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Die Berufung der Beklagten gegen das am 29. Juni 1989 verkündete Grund- und Teilurteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Aachen - 2 O 605/87 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufung trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 9.500,00 DM abzuwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d:
2Der am 24. November 1985 geborene Kläger wurde am Samstag, dem 25. April 1987, gegen 15.30 Uhr im Krankenhaus der Beklagten zur stationären Behandlung aufgenommen. Nach dem Aufnahmebefund war er in generalisiert tonisch-klonisch krampfendem Zustand, rechts betont. Seine Augen waren verdreht, es zeigte sich eine Lippenzyanose mit Schaum vor dem Mund. Die Pupillen waren eng. Die Temperatur betrug 39° Celsius rektal gemessen. Die Herztöne waren rein, die Herzaktion tachycard. Der Krampfanfall wurde mit Diazepam und Luminal therapiert, das Fieber wurde mit Wadenwickeln und Parazetamol bekämpft. Zu diagnostischen Zwecken wurden Blutbild, Entzündungsparameter, Elektrolyte, Nieren-Retentionswerte und Blutgaswerte bestimmt.
3Nach einer ruhigen Nacht erlitt der Kläger am 26.04. gegen 7.00 Uhr erneut einen Krampfanfall, die zwischenzeitlich gefallene Temperatur stieg auf über 39° Celsius an. Es wurde eine Lumbalpunktion durchgeführt. Die Untersuchung des Liquors erbrachte den Nachweis von 72/3 weißen Blutkörperchen, so daß eine bakterielle Meningitis auszuschließen war. Die Medikation wurde unverändert fortgesetzt.
4Am 27. April wurden weiterhin Krampfanfälle und Fieberschübe beobachtet. Es wurde ein EEG abgeleitet, ferner wurde eine antibiotische Behandlung mit Fortum begonnen.
5Am 28. April wurde von ortsansässigen niedergelassenen Fachärzten für Radiologie ein cranielles Computertomogramm (CT) erstellt, das nach Ansicht der Radiologen "im Zusammenhang mit den klinischen Befunden mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine herdförmige Encephalitis" schließen ließ. Im Anschluß an diesen Befund wurde dem Kläger zur Bekämpfung der Hirnentzündung Aciclovir (Zovirax) verabreicht, und zwar dreimal 60 mg/täglich.
6Am 29. April 1987 wurde der weiterhin fiebernde Kläger auf Veranlassung seiner Mutter in die Universitätsklinik E. verlegt. Er wurde dort u. a. weiter mit Fortum und Aciclovir behandelt. Die veranlaßte serologische Untersuchung ergab später den sicheren Befund einer Herpes-Virus-Encephalitis.
7Am 11. Juni 1987 wurde der Kläger nach Hause entlassen. Er leidet seither unter einer Hemiparese rechts. über den genauen Umfang und die Folgen der Erkrankung streiten die Parteien.
8Der Kläger führt die von ihm behaupteten körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen auf zu späten Einsatz von Aciclovir zur Bekämpfung der Herpes-Encephalitis zurück. Er verlangt deshalb Schadensersatz. Er hat behauptet, Aciclovir hätte bereits bei Verdacht auf Vorliegen von Herpes-Encephalitis ver- abreicht werden müssen. Dieser Verdacht habe sich bereits am Aufnahmetag, jedenfalls aber am darauffolgenden Behandlungstag ergeben. Darüber hinaus seien notwendige diagnostische Maßnahmen (EEG und CT) zu spät ergriffen worden. Die EEG-Ableitung und das CT hätten sofort veranlaßt werden müssen. Aus den Befunden hätte sich dann das Vorliegen der Encephalitis ergeben. Den Ärzten der Beklagten sein schwere Behandlungsfehler anzulasten, so daß die Beklagte beweisen müsse, daß die Gesundheitsschäden auch bei rechtzeitigem Einsatz von Aciclovir nicht zu vermeiden gewesen wären.
9Er hat beantragt,
10die Beklagte zu verurteilen, an ihn zu Händen seiner Mutter ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, wobei die Bestimmung der Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde,
11festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei, ihm den künftig entstehenden materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen.
