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1. Die Beschwerde der Beteiligten zu 1) vom 27.01.2023 gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - T. vom 07.09.2022 (32 F 210/22) wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Beteiligte zu 1) zu tragen.
3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.000,00 € festgesetzt.
Oberlandesgericht Köln
2Familiensenat
3Beschluss
4In der einstweiligen Anordnungssache
5hat der 14. Zivilsenat - Familiensenat - des Oberlandesgerichts Köln
6am 06.03.2023
7durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht L., die Richterin am
8Oberlandesgericht C. und die Richterin am Oberlandesgericht H.
9b e s c h l o s s e n :
101. Die Beschwerde der Beteiligten zu 1) vom 27.01.2023 gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - T. vom 07.09.2022 (32 F 210/22) wird zurückgewiesen.
112. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Beteiligte zu 1) zu tragen.
123. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.000,00 € festgesetzt.
13Gründe:
14I.
15Die Beteiligte zu 1) (im Folgenden: Kindsmutter) besitzt die ukrainische Staatsangehörigkeit und ist mit ihrer Tochter vor drei Jahren nach Deutschland eingereist. Sie ist die allein sorgeberechtigte Mutter des verfahrensbetroffenen Kindes I., geboren am 00.00.0000.
16I. hat in den letzten drei Jahren gute Deutschkenntnisse erworben und besucht die 4. Klasse der Gemeinschaftsgrundschule V.. Sie ist dort beliebt und gut integriert.
17Seit Anfang 2020 forderte die Kindesmutter laut Mitteilung des Sozialamtes vermehrte Krankenscheine für das Mädchen, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt 36 Stück. Weiter beantragte die Kindesmutter wiederholt eine Veränderung ihrer Wohnsituation in einer Flüchtlingsunterkunft und führte zur Begründung das Mädchen auf. Gleichzeitig wies sie zwei Wohnungsangebote als ungenügend zurück.
18Parallel dazu wurde I. wiederholt wegen täglich auftretenden starken Kopfschmerzen und Erschöpfung ärztlich untersucht. Eine organische Ursache für die Kopfschmerzen konnte trotz der Vorstellung des Mädchens bei Fachärzten aus dem Bereich HNO, Orthopädie, Sozialpädiatrie, Augenheilkunde, Neurologie und Kinderheilkunde nicht gefunden werden. Im Bericht des Gesundheitsamtes des O. vom 05.03.2021 wird mitgeteilt, dass keine die Kopfschmerzen erklärende körperliche Ursache gefunden werden konnte und der Verdacht auf eine psychische Ursache im Sinne einer Somatisierung bestehe und eine entsprechende Behandlung erfolgen solle.
19Im Frühjahr des Jahres 2022 beantragte die Kindesmutter erneut die Ausstellung eines Krankenscheines für ihre Tochter, diesmal wegen des Verdachts von Bluthochdruck, den sie durch selbstständiges Messen entdeckt haben wollte. Das Sozialamt der Stadt V. schlug daraufhin vor, dass die Kindesmutter gemeinsam mit ihrer Tochter einen Psychologen aufsuchen solle. Dies lehnte die Kindesmutter ab und beharrte auf einer schweren Erkrankung ihrer Tochter, die Ärzte würden diese nur nicht erkennen.
20In einem Schulgespräch teilte die Kindesmutter mit, dass I. weiter unter starken Kopfschmerzen leide. Diese seien so stark, dass sie geäußert habe, nicht mehr leben zu wollen. Auch habe sie gelegentlich ihren Kopf gegen die Wand geschlagen und sich selbst verletzt. Daraufhin wurde ein Erstkontakt mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie W. (KJP) aufgebaut. Bei einem Erstgespräch am 18.03.2022 wurde seitens der Klinik eine stationäre Aufnahme befürwortet, damit I. aus dem häuslichen Umfeld für einige Wochen herauskomme. I. äußerte, sie könne sich dies vorstellen. Die Kindesmutter lehnte eine stationäre Behandlung jedoch ab.
21Mit Bericht vom 04.05.2022 stellte das Universitätsklinikum K. nach einer weiteren Untersuchung des Mädchens fest, dass sich bei I. keine neurologischen Defizite feststellen lassen. Hinweise auf eine organische Grunderkrankung gebe es nicht. Die Kopfschmerzen seien mittlerweile in Dauerschmerzen übergegangen mit drohendem Übergang in ein Schmerzverstärkungssyndrom. Die Uniklinik vergab einen Termin für die psychologische Testung, der von der Kindesmutter nicht wahrgenommen wurde. Auf Rückfrage lehnte die Kindesmutter einen neuen Termin ab.
