vorzunehmen. Dies gilt insbesondere, da die Ärztin Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe war und von der Beklagtenseite als „erfahrene Geburtshelferin“ bezeichnet wurde (Bl. 3 des Schriftsatzes vom 09.09.2016, Bl. I 125), für die eine Ultraschallmessung eine schon häufig durchgeführte Untersuchung sein musste.
71bbb. Für diese Feststellung war eine Vernehmung der Ärztin C. als Zeugin, wie im Schriftsatz vom 03.02.2025 von Beklagtenseite angeboten, nicht erforderlich. Ein die Ärztin C. von einer subjektiven Pflichtverletzung entlastender Sachverhalt, der durch die Vernehmung der Zeugen bewiesen oder aufgeklärt werden könnte, wird insoweit bereits nicht vorgetragen. Soweit die Beklagtenseite meint, dass Frau C. „schlicht kein Problembewusstsein“ gehabt habe, so kann dies als wahr unterstellt werden, entkräftet aber den Fahrlässigkeitsvorwurf nicht. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen war es gerade nicht vertretbar, die Messung vor dem Hintergrund des Vorbefundes hinzunehmen. Dass der Ärztin die vorhergehende Messung bekannt war, ergibt sich aber aus der übereinstimmenden und mehrfach protokollierten Angabe der Klägerin zu 2), ihr Mann habe die Ärztin auf die vorangegangene Messung, die einen höheren Wert ergeben hatte, hingewiesen. Eine Kenntnis der Vorbefunde, die dem üblichen Ablauf bei einer vorgeburtlichen Ultraschalluntersuchung entspricht, haben die Beklagten zudem nicht bestritten.
72ccc. Der Senat hält aufgrund des subjektiven Verschuldens und der der Beklagten zu 1) zuzurechnenden groben Fahrlässigkeit für die Klägerin zu 1) eine Erhöhung des Schmerzensgeldes um 5.000 € für angemessen, bei der Klägerin zu 2) um 500 €. Diese maßvolle Erhöhung ist ausreichend, da im vorliegenden Fall der in Arzthaftungsfällen regelmäßig im Vordergrund stehende Ausgleichsgedanke ein erheblich höheres Gewicht hat als das ergänzend hinzutretende Genugtuungsinteresse.
73III.
74Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 100, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
75Der Beklagte zu 2) ist ungeachtet seiner Benennung als Berufungskläger in der Berufungsschrift vom 08.03.2023 (Bl. II 2) am Verfahren zweiter Instanz und damit auch an den Kosten nicht beteiligt. Die Auslegung der Berufungsschrift und des beigefügten landgerichtlichen Urteils ergibt, dass er durch das erstinstanzliche Urteil nicht beschwert ist und kein Interesse an der Anfechtung dieses Urteils haben kann. Dies hat der Beklagtenvertreter in der Berufungsbegründung vom 11.05.2023 (Bl. II 44) auch klargestellt.
76Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 543 Abs. 2 ZPO). Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Die entscheidungserheblichen Fragen sind ausschließlich solche des Einzelfalls. Die Entscheidung des Senates setzt sich, soweit ersichtlich, in keinem Punkt in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes oder eines anderen Oberlandesgerichts.
77Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 215.000 € festgesetzt. Dies setzt sich zusammen aus dem Wert der Berufung von 179.000 € und dem Wert der Anschlussberufung von 36.000 €.