Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
1. Auf die Beschwerde des Kindesvaters vom 29.01.2024 wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Kerpen vom 22.12.2023 (151 F 124/22) aufgehoben und die gemeinsame elterliche Sorge wieder vollumfänglich hergestellt.
2. Gerichtskosten werden für das Beschwerdeverfahren nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000,00 € festgesetzt.
Gründe:
2I.
3Die Beteiligten zu 1. und 2. sind die seit März 2021 getrenntlebenden und seit April 2024 geschiedenen Eltern der verfahrensbetroffenen Kinder Y. …., geboren am …..2011, und I. …., geboren am …..2017.
4Im Juni 2021 war es zu einem ersten Verfahren gekommen (151 F 108/21), nachdem der Kindesvater die Kindesmutter der körperlichen Gewalt gegenüber der Kinder beschuldigt hatte. Die Kindeseltern machten sich gegenseitig schwere Vorwürfe und wiesen sich durch ein hohes Konfliktpotential aus. Aufgrund eines durch das Jugendamt eingesetzten ambulanten Clearings hatte sich die Situation in der Familie wieder entspannt. Im Bericht des Jugendamtes vom 16.07.2021 heißt es dazu, seit der Trennuung könnten die Eltern nicht mehr miteinander sprechen, die gegenseitigen Anschuldigungen würden sich häufen.
5In der Folgezeit sind folgende Verfahren anhängig geworden:
6- E.A. Sorgerecht, Az: 151 F 108/21
7- E.A. Aufenthaltsbestimmungsrecht, Az.: 151 F 123/22
8- Sorgerecht (Hauptsacheverfahren), Az.: 151 F 124/22
9- Umgang (Hauptsachwverfahren), Az.: 151 F 34/22
10- E.A. Umgang, Az.: 151 F 129/22
11- Umgang (Hauptsache), Az.: 151 F 158/22
12- Umgang, Az.: 151 F 9/23
13- E.A. Sorgerecht, Az.: 151 F 16/23
14- Sorgerecht/Ergänzungspflegschaft, Az.: 151 F 46/23
15Seit dem 01.08.2022 war eine Familienhilfe sowohl für die Kindesmutter als auch für den Kindesvater tätig. Im Trägerbericht vom 12.08.2022 ist von einem „massiven Elternkonflikt“ die Rede, der auch durch die Familienhilfe nicht gemildert werden konnte. Seit Monaten würden die Kinder vehement jeden Kontakt – auch briefllichen – durch die Mutter ablehnen, was „ungewöhnlich und entwicklungsuntypisch“ sei.
16Das hiesige Verfahren wurde durch eine Anregung auf Einleitung eines Verfahrens nach §§ 1666, 1666a BGB des zuständigen Jugendamtes vom 22.09.2022 eingeleitet. In dem verfahrenseinleitenden Bericht heißt es, die Familie sei dem Jugendamt seit März 2021 aufgrund einer Polizeimeldung bekannt. Die Kinder hätten zunächst gemäß ihren Wünschen ihren Aufenthalt bei der Kindesmutter gehabt, am Wochenende 17./18.09.2022 hätte sich der ältere Sohn Y. aber bei der Polizei gemeldet und habe angegeben, von seiner Mutter in den vergangenen Wochen mehrmals geschlagen worden zu sein. Y. sei daraufhin in den väterlichen Haushalt gewechselt. Die Polizei sei in den Haushalt der Kindesmutter gefahren, in dem der jüngere Sohn I. geäußert habe, Y. lüge und die Kindesmutter würde die Kinder nicht schlagen. Wenige Tage später seien beide Kinder gemeinsam mit dem Kindesvater im Jugendamt erschienen und Y. habe hier seine Anschuldigungen wiederholt. Er sei zum Jugendamt gekommen, damit dieses entscheiden könne, wo die Kinder dauerhaft leben sollten. Y. habe seinen Bruder gedrängt, seine Angaben zu bestätigen, was dieser zunächst verweigert, schließlich jedoch gemacht habe. Der Kindesvater habe daraufhin die Kinder nicht zur Kindesmutter zurückgebracht. Die Kinder befänden sich in einem massiven Loyalitätskonflikt und ständen zwischen ihren Eltern. Das Jugendamt hat angeregt, eine Ergänzungspflegschaft im Bereich Aufenthaltsbestimmungsrecht einzusetzen sowie ein familienpsychologisches Gutachten einzuholen.
17Dieser Anregung hat sich die Kindesmutter mit Schriftsatz vom 18.10.2022 angeschlossen. Sie gehe davon aus, dass der Kindesvater die Kinder instrumentalisiere und gegen sie aufbringe. Die Anschuldigungen der körperlichen Gewalt seien unzutreffend. Diese Vermutung hat die Kindesmutter mit Schriftsatz vom 21.11.2022 wiederholt.
18Das Amtsgericht hat die Kinder ein erstes Mal am 10.11.2022 gemeinsam angehört. Y. hat gegenüber dem Amtsgericht berichtet, er und sein Bruder lebten seit ungefähr einem Monat bei ihrem Vater, weil seine Mutter sie geschlagen und eingesperrt hätte. Seine Mutter hätte sie einfach so auf den Kopf geschlagen, indem sie mit der Hand gedrückt habe. Nachdem er zu seinem Vater gezogen sei, habe die Mutter ihm Briefe geschrieben, das habe ihm nicht gefallen. Im Rahmen der mündlichen Anhörung der übrigen Beteiligten am 16.12.2022 hat das Amtsgericht versucht, eine Umgangsvereinbarung zwischen den Kindeseltern zustande zu bringen. Danach erklärte der Kindesvater laut Protokoll, er würde Umgangskontakten nur zustimmen, wenn die Kindesmutter auf Unterhalt verzichte.
19Mit Beschluss vom 23.12.2022 hat das Amtsgericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Übertragung der elterlichen Sorge nach § 1671 BGB angeordnet.
20Das Jugendamt hat in der Folgezeit berichtet, dass die Anbahnung von Umgängen daran gescheitert sei, dass sich die Kinder massiv geweigert hätten, ins Auto einzusteigen, um ihre Mutter zu sehen. Das Jugendamt ist zu dem Schluss gekommen, dass das Verhalten der Kinder äußerst auffällig sei und die angeblich fehlende Handlungsmöglichkeit des Kindesvaters kritisch betrachtet werden müsse. Auch der zwischenzeitlich eingesetzte Umgangspfleger des amtsgerichtlichen Verfahrens hat berichtet, dass die Kinder sich geweigert hätten, aus dem Auto auszusteigen, um einen Umgang mit der Mutter wahrzunehmen. Auf Grundlage der Einschätzung des Umgangspflegers seien beide Kinder derzeit nicht in der Lage, Umgangskontakte wahrzunehmen (Bericht vom 03.08.2023 im Verfahren 151 F 17/23).