12Die Beklagte hat beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie hat darauf hingewiesen, daß Aciclovir zum damaligen Zeitpunkt - unstreitig - vom Bundesgesundheitsamt als Medikament gegen Herpes-Encephalitis noch nicht zugelassen gewesen sei. Der Einsatz dieses Mittels sei deshalb überhaupt erst bei gesicherter Herpes-Encephalitis-Diagnose in Frage gekommen. Eine solche Diagnose sei erst durch das CT gesichert gewesen. Das differentialdiagnostische Vorgehen ihrer Ärzte sei richtig gewesen. Im übrigen sei Aciclovir in jedem Falle noch zum richtigen Zeitpunkt verabreicht worden. Mögliche Dauerschäden seien durch den Transport in die Universitätsklinik E. entstanden.
15Das Landgericht hat, sachverständig beraten, der Feststellungsklage stattgegeben und den Schmerzensgeldanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt er- klärt. Es hat den behandelnden Ärzten grobe Behandlungsfehler angelastet. Wegen der Einzelheiten der Begründung und des erstinstanzlichen Sach- und Streitstands im übrigen wird auf das angefochtene Urteil verwiesen.
16Die Beklagte hat gegen das ihr am 7. Juli 1989 zugestellte Urteil am 3. August 1989 beim Oberlandesgericht Köln Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 15. November 1989 mit einem an diesem Tage eingegangenen Schriftsatz begründet.
17Sie steht weiterhin auf dem Standpunkt, daß der Kläger durch ihre Ärzte richtig behandelt worden sei, auf gar keinen Fall könne von groben Behandlungsfehlern die Rede sein. Bei Aufnahme des Klägers sei nach dem klinischen Bild zunächst von einem fieberhaften Infekt mit Fieberkrampf auszugehen gewesen. Beides sei adäquat behandelt worden. Als am nächsten Morgen erneut eine Krampfbereitschaft aufgetreten sei, habe folgerichtig eine Lumbalpunktion erfolgen müssen, die zum Ausschluß einer bakteriellen Meningitis geführt habe. Zu diesem Zeitpunkt sei dem Chefarzt Dr. F der Verdacht einer Encephalitis gekommen. Da sich der Zustand des Klägers abwechselnd verbessert und wieder verschlechtert habe, habe man sich entschlossen, den Kläger zunächst weiter zu beobachten. Wegen sich verschlechternder Blutsenkung sei dann am 27. April daß Antibiotikum Fortum gegeben worden. Das EEG habe keine klare Diagnose gestattet. Da Aciclovir nicht zugelassen gewesen sei, habe man erst das Ergebnis der computertomographischen Untersuchung, die am 28. April angeordnet worden sei, aber erst am 29. April habe durchgeführt werden können, abwarten müssen.
18Sie beantragt,
19die Klage unter Abänderung des angefochtenen Urteils abzuweisen.
20Der Kläger beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Er tritt der Berufung entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil.
23Er meint, die damals noch fehlende Zulassung von Aciclovir zur Bekämpfung von Herpes-Encephalitis habe seinem Einsatz nicht entgegengestanden. Es sei nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft im Gegenteil zwingend erforderlich gewesen, dieses Mittel bereits bei Verdacht auf diese Erkrankung einzusetzen, weil dies die einzig erfolgsversprechende Therapie gewesen sei. Schädliche Nebenwirkungen seien praktisch nicht zu befürchten gewesen. Die Ärzte hätten fehlsam an die Möglichkeit einer Hirnentzündung gar nicht gedacht, obwohl sie hierauf von den Zeugen C und Dr. B hingewiesen worden seien. EEG und CT seien grundlos viel zu spät durchgeführt worden. Bei sofortigem Einsatz dieser diagnostischen Maßnahmen hätte sich der Verdacht auf Hirnentzündung bestätigt.
24Wegen aller Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sowie die im Berufungsrechtzug gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
25Der Senat hat weiter Beweis erhoben durch Vernehmung des Sachverständigen Prof. Dr. L. Wegen des Ergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift vom 28. März 1990 Bezug genommen.
26E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
27Die nach §§ 511, 511 a ZPO statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 516, 518, 519 ZPO) und damit insgesamt zulässig. Sie ist sachlich jedoch nicht gerechtfertigt.
