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Fährt der Fahrer eines LKW im stockenden Verkehr an einer Grundstücksausfahrt vorbei, so liegt in der Nichtbenutzung des Frontspiegels, in dem ein in die Lücke einfahrender, aber durch die Frontscheibe nicht sichtbarer PKW zu sehen gewesen wäre, wegen des im Straßenverkehrs allgemein geltenden Vertrauensgrundsatz nur dann ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme gemäß §§ 1 Abs. 1, 11 Abs. 3 StVO, wenn der Fahrer des LKW ein verkehrswidriges Verhalten und die Missachtung seines Vorrechts aufgrund der gesamten Umstanden konkret zu besorgen hatte (Abgrenzung zu OLG München, Urteil vom 25.11.2020 – 10 U 1942/20).
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 08.10.2024 verkündete Urteil der 21. Zivilkammer des Landgericht Köln – Az. 21 O 99/23 – abgeändert und die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
2I.
3Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 544 II Nr. 1, 540 II, 313a I 1 ZPO abgesehen.
4II.
5Die form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg und führt zur Abänderung des angefochtenen Urteils.
61.
7Der in Rede stehende Unfall ereignete sich bei dem Betrieb des bei der Beklagten haftpflichtversicherten LKW, weshalb die Beklagte dem Kläger dem Grunde nach aus dem Gesichtspunkt der Gefährdungshaftung heraus haftet, §§ 7 StVG, 115 VVG. Der Unfall ereignete sich gleichermaßen auch bei dem Betrieb des klägerischen Fahrzeuges, so dass auch zu Lasten des Klägers die Gefährdungshaftung des § 7 StVG eingreift. Gemäß § 17 I, II StVG hängt im Verhältnis der Fahrzeughalter zueinander die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Schadensersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 I, II StVG ist tatrichterliche Aufgabe und aufgrund der Abwägung aller festgestellter, d.h. unstreitiger, zugestandener oder nach § 286 ZPO bewiesener Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, soweit sie sich nachweislich auf den Unfall ausgewirkt haben (vgl. BGH NJW 2017, 1177; BGH NJW 2014, 3097; OLG Saarbrücken RuS 2018, 492; OLG Saarbrücken VRS 135, 184). Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung auf Grund geschaffener Gefährdungslage bleiben außer Betracht (vgl. OLG Saarbrücken VRS 135, 184). In die Abwägung ist in erster Linie das Maß der Verursachung einzustellen, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein weiterer einzustellender Faktor ist das beiderseitige Verschulden (BGH NJW 2017, 1177; BGH NJW 2016, 1100; BGH NJW 2014, 3097; OLG Saarbrücken RuS 2018, 492; OLG Saarbrücken VRS 135, 184).
82.
9In die Abwägung ist zu Lasten des Klägers ein schuldhafter Verstoß gegen die ihn nach § 10 StVO treffenden Sorgfaltspflichten einzustellen, wovon auch das Landgericht zutreffend ausgegangen ist. Gemäß § 10 StVO hat, wer vom Fahrbahnrand anfährt, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, insbesondere des fließenden Verkehrs, ausgeschlossen ist (vgl. BGH NJW-RR 2012, 157; BGH VersR 1991, 352; KG NZV 2006, 369; KG MDR 2008, 562; OLG Köln DAR 2006, 27; OLG Brandenburg Urt. v. 06.03.2002, Az. 14 U 119/01 zitiert nach juris). Mit dieser Formulierung fordert der Gesetzgeber von dem Anfahrenden äußerste Sorgfalt (vgl. KG NZV 2006, 369; OLG München NJW-RR 1994, 1442). Die vorgenannte Norm legt gleichzeitig demjenigen, der vom Fahrbahnrand anfährt, die Verantwortung für die Gefahrlosigkeit seines Fahrmanövers im Wesentlichen allein auf (vgl. OLG Köln DAR 2006, 27). Der Anfahrende muss sich im Rahmen der ihn treffenden Sorgfaltspflichten vergewissern, dass die Fahrbahn für ihn im Rahmen der gebotenen Sicherheitsabstände frei ist und er durch das Anfahren niemanden übermäßig behindert (vgl. BGH NJW-RR 2012, 157; BGH VersR 1991, 352). Diese Pflicht trifft ihn in gleicher Weise gegenüber dem von rechts kommenden wie gegenüber dem von links kommenden Verkehr, gegenüber dem nachfolgenden wie gegenüber dem entgegen kommenden Verkehr. Jeglicher fließende Fahrbahnverkehr hat im Grundsatz Vorrang gegenüber dem in den Verkehr Einfahrenden (vgl. BGH NJW-RR 2012, 157; KG NZV 2007, 406),
