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1. Die in italienischen Vollzugsanstalten erlittene Auslieferungshaft ist gem. § 51 Abs. 4 S. 2 StGB im Verhältnis 1:1 anzurechnen.
2. Verfahrensverzögerungen im Beschwerdeverfahren führen nicht zwangsläufig zur Unverhältnismäßigkeit der Haftanordnung. Erforderlich für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist eine Abwägung, die neben dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse auch das Recht des Beschuldigten auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG berücksichtigt (BVerfG NStZ-RR 2023, 80).
Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten (§ 473 Abs. 1 StPO) als unbegründet verworfen.
Gründe
2Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Antragsschrift unter anderem ausgeführt:
3„II.
4Die gem. § 304 Abs. 1 StPO statthafte, nicht fristgebundene (Haft-)Beschwerde gegen den nationalen Haftbefehl sowie gegen den europäischen Haftbefehl ist zulässig. In der Sache ist der (Haft-)Beschwerde jedoch der Erfolg zu versagen.
51.
6Die Beschwerde gegen den Haftbefehl des Landgerichts Essen ist unbegründet, weil die Voraussetzungen für den Erlass und den Vollzug eines Haftbefehls weiterhin vorliegen.
7a)
8Der Angeklagte ist der im Haftbefehl des Landgerichts Essen vom 20.02.2017 [gemeint offenkundig 12.07.2017; der Senat] näher dargelegten Taten weiterhin dringend verdächtig. Insoweit wird Bezug genommen auf die zutreffenden und überzeugenden Ausführungen in dem vorbezeichneten Haftbefehl, die Ausführungen im Senatsbeschluss vom 16.05.2017 sowie dem Senatsbeschluss vom 10.12.2019.
9b)
10Auch der Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht aus den fortgeltenden Gründen des Haftbefehls des Landgerichts Essen vom 20.02.2017 [gemeint offenkundig 12.07.2017; der Senat] sowie den Senatsbeschlüssen vom 16.05.2017 und vom 10.12.2019 weiterhin fort. Dass der Angeklagte nicht bereit ist, sich dem Strafverfahren zu stellen, hat er zudem eindrucksvoll dadurch bewiesen, dass er auch nach Aufhebung des Auslieferungshaftbefehls in Italien erneut untergetaucht und seitdem flüchtig ist.
11c)
12Der vertieften Erörterung bedarf daher lediglich die Frage, ob der Haftbefehl des Landgerichts Essen vom 20.02.2017 [gemeint offenkundig 12.07.2017; der Senat] weiterhin verhältnismäßig ist. Diese Frage ist entgegen der Auffassung der Verteidigung zu bejahen. Hierzu im Einzelnen:
13aa)
14Der Vollzug von Untersuchungshaft erweist sich insbesondere dann als verhältnismäßig, wenn er zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis steht. Dementsprechend erweist sich der weitere Vollzug von Untersuchungshaft regelmäßig dann als unverhältnismäßig, wenn die Untersuchungshaft die Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe entweder bereits vollständig erreicht oder zumindest einen so erheblichen Zeitrahmen erfasst, dass der nach Anrechnung der Untersuchungshaft verbleibende Strafrest nur noch einen Bruchteil der zu erwartenden Freiheitsstrafe ausmacht (zu vgl. MüKo-StPO/Böhm, 2. Aufl., StPO, § 212, Rn. 32; KK-StPO/Graf, 9. Aufl., StPO, § 112, Rn. 45 f.; Beck-OK/StPO/Krauss, 53. Ed., StPO, § 112, Rn. 43 ff.; KG, Beschluss vom 15.03.2019 - 4 Ws 24/19 - 121 AR 47/19 -). Dabei ist bei der anzurechnenden Untersuchungshaft grundsätzlich auch die im Ausland auf Grundlage eines nationalen Haftbefehls verbüßte Auslieferungshaft zu berücksichtigen (zu vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 16.11.2021 - Ws 1069/21 -; KG, Beschluss vom 15.03.2019 - 4 Ws 24/19 - 121 AR 47/19 -; Beck-OK/StPO/Krauss, 53. Ed., StPO, § 112, Rn. 45).