21Die beauftragte Sachverständige Dipl.-Psych. Prof. Dr. I. J. hat Anfang April 2023 darauf hingewiesen, dass es ihr bisher nicht gelungen sei, Kontakt mit dem Kindesvater aufzunehmen. Er habe die Terminseinladungen nicht bestätigt. Der Kindesvater hat daraufhin erklärt, nach entsprechender Recherche die Sachverständige ablehnen zu wollen, weil sie für den vorbezeichneten Fall nicht ausreichend kompetent sei.
22Das Amtsgericht hat daraufhin am 05.07.2023 die Beteiligten erneut angehört und den Kindesvater aufgefordert, innerhalb von zwei Wochen mitzuteilen, ob er eine Begutachtung durch die Sachverständige ermögliche. Parallel vereinbarten die Beteiligten, dass der mittlerweile eingesetzte Umgangspfleger gebeten werden sollte, seine bisherigen Bemühungen, einen Umgang zwischen den Kindern und der Kindesmutter herzustellen, in einem Bericht darzustellen.
23In der Folgezeit kam eine Terminsvereinbarung zwischen der Sachverständigen und dem Kindesvater weiterhin nicht zustande. Sie hat daraufhin am 18.10.2023 das Gutachten zur Übertragung der elterlichen Sorge nach § 1671 BGB und die Frage des Umgangs nach § 1684 BGB auf der Grundlage der vorhandenen Akten erstattet. Demnach ergebe sich aus den vorhandenen Unterlagen, dass die Beziehung der Kindeseltern über viele Jahre hinweg hochbelastet gewesen sei. Beide Eltern würden sich gegenseitig bezichtigen, die Kinder geschlagen zu haben, und beide würden versuchen, die Kinder gegen den anderen Elternteil einzunehmen. Inzwischen würden beide Kinder den Kontakt zu ihrer Mutter verweigern. Umgangsverweigerungen seien in der Regel multifaktoriell bedingt und hätten sowohl Anteile der betreuenden Person, als auch Anteile, die im Verhalten des umgangsbegehrenden Elternteils liegen würden. Im Ergebnis sei eine Verständigung zwischen den Kindeseltern nicht möglich. Beide Eltern seien bereit, die Versorgung der Kinder zu übernehmen, ob der Kindesvater hierzu jedoch in der Lage sei, könne mangels Exploration nicht beurteilt werden. Die Forderungen der Kinder, endlich in Ruhe gelassen zu werden, sprächen dafür, dass sie sich in einem massiven Loyalitätskonflikt befänden und befürchten würden, dass ihre Bewältigungsstrategien zusammenbrechen würden, wenn sie sich der Auseinandersetzung mit der Beziehung zu beiden Eltern stellen müssten. Auch wenn das Verhalten des Vaters, die Mutter absolut auszugrenzen, den mütterlichen Anteil an der Identität der Kinder abschneide und ihnen damit vermittele, dass „eine Hälfte“ an ihnen nicht „gut“ ist, langfristig ihre Entwicklung gefährden könne, könnten erzwungene Umgangskontakte dieses Entwicklungsrisiko nicht mindern. Kontakte zur Mutter könnten also derzeit nicht stattfinden. Der Aufgabenkreis „Umgang“ könne beispielsweise auf einen Ergänzungspfleger übertragen werden, der im Kontakt mit den Kindern den Zeitpunkt für eine Anbahnung ermitteln könne.
24Die Verfahrensbeiständin hat im November 2023 berichtet, dass eine Kontaktaufnahme mit den Kindern nicht möglich sei. Sie hat sich dafür ausgesprochen, dass eine Ergänzungspflegschaft mit dem Wirkungskreis „Regelung des Umgangs mit der Kindesmutter“ eingerichtet werden sollte.
25Mit angefochtenen Beschluss vom 22.12.2023 hat das Amtsgericht den Kindeseltern die elterliche Sorge für die Teilbereiche Umgang der Kindesmutter mit den Kindern, Aufenthaltsbestimmung im Zusammenhang mit dem Umgang der Kinder mit der Kindesmutter sowie die Gesundheitsfürsorge im Zusammenhang mit dem Umgang der Kinder mit der Kindesmutter entzogen und insoweit Ergänzungspflegschaft durch das Jugendamt der Stadt Kerpen angeordnet. Das Verhalten des Kindesvaters – nämlich die fehlende Kooperation mit sämtlichen Verfahrensbeteiligten einschließlich des Gerichts unter dem Vorwand, dass er lediglich den Willen der Kinder respektiere – begründe eine Kindeswohlgefährdung, da so eine weitere Aufklärung in der Sache verhindert werde und Umgänge der Kinder mit der Kindesmutter nicht stattfinden könnten.
26Gegen diesen, seiner Verfahrensbevollmächtigten am 02.01.2024 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde des Kindesvaters vom 29.01.2024, mit der er begehrt, den amtsgerichtlichen Beschluss vom 22.12.2023 aufzuheben. Bereits frühzeitig nach Trennung der Beteiligten hätten sich die Defizite auf Seiten der Mutter gezeigt. Mit Datum vom 03.07.2022 habe er deshalb nach einem Abschlusshilfeplangespräch und durch den Kindergarten vorgetragener Defizite einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung für die damals bei der Mutter lebenden Kindern gestellt. Von Beginn an sei er auch bemüht gewesen, mit dem Jugendamt und der Familienhilfe zusammen zu arbeiten und Lösungen zu finden. Er habe das Jugendamt wiederholt gebeten, ihm Tipps zu geben, wie er die Kinder dazu kriegen könnte, Umgänge mit der Mutter wahrzunehmen. Es sei auch die Kommunikation zwischen den Eltern verbessert worden.
