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1. Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 1. und 2. vom 31.01.2023 gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Bergisch Gladbach vom 10.01.2023 (28 F 163/22) wird dieser aufgehoben, soweit den Kindeseltern das Sorgerecht für den Bereich „Gesundheitsfürsorge“ entzogen worden ist. Im Übrigen wird die Beschwerde wird zurückgewiesen.
2. Die Beteiligten zu 1. und 2. haben 2/3 der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Im Übrigen werden Gerichtskosten nicht erhoben und außergerichtliche Kosten nicht erstattet.
3. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 4.000,00 € festgesetzt.
Gründe:
2I.
3Die Beteiligten zu 1. und 2. (im Folgenden: Kindeseltern) sind die Eltern des am 07.12.2021 geborenen verfahrenbetroffenen Kindes L. Sie sind weiter die Eltern von der am 09.11.2017 geborenen S.. Bis zur stationären Aufnahme von L am 26.03.2022 lebte die Familie zusammen.
4Nach der Geburt von L. führten die Kindeseltern die jeweiligen Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt der Kinder, Herr P., durch. Die letzte war am 21.03.2022. Die Durchführung des Lagerreaktionstest war nach Angaben des Kinderarztes nicht möglich, weil L. so sehr schrie. Diesen Umstand vermerkte er in der Patientenakte; weitere Anmerkungen zu Auffälligkeiten finden sich nicht.
5Die Kindeseltern stellten L. am 25.03.2022 in der Kinderklinik St. Marien Hospital in Bonn vor, da das Baby seinen linken Arm nicht mehr richtig benutzte. Bei der Aufnahme habe der Vater, so der Bericht der Klinik datiert auf den 28.03.2022 und ausgedruckt am 06.05.2022 erklärt, L. habe sich am Vorabend gegen 19:00 Uhr auf dem Arm des Vaters gedreht, dann sei ein „Knacken“ zu hören gewesen. Das Kind sei nicht heruntergefallen, die Mutter sei nicht zugegen gewesen, das Kind sei den ganzen Tag entweder bei der Mutter oder dem Vater gewesen und nicht fremd versorgt worden. Auch in den Tagen zuvor sei das Kind nicht von fremden Personen betreut worden. Die Kindesmutter habe angegeben, sie sei bei dem Unfall nicht zugegen gewesen, ihr Mann habe erzählt, er habe L. fest packen müssen, weil sie sich überstreckt habe, damit sie nicht herunterfalle. Dabei habe es geknackt. Bei der körperlichen Untersuchung fanden sich laut des ärztlichen Berichts zahlreiche Hämatome rechtsseitig und unterhalb beidseitig des Bauchnabels, die fotografisch dokumentiert wurden. Sie umfassen fast das ganze Gebiet rechts vom Bauchnabel und unterhalb des Bauchnabels und waren zum Zeitpunkt der Aufnahmen deutlich zu erkennen. Hierzu befragt habe der Kindesvater, so der Bericht weiter, angegeben, das Baby habe begonnen, sich immer wieder selbst zu kneifen. Die Kindesmutter habe erklärt, L. fange an, „die Fäustchen zum Mund zu führen“, sie würde sich jetzt auch kneifen. Vielleicht habe sie sich ja selber gekniffen.
6L. wurde am Aufnahmetag geröntgt. Die Klinik diagnostizierte eine Humerusschaftfraktur links im mittleren Drittel in achsgerechter Stellung ohne Hinweis auf eine Luxationsfehlstellung.
7Bei weiteren Röntgenuntersuchungen am 30. und 31.03.2022 ergab sich das Bild einer bilateralen älteren Rippenfraktur jeweils im medialen Drittel auf der rechten und linken Seite. In dem Bericht der Klinik heißt es hierzu: „Bild bilateraler älterer Rippenfraktur jeweils im medialen Drittel. Typisch kallöse Reaktionen zeigen sich an der medialen elften und zwölften Rippe links sowie an der medialen elften Rippe rechts. Sonst kein anderweitiger Frakturnachweis.“ Die weiteren Untersuchungen ergaben keinen weiteren sicheren Frakturnachweis, wobei die Röntgenaufnahmen weiter eine morphologisch auffällige Kontur der distalen rechten Tibia- und Fibulametaphyse ergab, die jedoch nicht sicher einer frischen oder stattgehabten Fraktur zugeordnet werden konnte.
8In dem Bericht heißt es sodann wie folgt weiter:
9„Die Gerinnungsdiagnostik keine Auffälligkeiten, somit keine erhöhte Blutungsneigung. Das von den Eltern berichtete „Selbstzwicken“ des Kindes am Bauch, was die Hämatome hervorgerufen haben soll, wurde hier zu keiner Zeit beobachtet. Das Kind zeigte sich ruhig, ausgeglichen und hatte keine Schmerzen. … Bei kompletter Querfraktur des Oberarms und unpassende Anamnese ist von einer massiven äußerlichen Gewalteinwirkung auszugehen, zudem die Hämatome am Bauch zwischen Bauchnabel und Windel, für die es ebenfalls keine plausible Erklärung gab und die hochverdächtig waren …. Auch fanden sich die alten Rippenfrakturen im Skelettscreening, auch hierfür gab es keine plausible Erklärung. Dies wurde mit den Eltern klar kommuniziert und eine Kindeswohlgefährdung bei schwerer Verletzung ohne plausible Erklärung ausgesprochen.“
10Das Jugendamt informierte das Polizeipräsidium Bonn mit Schreiben vom 01.04.2022 über die medizinischen Befunde bei L.. Daraufhin wurde ein Strafverfahren gegen den Kindesvater eingeleitet (783 Js 453/22 Staatsanwaltschaft Bonn). Sowohl die Kindeseltern als auch die Großeltern von L. wurden polizeilich vernommen; die Vernehmungen wurden tonbandlich dokumentiert. Der Kindesvater gab in seiner Vernehmung am 01.05.2022 an, mit L. im Arm am offenen Fenster gestanden zu haben mit dem Ziel, sie in den Schlaf zu wiegen, als sie wegen eines Buses, der über die Gleise „geschossen“ sei, aufgeschreckt sei, und damit sie nicht herunter falle, habe er sie „so genommen“, und dann habe er es Knacken gehört. L. sei sehr schreckhaft, wenn sie in der Einschlafphase sei, „da ist am besten Atmen tabu“. Zu den Rippenbrüchen befragt, konnte er keine Angaben machen. Im Hinblick auf die blauen Flecken gab der Kindesvater zunächst an, er könne sich diese aktuell nicht erklären. Auf Nachfrage erklärte er, L. würde sich öfters, wenn sie nicht zur Ruhe komme, selber in den Bauch kneifen.
11Die Kindesmutter gab in ihrer zeugenschaftlichen Vernehmung am 25.04.2022 an, sie sei zum Zeitpunkt des Vorfalls mit dem Arm in der Küche gewesen, ihr Mann habe L. ins Bett bringen wollen. Er sei in die Küche gekommen und habe ihr gesagt, dass etwas mit dem Arm nicht stimme. Am nächsten Tag habe er erklärt, L. habe sich „halt plötzlich gestreckt“ und ihr Mann habe dann so ein Knacksen gehört. Sie habe ihren Arm „irgendwie nicht so unter Kontrolle. Sie hat ihn immer irgendwo liegen, dass man manchmal nicht weiß, wo ist der Arm jetzt.“ Befragt zu den blauen Flecken gab die Kindesmutter an: „Ich habe halt mal gesehen, wo sie nicht schlafen konnte, hat sie so die Haut rübergezogen aber es heisst das kann so ein Kind nicht, aber ich hab’s halt so gesehen. Oder halt dass sie vielleicht irgendne Krankheit hat, wo man blaue Flecken von bekommt“. Zu den Rippenbrüchen äußerte sich die Kindesmutter wie folgt: „Ja es gab es noch weitere Feststellungen, aber die wir uns nicht erklären können, es wurden noch angeblich ältere Rippenbrüche festgestellt. Aber die wurden auch komischerweise erst an dem Tag festgestellt, wo das Jugendamt kam, also ne Stunde bevor das Jugendamt kam. Ja ein bisschen suspekt alles“.