15bb)
16An diesen Maßstäben gemessen erweist sich die Aufrechterhaltung des Haftbefehls des Landgerichts Essen vom 20.02.2017 [gemeint offenkundig 12.07.2017; der Senat] nicht als unverhältnismäßig.
17Zunächst ist festzustellen, dass derzeit Untersuchungshaft nicht vollzogen wird. Der einzige, anrechenbare Vollzug von Haft hat bislang im Rahmen der Vollstreckung der Auslieferungshaft in Italien stattgefunden. Der insoweit vollzogene Zeitraum beläuft sich auf sechs Monate. Mit Blick auf die erhebliche Straferwartung, die jedenfalls eine Freiheitsstrafe im bewährungsfähigen Bereich ausschließt und die sich - wie auch vom Landgericht Essen zutreffend angenommen - eher an den bereits verhängten Freiheitsstrafen orientieren dürfte, ist derzeit nicht ansatzweise erkennbar, dass bereits durch den Vollzug der Auslieferungshaft ein anzurechnender Zeitraum entstanden ist, der dazu führen würde, dass nur noch ein Bruchteil der zu erwartenden Freiheitsstrafe zu vollstrecken wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Insoweit stellt der Zeitraum der bislang vollzogenen Auslieferungshaft ein Bruchteil desjenigen Zeitraums dar, der als Straferwartung realistischerweise im Raum steht.
18Hieran ändern auch die vom Angeklagten behaupteten unmenschlichen Haftbedingungen in der Justizvollzugsanstalt in P. nichts. Insoweit ist zunächst anzumerken, dass der Haftbefehl nicht deshalb unverhältnismäßig ist, weil die im Ausland erlittene Auslieferungshaft sich möglicherweise physisch oder psychisch erschwerender ausgewirkt hat als der Vollzug im Inland. Denn selbst wenn man solche Erschwerungen zugrunde legen würde, ist hervorzuheben, dass diese durch den Angeklagten schuldhaft selbst veranlasst worden sind, indem er sich dem Strafverfahren durch Flucht nach Italien entzogen hat. Nur durch dieses eigene Verhalten ist es dazu gekommen, dass der Angeklagte in Italien auf Grundlage des erlassenen europäischen Haftbefehls festgenommen und in Auslieferungshaft verbracht worden ist. Dementsprechend sind mögliche besondere Erschwerungen durch die Inhaftierung im Ausland regelmäßig nicht geeignet, die Unverhältnismäßigkeit des Haftbefehls zu bewirken. Denn zum einen haben deutsche Gerichte und deutsche Behörden keinen unmittelbaren Einfluss auf die Durchführung, die Dauer und die Ausgestaltung der Auslieferungshaft im Ausland. Dementsprechend stellt der Vollzug der Auslieferungshaft in Italien keinen der Bundesrepublik Deutschland oder ihren Gerichten oder Behörden zurechenbaren Eingriff in die Freiheitsrechte des Beschuldigten dar. Vielmehr ist es eine innerstaatliche Angelegenheit des ersuchten Staates, ob und unter welchen Voraussetzungen er den Beschuldigten zum Zwecke der Auslieferung in Untersuchungshaft nimmt. Dementsprechend kann der Einwand menschenunwürdiger Haftbedingungen in der Auslieferungshaft nicht im Beschwerdeverfahren gegen den Haftbefehl geprüft werden. Denn anderenfalls hätte es der Beschuldigte in der Hand, sich durch eine Flucht in einen entsprechenden Staat dem Strafverfahren dauerhaft zu entziehen und sich weiter frei bewegen zu können (zu vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 16.11.2021 - Ws 1069/21 -; OLG München, Beschluss vom 03.02.1982 - 1 Ws 44/82 -).