27Das Jugendamt berichtet am 05.03.2024, es erschließe sich nicht, was genau der Wille der beiden Kinder sein soll. Es stelle sich die Frage, ob von den Kindern wirklich gewollt sei, ihre Mutter nicht sehen zu wollen, oder ob es anderweitige Motive gebe. Das Jugendamt sehe die Weiterführung der Ergänzungspflegschaft weiterhin als notwendig an, um den Umgang einzuleiten und unter Berücksichtigung der Wünsche der Beteiligten und Kinder durchzuführen. So seien auch bereits erste Gespräche mit den Kindern und den Eltern geführt worden.
28Die Kindesmutter beantragt, die Beschwerde des Kindesvaters zurückzuweisen. Das Verhalten des Kindesvaters begründe eine Kindeswohlgefährdung, da er Umgänge der Kinder mit ihr als Mutter verhindere. Soweit die Kinder die Besuchskontakte mit ihr ablehnten, sei der Wille der Kinder weder authentisch noch spiegele er den wahren Willen der Kinder wieder. Der Kindesvater verdrehe die Wirklichkeit und erzähle den Kindern wahrheitswidrig Dinge, um sie von ihr zu entfernen.
29Nachdem die erstinstanzlich eingesetzte Verfahrensbeiständin ihre Entpflichtung beantragt hat, da eine Kontaktaufnahme zu den Kindern nicht möglich sei, hat der Senat nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 07.03.2024 eine neue Verfahrensbeiständin bestellt. Diese hat sodann mit den Kindern persönlich gesprochen und berichtet. Die Kinder hätten erklärte, sie wollten eigentlich gar nicht mit ihr sprechen und wenn überhaupt, nur gemeinsam. Sie wollten ihre Mutter nicht sehen, das hätten sie schon allen gesagt, dem Jugendamt, den Umgangspflegern, der früheren Verfahrensbeiständin, dem Richter. Sie wollten nur beim Papa leben. Die Mama mache immer Stress. Dann hätte Y. Bauchweh und könne auch nicht in die Schule gehen. Y. habe erklärt, dass er seiner Mutter „ein Angebot“ gemacht habe, ihn im Kinderschutzbund zu treffen. Da sei die Mutter nicht aufgetaucht. Jetzt wolle er nicht mehr. Auch gegenüber der Ergänzungspflegerin hätten die Kinder vehement den Umgang abgelehnt. Im Gespräch mit der Klassenlehrerin von I. habe diese erklärt, der Junge habe gute Noten und der Kindesvater sei sehr engagiert. Auch die Klassenlehrerin von Y. habe berichtet, dass dieser in seiner neuen Klasse - der Vater habe ihn zurücksetzen lassen - gut angekommen und bei seinen Mitschülern beliebt sei. Man merke Y. an, dass er unter Druck stehe. So habe er über Bauchschmerzen geklagt, weil ein „Termin“ angestanden habe. In einem Gespräch mit der Verfahrensbeiständin habe der Schulsozialarbeiter, erklärt, Y. habe sich an ihn gewandt, weil er seine Mutter nicht sehen und er nur seine Ruhe haben wolle. Er wolle auch nicht mehr mit Leuten vom Gericht reden. Er habe den Eindruck gewonnen, die Aussagen des Jungen seien eine Kombination aus eigenem Willen und übernommener Meinung des Kindesvaters. In ihrer Einschätzung kommt die Verfahrensbeiständin zu dem Ergebnis, dass die wiederholte Ermittlung des Kindeswillens, die Weigerung der Kinder mit dem Helfersystem zu sprechen und die Überprüfung auf ihre Aktualität ergeben habe, dass der ausgeprägte Hochkonflikt der Eltern und die bereits lang andauernden Versuche, beide Kinder zu einem Kontakt mit ihrer Mutter zu bewegen, eine extreme Belastung für die Kinder bedeuten würden. Y. sei in seiner Haltung sehr verfestigt. Jeder Zwang, einen Kontakt herzustellen, erzeuge bei ihm Gegenwehr und Unverständnis. Auch wenn seine Äußerungen durch Manipulationen des Vaters zustande gekommen sein sollten, so ist sein Wille gleichwohl fest und gegenüber verschiedenen Personen immer wieder geäußert. Das Außerachtlassen eines beeinflussten Willens sei nur gerechtfertigt, wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes den wirklichen Bindungsverhältnissen nicht entsprächen. Dieser Ausnahmetatbestand läge offensichtlich nicht vor. Die Kinder lebten seit geraumer Zeit bei ihrem Vater und hätten offenkundig eine gute Bindung zu diesem. Dass die Kinder eine besonders starke Bindung zu ihrer Mutter hätten, der durch einen möglicherweise manipulierten Willen unterdrückt werde, sei nicht ersichtlich. Eine Nichtbeachtung des Kindeswillens könne langfristig auf Seiten des Kindes zu Resignation, erlebter Hilfslosigkeit und Schwächung des Selbstwertes führen. Y. und auch I. sollten in ihren Wünschen, die Mutter nicht zu sehen und Ruhe zu bekommen, ernst genommen werden. Aus Sicht der Verfahrensbeiständin könne eine einzusetzende Flexible Einzelbetreuung (FLEX) / Erziehungsbeistandschaft durch einen männlichen Flex-Helfer insbesondere Y. unterstützen. Ein solcher Flex-Helfer könne in einem halben bis einem Jahr nach ausreichender Vertrauensarbeit auch das Thema einer erneuten Anbahnung von Umgangskontakten angehen.
30Der Senat hat die Beteiligten und die verfahrensbetroffenen Kinder im Beisein der Verfahrensbeiständin am 14.05.2024 mündlich angehört.
31II.
32Die gemäß §§ 58 ff. FamFG zulässig eingelegte Beschwerde des Kindesvaters ist in der Sache begründet. Die Voraussetzungen für einen teilweisen Sorgerechtsentzug nach § 1666 BGB liegen nicht vor.
331.Gemäß § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes nachhaltig gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden.
34a) Bei der Auslegung und Anwendung dieser einfachrechtlichen Norm ist der besondere Schutz zu beachten, unter dem die Familie nach Art. 6 Abs. 1, 2 GG steht. Die Eltern haben ein Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), die Kinder haben ein gegen den Staat gerichtetes Recht auf elterliche Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), beide sind gemäß Art. 6 Abs. 3 GG besonders dagegen geschützt, voneinander getrennt zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.06.2014 - 1 BvR 2926/13, BVerfGE 136, 382/391 Rn. 29).