22Nach einem erneuten Termin in der KJP am 19.08.2022 stellte diese als Diagnosen den Verdacht einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, Verdacht auf ein Münchhausen-by-proxy Syndrom und nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten fest. In dem Bericht heißt es weiter, die Mutter habe erklärt, seit der Einreise in Deutschland lebe man in sehr engen Verhältnissen, sie habe vom Sozialamt bereits zwei Wohnungen angeboten bekommen, diese jedoch abgelehnt, weil sie ihr nicht gefallen hätten. Die Mutter glaube nicht, dass eine psychische Ursache für die Kopfschmerzen vorliege und wolle weitere ärztliche Untersuchungen veranlassen. Sie plane zeitnah aus Deutschland auszureisen in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und einen veränderten Asylstatus. Im Hinblick auf das Mädchen hielt der Bericht fest, dass bei diesem gelegentlich lebensmüden Gedanken beständen sowie ein selbstverletzendes Verhalten. Eine stationäre Aufnahme des Mädchens zur vollstationären Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde dringend empfohlen. Es bestehe der deutliche Eindruck, dass I. hinsichtlich ihrer Aussagen zur Symptomatik unter dem Einfluss von der Mutter stehe.
23Mit Schreiben vom 19.08.2022 teilte das Jugendamt dem Amtsgericht eine Kindes-wohlgefährdung mit. Dies führte zur Einleitung des streitgegenständlichen Verfahrens.
24Am 25.08.2022 nahm die Kindesmutter ihre verwaltungsgerichtliche Klage gegen die Ablehnung eines Asylstatus zurück. Da das Asylverfahren ab diesem Zeitpunkt rechtskräftig abgeschlossen ist, besteht für die Kindesmutter und I. seit diesem Zeitpunkt die Verpflichtung zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland. Am 05.09.2022 ist die Abschiebung angedroht worden.
25Die dem Mädchen beigeordnete Verfahrensbeiständin hat am 04.09.2022 berichtet, dass ein Gespräch mit dem Mädchen nur im Beisein der Kindesmutter möglich gewesen sei. Das Mädchen habe in ihren Äußerungen nicht frei gewirkt und sie habe offensichtlich Angst gehabt, etwas Falsches zu sagen. Die Kindesmutter habe während des Gespräches mehrfach geweint und I. habe diese trösten müssen. Die Kindesmutter habe erklärt, sie wolle ein normales Leben in einer eigenen Wohnung führen, deshalb müsse sie „fahren“. Nach Rücksprache mit den beteiligten Fachkräften entstehe der Eindruck, dass das Mädchen eine symbiotische Beziehung zu ihrer Mutter habe und unter einem großen Einfluss dieser stehe. I. sorge sich sehr um die Mutter und fühle sich für diese verantwortlich. Dies verursache nach der Auffassung der Verfahrensbeiständin einen erheblichen Druck auf das Kind. Insgesamt sei nach ihrer Ansicht die Entziehung der Teilbereiche Gesundheitsfürsorge und Aufenthaltsbestimmungsrecht notwendig, um eine konkrete erhebliche Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Weiter sei die Einholung eines Erziehungsfähigkeitsgutachtens bezüglich der Kindesmutter notwendig.
26Auch das Jugendamt hat sich dahingehend geäußert, dass der Kindesmutter die Teilbereiche Gesundheitsfürsorge und Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen werden müssten.
27Das Amtsgericht hat die Beteiligten sowie die Kindesmutter persönlich angehört. Die persönliche Anhörung von I. musste auf Intervention der vor dem Anhörungszimmer wartenden Kindesmutter zum Schutz des Mädchens abgebrochen werden.
28Auf die mündliche Verhandlung vom 06.09.2022 hat das Amtsgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 07.09.2022 im Wege der einstweiligen Anordnung der Kindesmutter das Sorgerecht in den Teilbereichen Gesundheitsfürsorge und das Auf-enthaltsbestimmungsrecht entzogen und Ergänzungspflegschaft angeordnet. Es bestehe eine konkrete erhebliche Gefährdung des Wohls von I., da deutliche Anzeichen einer Patentinfizierung des Kindes beständen, und diese mit ihrer Mutter eine enge und gegebenenfalls symbiotische Beziehung habe, was zu körperlichen und psychischen erheblichen Beeinträchtigungen des Kindes führe. Es drohe der Übergang in ein Schmerzverstärkungssyndrom, das Mädchen zeige zudem bereits Suizidgedanken und verletze sich selber. Es bedürfe dringend einer vollstationären Diagnostik des Kindes, die jedoch von der Kindesmutter verhindert werde; dadurch werde das Wohl des Kindes erheblich gefährdet. Dabei werde der Eingriff in das Aufenthaltsbestimmungsrecht nicht darauf gestützt, dass die Kindesmutter die Rückkehr in ein Kriegsgebiet beabsichtige, sondern dass die Kindesmutter keinerlei konkrete Pläne für ihre Ausreise darlegen konnte, sodass Obdachlosigkeit drohe und die Beschulung des Mädchens nicht sichergestellt sei.