28Dem Kläger steht ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld gemäß §§ 823 Abs. 1, 847, 831, 30, 31 BGB gegen die Beklagte zu. Die Einstandspflicht der Beklagten für die materiellen Schäden beruht auf schuldhafter Vertragsverletzung in Verbindung mit §§ 278, 30,31 BGB und auf unerlaubter Handlung.
29I.
30Den Ärzten der Beklagten sind anläßlich der stationären Behandlung des Klägers Fehler im diagnostischen und therapeutischem Bereich vorzuwerfen.
311. Als der Kläger am Sonntagmorgen erneut einen Krampfanfall mit Halbseitenbetonung erlitt, war die nach dem Aufnahmebefund getroffene Verdachtsdiagnose Fieberkrampf als alleinige Ursache ausgeschlossen. Differentialdiagnostisch war spätestens nunmehr an eine eitrige Meningitis und eine Encephalitis zu denken. Das hat der Sachverständige Prof. Dr. L überzeugend dargelegt. Dessen Meinung wird auch von Dr. F, der an diesem Tage als einer von zwei leitenden Ärzten der Kinderabteilung den Kläger mitbehandelte, geteilt. Er hat die Lumbalpunktion veranlaßt, um anhand einer Liquoruntersuchung festzustellen, ob eine bakterielle Entzündung (Meningitis) vorläge. Nach seinen Erklärungen vor dem Senat hat er ferner den Verdacht einer Encephalitis gehegt. Bei dieser Sachlage durfte man sich nicht darauf beschränken, den Kläger, abgesehen von einer Untersuchung des Augenhintergrunds, zunächst nur weiter zu beobachten. Da die Liquoruntersuchung keinen Hinweis auf ein akutes bakteriellentzündliches Geschehen erbracht hatte, mußte dem Encephalitiverdacht weiter nachgegangen werden. Zur weiteren Abklärung waren eine EEG-Ableitung und ein CT zu fertigen, wobei dem CT insofern der Vorrang zu geben war, als dieses zugleich für den Ausschluß anderer behandlungsbedürftiger Behandlungen (intercranielle Blutung, Hirnabzeß) dienlich war, wie der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten vom 25. April 1989 ausgeführt hat.
32Das Ergebnis der Liquoruntersuchung bot im übrigen auch deshalb Veranlassung zu den weiteren diagnostischen Maßnahmen, weil die Zahl der weißen Blutkörperchen im Liquor mit 72/3 unnormal hoch war und auf eine mögliche Encephalitis hindeutete, es sei denn, sie beruhte auf einer Beimengung von artifiziellem Blut, was abzuklären gewesen wäre. Dabei ist es unerheblich, ob eine weitere Lumbalpunktion am Widerstand der Angehörigen des Klägers scheiterte, wie die Beklagte behauptet. Auch ohne weitere Abklärung bot sich bei diesem Befund zumindest ein Hinweis, der geeignet war, die ohnehin gegebene Verdachtsdiagnose zu stützen. Die aus medizinischer Sicht unvernünftige Ablehnung einer bestimmten Maßnahme darf den Arzt nicht dazu veranlassen, andere Maßnahmen ebenfalls zu unterlassen. Im Gegenteil ergibt sich dann die Notwendigkeit zur Durchführung der anderen Maßnahmen umso dringlicher.
33Daß der zweite Behandlungstag auf einen Sonntag fiel und der Klinikbetrieb deshalb möglicherweise etwas eingeschränkt lief, entlastet die Behandlungsseite nicht. Der EEG-Befund hätte erhoben werden können. Das hat Dr. F vor dem Senat eingeräumt. Um einen CT-Befund, der mangels Vorhandensein des nötigen technischen Geräts in der Klinik der Beklagten nicht erhoben werden konnte, hätte eine andere Klinik (etwa die städtische Klinik in D) gebeten werden können. Notfalls hätte der Kläger überhaupt in eine andere, besser ausgestattete Klinik wie die des RWTH A verlegt werden müssen. Das klinische Bild (herdförmige Krampfanfälle, rezidivierende Fieberschübe) und die erhobenen Befunde ließen es jedenfalls nicht zu, auf wichtige diagnostische Maßnahmen zu verzichten, weil es am nötigen Gerät fehlte.