35b) Weiter ist zu beachten, dass Kinder nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG einen Anspruch auf den Schutz des Staates haben, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) nicht gerecht werden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können. Das Kind, dem die Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) als eigene Rechte zukommen, steht unter dem besonderen Schutz des Staates (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.11.1980 - 1 BvR 349/80, BVerfGE 55, 171/179; zuletzt BVerfG, Beschluss vom 05.09.2022 - 1 BvR 65/22, juris).
36c) Diesem Schutzanspruch entsprechen einfachrechtlich die Vorschriften des §§ 1666, 1666a BGB. Werden Eltern der ihnen durch die Verfassung zugewiesenen Verantwortung nicht gerecht, weil sie nicht bereit oder in der Lage sind, ihre Erziehungsaufgabe wahrzunehmen oder können sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten, kommt das „Wächteramt des Staates“ nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zum Tragen. Ist das Kindeswohl gefährdet, ist der Staat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen (std. Rspr., zuletzt BVerfG, Beschluss vom 05.09.2022 - 1 BvR 65/22, FamRZ 2022, 1776 m.w.N.).
37d) Für Maßnahmen nach § 1666 BGB ist erforderlich, dass eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, zu deren Abwendung die sorgeberechtigten Personen nicht gewillt oder in der Lage sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.09.2022 – 1 BvR 65/22, FamRZ 2022, 1776; BGH, Beschluss vom 06.02.2019 - XII ZB 408/18, FamRZ 2019, 598). Eine solche besteht bei einer gegenwärtigen, in einem solchen Maß vorhandenen Gefahr, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist oder ein Schaden bereits eingetreten ist (std. Rspr, zuletzt BVerfG, Beschlüsse vom 17.11.2023 – 1 BvR 1037/23, juris; vom 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20, NZFam 2023, 17 mAnm. Volke; und vom 10.06.2020 - 1 BvR 572/20, FamRZ 2020, 1562).
38d) Darüber hinaus muss jeder Eingriff in das Elternrecht dem – für den Fall der Trennung des Kindes von der elterlichen Familie in § 1666 BGB ausdrücklich geregelten – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Er gebietet, dass Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist (BVerfG; Beschluss vom 28.02.2012 - 1 BvR 3116/11, FamRZ 2012, 1127 = BVerfGK 19, 295). Verfassungsrechtlich kommt es darauf an, dass die anzuordnende Maßnahme zur Abwehr der Kindeswohlgefährdung geeignet, erforderlich und auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (BVerfG, Beschlüsse vom Beschlüsse vom 17.11.2023 – 1 BvR 1037/23, juris; 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20, FamRZ 2023, 49; vom 21.09.2020 - 1 BvR 528/19, FamRZ 2021, 104, Rn. 31).
39e) In Sorgerechtsverfahren haben die Familiengerichte das Verfahren so zu gestalten, dass es geeignet ist, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.04.2018 - 1 BvR 383/18, FamRZ 2018, 1084, m.w.N.) und damit der Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen wirkungsvoll zu dienen. Hierfür müssen sich die Gerichte mit den Besonderheiten des Einzelfalles auseinandersetzen, die Interessen der Eltern sowie deren Einstellung und Persönlichkeit würdigen und auf die Belange des Kindes eingehen (std. Rspr., BVerfG, Beschluss vom 17.11.2023 – 1 BvR 1037/23, juris, m.w.N.).
402. Diese Grundsätze zugrunde gelegt liegen die Voraussetzungen für den erfolgten teilweisen Sorgerechtsentzug nicht vor.
41a) Eine Kindswohlgefährdung liegt zunächst nicht durch die Umgangsverweigerung der beiden Jungen mit der Kindesmutter vor.
42Zu Recht hat das Amtsgericht zwar die grundsätzliche Bedeutung des Umgangs von Kindern mit ihren Eltern hervorgehoben. Dem entspricht die einfachgesetzliche Regelung des § 1626 Abs. 3 S. 1 BGB, der davon ausgeht, dass zum Wohle des Kindes regelmäßig auch der Umgang mit seinen Eltern gehört. Schon aus der gesetzlichen Formulierung ergibt sich jedoch, dass es sich um ein Regelverhältnis handelt, was zugleich bedeutet, dass es hiervon Ausnahmen gibt. Die Vorschrift konkretisiert lediglich einen Kindeswohlaspekt, ohne diesem aber einen generellen Vorrang vor anderen Kindeswohlkriterien zu verleihen (BGH, Beschluss vom 01.02.2017 - XII ZB 601/15, FamRZ 2017, 532; Staudinger/Lettmaier, 2023 § 1626 BGB Rn. 341). § 1626 Abs. 3 S. 1 BGB löst insbesondere keine Rechtsfolgen aus; das Gericht hat im Verfahren nach § 1684 BGB stets im Einzelfall zu prüfen, ob nicht eine andere Einschätzung geboten ist. Liegen z.B. hoch eskalierende Konflikte zwischen den Eltern vor, kann es geboten sein, den Umgang des Kindes mit einem Elternteil einzuschränken (Balloff, Kinder vor dem Familiengericht 219; MüKo/Huber, 2024, § 1626 BGB Rn 75).
43Entsprechend kann aus der Regelvermutung des § 1626 Abs. 3 S. 1 BGB kein Umkehrschluss dahingehend angenommen werden, dass eine Umgangsverweigerung des Kindes stets eine gegenwärtige Gefahr darstellt, die so gravierend ist, dass mit einer erheblichen Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes i.S.v. § 1666 Abs. 1 BGB mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist. Insbesondere kann nicht geschlussfolgert werden, dass nur, weil der Obhutselternteil bindungsintolerant ist und entgegen seiner sich aus § 1684 Abs. 2 BGB ergebenden Wohlverhaltenspflicht Umgänge des bei ihm lebenden Kindes mit dem umgangsberechtigten Elternteil nicht fördert oder ggf. sogar dem entgegenwirkt, das Wohl des Kindes automatisch gefährdet ist. Und selbst wenn man eine Kindeswohlgefährdung aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls bejaht, bedeutet dies nicht, dass automatisch sorgerechtliche Maßnahmen nach §§ 1666, 1666a BGB zulässig sind. Es ist zunächst weiter zu klären, ob der Obhutselternteil weder willens noch in der Lage ist, die festgestellte Kindeswohlgefährdung zu beenden (§ 1666 Abs. 1 BGB). Und wenn dies ebenfalls bejaht werden sollte, muss ein teilweiser Sorgerechtsentzug wegen verweigerten Umgangs erforderlich sein, d.h. eine verhältnismäßige Maßnahme darstellen. Alle drei Voraussetzungen sind vorliegend zu verneinen.