12Der am 10.08.2022 vernommene Kinderarzt von L. gab an, sich anlässlich der U4-Untersuchung am 21.03.2022 keine Hämatome verzeichnet zu haben. Er habe sich jedoch die Bemerkung aufgeschrieben, dass L. bei dem Lagereaktionstest fürchterlich geschrieen habe, so dass er den Test nicht weiter durchgeführt habe. Es gebe zwar schon Kinder, die die Untersuchung nicht mögen würden, L. habe aber sehr geschrien, weshalb er sich die Eintragung gemacht habe.
13In ihrer Vernehmung am 01.07.2022 gab die Zeugin Ü., die betreuende Hebamme an, eine Überforderung der Familie in den Wochen nach der Geburt nicht festgestellt zu haben. Weiter teilte sie ihre Meinung dahingehend mit, dass ein drei Monate altes Baby nicht in der Lage sei, sich die festgestellten Verletzungen selber bzw. durch ein festes Halten des Kindesvaters zuzufügen.
14Am 04.04.2022 nahm das Jugendamt L. in Obhut und brachte den Säugling in einer Bereitschaftspflegefamilie unter, wo sie bis heute lebt.
15Bei einer erneuten Röntgenuntersuchung am 11.04.2022 zeigte sich eine deutlich zunehmende Kallusbildung ohne durchgreifende Befundveränderung zur Voruntersuchung.
16Die Staatsanwaltschaft Bonn beauftragte am 25.04.2022 eine rechtsmedizinische Begutachtung des Säuglings zu den möglichen Ursachen der bei L. festgestellten Verletzungen und zu der Plausibilität der von den Kindeseltern gemachten Erklärungen. Das Gutachten wurde unter dem 01.07.2022 durch den Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bonn, Herrn Prof. M, und der Oberärztin Frau Dr. D. erstattet. Hierin heißt es zunächst allgemein, beim Vorliegen unklarer oder auf eine Kindesmisshandlung verdächtiger Befunde sei zunächst eine Fall- sowie altersabhängige klinische Diagnostik erforderlich. Hierbei seien Säuglinge zunächst nach weiteren Verletzungen zu untersuchen, aber auch sonstige Vorerkrankungen seien abzuklären. Bei der rechtsmedizinischen Begutachtung von Verletzungen von Säuglingen seien die Einzelverletzungen stets im Gesamtkontext aller Verletzungsbefunde zu bewerten, da gerade Kindesmisshandlungen Wiederholungsdelikte darstellten und eben unter anderem auch die Vielzahl und Mehrzeitlichkeit von Verletzungen typisch und diagnoseentscheidend seien. Im Rahmen der Begutachtung würden die Verletzungen hinsichtlich der wahrscheinlichen oder möglichen Entstehungsweise traumamechanisch eingeordnet und eventuell mit vorhandenen Angaben zu Verletzungsursachen abgeglichen. Grundsätzlich sei zu beachten, dass immobile bzw. teilmobile Säuglinge in der Regel überhaupt keine Verletzungen aufweisen würden. Junge Säuglinge könnten sich noch nicht eigenständig fortbewegen und damit auch nicht eigenständig verunfallen. Daher sei bei Auftreten von Verletzungen immer davon auszugehen, dass Dritte beteiligt seien. Bei akzidentell verursachten Verletzungen fänden sich in der Regel plausible und zwanglos nachvollziehbare Angaben zur Entstehung der Verletzungen. Bei nicht-akzidentellen Verletzungen fänden sich oft gar keine oder nicht nachvollziehbare Angaben der betreuenden Person.
17L. habe Hämatome und Hautblutungen der Bauchhaut aufgewiesen. Die Schätzung des Alters von Hämatomen beruhe im Grunde nur auf der Beurteilung der Farbgebung bzw. der Farbschattierungen der Hämatome. Aufgrund der Fotodokumentation vom 26.03.2022 sei davon auszugehen, dass die Hämatome maximal wenige Tage alt, aber nicht am Tag der stationären Aufnahme entstanden seien. Grundsätzlich ließen sich am menschlichen Körper Sturz- und anstoßtypische und Sturz-und anschlussuntypische Lokalisationen unterscheiden. Die Bauchregion stelle eine Sturz- und anstoßuntypische Lokalisation dar. Des Weiteren ließen sich sogar misshandlungstypische Lokalisationen wie unter anderem der Brust- und Bauchbereich definieren. Bei Säuglingen seien Hämatome unabhängig von der Körperregionen zunächst immer misshandlungsverdächtig. Aus medizinischer Sicht sei die Angabe der Eltern, dass L. sich gegebenenfalls selber kneife, nicht nachvollziehbar, da sich ein erst drei Monate alter Säugling kaum wiederholt zahlreiche Verletzung im Sinne autoaggressiven Verhaltens beibringen würde. Massive Gewebequetschungen der Haut, die zu Hauteinblutungen führten, würden nicht nur einen hohen Kraftaufwand, sondern auch die wiederholte Überwindung der Schmerztoleranzgrenze erfordern. Ein selbstverletzendes Verhalten habe sich während des stationären Aufenthalts des Babys in der Klinik nicht gezeigt. Zudem sei zu beachten, dass die Selbstbeibringung von Verletzungen, auch bei Säuglingen, zu den typischen Schutzbehauptungen bei Misshandlungsverdacht gehörten. Klinisch ergebe sich weiter kein Anhalt für das Vorliegen einer Blutgerinnungsstörung bei L.. Doch selbst wenn eine solche vorliegen würde, könnten diese die gegebenen Hämatome in keinster Weise erklären. Damit führten alleine die Hämatome der Bauchhaut für sich genommen bereits zu einem hochgradigen Verdacht der Kindesmisshandlung.
18Weiter deute die Bruchform bei der Oberarmfraktur von L. auf eine direkte Gewalteinwirkung hin. Knochenbrüche bei Säuglingen seien hochgradig verdächtig auf eine nicht akzidentelle Genese. Der geschilderte Mechanismus eines gegen-den-Körper-des-Vaters-Drückens sei nicht geeignet, einen Knochenbruch hervorzurufen. Zur Verursachung eines Biegungsbruches bedürfe es massiver Kraft- und Hebelwirkungen auf den Knochen. Bei einem Säugling mit einem Körpergewicht von sechs Kilo würden keine entsprechenden Kräfte erreicht, die die Belastbarkeitsgrenze des Knochens überschreiten könnten. Auch ein „grobes“ Festhalten des Armes führe nicht zu knöchernen Verletzungen wie die vorliegende; diese erfordere massive und gewaltreiche Krafteinwirkungen. Dieser Befund erlaube damit für sich genommen bereits den hochgradigen Verdacht auf eine Kindesmisshandlung.
19Des Weiteren seien symmetrische, ältere Rippenbrüche jeweils der elften Rippe festgestellt worden. Rippenbrüche wiesen eine sehr hohe Spezifität bezüglich einer Misshandlung auf. Hierbei handele es sich zumeist um Zufallsfunde. Die symmetrische, also spiegelbildliche Ausprägung von Verletzungen sei per se misshandlungsverdächtig, da auf zwei Regionen Kräfte eingewirkt haben müssen. Kindliche Rippen seien zudem hochgradig elastisch und wiesen selbst bei erheblicher Gewalteinwirkung keine Verletzung auf. Als Ursache für Rippenbrüche sei bei der gegenständlichen symmetrischen Morphologie vor allem an eine massive Kompression des unteren Brustkorbes oder auch an eine massive Bauchkompression zu denken. Hierunter wiederum könnten auch Quetschungen der Bauchhaut auftreten. Entsprechend der medizinischen Ausführungen zum Alter der Rippenbrüche (mindestens 14 Tage alt, eher älter) könne jedoch kein zeitlicher Zusammenhang mit den am 26.03.2022 bei der Krankenhausaufnahme festgestellten Hämatomen der Bauchhaut hergestellt werden. Es ergäben sich zudem auch keine Anhaltspunkte für eine sogenannte Glasknochenkrankheit. Zusammenfassend weise der drei Monate alte Säugling Verletzungen durch die Einwirkung stumpfer Gewalt in Form frischer und alter Knochenbrüche und Hämatome auf. Aus rechtsmedizinischer Sicht sei von einer wiederholten Misshandlung des Säuglings auszugehen. Bereits die aufgeführten Einzelbefunde ließen auf eine Kindesmisshandlung beschließen.