34Die dargelegten diagnostischen Maßnahmen wären nach Auffassung des Sachverständigen nur verzichtbar gewesen, wenn sich die behandelnden Ärzte entschlossen hätten, aufgrund der bloßen Verdachtsdiagnose bereits am Sonntag mit Aciclovir zu therapieren. Das ist indessen nicht geschehen.
352. Den behandelnden Ärzten sind auch am folgenden dritten Behandlungstag Fehler unterlaufen.
36Die EEG-Befundung ist unrichtig. Das EEG zeigt nämlich Veränderungen, die - wie der Sachverständige ausgeführt hat - zwar nicht spezifisch für eine Herpes-Encephalitis sind, die aber bei einer Herpes-Encephalitis im Kleinkindalter typischerweise vorkommen. "Die rhythmische, über den Schläfenlappen des Gehirns betont auftretende Verlangsamung muß an Herpes-Encephcilitis denken lassen" (vgl. Gutachten Prof. L s. 7, BI. 180 d. A.) .
37Entgegen der Berufungsbegründung war dieser Befund nicht erst ex post bei Kenntnis des späteren Krankheitsverlaufs zu erkennen. Dr. F hat vor dem Senat auf Vorhalt erklärt, es sei richtig, daß das EEG den Herpes-Encephalitis-Verdacht stütze und der dokumentierte in Worten formulierte Befund insoweit falsch sei. Er habe sich seinerzeit das EEG nicht selbst angesehen.
38Zudem ist auch an diesem Tag die unverändert erforderliche CT-Untersuchung unterblieben. Die weiterhin auftretenden fokalen Krampfanfälle und die rezidivierenden Fieberschübe duldeten kein weiteres Zuwarten bis die Untersuchung am nächsten Tag bei dem niedergelassenen Radiologen durchgeführt werden konnte. Die Beklagte hat nicht dargetan, daß die Untersuchung anderweitig nicht durchführbar gewesen wäre.
393. In therapeutischer Hinsicht ist der Behandlungsseite ein zu später Einsatz von Aciclovir zur Bekämpfung der Herpes-Encephalitis vorzuwerfen, was wesentlich auf der ungenügenden und fehlerhaften Diagnostik beruht.
40Im Behandlungszeitpunkt war der Einsatz von Aciclovir gegen Herpes-Encephalitis eine klinisch gängige Praxis. Die Wirksamkeit des Mittels war aufgrund von Studien an großen Patientenzahlen (Sköldenberg, erschienen 1984; Witley, erschienen 1986 und Prange, erschienen 1985) belegt. Auch in dem Standartwerk Therapie der Krankheiten des Kindesalters, Springerverlag Heidelberg, 3. Aufl. 1985, ist angegeben, daß die Behandlung der Herpes-Encephalitis mit Aciclovir über das Versuchsstadium hinaus sei und sich als wirksam erwiesen habe, dieses Mittel heute zur Verfügung stehe, wobei allerdings einleitend darauf hingewiesen ist, die Behandlung sei in Einzelfällen versucht worden.
41Nach den Ausführungen des Sachverständigen ist der Einsatz dieses Mittels bereits bei zureichendem Verdacht auf die Erkrankung indiziert. Das hat zum einen seinen Grund darin, daß der Herpesvirus nur serologisch sicher festgestellt werden kann, dies aber wiederum soviel Zeit in Anspruch nimmt, daß die Therapie zu spät käme, wenn der serologische Befund abgewartet werden würde. Zum anderen birgt ein frühzeitiger, im Ergebnis nicht indizierter Einsatz des Mittels keine wesentlichen Gefahren. Relevante Nebenwirkungen kommen bei intakter Nierenfunktion, die beim Kläger vorhanden war, praktisch nicht vor. Es besteht allein die theoretische Möglichkeit der Entwicklung von Virusstämmen, die gegen das Medikament Resistenzen entwickeln können.