44Im Einzelnen:
45aa) Eine Umgangsverweigerung des Kindes als der der Entscheidung nach § 1666 Abs. 1, 3 BGB zugrundeliegende Ist-Zustand ist für sich genommen - anders als z.B. der Zustand einer erheblichen Mangelernährung oder Verletzungen des Kindes - erst einmal neutral. Sie kann eine Kindeswohlgefährdung bedeuten, wenn im Zusammenhang mit dem verschärften Elternkonflikt die seelische Entwicklung des Kindes durch das anhaltende massive Hervorrufen von Ängsten gegenüber dem umgangsberechtigten Elternteil und dem Aufbau eines Feindbildes bei dem Kind infolge der defizitären Bindungstoleranz des Obhutselternteils sowie durch die damit unmöglich werdende Entwicklung einer unbeschwerten Beziehung zwischen dem Kind und dem umgangsberechtigten Elternteil erheblich gefährdet ist (BVerfG, Beschluss vom 27.11.2020 – 1 BvR 836/20, FamRZ 2021, 753; MüKo/Volke, 2024, § 1666 BGB Rn. 104). Eine Umgangsverweigerung kann aber genauso gut die kindliche Konfliktlösungsstrategie bei einem erheblichen Loyalitätskonflikt und damit ein Mittel darstellen, eine gefühlte „Bedrohung“ durch den umgangsberechtigten Elternteil abzuwenden, so dass selbst bei einer mangelnden Bindungstoleranz des Obhutselternteils eine Kindeswohlgefährdung zu verneinen ist (EGMR, Urteil vom 28.04.2016 - 20106/13, Buchleither gg. Deutschland, FamRZ 2017, 891 m. Anm. Hammer; BVerfG, Beschluss vom 17.09.2016 – 1 BvR 1547/16, NZFam 2016, 1050 m. Anm. Söpper). Ob der Wille des Kindes durch den Obhutselternteil beeinflusst ist, ist dabei solange unerheblich, wie dieser Wille den wirklichen Bindungen des Kindes entspricht (BVerfG, Beschluss vom 17.09.2016 – 1 BvR 1547/16, NZFam 2016, 1050 m. Anm. Söpper; vgl. auch Staudinger/Dürbeck, 2023, § 1684 Rn. 307 f; BeckOK BGB/Veit, 69. Ed. 1.1.2023, BGB § 1684 Rn. 187-190).
46bb) So wie die Umgangsverweigerung nichts über die Folgen aussagt, besagt sie weiter nichts über die auslösenden Ursachen aus (Salzgeber, Familienpsychologische Gutachten, 7. Aufl., Rn. 523). Entsprechend müssen sowohl die auslösenden Ursachen als auch die Folgen einzelfallbezogen geklärt werden (EGMR, Urteil vom 10.11.2022 - 25426/20, FamRZ 2023, 277 m. Anm. Dr. Thomas Meysen = NZFam 2022, 1144 m. Anm. Volke; Balloff, Kinder vor dem Familiengericht, 2022, S. 237 m.w.N.).
47Dies zugrunde gelegt, sind zunächst die Ursachen der Umgangsverweigerung zu betrachten. Die Umgangsverweigerung beruht nach den Stellungnahmen der Fachbeteiligten, dem zugrundeliegenden Sachverhalt und dem persönlichen Eindruck, den sich der Senat von den Eltern und den beiden Kindern im Rahmen der Anhörung am 14.05.2024 gemacht hat, auf dem hochkonflikthaften Verhältnis der Eltern zueinander und der Belastung der Kinder hierdurch, durch das laufende und die zahlreichen weiteren Verfahren.
48Die Intensität des Elternkonfliktes liegt auf der Hand und ergibt sich aus dem im Sachverhalt dargestellten Geschehensablauf sowie der Anzahl der Verfahren. Schon 2021 wird das hohe Konfliktpotential und die schweren gegenseitigen Anschuldigungen, die die Eltern sich machen, in den Jugendamtsberichten hervorgehoben. Das Jugendamt bestätigt diesen Konflikt im Rahmen seiner Berichte im hiesigen Verfahren. Auch die Schriftsätze der Verfahrensbevollmächtigten zeichnen sich durch gegenseitige Schuldvorwürfe gegenüber dem jeweils anderen Elternteil aus, ohne einen Blick darauf zu haben, wie es den beiden Kindern durch die ganze Situation geht und inwiefern sie selber einen Anteil an der gegenwärtigen Situation haben. Die Verfahrensbeiständin sowohl der ersten als auch der Beschwerdeinstanz bestätigen diesen Hochkonflikt ebenso wie das eingeholte Sachverständigengutachten. Weitere Ausführungen hierzu sind also nicht veranlasst.
49Eine Belastung der Kinder durch den Elternkonflikt, durch dieses Verfahren und auch die weiteren ist ebenfalls gegeben. Schon in der erstinstanzlichen Anhörung hat Y. erklärt, genervt zu sein, weil so viele Leute mit ihm sprechen wollten. So erklärte er weiter, für die Zukunft wünsche er sich, dass Ruhe einkehre, dass nicht mehr dauernd Leute zu ihm kämen und ihn Sachen fragten. Er wolle einfach in Ruhe mit seinem Bruder beim Vater leben. Entsprechend war es der Sachverständigen nicht möglich, die Kinder zu explorieren; diese weigerten sich, mit der Sachverständigen zu reden. Diese Verweigerungshaltung der Kinder hat sich seit der erneuten Anhörung durch das Amtsgericht am 12.06.2023 verschärft. Die erstinstanzlich bestellte Verfahrensbeiständin hat um ihre Entpflichtung gebeten, weil eine Kontaktaufnahme zu den Kindern nicht mehr möglich war. Die vom Senat bestellte Verfahrensbeiständin hat in ihrer Stellungnahme vom 12.04.2024 deutlich herausgearbeitet, dass die Kinder am liebsten mit niemandem mehr reden möchten und auch mit ihr zunächst jedes Gespräch verweigert haben. Aus dem Schulumfeld ergab sich, dass Y. im Zusammenhang mit den gerichtlichen Terminen über Bauchschmerzen geklagt und mit dem Schulpsychologen gesprochen hat. Entsprechend kommt die Verfahrensbeiständin zu dem Schluss, „dass der ausgeprägte Hochkonflikt der Eltern und die bereits lang andauernden Versuche, beide Kinder zu einem Kontakt mit ihrer Mutter zu bewegen, eine extreme Belastung für die Kinder bedeuten.“ Auch in der Anhörung der beiden Kinder durch den Senat ist ihre Belastung ebenso hervorgetreten wie ihre Ängste. So haben sich die beiden Jungen zunächst geweigert, überhaupt und im Anschluss, alleine mit dem Senat zu sprechen. Erst als ihnen erklärt worden ist, dass es bei der Anhörung nicht um „richtig“ und „falsch“ geht und ihre Entscheidungen nicht in Frage gestellt werden würden, waren sie bereit, einzeln mit dem Senat zu sprechen.