20Am 15.06.2022 berichtete die Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln nach eingehender genetischer Untersuchung des Mädchens dem Jugendamt, dass die genetische Untersuchung von L. keine Hinweise auf die sogenannte Glasknochenerkrankung ergeben habe.
21Das Jugendamt hat sodann mit Schreiben vom 22.07.2022 beim Amtsgericht Bergisch Gladbach die Einleitung eines Kinderschutzverfahrens angeregt. Das Jugendamt hat weiter berichtet, dass die Eltern, als ihnen mitgeteilt worden sei, dass L. nach der Entlassung aus der Klinik in eine Bereitschaftspflegefamilie gebracht würde, erklärt hätten, sie kämen ab sofort nur noch zu Besuch in die Klinik und würden nicht mehr wie bisher dauerhaft im Wechsel bei L. bleiben, da man jetzt einander brauche. In der Folgezeit hätten die Kindeseltern um die Unterbringung von L. bei den Großeltern mütterlicherseits gebeten. Dies sei von dem hiesigen Jugendamt überprüft, eine Unterbringung von L. bei den Großeltern jedoch abgelehnt worden. Der Grund hierfür sei darin zu sehen, dass man den Eindruck ungenügender Kenntnisse zur Entwicklung von Kleinkindern gehabt habe. Zudem sei aufgrund der derzeitigen ablehnenden Haltung der Großeltern zu den Geschehnissen und Verletzungen von L. eine Abgrenzung gegenüber den Kindeseltern im Rahmen notwendiger Schutzmaßnahmen nicht gegeben. Es sei der Eindruck entstanden, dass der Großvater die Belastung durch die Versorgung der pflegebedürftigen Ehefrau und gleichzeitig eines Säuglings unterschätze. Dass der Kindesmutter im Mai gemachte Angebote zu Unterbringung in einer Mutter-Kind Einrichtung mit L. und gegebenenfalls der Schwester habe die Kindesmutter abgelehnt.
22Das Amtsgericht hat daraufhin das streitgegenständliche Verfahren eingeleitet und für das Mädchen eine Verfahrensbeiständin bestellt. Diese hat am 13.08.2022 berichtet, die Kindeseltern würden die Authentizität der Röntgenbilder aus dem St. Marien Hospital anzweifeln und gingen davon aus, dass die Röntgenbilder nicht von ihrer Tochter stammten. Sie hätten L. am 24.05.2022 erneute radiologisch untersuchen lassen, wobei eine unauffällige Abbildung der Rippen ohne Nachweis einer Fraktur diagnostiziert worden sei. In einem sehr guten offenen Gespräch mit den Kindeseltern habe sie feststellen können, dass diese von den Umständen sehr erschüttert seien. Es bestehe ein dringender Wunsch der Rückführung der Tochter in die Familie. Die ältere Schwester sei medizinisch umfangreich untersucht worden, es seien keine Verletzungsmerkmale festgestellt worden. Die Kindeseltern seien auch bereit, eine Familienhilfe anzunehmen. Es seien Zweifel daran angebracht, ob tatsächlich häusliche Gewalt gegen L. gegeben sei. Die Kindeseltern lebten in einem gefestigten sozialen Umfeld, seien bereit, regelmäßig kinderärztliche Untersuchungen durchzuführen und hätten sich insgesamt kooperativ und ruhig gezeigt.
23Hierauf hat das Amtsgericht über die Frage der Authentizität der Röntgenbilder vom 31.03.2022 10.17:55 Uhr und 10.16:22 Uhr, die Gründe der Differenz in den Röntgenaufnahmen und die Frage, ob bei L. verheilte Rippenfrakturen bestehen, ob diese jetzt noch nachweisbar seien und falls nicht, ob sie dennoch am 31.03.2022 nachweisbar gewesen sein können, Beweis erhoben. Den Beweisbeschluss hat das Amtsgericht, nachdem der Verfahrensbevollmächtigte die Authentizität der Röntgenbilder weiter im Hinblick auf einzelne in den Röntgenaufnahmen sichtbaren Merkmale (ein „Nagel“ in der Schulter, ein Zugang an der Hand), den in den Röntgenbildern angegebenen Uhrzeiten und Namen der die Röntgenbilder fertigenden Ärztin mit Schriftsatz vom 21.10.2022 angezweifelt hat, am 15.11.2022 ergänzt.
24Das kinderradiologisches Gutachten vom 08.12.2022 des Dr. med. S., Facharzt für Diagnostische Radiologie im Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße Köln, ist zusammenfassend zu dem Ergebnis gekommen, dass kein begründeter Zweifel bestehe, dass sämtliche Röntgenaufnahmen aus dem St. Marien Hospital in Bonn einer einzigen Patientin, mit „…, L., geboren am ......2021“ bezeichnet, zuzuordnen seien. Soweit gutachterlich zu klären war, ob aufgrund der Kallusbildung eine ältere Fraktur der elften und zwölften Rippe feststellbar sei oder ob diese Kallusbildung auch eine andere Ursache haben könne, hat der Sachverständige festgestellt, dass die unbestritten Frakturen der 11. Rippe beidseitig, die sich in der Heilungsphase befanden, am 31.03.2022 nachweisbar waren. Eine andere Ursache der Kallusbildung als Rippenbrüche sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Rippenbrüche verheilten, so der Sachverständige weiter, bei Säuglingen über mehrere Wochen. Nach der kompletten Heilung seien Rippenbrüche, die bereits am Anfang nicht stark verschoben gewesen seien, wie im vorliegenden Fall, auf den Röntgenbildern nicht mehr nachweisbar. Soweit Rippenbrüche nicht mehr nachweisbar seien, seien sie vollständig verheilt. Ein unauffälliges Röntgenbild bedeute in keiner Weise, dass nicht zu einem früheren Zeitpunkt auch ein Bruch vorgelegen habe.
25Am 13.12.2022 hat das Amtsgericht die Kindeseltern und die Fachbeteiligten angehört und den kinderradiologischen Gutachter Dr. S. mündlich befragt. Der Sachverständige hat nochmals erklärt, dass und warum die Zweifel der Kindeseltern an der Authentizität der Röntgenbilder unbegründet seien. Die Kindeseltern haben im Rahmen ihrer Anhörung nochmals darauf hingewiesen, dass eine Unterbringung von L. alleine oder mit dem Geschwisterkind bei den Großeltern mütterlicherseits möglich sei.
26Das Jugendamt hat hierzu erklärt, dass aufgrund der ablehnenden Haltung der Großeltern zu den Feststellungen der Kindesmisshandlungen, der Belastung des Großvaters und des Umstandes, dass die Großeltern in der Vergangenheit immer wieder Kontakt zu dem Säugling hatten, ohne dass die Ursache der Verletzung genau geklärt werden könne, Zweifel an der Geeignetheit der Unterbringung bei den Großeltern beständen.