42Die Beklagte bestreitet im Grundsatz auch nicht, daß Aciclovir schon bei Herpes-Encephalitis-Verdacht einzusetzen ist. Ihre Ärzte haben nach Vorliegen des CT, das "im Zusammenhang mit den klinischen Befunden mit hoher Wahrscheinlichkeit eine herdförmige Encephalitis" ergab (so der radiologische Befund vom 28.04.1987), ebenfalls Aciclovir verabreicht. Dabei kommt es nicht darauf an, daß Aciclovir im Sinne der Vorschriften des Arzneimittelgesetzes noch nicht als Medikament gegen diese Erkrankung zugelassen war. Der Kläger weist mit Recht darauf hin, daß das Arzneimittelgesetz nicht die therapeutische Freiheit des Arztes einschränkt, d. h. es verbietet ihm nicht, ein Medikament, das gegen bestimmte Erkrankungen "auf dem Markt" ist, auch gegen eine andere Erkrankung einzusetzen, wenn , dies medizinisch geboten ist. Letzteres ist jedenfalls dann der Fall, wenn es medizinisch wissenschaftlich erprobt ist und die Nebenwirkungen bekannt sind, was hier der Fall war.
43Entscheidend ist nach allem, wann konkret der Zeitpunkt zum Einsatz von Aciclovir gekommen war. Der Sachverständige L hat die Auffassung vertreten, jedenfalls nach Vorliegen des EEG-Befundes am 27.04. habe sich ein zureichender Verdacht für den Einsatz des Mittels ergeben. Das überzeugt. Der Be- fund ergibt Veränderungen, die typischerweise bei einer Herpes-Encephalitis im Kindesalter vorkommen, die klinischen Befunde standen damit. im Einklang. Unter diesen Umständen war eine weitere Absicherung der Diagnose im Hinblick auf die relative Ungefährlichkeit des einzusetzenden Mittels unnötig.
44Selbst wenn man aber der Beklagten folgt und eine weitere Absicherung der Diagnose mittels CT für erforderlich hält, ergibt sich nichts anderes. Ein sofort anzufertigendes CT hätte entweder die Veränderungen im Hirn bestätigt und dann selbstverständlich den unverzüglichen Einsatz des Mittels zur folge haben müssen, oder es hätten sich keine Veränderungen gezeigt, was aber auch zur Annahme von Herpes- Encephalitis geführt hätte, denn es ist für diese Erkrankung gerade charakteristisch, daß sich die EEG-Veränderungen bereits in der Frühphase zeigen, während das CT noch bis zum dritten Tage nach Manifestwerden der neurologischen Herdsymptome normal sein kann, wie der Sachverständige unter Bezugnahme auf die Studie von P (Bl. 109 bis 119 d. A.) dargelegt hat.
45Ob der Einsatz des Mittels darüber hinaus bereits am zweiten Behandlungstag angezeigt war, wie der Sachverständige mit Blick auf die von ihm selbst geübte Praxis meint, kann offen bleiben. Dafür spricht allerdings, daß die unbehandelte oder zu spät behandelte Herpes-Encephalitis eine außergewöhnlich hohe Letalitätsrate von bis zu 70% hat; (so Prange a.a.O.), während ein objektiv nicht gerechtfertigter Einsatz von Aciclovir keine nennenswerten Risiken birgt. Hinzu kommt, daß es der Sachverständige wegen des deutlichen EEG-Befundes für wahrscheinlich gehalten hat, daß sich bei einer EEG-Ableitung bereits am Vortag diagnostisch hinweisende Veränderungen gezeigt hätten, möglicherweise auch im CT. Ob insoweit ein positiver Befund zum Nachteil der Beklagten zu unterstellen wäre (vgl. dazu BGH NJW 1988, 2949), braucht der Senat nicht zu entscheiden.
46Die Beklagte versucht vergeblich einen Behandlungsfehler deshalb in Abrede zu stellen, weil Aciclovir noch innerhalb des "günstigen Therapiezeitraums" von drei bis vier Tagen nach Beginn der neurologischen Symptome verabreicht worden ist. Der Sachverständige hatte dazu dargelegt, daß es naturwissenschaftlicher Logik entspricht, die Heilungschancen umso günstiger zu beurteilen je früher die Therapie einsetzt. Nach den wissenschaftlichen Studien liege die kritische Grenze für eine möglicherweise erfolgreiche Therapie mit Aciclovir bei dem vierten bis sechsten Krankheitstag. Die Angaben in der Literatur beruhten aber darauf, daß - ähnlich wie im Streitfall - in der Regel eine Zeit vergehe, bis sich auch nur der Verdacht einer Herpes-Encephalitis herausstelle und besage nicht, daß es nicht besser wäre, noch früher mit der Behandlung zu beginnen. Die Angaben besagen nur, daß nach diesem Zeitpunkt praktisch keine Aussicht mehr bestehe, den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen. Das überzeugt. Es liegt auf der Hand, daß eine Viruserkrankung, wie die Herpes-Encephalitis, insbesondere im Hinblick auf die Vermehrung der Erreger in dem erkrankten Organismus umso wirkungsvoller bekämpft werden kann, je früher das Medikament gegeben wird, das die Viren angreift.
47II.
48Das Landgericht hat der Beklagten mit Recht als Folge des verspäteten Einsatzes Von Aciclovir die Hirnschädigung des Klägers angelastet.
491. Allerdings hat der Kläger nicht bewiesen, daß seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei rechtzeitiger Bekämpfung der Herpes-Encephalitis vermieden worden wären. Der Sachverständige hat zu der Frage, ob sich der Krankheitsverlauf des Klägers günstiger gestaltet hätte, wenn er früher mit Aciclovir behandelt worden wäre, ausgeführt, daß auch bei optimalen Voraussetzungen, d. h. bei frühzeitiger Diagnose und sofortigem Therapiebeginn noch 19 bis 28% der Patienten sterben und bis zu 25% Dauerschäden erleiden, also nur etwa 50% die Krankheit folgenlos überstehen. Es sei keineswegs so, daß Aciclovir in jedem Falle eine Herpes-Encephalitis heile. Seine Darlegungen beruhen auf den wissenschaftlichen Untersuchungen von Sköldenberg und Witley. Auch nach den Feststellungen von P liegt die Letalitätsrate bei Anwendung von Aciclovir (noch) bei 20 %.
50Bei dieser Sachlage ist die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für den Gesundheitsschaden nicht bewiesen. Zwar ist möglich, daß ein um 24 Stunden frühzeitigerer Einsatz von Aciclovir den Krankheitsverlauf günstig beeinflußt hätte; die Chancen des Klägers wären besser gewesen. Das genügt jedoch nicht. Die Ursächlichkeit ist erst bewiesen, wenn dafür eine derart hohe Wahrscheinlichkeit spricht, daß Zweifel schweigen, ohne sie völlig auszuschließen (BGH NJW 1970, 946; 1973, 1925). Auf der anderen Seite steht aber auch nicht fest, daß der frühere Einsatz von Aciclovir den Kausalverlauf in bezug auf den Heilungsprozeß nicht für den Kläger günstig beeinflußt hätte.
512. Die danach verbleibenden Zweifel an der Ursächlichkeit des Fehlers für die Gesundheitsbeeinträchtigung des Klägers gehen zu Lasten der Beklagten. Die Behandlungsseite trifft nämlich der Vorwurf des groben Behandlungsfehlers.
52Ob ein Behandlungsfehler als grob zu qualifizieren ist, hängt im wesentlichen vom Einzelfall ab, insbesondere davon, ob er die Aufklärung des Krankheitsverlaufs besonders erschwert. Zwar sind generelle Definitionen nur bedingt tauglich (vgl. Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 3. Aufl. , Seite 118), in Frage kommen aber vor allem Verstöße gegen elementare Behandlungsregeln, gegen elementare Erkenntnisse der Medizin (vgl. etwa BGH VersR 1986, 366), therapeutisch insbesondere grundloses Nichtanwenden einer Standardmethode zur Bekämpfung bekannter Risiken (vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Steffen a.a.O., Seite 121/122). Von besonderer Bedeutung ist dabei, ob der Fehler im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Behandlungsgeschehens unter Berücksichtigung der konkreten Umstände (vgl. BGH NJW 1988, 1511) aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabs nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint (vgl. BGH NJW 1983, 2080). Ein Diagnoseirrtum im Sinne einer Fehlinterpretation der erhobenen Befunde ist dann als grob zu bezeichnen, wenn es sich um einen fundamentalen Irrtum handelt (BGH NJW 1988, 1513), wobei ferner gravierend das Nichterheben gebotener Kontrollbefunde ins Gewicht fällt.
53Gemessen an diesen Grundsätzen erscheint das Behandlungsverhalten der Ärzte der Beklagten als grob fehlerhaft.