50In den Anhörungen sind sodann unterschiedliche Aspekte deutlich geworden. Zunächst ist deutlich geworden, dass beide Kinder eine gute Bindung zum Kindesvater haben und sich offensichtlich wohl in seinem Haushalt fühlen. Beide haben spontan und mit offenem Blick dem Vater „Bestnoten“ gegeben und konnten diese auf Nachfragen auch nachvollziehbar erklären. I. hat auf die entsprechende Skalen-Frage („Wie ist es bei Papa auf einer Skala von 1 bis 10?“) spontan mit „zehn“ geantwortet. Nachgefragt, konnte er die „Note“ auch erklären („Leckeres Essen und Papa spielt immer mit mir“). Y. hat auf die entsprechende Frage ohne zu Zögern geantwortet, er möge „alles“ an seinem Vater, und diese Antwort dann ebenfalls im Einzelnen erläutert. Zweifel an der Authentizietät der Aussagen sind weder dem Senat, noch der Verfahrensbeiständing entstanden. Insoweit wird auf den Anhörungsvermerk verwiesen.
51Weiter ist deutlich geworden, dass die beiden Jungen eine enge Bindung aneinander haben und sich gegenseitig Halt bieten. Das wurde schon vor der Anhörung deutlich, als die Jungen nur gemeinsam angehört werden wollten und sich an den Händen hielten. Beide haben auf im Rahmen der Anhörung auf entsprechende Fragen jeweils erklärt, gut miteinander auszukommen und konnten nichts benennen, was ihnen am jeweils Anderem nicht gefällt. Die Antworten erfolgten jeweils spontan und ohne Zögern, die Aufnahme von Blickkontakt mit der Berichterstatterin als Fragende war beiden Jungen problemlos möglich. Die Verfahrensbeiständin hat diesen Eindruck ebenfalls im Folgendem bestätigt.
52Genauso deutlich ist bei beiden Jungen geworden, dass das Thema „Mutter“ angstbesetzt und konfliktbehaftet ist. Bei Y. ist deutlich geworden, dass seine zunächst gemachte Aussage, er möge „gar nichts“ an seiner Mutter, im Zusammenhang damit zu sehen ist, dass er am liebsten gar nicht an seine Mutter denken möchte, weil das „sicherer“ sei. Er konnte auf die Nachfragen des Senates seine Ängste, seine Unsicherheiten aber auch sein Vermissen der Kindesmutter gut benennen, indem er erklärt hat, er möge am liebsten gar nicht an meine Mutter denken, das sei sicherer, weil er Angst habe, dass er dann „zurück müsse“. Dass Y. seine Mutter gleichzeitig vermisst, ist deutlich daran geworden, dass er von sich aus erzählt hat, dass er die Postkarten, die die Kindesmutter schickt, immer seinem Bruder vorliest. Der Umstand, dass der Kindesvater im Anschluss erklärt hat, er verpflichte Y. immer dazu, diese vorzulesen, ändert nichts an dem Eindruck, dass Y. die Postkarten wichtig sind. Gleichzeitig stellen sie eine Belastung dar, denn Y. hat gleich im Anschluss erklärt, seine Mutter könne nichts machen, damit er sie sehen wolle. Auch seine gesamte Körpersprache, als er über seine Mutter geredet hat, hat deutlich gemacht, dass ihn dieses Thema einerseits belastet, er andererseits aber ein Bedürfnis hat, hierüber zu sprechen, sich aber nicht traut.
53Ähnlich war es mit I.. Beeindruckend war es insofern insbesondere, dass der Junge im Hinblick auf die ihm gestellten sogenannten „Skalen-Fragen“ („Wie ist es mit Papa/Y./Mama auf einer Skala von 1 bis 10?“) sofort und ohne zu Zögern zweimal mit „zehn“ und im Hinblick auf die Kindesmutter sofort und ebenfalls ohne zu Zögern mit einer klaren „sieben“ antwortete, obwohl er seine Mutter seit über seit zwei Jahren nicht gesehen hat. Weiter konnte I. sofort benennen, was sich ändern müsste, damit seine Mutter ebenfalls auf eine „zehn“ komme, nämlich, „Hausaufgaben machen und spielen“. Als es um die Postkarten ging, die seine Mutter ihm und seinem Bruder zwischenzeitlich geschickt hat, hat I. von sich erzählt, dass er sie „ganz toll“ finde und hat wiederholt, „was da draufsteht, ist ganz toll.“ Er hat dem Senat auch insoweit Wünsche formuliert, die er jedoch nicht an seine Eltern weitergegeben haben wollte. Genauso deutlich hat er jedoch im Anschluss erklärt, seine Mutter nicht sehen zu wollen.
54Aus ihrem Verhalten im Rahmen der Anhörung und der Art, wie sie über ihre Mutter gesprochen haben, haben sowohl der Senat als auch die Verfahrensbeiständin den Eindruck gewonnen, dass die ablehnende Haltung der Jungen und damit die Umgangsverweigerung erfolgen, um den für die Kinder bestehenden Konflikt zu beenden. Gleichzeitig ergab sich aber auch der Eindruck, dass beide Kinder enttäuscht worden sind, bei Y. im Hinblick auf das Verhalten der Kindesmutter vor der Trennung der Eltern („sie hat mich immer geschlagen und eingesperrt“), bei I. im Hinblick auf den Umstand, dass seine Mutter nur eingeschränkt deutsch und I. selber gar kein türkisch spricht. Diesen Aspekt hat er mehrmals angesprochen.