29Nach Erlass des Beschlusses ist die Kindesmutter mit dem Mädchen am 12.09.2022 an der deutschpolnischen Grenze aufgegriffen worden; I. ist in die Obhut des Jugendamtes genommen worden und lebt seit dem 05.10.2022 in der Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe Maria Schutz. Die Kindesmutter ist nach J. weitergereist, wo sie sich seitdem aufhält, offenbar eine Wohnung angemietet und eine Tätigkeit in einem Hostel aufgenommen hat.
30Gegen die Entscheidung des Amtsgerichts richtet sich die am 27.01.2023 beim Amtsgericht eingegangene Beschwerde der Kindesmutter vom gleichen Tag. Sie rügt zunächst die Zuständigkeit deutscher Gerichte, da I. aufgrund ihres Flüchtlingsstatus niemals ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründet habe. Die Rückkehr in die Z. sei aufgrund der Beendigung des Asylverfahrens notwendig geworden. Sie habe in J. eine 42 qm große Wohnung angemietet, eine Arbeit aufgenommen und der Schulbesuch zum Zeitpunkt einer Rückkehr des Kindes zu ihr sei sichergestellt. Weiter erklärt sie, nicht in der Region E. gelebt zu haben, sondern von der D. zu stammen. Entsprechend sei zu keinem Zeitpunkt geplant gewesen, in die Region E. zu ziehen. Die körperlichen Beschwerden von I. würden entgegen der Behauptung des Jugendamtes nicht im häuslichen Bereich auftreten, sondern im schulischen Bereich. Sowohl das Jugendamt als auch das Amtsgericht hätten die Wohnsituation als Grund für die Belastung des Kindes nicht erwogen. Aus den gegebenen ärztlichen Unterlagen sei nichts dafür ersichtlich, dass sie als Mutter das Kind gefährde. Weiter sei zu berücksichtigen, dass das Jugendamt nach der Rücknahme der verwaltungsgerichtlichen Klage begonnen habe, I. Angst vor einer Rückkehr in die Z. zu machen. Im Termin zur Anhörung der Kindesmutter sei kein Dolmetscher für die ukrainische Sprache anwesend gewesen, sondern lediglich ein solcher für die russische Sprache. Der Beschluss sei rechtswidrig, da eine Kindeswohlgefährdung nicht vorgelegen habe. Sie selbst sei gewillt, alle Maßnahmen zu ergreifen, die zur Abwendung einer Gefahr für das Kind erforderlich seien.
31Die Kindesmutter beantragt,
32die einstweilige Anordnung aufzuheben und die Gesundheitsfürsorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihr minderjähriges Kind auf sie zu übertragen.
33Die Verfahrensbeiständin berichtet mit Schreiben vom 27.02.2023, das Erfordernis einer (stationären) psychiatrischen Begutachtung des Kindes bestehe wegen der zwischenzeitlich durch die Trennung von der Kindesmutter eingetretenen Entlastung des Kindes erfreulicherweise nicht mehr. Nach Auskunft der zuständigen Mitarbeiterin des Jugendamtes V., Frau F., vom 08.02.2023 hätten die Kopfschmerzen von I. im Verlauf der Unterbringung in der Jugendhilfeeinrichtung in X. kontinuierlich abgenommen. Seit der Zeit vor Weihnachten sei I. kopfschmerzfrei. Das Kind „blühe auf“ in X., habe Hobbys und soziale Kontakte. Völlig ungewiss sei, wie die weitere Entwicklung von I. verlaufen würde, wenn sie aus dem neu gewonnenen, sicheren und strukturierten Leben in X. wieder herausgerissen werde und zu der Kindesmutter nach J. zeihen würde. Dies könnte zu einer erneuten Destabilisierung und Somatisierung des Kindes führen. Es bestehe weiter der Eindruck eines belastungssteigernden Einflusses der Kindesmutter auf das Kind sowie der Verdacht einer somatofonen Schmerzstörung des Kindes und eines Münchhausen-by-Proxy-Syndroms. Auch insofern besteht das Risiko, dass I. erneut einer Belastungs- und Überforderungssituation ausgesetzt und in ihrer freien Entwicklung eingeschränkt sein würde bzw. nicht „Kind sein“ könnte. Aufgrund des Umstandes, dass das Kind seit der Trennung von der Kindesmutter eine erhebliche Entlastung erfahren und sich positiv entwickelt habe, kopfschmerzfrei sei und keine selbstverletzenden Tendenzen mehr zeige, hätten sich aus Sicht der Verfahrensbeiständin die erheblichen Indizien für einen belastungssteigernden Einfluss der Kindesmutter auf das Wohl des Kindes weiter erhärtet. Vor einer Rückübertragung der entzogenen Teile des Sorgerechtes auf die Kindesmutter sollten daher die oben ausführlich dargestellten Bedenken zunächst ausgeräumt werden. Vor diesem Hintergrund empfiehlt die Verfahrensbeiständin, die Beschwerde zurückzuweisen.