54Obwohl der leitende Arzt der Kinderabteilung, der sicherlich über ein höheres Maß an Erfahrung verfügte als die Assistenzärzte und der Stationsarzt, bereits am zweiten Behandlungstag den Verdacht auf Encephalitis hegte, sind ganz wesentliche diagnostische Maßnahmen zur Verifizierung dieses Verdachts erst mit jeweils einem Tag Verzögerung ergriffen worden. Das erscheint für sich genommen schon nicht verständlich. Bei den von einer Encephalitis bekanntermaßen ausgehenden schweren Gefahren für Leben und Gesundheit des Erkrankten mußten unverzüglich alle Versuche unternommen werden, ein Höchstmaß an Klarheit zu gewinnen, um eine wirksame Therapie einleiten zu können. Nach Lage der Sache kamen neben einer erneuten Lumbalpunktion ersichtlich nur ein EEG und/oder ein CT in Betracht. Nur so konnten mit einigermaßen Aussicht auf Erfolg eine beginnende oder bereits vorhandene Veränderung im Hirn des Kranken als Folge einer Encephalitis erkannt werden. Es gab keinen vernünftigen Grund für ein weiteres Abwarten. Ein (bloßer) fieberhafter Infekt oder ein bakteriell-entzündliches Geschehen war nach den erhobenen Befunden unwahrscheinlich.
55Die Fehlbeurteilung des EEGs am 27. April stellt sich nach dem Sachverständigengutachten als fundamentaler Irrtum dar. Es war eben nicht "weitgehend unauffällig", sondern zeigte schwere herdförmige Verlangsamungen über der linken Hemisphäre, betont über der Temporalregion. Das war eindeutig feststellbar, wie Dr. F im Senatstermin eingeräumt hat. Es erscheint auch schlechterdings nicht verantwortbar, daß Dr. F, der über den gesamten Behandlungsverlauf und die Schwere der Erkrankung des Klägers informiert war, den EEG-Befund nicht selbst kontrolliert hat. Das klinische Bild war mit einem unauffälligen EEG-Befund nur schwer in Einklang zu bringen.
56Auch der verzögerte Einsatz von Aciclovir ist nicht verständlich. Die Therapie mit diesem Mittel muß nach den Ausführungen des Sachverständigen als Standardmethode zur Bekämpfung von Herpes-Encephalitis angesehen werden, weil es erprobt ist und sich als einzig nachhaltig erfolgversprechendes Mittel herausgestellt hat. Diese Kenntnis mußte von den Ärzten der Kinderabteilung der Beklagten erwartet werden. Die fehlende Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz ändert daran nichts. Dieser Umstand konnte allenfalls Veranlassung geben, vor Anwendung des Mittels bei den spezialisierten Fachkliniken der Universitäten Köln, Aachen, Bonn Düsseldorf oder Essen telefonische Auskünfte über den Zeitpunkt des Einsatzes und etwa zu befürchtende Nebenwirkungen einzuholen, um Gewißheit über das therapeutische Vorgehen zu erlangen. Ein solches Verhalten ist zur Abwendung unmittelbar drohender schwerer Gefahren nicht nur zumutbar, sondern im Interesse des Patienten sogar geboten. Im übrigen zeigt die Tatsache, daß Aciclovir schließlich doch gegeben wurde, daß die fehlende Zulassung nach dem Arztheilmittelgesetz von den Ärzten der Beklagten nicht als Hindernis für den Einsatz des Medikaments bewertet wurde.
57Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BGH Vers.R 1986, 366, 367; NJW 1988, 2949) reicht es im Falle eines groben Behandlungsfehlers für die Haftung aus, daß der Fehler generell zur Verursachung des eingetretenen Schadens geeignet ist; wahrscheinlich braucht der Eintritt eines solchen Erfolges nicht zu sein. Vorliegend steht außer Zweifel, daß der um mindestens 24 Stunden verzögerte Einsatz von Aciclovir generell geeignet war, die Heilungschancen zu verringern oder umgekehrt durch einen entsprechend früheren Einsatz des Mittels sich die Chancen des Klägers verbessert hätten auf eine vollständige Heilung oder zumindest eine günstigere Beeinflussung des Krankheitsverlaufs mit der Folge geringerer dauernder Beeinträchtigungen.
58Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
59Wert der Beschwer für die Beklagte und zugleich Berufungsstreitwert: 140.000,00 DM.