27Mit dem angefochtenen Beschluss vom 10.01.2023 hat das Amtsgericht den Kindeseltern die elterliche Sorge betreffend der Teilbereiche Aufenthaltsbestimmungsrecht, Recht zur Antragstellung für Hilfe zur Erziehung und die Gesundheitsfürsorge entzogen und insoweit Ergänzungspflegschaft angeordnet. Die Voraussetzungen der §§ 1666, 1666a BGB lägen vor. Das Gericht sei davon überzeugt, dass bei einer Rückkehr von L. in den elterlichen Haushalt die konkrete Gefahr einer körperlichen Misshandlung bestehe, da L. in der Vergangenheit unter nicht aufklärbaren Umständen körperlich misshandelt worden sei und während dieser Zeit dem alleinigen Zugriff der Kindeseltern unterlegen habe. Vor diesem Hintergrund bestehe die konkrete Gefahr eines weiteren Übergriffs bei Rückführung von L. in die Obhut der Kindesmutter oder des Kindesvaters. Die zurückliegenden Misshandlungen beständen in den festgestellten Rippenbrüchen, den Hämatomen im Bauchbereich und dem Oberarmbruch. Das Gericht beziehe sich insoweit auf die eingeholten Sachverständigengutachten, denen die Eltern nicht erheblich entgegengetreten seien. Insbesondere die Einwendungen der Kindeseltern hinsichtlich der Röntgenaufnahme seien durch den Sachverständigen Dr. S. ausgeräumt worden. Auch sei nach den Feststellungen des Sachverständigen entgegen der Ausführungen der Kindeseltern die zeitliche Abfolge der Röntgenaufnahmen plausibel, da eine sogenannte Umbettung des Säuglings nicht erforderlich gewesen sei, sondern vielmehr nur eine andere Körpereinstellung vorgenommen worden sei. Überdies habe der Sachverständige festgestellt, dass auch die zeitlich späteren Aufnahmen, welche eine Kallusbildung nicht mehr nachweisen würden, keinen Rückschluss darauf zuließen, ob eine Kallusbildung zu einem zeitlich früheren Zeitpunkt vorhanden und nachweisbar gewesen sei. Vielmehr sei im Säuglingsalter von einer schnellen Heilung der Knochenstruktur auszugehen. Nach Ausheilung der Knochenstruktur seien zurückliegende Knochenbrüche nicht mehr zu erkennen. Der positive Gesamteindruck der Kindeseltern im Rahmen der zweimaligen Anhörung und ihr authentischer Wunsch nach einer Familienzusammenführung ändere an dem Ergebnis nichts. Der Schutz von L. vor körperlichen Übergriffen müsse im Vordergrund stehen, anderweitige Beeinträchtigungen müssten dahinter zurücktreten. Mildere Mittel als die Entziehung der elterlichen Sorge, insbesondere die Übergabe von L. in die Obhut der Großeltern, komme vorliegend nicht in Betracht. Das Gericht teile die Zweifel des Jungendamtes im Hinblick auf die Abgrenzungsfähigkeit der Großeltern mit Blick auf den persönlichen Einsatz insbesondere des Großvaters mütterlicherseits im Rahmen des bisherigen Verfahrens. So habe dieser das Bestehen einer Kindesmisshandlung geleugnet und aberkannt. Vor diesem Hintergrund sei es höchst fraglich, ob der Großvater dauerhaft die Gewähr der körperlichen Integrität von L. übernehmen könne.
28Hiergegen richtet sich die am 31.01.2023 beim Amtsgericht eingegangene Beschwerde der Kindeseltern vom gleichen Tag, mit der sie die Rückübertragung des Sorgerechts auf sie begehren. Sie sind der Auffassung, dass auch nach der durchgeführten Beweisaufnahme keineswegs auszuschließen sei, dass das Kind nicht vorsätzlich, sondern aufgrund eines Unfallereignisses verletzt worden sei. Bezeichnenderweise seien bei ihrer älteren Tochter Verletzungen in keiner Weise diagnostiziert worden. Dies alleine belege, dass die Unterstellung, dass sie gegenüber ihrem Kind gewalttätig seien, abwegig sei. Weiter sei darauf hinzuweisen, dass sie niemals in irgendeiner Form strafrechtlich in Erscheinung getreten seien. Im Übrigen hätten sie sich um einen Kindergartenplatz gekümmert, ab August 2023 könne L. den Kindergarten 45 Stunden in der Woche besuchen. Auch sei zu berücksichtigen, dass sie ihre Tochter regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen dem Kinderarzt vorgestellt hätten. Schließlich könne es auch sein, dass die ältere Tochter die Hämatome durch Knuddeln und Stubsen beim Spielen verursachte haben könnte.
29Der Senat hat den Fachbeteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Ergänzungspflegerin hat berichtet, die Umgänge der Kindeseltern mit den Kindern verliefen stets liebevoll. Es stände der Ergänzungspflegerin aber nicht an, die Angaben der Sachverständigen infrage zu stellen.
30Das Jugendamt hat in seiner Stellungnahme vom 06.03.2023 ergänzend berichtet, als den Eltern nach der Untersuchung mitgeteilt worden sei, dass L. bis mindestens Anfang der Woche in stationärer Behandlung bleiben müsse, um zu klären, woher die Fraktur komme, hätten die Eltern überlegt, L. alleine in der Klinik zu lassen, weil es „so kompliziert sei, alles zu organisieren“. Gespräche mit Psychologen in der Kinderklinik hätten die Kindeseltern abgelehnt. Weiter sei zu bemerken, dass ab dem Zeitpunkt, als klar gewesen sei, dass L. in einer Bereitschaftspflegefamilie nach ihrer Entlassung kommen würde, die Kindeseltern erklärt hätten, man werde ab sofort nur noch zu Besuch in die Klinik kommen und nicht mehr wie bisher dauerhaft im Wechsel bei L. bleiben. Die Feststellungen des Jugendamtes im Hinblick auf die Geeignetheit der Großeltern seien in einer erneuten fachlichen Beratung mit dem Kinderschutzbund Sankt Augustin bestätigt worden. Da weiterhin unklar sei, wie und durch wen es zu den Verletzungen von L. gekommen sei, sei ein wirksamer Schutz von L. im Haushalt der Kindeseltern derzeit nicht zu gewährleisten und auch ein Kitaplatz stelle keinen ausreichenden Schutz vor einer erneuten Misshandlung von L. dar. Vor diesem Hintergrund sei die Beschwerde der Kindeseltern zurückzuweisen.
31Die Verfahrensbeiständin hat in ihrem Bericht vom 20.03.2023 von einem guten und liebevollen Kontakt zwischen den Kindeseltern und L. bei dem von ihr beobachteten Umgangstermin berichtet. Eine erneute Überprüfung der Großeltern durch das Jugendamt, um zu klären, ob L. bei diesen wohnen könne, sollte erfolgen.
32Das Jugendamt hat sodann mit weiterer Stellungnahme vom 13.04.2023 ergänzt, dass aus seiner Sicht nach wie vor unklar sei, wie und durch wen es zu diesen massiven Verletzungen von L. gekommen sei. Ebenso sei eine stationäre Hilfe in Form einer Mutter-Kind Einrichtung von den Kindeseltern bisher abgelehnt worden. Eine gewünschte Mutter-Vater Kind Einrichtung zur gemeinsamen Unterbringung der gesamten Familie sei aufgrund des laufenden Ermittlungsverfahrens gegen den Kindesvater nicht möglich. Diesbezüglich seien verschiedene Einrichtungen angefragt worden. Die Umgangskontakte zwischen den Kindeseltern und L. verliefen positiv (siehe Bericht des Trägers). Es stehe auch außer Frage, dass es eine Bindung zwischen den Kindeseltern und L. gebe. Das gesamte Familiensystem habe bisher die festgestellten Rippenbrüche bestritten und keinen Hilfebedarf geäußert oder Überforderungssituationen eingeräumt. Bei einer Unterbringung von L. bei den Großeltern bestehe weiterhin wie auch von der Verfahrensbeiständin bestätigt, die Problematik der Abgrenzung der Großeltern von ihrer eigenen Tochter und das Negieren der festgestellten Rippenbrüche. Aus Sicht des Jugendamtes reiche eine ambulante Familienhilfe nicht aus, um den Schutz von L. sicherzustellen, da es vor dem Hintergrund der erneuten Schwangerschaft der Kindesmutter immer wieder zu Überforderungssituationen kommen könne und die Kindeseltern diesbezüglich jedoch bisher keine Offenheit gezeigt hätten und somit keine pädagogische Arbeit erfolgen könne.
33Der Senat hat sich am 18.04.2023 einen persönlichen Eindruck von L. verschafft und die Beteiligten im Rahmen eines Erörterungstermins angehört. Weiter ist die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Bonn (Az. 783 Js 453/22) beigezogen worden. In den dem Senat vorliegenden Verfahrensakten war die Klinik-Dokumentation über den stationären Aufenthalt von L. im St. Marienhospital inklusive der gefertigten Fotoaufnahmen sowie die eingeholten Gutachten vollständig enthalten.
34II.