34Dieser Einschätzung schließ sich das Jugendamt an. Als Anlage hat es den aktuellen Bericht der KJP vom 23.01.2023 beigefügt. Eine stationäre Aufnahme sei demnach nicht mehr erforderlich, da die physischen Beschwerden des Kindes komplett abgeklungen seien und eine Selbstverletzung nicht mehr vorkomme. Es sei ein deutlicher Unterschied bei dem Erscheinungsbild des Mädchens im Vergleich zum vorherigen Termin festzustellen. I. wirke durch die Unterbringung in der Jugendhilfeeinrichtung deutlich entlastet und mache insgesamt einen sehr gesunden Eindruck. Da jedoch derzeit aufgrund des Aufenthaltes der Kindesmutter in der Z. keine Aufklärung zu der Fragestellung der symbiotischen Bindung zwischen Mutter und Kind und damit einhergehend eine Prüfung der Kindeswohlgefährdung abschließend möglich sei, werde am Beschluss festgehalten.
35Der Senat hat die Beteiligten schriftlich angehört.
36II.
37Die Beschwerde der Kindesmutter ist gemäß §§ 57, 58 ff. FamFG zulässig. Auch wenn die Beschwerde erst am 27.01.2023 beim Amtsgericht eingegangen ist, kann nicht von einem zu spät eingelegten Rechtsmittel ausgegangen werden. Die am 13.09.2022 per Ersatzzustellung durch Niederlegung nach § 181 ZPO bewirkte Zustellung des angefochtenen Beschlusses kann nicht als wirksam angesehen werden, da die Kindesmutter aufgrund der bereits zuvor verfolgten Aufgabe ihrer Wohnung und ihrer Ausreise aus Deutschland am 13.09.2022 nicht mehr unter der Zustelladresse gewohnt hat. Infolge dessen wurde das dort niedergelegte Schriftstück auch nicht abgeholt und gelangte an das Gericht zurück.
38In der Sache ist das eingelegte Rechtsmittel jedoch nicht begründet.
391. Die deutschen Gerichte sind vorliegend zuständig. Nachdem I. mit ihrer Mutter seit drei Jahren in Deutschland und zuletzt in V. gewohnt hat, kann an einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Sinne von § 152 Abs. 2 FamFG dort nicht gezweifelt werden. Ob die Kindesmutter und I. aufgrund ihres Flüchtlingsstatus ihren tatsächlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt haben, muss letztendlich aber nicht geklärt werden, auch wenn der Umstand, dass kein dauerhafter Aufenthaltstitel vorlag, nicht der Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts widerspricht (MüKoFamFG/Rauscher, 3. Aufl. 2018, FamFG § 98 Rn. 63-65). Wenn man mit der Beschwerde einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland verneinen wollte, beruht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte auf Art. 5, 6 KSÜ, dem die Z. im Jahr 2008 beigetreten ist.
402. Das Amtsgericht – Familiengericht – T. hat der Kindesmutter zu Recht und mit zutreffenden Erwägungen das Sorgerecht gemäß §§ 1666, 1666a BGB im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 49 FamFG teilweise entzogen.
41a. Gemäß § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes nachhaltig gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
42aa. Bei der Auslegung und Anwendung dieser einfachrechtlichen Norm ist der besondere Schutz zu beachten, unter dem die Familie nach Art. 6 Abs. 1, 2 GG steht. Die Eltern haben ein Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), die Kinder haben ein gegen den Staat gerichtetes Recht auf elterliche Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), beide sind gemäß Art. 6 Abs. 3 GG besonders dagegen geschützt, voneinander getrennt zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.06.2014 - 1 BvR 2926/13, BVerfGE 136, 382/391 Rn. 29).