55cc) Vor diesem Hintergrund führt die Umgangsverweigerung der Kinder für diese zu einer Befriedung der Situation, sie erzwingen die „Ruhe“, die sie seit langem fordern und durch den elterlichen Hochkonflikt bzw. die zahlreichen Verfahren nicht finden. Die Sachverständige führt in ihrem Gutachten vom 18.10.2023 insoweit aus, ihre Forderungen, endlich „in Ruhe gelassen“ zu werden, sprächen dafür, dass sie sich in einem massiven Loyalitätskonflikt befänden und befürchten würden, dass ihre Bewältigungsstrategien zusammenbrechen, wenn sie sich der Auseinandersetzung mit der Beziehung zu beiden Eltern stellen müssen. Das Gutachten ist zwar nur sehr eingeschränkt verwertbar. Denn zum einen ist es nicht zu §§ 1666, 1666a BGB eingeholt worden, sondern §§ 1671, 1684 BGB (vgl. hierzu noch jüngst BVerfG, Beschluss vom 17.11.2023 – 1 BvR 1037/23, juris), zum anderen erfolgte es ohne eigene Exploration der Kinder und des Kindesvaters. Die der Begutachtung zugrundeliegende hochkonflikthafte Beziehung der Eltern und den ablehnenden Willen der Kinder konnte die Sachverständige jedoch aufgrund der ihr zur Verfügung stehenden Unterlagen problemlos erarbeiten und die vorsichtig formulierte Schlussfolgerung stimmt mit dem Eindruck der Verfahrensbeiständin der zweiten Instanz und des Senats überein.
56Eine Kindeswohlgefährdung wird damit durch den ablehnenden Willen der Kinder, ihre Mutter zu sehen, jedenfalls derzeit nicht begründet, auch wenn eine Belastung der Kinder durch die Gesamtsituation im Rahmen der Anhörung der beiden Jungen durch den Senat zutage getreten ist. Es ist damit nicht ausgeschlossen, dass bei einem weiter andauernden Kontaktabbruch die seelische Entwicklung der beiden Jungen gefährdet werden kann.
57dd) Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht, soweit die Verweigerung des Umgangs zumindest auch auf einem entsprechenden Verhalten des Kindesvaters beruht, wie im Rahmen des Verfahrens immer wieder geäußert worden ist. Die Verfahrensbeiständin hat insoweit ausgeführt, auch wenn die Äußerungen Y.s durch Manipulationen des Vaters zustande gekommen sein sollten, sei sein Wille gleichwohl fest und gegenüber verschiedenen Personen immer wieder geäußert. Die Sachverständige ist ebenfalls davon ausgegangen, indem sie erklärt hat, gegen einen erklärten, vom Kind als autonom erlebten, intensiven, stabil geäußerten Willen erzwungene Umgänge könnten die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen bedrohen sowie das Sicherheits- und Kontrollbedürfnis der Kinder beeinträchtigen, und ist vor diesem Hintergrund zu dem Schluss gekommen, dass derzeit Umgänge nicht stattfinden könnten. Auch der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass der von den beiden Jungen geäußerte Wille stabil ist und auf ihren inneren Bindungen beruht und es vor diesem Hintergrund nicht darauf ankommt, ob dieser Wille auch durch das Verhalten des Kindesvaters zustande gekommen ist. Wie das Jugendamt im Rahmen seines Berichts vom 05.03.2024 zu dem Ergebnis kommt, es sei „nicht erkennbar, was genau der Wille von I. und Y.“ sein solle, erschließt sich dem Senat vor diesem Hintergrund nicht.
58ee) Der Wille der Kinder darf auch nicht außeracht gelassen werden. Das Außerachtlassen eines beeinflussten Willens ist nur gerechtfertigt, wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes den wirklichen Bindungsverhältnissen nicht entsprechen. Dieser Ausnahmetatbestand liegt, insoweit schließt sich der Senat den zutreffenden Ausführungen der Verfahrensbeiständin der zweiten Instanz an, offensichtlich nicht vor. Die Kinder leben seit geraumer Zeit bei ihrem Vater und haben offenkundig eine gute Bindung zu diesem. Im Rahmen der Anhörung durch den Senat haben beide Kinder dem Kindesvater „Bestnoten“ gegeben und konnten nachvollziehbar erklären, wie sie zu diesen Bestnoten kommen. Gleichzeitig ist die Bindung der Kinder zu ihrer Mutter, höchstwahrscheinlich durch die zahlreichen Verfahren und das Verhalten der Kindeseltern, zumindest derzeit nicht so stark ausgeprägt und insbesondere mit Ängsten und Unsicherheiten besetzt.
59b) Auch im Übrigen sind keine kindeswohlgefährdenden Aspekte ersichtlich. Die beiden Kinder sind in der Schule und im allgemeinen sonstigen Sozialleben gut integriert. Von keinem der Fachbeteiligten sind - neben einem bindungsintoleranten Verhalten des Kindesvaters - Anhaltspunkte bezeichnet worden, die auf eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit des Kindesvaters und eine dadurch gegebene kindeswohlgefährdende Situation der beiden Jungen hindeuten.
60c) Vor dem Hintergrund, dass gegenwärtig keine Kindeswohlgefährdung der beiden Kinder durch den Kontaktabbruch zur Kindesmutter gegeben ist, kann dahinstehen, ob der Kindesvater willens und in der Lage ist, eine solche zu beenden. Zudem haben sich beide Kindeseltern im Rahmen der Anhörung durch den Senat bereit erklärt, Anträge auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 30 SGB VIII zu stellen und diese auch sogleich zu Protokoll erklärt. Weiter haben sie sich bereit erklärt, eine Familienhilfe in Anspruch zu nehmen und das Jugendamt insoweit gebeten, die erforderlichen Schritte hierzu zu veranlassen. Sie haben dies ebenso zu Protokoll gegeben wie ihre in diesem Zusammenhang bereits erklärte Entbindung von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit. Der Senat erachtet diese Schritte in Übereinstimmung mit dem Vertreter des Jugendamtes, der Ergänzungspflegerin und der Verfahrensbeiständin als notwendige und auch geeignete Maßnahmen, um einer zukünftig möglichen Kindeswohlgefährdung entgegenzuwirken. Die Kindeseltern haben sich im Rahmen der Anhörung zumindest willens gezeigt, sich mit den Aspekten auseinanderzusetzen, die in der nahen Zukunft das Potenzial haben, zu einer Kindeswohlgefährdung bei Y. und I. zu führen. Das Verhalten der Kindeseltern in den zukünftigen Monaten wird entscheidenden Einfluss darauf haben, ob sich die Belastungssituation der Kinder wird reduzieren können und sie in der Lage sein werden, die Kindesmutter wieder in ihr Leben zu lassen.