35Die gemäß §§ 58 ff. FamFG zulässig eingelegte Beschwerde der Kindeseltern ist in der Sache teilweise begründet. Zu Recht und mit zutreffenden Erwägungen hat das Amtsgericht den Kindeseltern die Teilbereiche des Sorgerechts Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht zur Antragstellung auf Hilfe zur Erziehung entzogen und insoweit Ergänzungspflegschaft angeordnet. Lediglich im Hinblick auf den Teilbereich der Gesundheitsfürsorge ist die Beschwerde begründet und führt zur Abänderung der angefochtenen Entscheidung.
361. Gemäß § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes nachhaltig gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden.
37a. Bei der Auslegung und Anwendung dieser einfachrechtlichen Norm ist der besondere Schutz zu beachten, unter dem die Familie nach Art. 6 Abs. 1, 2 GG steht. Die Eltern haben ein Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), die Kinder haben ein gegen den Staat gerichtetes Recht auf elterliche Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), beide sind gemäß Art. 6 Abs. 3 GG besonders dagegen geschützt, voneinander getrennt zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.06.2014 - 1 BvR 2926/13, BVerfGE 136, 382/391 Rn. 29).
38b. Weiter ist zu beachten, dass Kinder nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG einen Anspruch auf den Schutz des Staates haben, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) nicht gerecht werden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können. Das Kind, dem die Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) als eigene Rechte zukommen, steht unter dem besonderen Schutz des Staates (std. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.11.1980 - 1 BvR 349/80, BVerfGE 55, 171/179; zuletzt BVerfG, Beschluss vom 05.09.2022 - 1 BvR 65/22, juris). Kinder bedürfen des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln und gesund aufwachsen zu können (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 05.09.2022 - 1 BvR 65/22, juris, und vom 19.11.2021 - 1 BvR 971/21, FamRZ 2022, 99).
39c. Diesem Schutzanspruch entsprechen einfachrechtlich die Vorschriften des §§ 1666, 1666a BGB. Werden Eltern der ihnen durch die Verfassung zugewiesenen Verantwortung nicht gerecht, weil sie nicht bereit oder in der Lage sind, ihre Erziehungsaufgabe wahrzunehmen oder können sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten, kommt das „Wächteramt des Staates“ nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zum Tragen. Ist das Kindeswohl gefährdet, ist der Staat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen.
40d. Für Maßnahmen nach § 1666 BGB ist erforderlich, dass eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, zu deren Abwendung die sorgeberechtigten Personen nicht gewillt oder in der Lage sind (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 06.02.2019 - XII ZB 408/18, FamRZ 2019, 598). Eine solche besteht bei einer gegenwärtigen, in einem solchen Maß vorhandenen Gefahr, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (BGH, Beschluss vom 23.11.2016 – XII ZB 149/16, FamRZ 2017, 212). Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Dabei berechtigen nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zukommenden Wächteramts die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschließen oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 05.09.2022 - 1 BvR 65/22, juris, und vom 19.11.2014 - 1 BvR 1178/14, FamRZ 2015, 112, m.w.N.). Das elterliche Fehlverhalten muss vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.11.2014 - 1 BvR 1178/14, FamRZ 2015, 112, m.w.N.). Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 05.09.2022 – 1 BvR 65/22, juris, und vom 19.11.2014 - 1 BvR 1178/14, FamRZ 2015, 112, m.w.N.).
41e. Ob eine Trennung des Kindes von der Familie verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist, hängt regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab. Bei dieser Prognose, ob eine solche erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann, und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen wird (std. Rspr., vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20, NZFam 2023, 17 m. Anm. Volke).
42f. Darüber hinaus muss jeder Eingriff in das Elternrecht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Er gebietet, dass Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist. Die anzuordnende Maßnahme muss zur Abwehr der Kindeswohlgefährdung geeignet, erforderlich und auch im engeren Sinne verhältnismäßig sein. Die Verhältnismäßigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne verlangt dabei keine weitere, eine höhere Sicherheit des Schadenseintritts erfordernde Prognose, wie sie der Bundesgerichtshof (vgl. BGH, Beschlüsse vom 06.02.2019 - XII ZB 408/18, FamRZ 2019, 598, und vom 21.09.2022 - XII ZB 150/19, FamRZ 2023, 57 m. Anm. Rake) in der Auslegung von §§ 1666, 1666a BGB verlangt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21.09.2020 - 1 BvR 528/19, FamRZ 2021, 104, Rn. 31, und vom 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20, NZFam 2023, 17 m. Anm. Volke; OLG Köln, Beschluss vom 22.12.2022 - 14 UF 180/22, juris; OLG München, Beschluss vom 24.02.2023 – 16 UF 963/22, BeckRS 2023, 3357).
432. Gemessen an diesen Grundsätzen war den Kindeseltern das Sorgerecht für die Teilbereiche Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht zur Antragstellung auf Hilfe zur Erziehung zu entziehen.
44a. Ein erheblicher Schaden ist bei L. bereits eingetreten.
45Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass L. in Obhut des Kindesvaters einen Oberarmbruch links sowie in der Obhut der Kindeseltern oder in Obhut Dritter zahlreiche Hämatome im Bauchbereich und Rippenfrakturen rechts und links erlitten hat.
46aa. L. hat am 25.03.2022 eine Fraktur des linken Oberarms (Fraktur des Humerusschaftes links) entweder durch ein schweres Erziehungsversagen oder eine bewusst gesteuerte Handlung des Kindesvaters erlitten. Die Fraktur war Anlass der Kindseltern, L. am 26.03.2022 im St. Marien Hospital vorzustellen, und wurde mittels Röntgenaufnahme unzweifelhaft festgestellt.
47Die Fraktur ist auch durch ein schweres Erziehungsversagen oder eine bewusst gesteuerte Handlung des Kindesvaters entstanden. Der vom Kindesvater dargestellte Geschehensablauf ist nicht nur widersprüchlich, sondern kann nach den Ausführungen des im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens eingeholten Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. M. und Dr. D. nicht zu der festgestellten Fraktur geführt haben.
48Die Angaben des Kindesvaters sind widersprüchlich, weil er in seiner polizeilichen Vernehmung angegeben hat, L. habe sich während des Einschlafens in seinen Armen wegen eines schnell über die Schienen fahrenden Buses erschreckt, sei zusammengezuckt und deshalb habe er sie festgehalten, damit sie nicht runterfalle. Der Kindesmutter und Dritten gegenüber gab er hingegen an, L. habe sich - ohne besonderen Grund - überstreckt, so dass er sie an sich gedrückt habe, um ein Herunterfallen zu verhindern. Ein Erschrecken wegen eines Geräusches und ein Überstrecken eines Babys sind jedoch zwei völlig unterschiedliche Handlungen.
49Der Hintergrund dieser unterschiedlichen Sachverhaltsdarstellung muss indes nicht weiter aufgeklärt werden. Beide Versionen deuten nach den sachverständigen Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. M. und Dr. D. auf eine direkte Gewalteinwirkung hin. Die Sachverständigen haben insoweit ausgeführt, Knochenbrüche bei Säuglingen seien per se schon hochgradig verdächtig. Der vom Kindesvater geschilderte Verlauf sei nicht geeignet, einen Knochenbruch hervorzurufen. Zur Verursachung eines Biegungsbruches bedürfe es massiver Kraft- und Hebelwirkungen auf den Knochen. Bei einem Säugling mit einem Körpergewicht von sechs Kilo würden jedoch keine entsprechenden Kräfte erreicht, die die Belastbarkeitsgrenze des Knochens überschreiten würden. Auch ein „grobes“ Festhalten des Armes führe nicht zu knöchernen Verletzungen. Die Ausführungen der sachverständigen sind in sich schlüssig und für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar. Erhebliche Einwendungen wurden von den Kindeseltern insoweit auch nicht erhoben. Damit steht zur Überzeugung des Senats fest, dass nicht ein grobes Festhalten von L. durch den Kindesvater und damit ein leichtes Versagen des Kindesvaters zu der Fraktur geführt haben kann, sondern eine direkte Gewalteinwirkung erfolgt sein muss, also ein erhebliches erzieherisches Versagen vorgelegen hat.