43bb. Weiter ist zu beachten, dass Kinder nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG einen Anspruch auf den Schutz des Staates haben, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) nicht gerecht werden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können. Das Kind, dem die Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) als eigene Rechte zukommen, steht unter dem besonderen Schutz des Staates (std. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.11.1980 - 1 BvR 349/80, BVerfGE 55, 171/179; zuletzt BVerfG, Beschluss vom 05.09.2022 - 1 BvR 5/22, juris). Kinder bedürfen des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln und gesund aufwachsen zu können (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 05.09.2022 - 1 BvR 65/22, juris, und vom 19.11.2021 - 1 BvR 971/21, FamRZ 2022, 99).
44cc. Diesem Schutzanspruch entsprechen einfachrechtlich die Vorschriften des §§ 1666, 1666a BGB. Werden Eltern der ihnen durch die Verfassung zugewiesenen Verantwortung nicht gerecht, weil sie nicht bereit oder in der Lage sind, ihre Erziehungsaufgabe wahrzunehmen oder können sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten, kommt das „Wächteramt des Staates“ nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zum Tragen. Ist das Kindeswohl gefährdet, ist der Staat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen.
45dd. Für Maßnahmen nach § 1666 BGB ist erforderlich, dass eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, zu deren Abwendung die sorgeberechtigten Personen nicht gewillt oder in der Lage sind (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 06.02.2019 - XII ZB 408/18, FamRZ 2019, 598). Eine solche besteht bei einer gegenwärtigen, in einem solchen Maß vorhandenen Gefahr, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (BGH, Beschluss vom 23.11.2016 – XII ZB 149/16, FamRZ 2017, 212). Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Dabei berechtigen nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zukommenden Wächteramts die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschließen oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 05.09.2022 - 1 BvR 65/22, juris und vom 19.11.2014 - 1 BvR 1178/14, FamRZ 2015, 112, m.w.N.). Das elterliche Fehlverhalten muss vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.11.2014 - 1 BvR 1178/14, FamRZ 2015, 112, m.w.N.). Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 05.09.2022 – 1 BvR 65/22, juris und vom 19.11.2014 - 1 BvR 1178/14, Fam-RZ 2015, 112, m.w.N.).
46ee. Darüber hinaus muss jeder Eingriff in das Elternrecht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Er gebietet, dass Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist. Die anzuordnende Maßnahme muss zur Abwehr der Kindeswohlgefährdung geeignet, erforderlich und auch im engeren Sinne verhältnismäßig sein. Die Verhältnismäßigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne verlangt dabei keine weitere, eine höhere Sicherheit des Schadenseintritts erfordernde Prognose, wie sie der Bundesgerichtshof in der Auslegung von §§ 1666, 1666a BGB verlangt (vgl. BGH, Beschluss vom 06.02.2019 - XII ZB 408/18, FamRZ 2019, 598 auf der einen Seite und BVerfG, Beschlüsse vom 21.09.2020 - 1 BvR 528/19, FamRZ 2021, 104, und vom 15.11.2022 - 1 BvR 16667/22, FamRZ 2023, 280 auf der anderen Seite).
47ff. In Sorgerechtsverfahren haben die Familiengerichte das Verfahren so zu gestalten, dass es geeignet ist, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.04.2018 – 1 BvR 383/18 –, FamRZ 2018, 1084, m.w.N.). In Eilverfahren bleiben die praktisch verfügbaren Aufklärungsmöglichkeiten angesichts der spezifischen Eilbedürftigkeit dieser Verfahren allerdings regelmäßig hinter den im Hauptsacheverfahren bestehenden Möglichkeiten zurück. Den Gerichten ist es in kindesschutzrechtlichen Eilverfahren insbesondere regelmäßig nicht möglich, noch vor der Eilentscheidung ein Sachverständigengutachten einzuholen. Dies steht dem vorläufigen Sorge-rechtsentzug jedoch nicht entgegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.04.2018 – 1 BvR 383/18 –, FamRZ 2018, 1084, m.w.N.). Entscheidend ist vielmehr, ob die Gefährdungslage nach Ausmaß und Wahrscheinlichkeit aufgrund der vorhandenen Erkenntnisse bereits derart verdichtet ist, dass ein sofortiges Einschreiten auch ohne weitere gerichtliche Ermittlungen geboten ist (BVerfG, Beschluss vom 23.04.2018 – 1 BvR 383/18 –, FamRZ 2018, 1084, m.w.N.). Einfachrechtlich drücken sich diese Anforderungen in der Vorschrift des § 49 FamFG aus. Ein danach erforderliches drin- gendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden setzt voraus, dass ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht möglich ist, weil diese zu spät käme, um die zu schützenden Interessen (hier: das Kindeswohl) zu wahren. Nicht ausreichend ist, dass die Entziehung des Sorgerechts dem Kindeswohl „am besten entsprechen“ würde, vielmehr muss das Kindeswohl ohne den Sorgerechtsentzug nachhaltig gefährdet sein (vgl. BVerfG Beschluss vom 29.09.2015 – 1 BvR 1292/15 –, BeckRS 2016, 41034).
48b. Diese Grundsätze zugrunde gelegt, liegen die Voraussetzungen für einen teilweisen Entzug des Sorgerechts gemäß §§ 1666, 1666a BGB im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 49 FamFG vor, wie das Amtsgericht zu Recht angenommen hat.
49aa) Vorliegend war zum Zeitpunkt der Entscheidung des Amtsgerichts nicht nur eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls gegeben, sondern bei I. war in der Vergangenheit bereits ein Schaden eingetreten. I. leidet seit über zwei Jahren an schweren Kopfschmerzen und hat sich zudem schlapp und müde gefühlt. Weiter hat I. sich in der Vergangenheit durch Schlagen des Kopfes gegen die Wand selber verletzt und nach dem Bericht der KJP sogar lebensmüde Ansichten geäußert. Aus dem Bericht der Uniklinik K. ergibt sich, dass die Kopfschmerzen mittlerweile in Dauerschmerzen übergegangen waren mit drohendem Übergang in ein Schmerzverstärkungssyndrom. Entsprechend hat die KJP im Verlaufe des Jahres 2022 wiederholt geäußert, dass es dringend einer stationären Aufnahme des Mädchens bedürfe, um die Ursachen ihrer Beschwerden durch eine stationäre Diagnostik klären, da körperliche Ursachen hierfür nicht vorlagen. Im August 2022 ist zudem die Verdachtsdiagnose eines Münchhausen-by-proxy Syndroms gestellt worden, was eine vorübergehende Trennung von Mutter und Kind zur Durchführung einer stationären Diagnostik dringend erforderlich machte.
50Die konkreten körperlichen Beeinträchtigungen von I. liegen zwar nach dem Bericht der KJP aus dem Januar 2023 gegenwärtig nicht mehr vor, auch bedarf es keiner stationären Diagnostik mehr. Die Situation stellt sich mithin zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats anders dar als zum Zeitpunkt der Entscheidung des Amtsgerichts. Jedoch droht I. für den Fall der Rückkehr zu ihrer Mutter ein weiterer erheblicher Schaden. Denn vorliegend besteht der konkrete Verdacht, dass die körperlichen und psychischen Beschwerden des Mädchens durch ihr Verhältnis zu der Kindesmutter entstanden sind.
51Im Einzelnen:
52Aus der Stellungnahme des Sozialamtes ergibt sich, dass die Kindesmutter seit Anfang 2020 über 36 Krankenscheine für das Mädchen angefordert hat. Aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen ergibt sich, dass I. seit 2020 regelmäßig ganz verschiedenen Ärzten durch die Kindesmutter vorgestellt worden ist, weil diese der festen Überzeugung ist, dass das Mädchen an schweren körperlichen Erkrankungen leidet. Dass sie davon ausgehe, hat sie selber wiederholt verschiedenen Stellen gegenüber geäußert. Die Ärzte hätten die Ursache nur bisher noch nicht gefunden. Das Mädchen wurde entsprechend bei Fachärzten aus dem Bereich HNO, Orthopädie, Sozialpädiatrie, Augenheilkunde, Neurologie und Kinderheilkunde vorgestellt, ohne dass organische Erkrankungen - bis auf eine ganz gelegentliche leichte Erhöhung des Blutdrucks - gefunden wurden. Dennoch hat die Kindesmutter weiterhin gegenüber den Fachbeteiligten und auch der KJP vertreten, dass I. krank sei und die Ärzte nur die Ursache nicht finden würden. Die KJP hat in ihrem Bericht vom 30.08.2022 geäußert, dass der Eindruck entstanden sei, das Mädchen stehe unter dem Einfluss der Kindesmutter, zumal Kopfschmerzen während einer Ferienfreizeit kein Thema gewesen seien. Es bestehe daher der Verdacht eines Münchhausen-by-Proxy Syndroms; die vollstationäre Aufnahme des Kindes wurde dringend empfohlen, um die Patientin „in einem Umfeld ohne die Mutter“ erleben zu können. Es sei anzunehmen, dass die Symptomatik durch die Beziehung zwischen Mutter und Kind versursacht werde.
53Die ungesunde, fast symbiotische Beziehung des Kindes zur Kindesmutter wurde zudem durch die übrigen Fachbeteiligten bestätigt. So hat die Verfahrensbeiständin berichtet, dass eine Kommunikation mit dem Mädchen ohne die Anwesenheit der Kindesmutter nicht möglich gewesen sei und diese während des Gesprächs mehrmals in Tränen ausgebrochen sei, so dass I. versucht habe, die Kindesmutter zu trösten und zu unterstützen. Auch das Jugendamt hat davon berichtet, dass ein großes Näheverhältnis zwischen der Kindesmutter und dem Kind bestehe und die Kindesmutter, auch durch die Situation in der Flüchtlingsunterkunft, erheblich belastet erschien. Die richterliche Anhörung musste schließlich zum Schutz von I. abgebrochen werden, weil sich die Kindesmutter vor der Tür lautstark gegen die Anhörung aussprach und es nicht zulassen wollte, dass das Gericht I. ohne ihr Beisein weiter anhörte.
54Hierzu passt es, dass die Symptomatik bei I. vor ihrer Inobhutnahme während der Schulzeiten geringer war, während einer Ferienfreizeit nicht bestand und sich in den ersten zwei Monaten nach ihrer Inobhutnahme vollständig zurückgebildet hat. Alle Fachbeteiligten berichten, dass sich die körperliche Situation des Mädchens, seit sie nicht mehr mit ihrer Mutter zusammen wohnt, erheblich verbessert habe und die körperlichen Symptome komplett zurückgegangen seien. Auch die KJP berichtet nach der Wiedervorstellung I.s Anfang des Jahres 2023, dass ein deutlicher Unterschied bei dem Mädchen festzustellen sei und dieses durch die Unterbringung in der Jugendhilfeeinrichtung deutlich entlastet gewirkt habe und insgesamt nunmehr einen sehr gesunden Eindruck mache.
55Vor diesem Hintergrund bestehen zahlreiche erhebliche Indizien für die Annahme, dass der vollständige Rückgang aller Symptome seit ihrer Inobhutnahme mit der Trennung von der Kindesmutter zusammenhängt. Dadurch besteht aber zugleich die konkrete Gefahr, dass die bei I. in der Vergangenheit aufgetretenen Symptome wiederkehren und sich im Laufe der Zeit wieder verstärken werden, wenn sie in den Haushalt ihrer Mutter entlassen würde. Hierbei spielt der Umstand, dass die Kindesmutter nunmehr in einem Land lebt, in dem Krieg herrscht, keine ausschlaggebende Bedeutung.
56Maßgeblich ist vielmehr, dass die Kindesmutter in den letzten zwei Jahren jede psychologische Begutachtung von I. verhindert und darauf beharrt hat, dass ihre Symptome körperliche Ursachen hätten. Durch die Ausreise der Kindesmutter konnte damit der konkrete Verdacht eines Münchhausen-by-proxy Syndroms oder eine sonstige Verursachung der bei I. bestehenden Symptomatik durch die psychische Situation der Kindesmutter nicht aufgeklärt werden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Kindesmutter ohne ersichtlichen Grund ihre verwaltungsgerichtliche Klage gegen die Ablehnung eines Asylstatus zurückgenommen und so eine Ausreisepflicht für sich und I. selber geschaffen hat. Gerade dies hat dazu geführt, dass eine sachverständige Klärung ihrer Erziehungsfähigkeit ohne sorgerechtliche Maßnahmen verhindert worden ist.
57Soweit mit der Beschwerde darauf verwiesen wurde, die Klage sei mangels Erfolgsaussichten zurückgenommen worden, vermag der Senat dies nicht zu beurteilen. Offensichtlich ist jedoch, dass die Kindesmutter im vergangenen Jahr verschiedenen Personen wiederholt gegenüber geäußert hat, sie fühle sich in Deutschland nicht wohl, fühle sich alleine gelassen, und wolle wieder ausreisen. Auffällig ist weiter, dass die Klage im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren und zeitlich wenige Tage nach der Vorstellung von I. in der KJP zurückgenommen wurde.
58Da damit der begründete Verdacht eines Münchhausen-by-proxy Syndroms nicht entkräftet werden konnte, besteht die Gefahr eines erneuten Schadenseintritts bei einer Rückführung des Kindes zur Kindesmutter.
59Weniger einschneidende Mittel als der teilweise Entzug des Sorgerechts stehen nicht zur Verfügung, weil die Erziehungsfähigkeit der Kindesmutter derzeit nicht geklärt ist und zeitnah auch nicht geklärt werden kann. Bei der notwendige Prognosebewertung für die Frage, ob eine erneute erhebliche Kindeswohlgefährdung im Falle der Rückkehr von I. zur Kindsmutter bestände, muss damit alleine der Rückgriff darauf erfolgen, dass die bei I. in der Vergangenheit gegebenen körperlichen psychischen Beschwerden unmittelbar abgeklungen sind, nachdem I. dem Einfluss der Kindesmutter entzogen war. Daraus kann - bis zur Begutachtung der Kindesmutter - nur der Schluss gezogen werden, dass die Beziehung der Kindesmutter zu ihrer Tochter Grund für diese erheblichen Beeinträchtigungen waren und damit eine erneute Gefahr bei einer Rückkehr unmittelbar und konkret bestände.
60bb. Die angeordnete Maßnahme war vor diesem Hintergrund auch verhältnismäßig. Sie ist geeignet, weitere Gefahren für I. abzuwenden. Sie ist auch weiterhin erforderlich, weil der konkrete Verdacht, dass die erheblichen körperlichen und psychischen Beschwerden von I. auf ihrer Beziehung zu ihrer Mutter beruhen, durch die Ausreise der Kindesmutter nicht ausgeräumt werden konnte. Die Entscheidung ist auch weiterhin verhältnismäßig im engeren Sinne. Die negativen Folgen der Trennung von I. und ihrer Mutter können vorliegend zwar nicht durch regelmäßige Besuche abgemildert werden, weil sich die Kindesmutter nicht mehr in Deutschland aufhält. Zu beachten ist jedoch, dass die Kindesmutter offensichtlich mehrmals wöchentlich mit ihrer Tochter telefonieren kann und I. zudem regelmäßig Besuch von ihrer Großmutter mütterlicherseits erhält. Ein Abbruch aller familiären Bindungen ist somit nicht gegeben. Der Gefahr erneuter gesundheitlicher Schäden hingegen kann bis auf weiteres nur durch eine Fremdunterbringung begegnet werden. In der Gesamtbetrachtung verbessert sich damit die Situation des Kindes deutlich (hierzu BVerfG, Beschluss vom 23.04.2018 – 1 BvR 383/18 –, FamRZ 2018, 1084 m.w.N). Zudem ist die Installation von helfenden, unterstützenden, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Kindesmutter gerichtete Maßnahmen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 21.09.2020 -1 BvR 528/19 -, FamRZ 2021, 104) vorliegend ebenfalls nicht möglich.
61cc. Vor dem Hintergrund des selbstverletzenden Verhaltens, dem Äußern von suizi-dalen Gedanken durch I. und dem Umstand, dass durch die von der Kindesmutter selbst verursachte Ausreisepflicht eine stationäre Begutachtung von I. anders nicht möglich war, war darüber hinaus ein sofortiges Einschreiten des Amtsgerichts im Wege einstweiligen Anordnung auch ohne schriftliches Sachverständigengutachten zulässig und geboten. Eine ausreichende Tatsachengrundlage liegt durch die ärztlichen Berichte, der zwei Berichte der KJP, die insbesondere die deutliche Verbesserung der körperlichen und psychischen Situation des Kindes seit dessen Inobhutnahme belegen, den Stellungnahmen des zuständigen Jugendamtes und den Berichten der Verfahrensbeiständin vor. Damit ist trotz der besonderen Situation, dass die Kindesmutter mittlerweile Deutschland verlassen musste, der erhebliche Eingriff in das Grundrecht der Kindesmutter aus Art. 6 Abs. 2 GG aufgrund des Schutzanspruchs von I. gegenüber dem Staat und der sich für den Staat ergebenden Schutzpflicht gegenüber I. aus Art. 6 Abs. 3 GG gerechtfertigt. Abgesehen davon ist zu beachten, dass im einstweilen Anordnungsverfahren keine letzte Gewissheit daran bestehen muss, ob bei dem Verbleib des Kindes bei den sorgeberechtigten Eltern bzw. der sorgeberechtigten Kindesmutter tatsächlich eine akute Kindesgefährdung droht oder nicht.
62dd. Soweit der Verfahrensbevollmächtigte der Kindsmutter die mangelnde Hinzuziehung eines Dolmetschers für die ukrainische Sprache im amtsgerichtlichen Verfahren und damit einen Verstoß gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 GG rügt, ist ein solcher Verstoß, soweit er denn vorliegen sollte, durch das Beschwerdeverfahren geheilt, da die Kindesmutter hier über ihren Verfahrensbevollmächtigten uneingeschränkt vortragen konnte.
633. Die Kostenentscheidung folgt aus § 84 FamFG. Die Festsetzung des Verfahrenswertes folgt aus §§ 40 Abs. 1, 41 S. 2, 45 Abs. 1 FamGKG.
64Rechtsbehelfsbelehrung:
65Diese Entscheidung ist unanfechtbar.