10Gegen diese Pflichten hat der Kläger – aus Sicht des Senates grob – verstoßen. Er befand sich zum Zeitpunkt der Kollision unstreitig im Einfahrvorgang von dem rechts neben der Straße befindlichen Tankstellengelände auf die Fahrbahn. Dies erfolgte laut polizeilicher Unfallmitteilung und ausweislich der in der Akte befindlichen Lichtbilder über einen abgesenkten Bordstein. Der Vorgang des Einfahrens war zum Zeitpunkt der Kollision noch nicht abgeschlossen. Der Kläger befand sich vielmehr mit seinem Fahrzeug – wie den Lichtbildern von der Unfallstelle zu entnehmen ist – noch in einer schrägen Position und mit einem nicht unerheblichen Teil des Fahrzeuges zudem noch auf der Ausfahrt. Eine Beendigung des Einfahrvorgangs ist nach der Rechtsprechung erst dann anzunehmen, wenn sich das einfahrende Fahrzeug bereits endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat und jede Auswirkung des Einfahrvorganges auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist (vgl. KG MDR 2008, 562; OLG Köln DAR 2006, 27). Davon kann erst dann ausgegangen werden, wenn es sich bereits vollständig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat und mit diesem in angepasster Geschwindigkeit in Fahrtrichtung auf der Fahrbahn unterwegs ist (OLG Köln DAR 2006, 27). Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob und wie lange das klägerische Fahrzeug zum Zeitpunkt der Kollision bereits gestanden hat. Auch unter Zugrundelegung der diesbezüglichen Angaben des Klägers zum zeitlichen Umfang des Stillstands seines Fahrzeuges war der Stillstand allein darin begründet, dass die Lücke, die der Kläger zum Einfahren nutzen wollte, nicht ausreichend groß war für ein vollständiges Einfädeln in den fließenden Verkehr. Kurzzeitige, den Einfahrvorgang unterbrechende Haltevorgänge wie der vorliegend in Rede stehende kommen im Straßenverkehr vielfach vor und setzen die Gefährlichkeit des Einfahrvorganges nicht herab, sondern erhöhen sie durch die dadurch eintretende zeitliche Verlängerung im Gegenteil sogar regelhaft (vgl. OLG Köln DAR 2006, 27). Ereignete sich die Kollision mithin in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren des Klägers in den Straßenverkehr, spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine Verursachung durch die Nichtbeachtung der dem Kläger gemäß § 10 StVO obliegenden äußersten Sorgfalt (vgl. BGH NJW-RR 2012, 157; KG MDR 2008, 562; OLG Brandenburg Urt. v. 06.03.2002, Az. 14 U 119/01 zitiert nach juris). Hiervon ist auch das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgegangen (vgl. Seiten 6 f. des landgerichtlichen Urteils, Bl. 349 f. BA). Der Senat geht auf der Grundlage des vom Landgericht festgestellten Unfallhergangs zugleich von einem objektiv wie subjektiv schweren Verschulden und einer grob fahrlässigen Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers aus. Dieser fuhr unter Verletzung des Vorfahrtsrechts des Zeugen G. in den fließenden Verkehr ein in einen Bereich, der klar erkennbar für den Zeugen nicht oder allenfalls schwer einsehbar war. Auch konnte der Kläger nicht davon ausgehen, dass der Zeuge G. ihn gesehen hatte oder vor dem Anfahren sehen würde, weil ein Blickkontakt zwischen dem Kläger und dem Zeugen auch nach den eigenen Angaben des Klägers zu keinem Zeitpunkt bestand.
113.
12Demgegenüber vermag der Senat auf der Grundlage der vom Landgericht rechtsfehlerfrei festgestellten und prozessual zugrunde zu legenden Tatsachen nicht festzustellen, dass auch dem Zeugen G. ein Verkehrsverstoß zur Last zu legen ist, insbesondere nicht der vom Landgericht angenommene Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot des §§ 1 I, 11 III StVO.
13(a)
14Dass das Klägerfahrzeug für den Zeugen G. durch die Frontscheibe des Beklagten-LKW sichtbar war, kann nach dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme nicht festgestellt werden. Hiervon hat sich das Landgericht zu Recht keine Überzeugung zu bilden vermocht, § 286 ZPO. Die dem gerichtlichen Sachverständigen vom Landgericht vorgegebenen Anknüpfungstatsachen zu der Stellung des Klägerfahrzeuges, der Entfernung zwischen beiden Fahrzeugen beim Anfahren des Beklagten-LKW, dem zeitlichen Umfang der Bewegung des Beklagten-LKW vor der Kollision von ca. 5 Sekunden mit einer Geschwindigkeit von nicht höher als 10 km/h und dem Stillstand des Klägerfahrzeuges ergeben sich aus den im Kern übereinstimmenden Angaben des Zeugen G., des Klägers und insbesondere der sich in guter Sichtposition befindlichen, an dem Unfallgeschehen unbeteiligten Zeugin V.. Auf der Grundlage dieser Anknüpfungstatsachen hat sich der gerichtliche Sachverständige Dipl.-Ing. L. in seinem Unfallrekonstruktionsgutachten vom 04.07.2024 (Bl. 242 ff. d.A.) unter sorgfältiger Auswertung der Beschädigungen an beiden Fahrzeugen, des auf den Lichtbildern ersichtlichen Splitterfeldes auf der Fahrbahn, der Lichtbilder von der Unfallstelle und der nachkollisionären Stellung beider Fahrzeuge sowie einer Analyse der Sichtverhältnisse des Zeugen G. aus dem Führerhaus des LKW heraus außerstande gesehen, aus technischer Sicht die an ihn gerichtete Frage nach der Sichtbarkeit des Klägerfahrzeugs für den Zeugen G. mit letzter Sicherheit zu klären. Unter Zugrundelegung von Durchschnittswerten bezüglich Körpergröße, Sitzposition und Spiegeleinstellung des Zeugen G. ist er davon ausgegangen, dass das Klägerfahrzeug durch die Frontscheiben des Beklagten-LKW nur dann sichtbar war, wenn der Abstand zwischen der rechten Frontecke des LKW und der ersten Kontaktstelle am PKW 1,4 Meter oder mehr betrug. Bei einem geringeren Abstand als 1,4 Meter hat er eine Sichtbarkeit des Klägerfahrzeugs nur im Frontspiegel, ggf. auch in Teilen im Bordsteinspiegel angenommen. Da vorliegend aber sowohl eine Entfernung von unter als auch eine Entfernung von 1,4 Meter und mehr aus technischer Sicht im Bereich des Möglichen liegen und sich die exakte Entfernung zwischen den beiden Fahrzeugen einer sicheren Aufklärung entzieht, kann eine Sichtbarkeit des Klägerfahrzeuges durch die Frontscheiben des Beklagten-LKW nicht mit der für § 286 ZPO erforderlichen Gewissheit festgestellt werden, wohl aber eine Sichtbarkeit zumindest im Front- und im Bordsteinspiegel. Eine Entfernung, in der das Klägerfahrzeug für den Zeugen G. überhaupt nicht sichtbar war – wie die Beklagte es in der Berufungsbegründung begründungslos in den Raum stellt (vgl. Seiten 5 f. der Berufungsbegründung, Bl. 166 f. BA) – vermag der Senat unter Berücksichtigung der vom Landgericht vorgegebenen Anknüpfungstatsachen dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen nicht zu entnehmen. Das Unfallrekonstruktionsgutachten erscheint dem Senat auch als tragfähige Grundlage für eine gerichtliche Überzeugung. Für eine Abweichung der unbekannten Parameter von den vom gerichtlichen Sachverständigen zugrunde gelegten Durchschnittswerten ist beklagtenseits weder etwas vorgetragen worden noch geben der Akteninhalt oder die Zeugenaussagen hierfür Hinweise.
15(b)
16Die demnach nach der allgemeinen Beweislastverteilung lediglich zugrunde zu legende Sichtbarkeit des Klägerfahrzeuges für den Zeugen G. im Front- und Bordspiegel begründet entgegen der Auffassung des Landgerichts (vgl. Seiten 4 f. des landgerichtlichen Urteils, Bl. 347 f. d.A.) in rechtlicher Hinsicht keinen der Beklagten zuzurechnenden schuldhaften Verkehrsverstoß des Zeugen G.. Dieser hat zwar unstreitig vor dem Anfahren nicht in die vorstehenden Spiegel geschaut und deshalb das Klägerfahrzeug nicht gesehen. Hierin liegt indes kein Verstoß gegen die straßenverkehrsrechtliche Rücksichtnahmepflicht gemäß §§ 1 I, 11 III StVO. § 1 StVO legt jedem Verkehrsteilnehmer eine Pflicht zur Vorsicht und Rücksichtnahme gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern auf und legt fest, dass er sich so verhalten muss, dass andere Verkehrsteilnehmer nicht geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt werden. Diese Pflicht gilt insbesondere in besonderen Verkehrslagen im Sinne von § 11 III StVO, in denen auch der Vorfahrtsberechtigte gehalten ist, zugunsten anderer Verkehrsteilnehmer auf seinen Vorrang zu verzichten, wenn die Verkehrslage dies erfordert. Die Vorschrift des § 11 StVO stellt eine Konkretisierung der im Straßenverkehr geltenden Grundpflicht zur ständigen Vorsicht und gegenseitigen Rücksichtnahme dar und statuiert die Verpflichtung jedes Verkehrsteilnehmers, verwickelte Lagen durch angepasstes Verhalten mit zu entwirren oder sie nicht durch unvernünftiges Verhalten zu verstärken (vgl. Müther in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht 2. Auflage, § 11 StVO Rn. 26 m.w.N.). Diese Vorschrift ist indes als Einschränkung der Vorrangregeln eng auszulegen. Der Vorrang hat nur dann zurückzustehen, wenn dies offensichtlich ist und der Verzicht auf den Vorrang sich nicht nur als zweckmäßig und wünschenswert, sondern als notwendig darstellt (vgl. Müther in: Freymann/Wellner, a.a.O., § 11 StVO Rn. 27) m.w.N.).