61d) Schließlich wäre eine teilweise Entziehung des Sorgerechts, selbst wenn man eine Kindeswohlgefährdung und eine mangelnde Fähigkeit der Eltern, diese abzuwenden, bejahen wollte, vorliegend keine geeignete Maßnahme, um diese zu beenden. Der (teilweise) Sorgerechtsentzug stellt nur dann eine erforderliche Maßnahme gemäß § 1666 Abs. 1 BGB dar, wenn er geeignet, erforderlich und angemessen, d.h. verhältnismäßig im engeren Sinne ist, die festgestellte Kindeswohlgefährdung zu beenden (hierzu jüngst ebenfalls in einem Fall der Umgansverweigerung OLG Frankfurt, Beschluss vom 03.04.2024 – 7 UF 46/23, BeckRS 2024, 9067).
62aa) Vorliegend fehlt es schon an der Geeignetheit der erstinstanzlich angeordneten Maßnahme zur Beendigung der vom Amtsgericht angenommenen Kindeswohlgefährdung. Die (teilweise) Entziehung und Übertragung des Sorgerechts ist zur Beseitigung der Gefahr für ein Kind grundsätzlich nur dann geeignet, wenn der Ergänzungspfleger oder Vormund mithilfe der übertragenen Teilbereiche des Sorgerechts konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation des Kindes einleitet, das heißt den als gefährlich definierten Zustand beendet oder wenigstens zu dessen Beendigung beitragen kann (BVerfG; Beschluss vom 17.11.2023 – 1 BvR 1037/23, juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 03.04.2024 – 7 UF 46/23, BeckRS 2024, 9067; MüKo/Volke, 2024, § 1666 Rn. 158 m.w.N.). Vorliegend ist schon nicht ersichtlich, welche Maßnahmen die Ergänzungspflegerin mit den übertragenen Teilbereichen ergreifen soll. Alle Fachbeteiligten sind sich einig, dass ein Umgang der Kinder mit der Kindesmutter derzeit ausgeschlossen ist. Selbst eine Anbahnung von Umgang ist derzeit nicht ersichtlich, die Ergänzungspflegerin hat es gerade einmal geschafft, zwei Kontakte zu den Kindern herzustellen. Zudem können die notwendigen Maßnahmen zur Anbahnung eines Kontaktes mit der Kindesmutter (Gespräche mit den Kindern und Beratung der Eltern) durch die nunmehr beantragten öffentlichen Hilfen ebenso gut umgesetzt werden. Durch die Übertragung des Umgangsbestimmungsrechts und des Aufenthaltsbestimmungsrechts in diesem Zusammenhang kann die Ergänzungspflegerin - derzeit - also nichts Zusätzliches veranlassen, um die vom Amtsgericht als kindeswohlgefährdend festgestellte Situation zu beenden. Es ist auch nicht ersichtlich, welche Maßnahmen die Ergänzungspflegerin im Zusammenhang mit der insoweit übertragenen Gesundheitsfürsorge veranlassen sollte. Den derzeit geeigneten Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Kinder - Beantragung einer Erziehungsbeistandschaft und Annahme einer Familienhilfe - haben beide Eltern zugestimmt. Hier bleibt abzuwarten, ob sie tatsächlich bereit und in der Lage sind, an ihrem elterlichen Konflikt zu arbeiten und so die Situation für die Jungen zu verbessern.
63bb) Unabhängig davon ist zu berücksichtigen, dass eine gerichtliche Maßnahme nach § 1666 Abs. 1, 3 BGB dann nicht geeignet ist, eine festgestellte Kindeswohlsituation zu beenden, wenn sich die Gesamtsituation des betroffenen Kindes hierdurch nicht verbessert. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass ein (teilweiser) Sorgerechtsentzug, der dem Ziel dient, Umgänge durchzusetzen, ebenso wie ein über § 1684 BGB erzwungener Umgang zu einer Kindeswohlgefährdung führen kann: Denn der im Zusammenhang mit Entscheidungen nach § 1684 Abs. 4 S. 2 BGB geltende Grundsatz, dass durch das Ignorieren des kindlichen Willens durch gerichtliche Umgangserzwingung Ohnmachtsgefühle und Selbstwertlabilität entstehen können, so dass Umgänge dem Kind mehr schaden als nützen und im Ergebnis die Umgangserzwingung einen unzulässigen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Kindes darstellt (EGMR, Urteil vom 17.10.2023 – 55351/17, Luca v. The Republic of Molowa, BeckRS 2023, 27891; BVerfG, Beschluss vom 17.09.2016 – 1 BvR 1547/16, NZFam 2016, 1050 m. Anm. Söpper; Johannsen/Henrich/Althammer/Rake, 7. Aufl. 2020, BGB § 1684, Rn. 62; Balloff, Kinder vor dem Familiengericht, 2022, S. 237), muss ebenso gelten, wenn zum Zwecke der Umgangserreichung Teile des Sorgerechts entzogen werden.
64So liegt die Situation hier. Beide Kinder lehnen einen Kontakt mit der Kindesmutter seit langem ab. Sich über diesen aufgrund von Belastungen, Ängsten und Sorgen gebildeten Willen hinwegzusetzen hieße, die Gesamtsituation beider Kinder zu verschlimmern, so dass nicht auszuschließen ist, dass hierdurch im Ergebnis sogar eine das Kindeswohl gefährdende Gesamtsituation entstehen würde. Erst wenn die Kinder durch Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen in der Lage sind, hiermit umzugehen und sich dem Thema „Mutter“ zu stellen, kann eine Neubewertung der Situation erfolgen.
65Zusammenfassend liegen damit die Voraussetzung für den erfolgten teilweisen Entzug des Sorgerechts nicht vor. Mangels kindeswohlgefährdender anderer Aspekte kommen auch andere Maßnahmen nach §§ 1666, 1666a BGB nicht in Betracht.
663. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 81 Abs. 1 S. 2 FamFG. Die Festsetzung des Verfahrenswertes folgt aus den §§ 45, 40 FamGKG.
67Rechtsmittelbelehrung:
68Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar.