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1.Wird um Auslieferung zur Vollstreckung eines Urteils ersucht, mit dem nach erstinstanzlichem Freispruch auf Berufung der Staatsanwaltschaft hin erstmals im Rechtsmittelverfahren eine vollstreckbare Freiheitsstrafe verhängt wird, besteht das Auslieferungshindernis der Abwesenheitsverurteilung nach § 83 Nr. 3 IRG, wenn der Verfolgte bei der Berufungsverhandlung nicht anwesend war und seine Kenntnis von dem Verhandlungstermin nicht nachgewiesen ist.
2.Für erlittene Auslieferungshaft besteht kein Anspruch auf Haftentschädigung.
Die Auslieferung des albanischen Staatsangehörigen M.
nach Italien zur Vollstreckung der in dem Europäischen Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft Mailand vom 22.05.2014 enthaltenen Verurteilung durch das Appellationsgericht Mailand vom 21.11.2002 zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren wird für unzulässig erklärt.
Gründe :
2I.
3Gegen den Verfolgten besteht ein Europäischer Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft Mailand vom 22.05.2014, mit dem um seine Auslieferung zur Strafvollstreckung ersucht wird. Der Verfolgte wurde durch Urteil des Appellationsgerichts in Mailand vom 21.11.2002 zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren, von der noch ein Jahr, elf Monate und elf Tage zu verbüßen sind, verurteilt. Dem Urteil liegt der Vorwurf zugrunde, der Verfolgte habe sich in den Monaten September und Oktober 1997 an einer kriminellen Vereinigung beteiligt, die die Einfuhr großer Mengen Heroin aus Osteuropa nach Italien organisiert habe. Der Senat hat gegen den am aufgrund einer Ausschreibung der italienischen Behörden im Schengener Informationssystem - am 17.05.2014 festgenommenen Verfolgten am 20.05.2014 einen Auslieferungshaftbefehl erlassen und mit Beschluss vom 15.07.2014 die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet. Der Verfolgte ist am 19.05.2014 von dem Amtsgericht A. zu dem Auslieferungsersuchen angehört worden. Er hat sich mit der Auslieferung im vereinfachten Verfahren nicht einverstanden erklärt, nicht auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität verzichtet und des weiteren Angaben zum Verlauf des Strafverfahrens in Italien gemacht.
4Auf Veranlassung der Generalstaatsanwaltschaft haben die italienischen Behörden das Urteil des Appellationsgerichts in Mailand vom 21.11.2002 vorgelegt, das dem Senat in vollständiger deutscher Übersetzung am 14.08.2014 vorgelegt worden ist. Daraus geht hervor, dass der Verfolgte in 1. Instanz freigesprochen und aus der Untersuchungshaft entlassen worden war. Gegen den Freispruch war von der Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt worden. In der Hauptverhandlung vor dem Appellationsgericht war der Verfolgte nicht anwesend; für ihn trat eine Verteidigerin auf.
5Die Generalstaatsanwaltschaft geht davon aus, dass sich der Verfolgte dem Berufungsverfahren durch Flucht nach Albanien entzogen habe. Da er durch eine Verteidigerin vertreten gewesen sei, sei die Auslieferung als zulässig anzusehen. Mit einem entsprechenden Antrag sind die Akten dem Senat vorgelegt worden.
6II.
7Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung für zulässig zu erklären, kann nicht entsprochen werden. Es steht das Auslieferungshindernis der Abwesenheitsverurteilung nach § 83 Nr. 3 IRG entgegen.
81. Der Europäische Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft Mailand vom 22.05.2014 stellt im Ausgangspunkt nach §§ 79 Abs. 1 Satz 1, 83 a Abs. 1 IRG ein zulässiges Auslieferungsersuchen der italienischen Behörden dar. Soweit der Senat im Auslieferungshaftbefehl eine ausreichende Konkretisierung des der Verurteilung zugrundeliegenden Tatvorwurfs gefordert hat, sind die italienischen Behörden dem durch Übersendung des Urteils des Appellationsgerichts in Mailand vom 21.11.2002 nachgekommen. Daraus geht hervor, dass der Verfolgte sich in den Monaten September und Oktober 1997 an einer kriminellen Vereinigung beteiligt habe, die die Einfuhr großer Mengen Heroin aus Osteuropa nach Italien organisiert habe. Er soll insbesondere im Tatzeitraum mehrere – abgehörte – Telefongespräche mit Mitgliedern der Organisation geführt und mit diesen Abreden über den An- und Verkauf von Betäubungsmitteln getroffen haben. Aufgrund dieser im Urteil näher begründeten Feststellungen ist der Grundsatz der Spezialität gewahrt.
92. Die dem Verfolgten zur Last gelegte Tat ist strafbar nach Art. 74 LAW 309/1990 des italienischen StGB. Auf die – jedenfalls nach § 129 StGB gegebene – Strafbarkeit nach deutschem Recht kommt es gemäß § 81 Nr. 4 IRG nicht an, weil es sich bei der verfolgten Tat nach dem Recht des ersuchenden Staates um eine Katalogtat i. S. des Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG 2002 Nr. L 190 S. 1) handelt.
10Auch ist angesichts der noch zu verbüßenden Strafe von einem Jahr, elf Monaten und elf Tagen dem Erfordernis einer zu vollstreckenden Strafe von mindestens vier Monaten genügt, § 81 Ziff. 2 IRG.
113. Der Auslieferung steht jedoch das Auslieferungshindernis der Abwesenheitsverurteilung nach § 83 Nr. 3 IRG entgegen.
12a) Auf das in Anwesenheit des Verfolgten gesprochene erstinstanzliche Urteil des Gerichtshofes in Mailand vom 24.10.2001 ist insoweit nicht abzustellen, weil es sich um ein freisprechendes Urteil gehandelt hat.
13Maßgeblich ist allein das auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin ergangene Berufungsurteil vom 21.11.2002, durch das gegen den Verurteilten in Abänderung des freisprechenden Urteils in 1. Instanz eine vollstreckbare Freiheitsstrafe verhängt worden ist, was der Senat dem nunmehr vorgelegten Berufungsurteil erstmals hat entnehmen können.
14b) Dass der Verfolgte zu dem Verhandlungstermin vor dem Appellationsgericht in Mailand am 21.11.2002 persönlich geladen worden ist oder auf andere Weise von Termin sichere Kenntnis erlangt hat, lässt sich den Angaben im Europäischen Haftbefehl nicht entnehmen. Dort wird lediglich „darauf hingewiesen, dass der Verurteilte immer – sowohl in der erstinstanzlichen Verhandlung, die in seiner Anwesenheit stattfand, als auch in der zweitinstanzlichen Verhandlung, die in Abwesenheit stattfand, durch seinen Wahlverteidiger und Zustellungsbevollmächtigten vertreten wurde“. Soweit nach den italienischen Verfahrensvorschriften die Vertretung durch einen zustellungsbevollmächtigten Verteidiger ausreicht, um gegen einen nicht erschienenen Beschuldigten zu verhandeln, genügt dies nach den Vorschriften des deutschen Rechts als Nachweis einer ordnungsgemäßen Ladung des Beschuldigten nicht. Dass die Verteidigerin den Verfolgten vom Termin der Berufungsverhandlung unterrichtet hat, ergibt sich aus den oben zitierten Angaben im Europäischen Haftbefehl nicht, ebenso wenig aus dem Berufungsurteil.
15c) Dem Europäischen Haftbefehl kann der Senat nicht entnehmen, dass die italienischen Behörden dem Verfolgten das Recht auf ein neues Verfahren einräumen, was den Mangel der persönlichen Ladung ggfs. beheben könnte. Zu der formularmäßig vorgesehenen Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens sind im Europäischen Haftbefehl – auf der Grundlage der italienischen Verfahrensvorschriften folgerichtig – keine Angaben gemacht worden.
16d) Die Voraussetzungen eines sog. Fluchtfalles, der der Zulässigkeit der Auslieferung nicht entgegenstünde, sind nicht erfüllt. Die nicht näher erläuterte Angabe in dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft beim Appellationsgerichtshof Mailand vom 03.11.2009, der Verfolgte habe sich während des zweitinstanzlichen Verfahrens versteckt gehalten, genügt vor dem Hintergrund, dass der Verfolgte nach dem Freispruch ohne Auflagen aus der Haft entlassen worden und deswegen an der Ausreise nach Albanien nicht gehindert war, für die Annahme eines Fluchtfalles nicht. Dass der Verfolgte von dem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft Kenntnis erlangt hat, was ggfs. seine Ausreise nach Albanien als Flucht erscheinen lassen könnte, ist nicht belegt. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft dies daraus herleiten will, dass der Verfolgte in Albanien eine Rechtsanwältin beauftragt habe, ist unklar, zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Ziel dies geschehen ist. Die Angaben des Verfolgten bei seiner richterlichen Vernehmung deuten eher daraufhin, dass die Mandatierung
17einer Rechtsanwältin erst im Zusammenhang mit dem erst zehn Jahre später gestellten Auslieferungsersuchen der italienischen Behörden an Albanien zu sehen ist. Denn die angeblich von der Rechtsanwältin erteilte Auskunft, dass die italienische Justiz nichts mehr von ihm verlange, fügt sich dazu, dass nach Mitteilung der italienischen Behörden vom 17.05.2014 von einem Auslieferungsersuchen wegen der entgegenstehenden Rechtslage in Albanien abgesehen worden ist.
18III.
19Ein Anspruch des Verfolgten auf Haftentschädigung für die in der Zeit ab dem 17. Mai 2014 erlittene Freiheitsentziehung besteht nicht, weil es hierfür keine Rechtsgrundlage gibt ( ständige Senats-Rechtsprechung, Beschlüsse vom 04.07.2005 – Ausl 53/05-24-; vom 12.04.2006 – 6 Ausl 68/05 –38-; vom 24.04.2008 – 6 Ausl A 96/07 –3/08; vom 22.09.2009 – 6 AuslA 101/09 – 68 -; vom 19.07.2010 – 6 AuslA 157/09-9-).