50Es kommt auch nur der Kindesvater als Verursacher der Oberarmfraktur bei L. in Betracht; nach eigenen Angaben hat er L. gehalten, während sich die Kindesmutter in der Küche befunden hat, und hat ein „Knacken“ gehört, als er L. festgehalten habe. Die Kindesmutter hat bestätigt, sich in der Küche aufgehalten zu haben. Dritte Personen, bei denen L. alleine in Obhut war an diesem Tag, sind von den Kindeseltern übereinstimmend nicht benannt worden.
51bb. Weiter wies L. bei ihrer stationären Aufnahme am 25.03.2022 zahlreiche und deutlich sichtbare blau-rötlich gefärbte Hämatome am Bauchbereich rechts vom Bauchnabel und unterhalb vom Bauchnabel beidseitig auf.
52Auch diese sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch eine direkte Gewalteinwirkung entstanden. Alle Fachbeteiligten, die Sachverständigen sowie die zeugenschaftlich vernommene Hebamme der Kindesmutter sind sich darüber einig, dass die von den Kindeseltern insoweit angegebene Erklärung - L. habe begonnen, sich selber „zu zwicken“, um sich zu beruhigen - keine mögliche Ursache darstellt. Das Sachverständigengutachten der Sachverständigen Prof. Dr. M. und Dr. D. hat insoweit ausgeführt, dass aus medizinischer Sicht die Angabe der Eltern, dass L. sich gegebenenfalls selber kneife, nicht nachvollziehbar sei, da sich ein erst drei Monate alter Säugling kaum wiederholt zahlreiche Verletzung im Sinne autoaggressiven Verhaltens beibringen würde. Massive Gewebequetschungen der Haut, die zu Hauteinblutungen führten, würden nicht nur einen hohen Kraftaufwand, sondern auch die wiederholte Überwindung der Schmerztoleranzgrenze erfordern. Dass sich ein drei Monate alter Säugling diese Verletzungen selber zufüge, sei damit ausgeschlossen. Zudem ist nach dem Gutachten zu beachten, dass die Selbstbeibringung von Verletzungen, auch bei Säuglingen, zu den typischen Schutzbehauptungen bei Misshandlungsverdacht gehört. Die Hämatome fanden sich zudem unterhalb und rechts des Bauchnabels, also im Wesentlichen unterhalb der Windel, also an einem Ort, der überwiegend durch die Windel verdeckt ist. Hinzu kommt die Entstehung im März 2022, also im Frühling und damit zu einer Jahreszeit, in der Säuglinge in aller Regel nicht unbekleidet sind. Wie sich L. durch die Kleidung und unterhalb der Windel solche zahlreichen Verletzungen selber hinzugefügt haben soll, bleibt nicht nachvollziehbar.
53Weiter ist zu berücksichtigen, dass sich ein selbstverletzendes Verhalten von L. während ihres stationären Aufenthalts in der Klinik nicht gezeigt hat, was sich aus der in den Gerichtsakten befindlichen Patientenakte und dem Sachverständigengutachten ergibt. Auch die Großeltern von L. haben in ihren zeugenschaftlichen Vernehmungen im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens angegeben, bisher keinerlei Verletzungen bei L. beobachtete zu haben. Soweit der Großvater erklärt hat, er habe selber gesehen, wie sich L. gezwickt hat, hat er dies nicht weiter ausführen und spezifizieren können. Vor dem Hintergrund der eindeutigen Feststellungen der Sachverständigen misst der Senat mithin dieser Aussage keine weitere Bedeutung als die einer Schutzbehauptung zu.
54Auch andere Ursachen sind sicher auszuschließen. Die von der Großmutter von L., Frau S., in ihrer Zeugenvernehmung getätigte - weitere - Vermutung, die Hämatome könnten durch „Drehen“ auf Spielzeug entstanden sein, haben selbst die Kindeseltern nicht geäußert, so dass dieser Vermutung als mögliche Alternativursache nicht weiter von Amts wegen nachzugehen ist. Eine Verursachung der Hämatome durch eine entsprechende medizinische Prädisposition von L. ist ebenfalls auszuschließen. Im Rahmen der genetischen Untersuchung von L. haben sich zudem keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Blutgerinnungsstörung bei L. ergeben. Unabhängig davon haben die Sachverständigen Prof. Dr. M. und Dr. D. erklärt, dass selbst wenn eine solche vorläge, diese die gegebenen Hämatome in keinster Weise erklären könnten.
55Der Senat folgt damit der Schlussfolgerung des rechtsmedizinischen Gutachtens, dass alleine die Hämatome der Bauchhaut für sich genommen bereits zu einem hochgradigen Verdacht der Kindesmisshandlung führen. Die Hämatome von L. können nur durch ein schweres Erziehungsversagen oder eine bewusst gesteuerte Handlung einer der Kindseltern oder einer dritten Person, in deren Obhut sich L. mit Zustimmung der Kindeseltern befunden hat, entstanden sein. Nach den eigenen Angaben der Kindeseltern haben ausschließlich sie L. betreut. Bei den weiteren Personen, die Kontakt zu L. hatten, handelt es sich um die Eltern der Kindesmutter und die ältere Schwester. Soweit die Großmutter von L., Frau S., in ihrer Zeugenvernehmung vermutet hat, die ältere Schwester S. könne L. zu fest gehalten haben („ich find dat, die meinen die S. die ältere Tochter hätte die zu fest gehalten“) und selbst die Kindeseltern mit ihrer Beschwerde nahe legen, die ältere Schwester könne die Hämatome durch Knuddeln und Stubsen verursacht haben, ändert dies nichts an dem Ergebnis. Unabhängig davon, dass Knuddeln und Stubsen eines vierjährigen Kindes kaum zu vielfältigen massiven Gewebequetschungen unterhalb des Windelbereichs eines bekleideten Säuglings führen dürfte, wären auch in diesem Fall die Hämatome an L.s Bauch in der Obhut der Kindeseltern entstanden. Ein erhebliches Erziehungsversagen läge also auch in diesem Fall vor.
56cc. Darüber ist es bei L. zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt, jedoch spätestens Anfang März 2022, durch ein schweres Erziehungsversagen oder eine bewusst gesteuerte Handlung einer der Kindseltern oder einer dritten Person, in deren Obhut sich L. mit Zustimmung der Kindeseltern befunden hat, zu Brüchen der 11. und 12. Rippe rechts und elften Rippe links gekommen. Das Vorliegen bilateraler älteren Rippenfrakturen ist durch Röntgenaufnahmen im St. Marien Hospital am 30. und 31.03.2022 festgestellt worden. Soweit die Kindeseltern die Authentizität der Aufnahmen im Rahmen des amtsgerichtlichen Verfahrens bestritten haben, ist das Amtsgericht dem durch Einholung eines radiologischen Gutachtens des Herrn Dr. S. nachgekommen. Der Sachverständige hat insbesondere mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass die Kallusbildungen an der 11. und 12. Rippe auch eine andere Ursache als einen Rippenbruch haben könnte, da Rippenbrüche bei Säuglingen über mehrere Wochen verheilten und nach der kompletten Heilung auf Röntgenbildern nicht mehr nachweisbar seien. Den Umstand, dass bei einer weiteren Röntgengenuntersuchung von L. am 24.05.2022 eine Rippenfraktur nicht mehr nachweisbar gewesen war, ändert daran nicht. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. S., denen sich der Senat anschließt, bedeutet ein unauffälliges Röntgenbild aufgrund der weiteren Feststellung des Sachverständigen, dass zumindest einfache Frakturen bei Säuglingen rückstandslos verheilten, in keiner Weise, dass nicht zu einem früheren Zeitpunkt auch ein Bruch vorgelegen hat.
57Soweit die Authentizität der Röntgenaufnahmen durch die Kindseltern bestritten worden ist, hat der Sachverständige auch hierzu Stellung genommen und für den Senat nachvollziehbar dargelegt, warum es sich bei den fraglichen Aufnahmen um Aufnahmen von L. Torso bzw. Arm handelt. Der Senat verweist insoweit auf die überzeugenden Ausführungen des amtsgerichtlichen Beschlusses, denen er sich anschließt. Der Einwand ist mit der Beschwerde der Kindeseltern auch nicht weiter aufrecht gehalten worden, so dass weitere Ausführungen hierzu nicht veranlasst erscheinen.