17Eine solche Situation bestand vorliegend nicht. Es kann zunächst nicht festgestellt werden, dass der Zeuge G. vor dem erneuten Anfahren nach der Rotlichtschaltung allgemein gehalten war, Front- wie Bordsteinspiegel zu benutzen. Nach den auch insoweit überzeugenden Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen dient der beim LKW an der oberen rechten Windschutzscheibenecke montierte Frontspiegel dazu, dass sich der an einer T-Einmündung oder unmittelbar vor einer roten Ampel oder einem querenden Fußgängerüberweg haltende abbiegewillige LKW-Fahrer vor dem Anfahren aus dem Stand vergewissern kann, dass keine Fußgänger oder Radfahrer unmittelbar vor der Front seines LKW quer herlaufen (vgl. Seite 47 des Gutachtens Dipl.-Ing. L. vom 04.07.2024, Bl. 288 d.A.). Der Bordsteinspiegel dient der Erleichterung des Rangierens des LKWs an der Bordsteinkante (vgl. Seite 47 des Gutachtens Dipl.-Ing. L. vom 04.07.2024, Bl. 288 d.A.). In der vorliegend gegebenen Situation eines in einigem Abstand vor einer roten Ampel im Stau stehenden LKW stellt weder der Blick in den Frontspiegel bezüglich möglicher die Fahrbahn kreuzender Fußgänger oder Radfahrer noch der Blick in den Bordsteinspiegel einen üblichen und standardgemäß vorzunehmenden Vorgang dar. Beides bringt im Gegenteil keinen Informationsgewinn und ist in der gegebenen Stop and Go Situation keine plausibel ansetzbare Blickrichtung eines LKW-Fahrers (vgl. Seite 47 des Gutachtens Dipl.-Ing. L. vom 04.07.2024, Bl. 288 d.A.). Er konnte allenfalls dem Zweck dienen, Fahrzeuge zu erkennen, die durch ein grob vorschriftswidriges Fahrmanöver in die – zu kleine – Lücke unmittelbar vor dem LKW eingefahren waren. Mit solchen Fahrzeugen musste der Zeuge G. nicht rechnen. Er konnte nach dem im Straßenverkehr geltenden Vertrauensgrundsatz vielmehr im Ansatz davon ausgehen und schutzwürdig darauf vertrauen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer sich verkehrsgerecht verhalten und etwaige aus der Einfahrt kommende Fahrer sein Vorrecht beachten und nicht in den nur eingeschränkt einsehbaren Bereich vor dem von ihm geführten LKW einfahren würden. Der Senat hat auch erhebliche Zweifel daran, ob – wie das Landgericht angenommen hat – der Vertrauensgrundsatz dadurch eingeschränkt war, dass sich an der Stelle, an der der Zeuge G. mit seinem LKW zum Stehen gekommen war, rechterhand eine Tankstellenausfahrt befand. Ob dies entsprechend der vom Landgericht in Bezug genommenen Entscheidung des OLG München (OLG München NJW-RR 2021, 216) und des vom OLG München dort aufgestellten allgemeinen Rechtssatzes ohne weitere hinzutretende Umstände als ausreichend angesehen werden kann, besondere Sorgfaltspflichten des fließenden Verkehrs gegenüber potentiell vorschriftswidrig handelnden Verkehrsteilnehmern zu begründen, bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung. Der Senat gibt indes zu bedenken, dass die Begründung besonderer Sorgfaltspflichten in jeder Verkehrssituation, in der aufgrund der örtlichen Verhältnisse abstrakt und allgemein damit zu rechnen ist, dass häufiger Fahrzeuge unter Missachtung des Vorrangs des fließenden Verkehrs auf eine bevorrechtigte Straße ausfahren könnten, den Vertrauensgrundsatz weitgehend leerlaufen lassen und in sein Gegenteil verkehren würde (wie hier auch OLG Hamm VersR 2002, 251). Mehr spricht dafür, Einschränkungen des Vertrauensgrundsatzes nur in solchen Verkehrssituationen anzunehmen, in denen über die örtlichen Verhältnisse hinaus zugleich auch konkrete Anhaltspunkte für die Besorgnis eines akut bevorstehenden verkehrswidrigen Verhaltens bestehen, etwa, wenn sich ein oder mehrere Fahrzeuge auf der Ausfahrt befinden, die erkennbar im Begriff sind, sich im Reißverschlussverfahren in den fließenden Verkehr einzufädeln. Von derartigem kann nach dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme vorliegend jedoch nicht ausgegangen werden. Der Zeuge G. hat vielmehr glaubhaft angegeben, das Klägerfahrzeug vor der Kollision nicht gesehen zu haben. Dies ist ihm nicht zu widerlegen. Die Existenz weiterer Fahrzeuge auf der Ausfahrt ist klägerseits bereits nicht behauptet worden. Vorliegend kommt in tatsächlicher Hinsicht als weitere Besonderheit hinzu, dass für den Zeugen G. – anders als in dem dem OLG München zur Entscheidung vorliegenden Sachverhalt – ausweislich der in der in der Akte befindlichen Lichtbilder des gerichtlichen Sachverständigen zu den Sichtverhältnissen des Zeugen (vgl. insbesondere Bl. 263 d.A.) für diesen nicht einmal erkennbar war, dass die am rechten Fahrbahnrand gelegene Ausfahrt zu einer Tankstelle gehörte. Die Tankstelle selbst hatte der Beklagten-LKW bereits passiert, als er zum Stehen gekommen war. Sie befand sich in Fahrtrichtung gesehen hinter dem Beklagten-LKW und wäre nur bei einem Blick des Zeugen nach rechts hinten sichtbar gewesen. In Höhe des Beklagten-LKW durch einen Seitenblick zu sehen war lediglich eine kleine Ausfahrt mit abgesenktem Bordstein und in Fahrtrichtung dahinter ein Schild. Dass diese sich ihm darbietende Situation hätte Veranlassung geben müssen, mit verbotswidrig einfahrenden Fahrzeugen zu rechnen, ist nicht erkennbar, zumal die Lücke zwischen seinem LKW und dem Vorderfahrzeug – unabhängig davon, wann und wie diese entstanden ist – ersichtlich nicht groß genug war für ein vollständiges Einfahren eines Fahrzeuges. Dass – wie es der Entscheidung des LG Saarbrücken (NJW-RR 2016, 1004 Rn. 12) in tatsächlicher Hinsicht zugrunde liegt – der Zeuge G. beim Anhalten eine so erhebliche Lücke zum Vorderfahrzeug gelassen hätte, dass dies dem Kläger die Möglichkeit zum Einfahren eröffnet und ihn quasi zu einem solchen Verhalten eingeladen hätte, kann ohnehin nicht festgestellt werden. Der Zeuge hat glaubhaft angegeben, die Lücke sei erst nachträglich dadurch entstanden, dass das vor ihm stehende Fahrzeug nach der Ampelschaltung vor ihm losgefahren sei, während das Lösen der Handbremse des von ihm geführten LKW eine längere Zeit in Anspruch genommen habe. Auch dies ist ihm nicht zu widerlegen.
184.
19Bei der vorstehenden Sachlage tritt die zu Lasten des Beklagtenfahrzeuges lediglich einzustellende einfache Betriebsgefahr hinter der durch den groben Verkehrsverstoß des Klägers deutlich erhöhten Betriebsgefahr des Klägerfahrzeuges vollständig zurück. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei einer Kollision im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit einem Einfahren in den fließenden Verkehr und einem gegen den Einfahrenden streitenden Anscheinsbeweis letzterer in der Regel für den Unfall und die Unfallfolgen allein haftet (vgl. BGH NJW-RR 2012, 157; KG MDR 2008, 562; KG NZV 2006, 369; OLG Brandenburg 06.03.2002, Az. 14 U 119/01 zitiert nach juris; OLG Saarbrücken VRW 135, 184; OLG München, Urteil vom 27.05.2010, Az. 10 U 4431/09, zitiert nach juris) und jedenfalls die einfache Betriebsgefahr des Unfallgegners regelhaft vollständig zurücktritt (vgl. OLG Saarbrücken VRS 135, 184; OLG München, Urteil vom 27.05.2010, Az. 10 U 4431/09, zitiert nach juris). Darauf verweist die Beklagte in der Berufungsbegründung zu Recht (vgl. Seite 6 der Berufungsbegründung, Bl. 167 BA). Gründe, hiervon im vorliegenden Fall abzugehen und der Beklagten eine Mithaftung für die von ihrem Fahrzeug ausgehende einfache Betriebsgefahr aufzuerlegen, sieht der Senat nicht.
205.
21Die Nebenforderungen teilen das rechtliche Schicksal der Hauptforderungen.
22III.
23Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97, 708 Nr. 10, (711), 713 ZPO.
24Die Revision wird nicht zugelassen, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen nach § 543 II 1 Nr. 1 und 2 ZPO nicht vorliegen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Der Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht von der Entscheidung des OLG München ab, da sich die zu beurteilenden Sachverhalte in tatsächlicher Hinsicht wesentlich unterscheiden und nicht identisch sind.
25Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 3.271,20 €.