58Auch diese schwere Verletzung ist L. entweder durch eine Handlung der Kindeseltern oder dritten Personen, in deren Obhut sich L. mit Zustimmung der Kindeseltern befunden hat, zugefügt worden. Durch das rechtsmedizinische Gutachten ist ausgeschlossen worden, dass diese Verletzungen anders als durch grobe Gewalteinwirkungen entstanden sein können. Insbesondere können sie nach den überzeugenden Ausführungen des Gutachtens nicht während der Kaiserschnittgeburt von L. entstanden sein, weil die Rippen von Säuglingen extrem biegsam sind und auch intensiven Stauchungen widerstehen.
59dd. Soweit mit der Beschwerde darauf hingewiesen wurde, dass auch nach der durchgeführten Beweisaufnahme keineswegs auszuschließen sei, dass das Kind nicht vorsätzlich, sondern aufgrund eines Unfallereignisses verletzt wurde, schließt der Senat mehrere Unfallereignisse, die zu diesen drei erheblichen Verletzungen geführt haben könnten, aus. Aus dem rechtsmedizinischen Gutachten ergibt sich in aller Deutlichkeit, dass die festgestellten Verletzungen nicht jeweils durch ein „Unfallereignis“ entstanden sein können, weil es für Rippen- und Armfrakturen wie die vorliegenden und die vielzähligen Hämatome einer massiven Gewalteinwirkung bedarf und diese damit hochgradig verdächtig für eine Kindesmisshandlung sind. Weiter haben die Kindeseltern keine schlüssigen Unfallereignisse geschildert. Schließlich ist die Zahl der Verletzungen innerhalb von wenigen Wochen hoch auffällig, wie auch die Sachverständigen in ihrem Gutachten deutlich gemacht haben.
60Die sachverständigen Feststellungen in den verschiedenen Gutachten, die Feststellungen der diensthabenden Ärzte des St. Marien-Hospitals und die Ergebnisse der genetischen und radiologischen Untersuchungen von L. sind vorliegend für die Überzeugungsbildung des Senats ausreichend. Bei der Überzeugungsbildung des Senats kommen die Grundsätze der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO Anwendung. Als Maß für den Beweis reicht ein Grad von Gewissheit aus, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BVerfG, Beschluss vom 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20, NZFam 2023, 17 m. Anm. Volke). Die bei Sorgerechtsentzügen geltenden strengen verfassungsrechtliche Maßstäbe bei der Prüfung der Sachverhaltsfeststellung und -würdigung gebietet dabei keinen höheren Grad der Gewissheit, insbesondere nicht im Sinne einer strafrechtlichen Schuld (vgl. EGMR, Urteil vom 15.11.2022 - 25133/20 und 31856/20, BeckRS 2022, 31339). Angesichts der drohenden erheblichen Schädigungen des Kindeswohls sind keine erhöhten Anforderungen an die richterliche Überzeugung im Rahmen der Beweiswürdigung zu stellen (BVerfG, Beschluss vom 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20, NZFam 2023, 17 m. Anm. Volke).
61Auch sind keine weiteren alternativen Verursachungsmöglichkeiten zu ermitteln. Die Kindeseltern, in deren Obhut sich L. durchgängig befand, haben von keinen Unfallereignissen berichtet. Vielmehr bleiben sie durchgängig dabei, das der Armbruch von L. durch ein „Überstrecken“ des Säuglings im Arm des Kindesvaters hervorgerufen wurde, die Hämatome durch „Zwicken“ von L. entstanden seien und konnten zu den Rippenfrakturen gar keine Angaben machen. Das Amtsgericht hat vorbildlich alle weiteren von den Kindeseltern angegebenen Ursachen (Blutungsneigung, genetischer Defekt, Vertauschung der Röntgenbilder) sachverständig überprüfen lassen mit dem eindeutigem Ergebnis, dass alle diese Möglichkeiten sicher auszuschließen sind. Ob und wenn ja ggf. welches Unfallereignis solche Verletzungen hervorrufen können, ohne dass die Kindeseltern dies bemerkt haben könnten und ohne dass sie dieses benennen, ist durch das Gericht vor diesem Hintergrund mangels ausreichender Anknüpfungstatsachen nicht aufzuklären (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20, NZFam 2023, 17 m. Anm. Volke).
62b. Aufgrund der dargestellten schweren Verletzungen von L., die dem Säugling mindestens durch ein schweres Erziehungsversagen der Eltern zugefügt worden sind, besteht auch eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung durch mögliche zukünftige Misshandlungen oder erhebliche körperliche Verletzungen des Kindes bei einer Rückkehr in den elterlichen Haushalt. Aufgrund des bereits eingetretenen schweren gesundheitlichen Schadens bei L. während ihrer ersten knapp vier Lebensmonate ist bei der Betreuung durch die Kindeseltern mit ziemlicher Sicherheit mit weiteren ähnlichen Verletzungen des Kindes zu rechnen. Solche während der Betreuung durch die Eltern entstandenen Verletzungen sind hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme der Gefahr weiterer Verletzungen des Kindes, wenn es weiterhin von den Eltern betreut wird (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20, NZFam 2023, 17 m. Anm. Volke und vom 03.02.2017 - 1 BvR 2569/16, FamRZ 2017, 524). Die Kindseltern haben durch das rechtsmedizinische Sachverständigengutachten bzw. die genetische Untersuchung widerlegte oder gar keine Erklärungen zu den Verletzungen abgegeben. Angesichts der Schwere der durch weitere Verletzungen drohenden Schäden sind keine weitergehenden Feststellungen zum Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und auch keine weitergehende Konkretisierungen möglicher Verletzungshandlungen geboten (BVerfG, Beschluss vom 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20, NZFam 2023, 17 m. Anm. Volke).
63Eine andere Beurteilung ist auch nicht deshalb geboten, soweit man zugunsten der Eltern eine Überforderungssituation nach der Geburt von L. annehmen wollte, die jetzt deshalb nicht mehr gegeben wäre, weil seit den Ereignissen mittlerweile ein Jahr vergangen und damit beide Mädchen ein Jahr älter sind. Die Kindesmutter ist mittlerweile wieder schwanger, der Geburtstermin ist für Anfang Juni 2023 ausgerechnet. Bei einer Rückkehr von L. in den elterlichen Haushalt bei fortgeschrittener Schwangerschaft der Kindesmutter und dann mit einem weiteren Säugling in der Familie ist nicht absehbar, wie sich die Familiendynamik entwickeln würde. Die Gefahr weiterer Verletzungen von L., wenn es weiterhin von den Eltern betreut wird, ist damit weiterhin gegeben.
64Auch der mit der Beschwerde erhobene Hinweis, dass der Kindesvater bisher nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, ändert nichts an der verbleibenden hohen Gefahr eines weiteren Schadens bei L. im Falle der Rückkehr zu den Kindeseltern. Denn maßgeblich ist alleine, dass L. in den ersten knapp vier Lebensmonaten drei schwere Verletzungen, die jeweils nur durch erhebliche Gewalteinwirkungen entstanden sein können, erlitten hat, eine davon nachgewiesen unter der alleinigen Obhut des Kindesvaters.
65c. Der Sorgerechtsentzug bzgl. der Teilbereiche Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht zur Antragstellung für Hilfe zur Erziehung ist auch verhältnismäßig.
66aa. Der Entzug dieser Teilbereiche des Sorgerechts ist geeignet, um L. vor weiteren Verletzungen zu schützen. Mit der Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts konnte L. in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht und so vor weiteren Verletzungen geschützt werden. Das Recht zur Antragstellung für Hilfe zur Erziehung war zu entziehen, da die Kindeseltern sich geweigert hatten, einen Antrag auf Vollzeitpflege für L. zu stellen. Da ein solcher Antrag Voraussetzung für einen Verbleib von L. in der Pflegefamilie war und ist, ist der entsprechende Entzug ein geeignetes Mittel, um eine Fremdunterbringung sicher zu stellen.
67bb. Der teilweise Sorgerechtsentzug ist auch weiterhin erforderlich. Mildere Mittel als die vom Amtsgericht angeordneten Maßnahmen sind nicht ersichtlich. Ein Umzug der Kindesmutter mit den Kindern zu ihren Eltern stellt keine gleich geeignete Maßnahme dar, um einen erneuten Schaden bei L. zu verhindern. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass nicht sicher geklärt werden konnte, wer die Hämatome und die Rippenfrakturen bei L. verursacht hat. Neben dem Kindesvater war primäre Bezugsperson für L. die Kindesmutter. Beide streiten jeden Beitrag zu den Verletzungen nicht nur ab, sondern legen mit ihrer Beschwerde sogar nahe, die zum Tatzeitpunkt rund vierjährige Schwester könnte die Hämatome während des Spielens durch Knuddeln und Stupsen verursacht haben, obwohl das rechtsmedizinische Gutachten in aller Deutlichkeit erklärt hat, dass solche massiven Gewebequetschungen nur durch erhebliche Einwirkungen entstehen können. Da somit nicht sicher ausgeschlossen werden kann, dass nicht die Kindesmutter die Rippenfrakturen und/oder die Hämatome bei L. verursacht hat, kann schon deshalb ein Umzug der Kindesmutter mit L. zu den Großeltern kein milderes, ebenso geeignetes Mittel darstellen, da sie L. dann dennoch weiter betreuen würde.
68Wenn man zugunsten der Kindesmutter davon ausgeht, dass sie die Verletzungen nicht verursacht hat, ist weiter zu beachten, dass L. regelmäßigen Kontakt zu ihren Großeltern hatte und auch nicht sicher ausgeschlossen ist, ob diese die Verletzungen bei L. verursacht haben oder nicht. Sie stellen damit ebenfalls keinen ausreichenden Schutzfaktor für L. dar. Doch selbst wenn man auch hier annimmt, dass auch die Großeltern für die Verletzungen nicht verantwortlich sind und damit alleine der Kindesvater in Betracht kommt, bietet ein Umzug der Kindesmutter zu den Großeltern keinen ausreichenden Schutz von L.. Die Kindeseltern leben nicht getrennt. Vielmehr ist die Kindesmutter erneut schwanger, d.h. die Kindeseltern leben in einer gefestigten Ehe. Die erforderliche Abgrenzung der Kindesmutter zum Kindesvater ist damit nicht gegeben. Noch im Termin haben die Kindeseltern erklärt, sich „formal“ trennen zu wollen, damit die Kindesmutter zu den Großeltern ziehen kann. Eine tatsächliche Trennung ist jedoch ausgeschlossen. Und selbst wenn eine tatsächliche Trennung erfolgen würde, kann ein ausreichender Schutz von L. nicht angenommen werden. Die Großeltern haben in den vergangenen Monaten keine ausreichende Distanz zu dem Geschehen gezeigt, sondern selber verschiedene Erklärungen gesucht, wie die Verletzungen entstanden sein können, und eine Täterschaft des Kindesvater schlicht geleugnet. Als Schutzfaktor für L. scheiden sie in jedem denkbaren Verursachungsszenario aus.
69Auch eine auswärtige Betreuung von L. im Kindergarten über 45 Stunden pro Woche stellt kein gleich geeignetes Mittel dar, um weitere Verletzungen bei L. zu verhindern. Nach dem Kindergarten wäre L. immer noch 2/3 des Tages im elterlichen Haushalt. Während dieser Zeit kann ein ausreichender Schutz nicht sichergestellt werden.
70cc. Angesichts der drohenden erheblichen Verletzungen des Kindes ist die Fremdunterbringung auch im Übrigen zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer noch verhältnismäßig. Der Senat weist jedoch schon jetzt auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z.B. BVerfG, Beschluss vom 22.05.2014 - 1 BvR 2882/13, FamRZ 2014, 1266) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (z.B. EGMR, Urteil vom 10.09.2019 - 27283/13, Strand Lobben and Others v. Norway, www. hudco.echr.coe.int) hin, nach der aufgrund der Bedeutung des Grundrechts auf Familienleben aus Art. 6 Abs. 2 GG bzw. des Rechts auf Familienleben nach Art. 8 EMRK eine Trennung eines Kindes von seinen Eltern in aller Regel nur vorübergehender Natur sein darf und staatliche Stellen alles zu unternehmen haben, um eine Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt zu ermöglichen, soweit nicht dadurch eine erneute erhebliche Kindeswohlgefährdung drohen würde. Die Verpflichtung des Staates, die Eltern bei der Rückkehr ihrer Kinder durch öffentliche Hilfen zu unterstützen, kann in einer solchen Konstellation nach Art und Maß über das hinausgehen, was der Staat üblicherweise zu leisten verpflichtet ist (BVerfG, Beschluss vom 22.05.2014 - 1 BvR 2882/13, FamRZ 2014, 1266).
71Vorliegend ist zu beachten, dass die Umgänge zwischen L. und ihrer Familie harmonisch und absolut beanstandungsfrei verlaufen. Sie finden zwei Mal wöchentlich statt, so dass L. eine gute Bindung zu ihren Eltern entwickeln konnte. Weiter haben die Kindeseltern im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Senat zu Protokoll erklärt, alles zu unternehmen, um eine Rückführung von L. zu erreichen. Sie haben sich auch bereit erklärt, im Hinblick auf die Geburt des weiteren Kindes Hilfe vom Jugendamt annehmen zu wollen und jederzeitige Untersuchungen auch des neuen Säuglings zuzulassen. Darüber hinaus wird L. bald in der Lage sein, sich zumindest grundlegend zu artikulieren, eine Überwachung des familiären Systems wird auch insoweit einfacher und das Erkennen gefährdender Situationen unproblematischer. Schließlich deutet - trotz der wiederholten schweren Verletzungen von L. - nichts darauf hin, dass es sich bei dem familiären Haushalt um einen solchen mit einer fortdauernden Historie häuslicher Gewalt handelt.
72Vor diesem Hintergrund wird in naher Zukunft das weitere Vorliegen einer gegenwärtigen Kindeswohlgefährdung für den Fall einer Rückführung von L. in den elterlichen Haushalt zu prüfen sein. Soweit die Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens als notwendig erachtet wird, um das Vorliegen einer solchen Gefahr beurteilen zu können, wird dies frühzeitig zu beauftragen sein, da die Erstellung solcher Gutachten regelmäßig sechs bis neun Monate dauert. Hierbei wird auch zu berücksichtigen sein, dass es dabei nicht alleine auf die gewachsenen Bindungen des Kindes zur Pflegefamilie ankommt und ankommen darf, sondern dass insbesondere auch prognostiziert werden muss, wie sich das Kind bei einer Rückführung im elterlichen Haushalt entwickeln würde (BVerfG, Beschlüsse vom 13.07.2022 - 1 BvR 580/22, FamRZ 2022, 1616 = NZFam 2022, 938 (m. Anm. Keuter) und BVerfG, Beschluss vom 15.11.2022 - 1 BvR 1667/22, juris).
733. Soweit das Amtsgericht den Kindeseltern auch den Teilbereich des Sorgerechts „Gesundheitsfürsorge“ entzogen hat, war die die Entscheidung des Amtsgerichts aufzuheben. Zum jetzigen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats liegen Gründe, die eine weitere Aufrechterhaltung der Entziehung des Sorgerechts der Kindeseltern insoweit rechtfertigen würden, nicht mehr vor. Nach den überstimmenden Auffassungen der Mitarbeiterinnen des Jugendamtes, der Verfahrensbeiständin und der Ergänzungspflegerin ist eine Zusammenarbeit mit den Kindeseltern problemlos möglich. Eine Gefährdung des Kindeswohls durch ein Verhalten der Kindeseltern ist im Zusammenhang mit der Gesundheitsfürsorge aufgrund der trotz Fremdunterbringung ihrer Tochter gezeigten Mitwirkungsbereitschaft der Kindeseltern nicht mehr gegeben.
74III.
75Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus §§ 45, 40 FamGKG.
76Rechtsbehelfsbelehrung:
77Diese Entscheidung ist unanfechtbar.