19Nichts Anderes folgt aus der Überlegung der Verteidigung, dass die in Italien vollzogene Auslieferungshaft ggf. in einem Verhältnis 3:1 oder zumindest 2:1 anzurechnen wäre. Denn unter Zugrundelegung des Grundsatzes, dass der Beschuldigte im Haftbeschwerdeverfahren mit menschenunwürdigen Haftbedingungen in der Auslieferungshaft grundsätzlich nicht gehört werden kann, wäre es inkonsequent, dies über eine entsprechende Anrechnung zu ermöglichen. Dies gilt umso mehr, als dass das Haftbeschwerdeverfahren nicht der geeignete Ort sein dürfte, um die entsprechenden Haftbedingungen in der Justizvollzugsanstalt in P. weiter aufzuklären, zumal es sich bislang nur um Behauptungen des Angeklagten handelt, die durch entsprechende Dokumente nicht belegt sind. Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass hier Entscheidungen des hiesigen, für Auslieferungsverfahren zuständigen 2. Strafsenats oder auch anderer Strafsenate anderer Oberlandesgerichte zur Unzulässigkeit der Auslieferung nach Italien nicht bekannt sind. Dies wäre aber deshalb zu erwarten gewesen, weil durch die Gerichte zu prüfen ist, ob es im Falle der Bewilligung der Auslieferung unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im Anschluss an ihre Übergabe einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt wird, wozu es einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen bedarf. Schließlich ergibt sich auch aus der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass grundsätzlich in Italien verbüßte Auslieferungshaft im Verhältnis 1:1 anzurechnen ist (zu vgl. BGH, Beschluss vom 18.08.2020 - 3 StR 206/20 -; Beschluss vom 12.07.2016 - 2 StR 440/15 -; Beschluss vom 15.04.2014 - 3 StR 89/14 -). Vor diesem Hintergrund hilft auch der Hinweis der Verteidigung auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 02.02.1987- 3 Ws 589/86 - nicht weiter. Denn bereits aus dem Entscheidungsdatum ergibt sich, dass die dort getroffenen Feststellungen nicht mehr aktuell sind und damit Rückschlüsse auf die zur Zeit des Vollzugs der Auslieferungshaft vorherrschenden Haftbedingungen nicht zulassen.
20Selbst wenn man indes einen Anrechnungsmaßstab von 2:1 zugrunde legen würde, würde gleichwohl noch eine so erhebliche Reststraferwartung bestehen, dass diese ohne Weiteres geeignet ist, die Fluchtgefahr zu begründen. Dies gilt umso mehr, als es sich insoweit auch nicht nur um einen Bruchteil der insgesamt zu erwartenden Strafe handeln würde.
21Soweit der Angeschuldigte geltend macht, die Unverhältnismäßigkeit der Auslieferungshaft ergebe sich auch aus dem Umstand, dass durch die italienische Justiz Verfahrensfehler begangen worden seien, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Dementsprechend gilt auch hier der Grundsatz, dass deutsche Gerichte keine unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten auf die Durchführung des Auslieferungsverfahrens haben und daher mögliche Verfahrensfehler keine der Bundesrepublik Deutschland sowie ihren Gerichten zurechenbare Eingriffe in die Freiheitsrechte des Beschwerdeführers darstellen. Ungeachtet des Umstandes, dass die behaupteten Verfahrensmängel bislang nicht belegt worden sind, wäre es im Übrigen auch Sache des Beschwerdeführers gewesen, sich mit den nach italienischem Recht hierfür vorgesehenen Rechtsmitteln entsprechend zur Wehr zu setzen. Verabsäumt er dies, führt dies nicht zur [Un-]Verhältnismäßigkeit des Haftbefehls.
222.
23Auch die statthafte sowie im Übrigen zulässige Beschwerde gegen den europäischen Haftbefehl ist unbegründet.
24Denn Grundlage des europäischen Haftbefehls, bei dem es sich letztlich um ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung basierenden Instrument der strafrechtlichen Zusammenarbeit handelt, ist der nationale Haftbefehl. Nachdem dieser jedoch - wie oben dargelegt - weiterhin verhältnismäßig ist, kann für den europäischen Haftbefehl nichts Anderes gelten.“
25Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an und merkt ergänzend hierzu an:
26Der Senat teilt insbesondere die Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft, dass die Aufrechterhaltung sowohl des nationalen Haftbefehls als auch des europäischen Haftbefehls verhältnismäßig ist.
271)
28Auch unter Berücksichtigung der in Italien erlittenen sechsmonatigen Auslieferungshaft hat der Angeklagte weiterhin mit der Verbüßung einer empfindlichen, mehrjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen.
29a)
30Der Angeklagte hat – wie seine Mittäter – wegen der ihm vorgeworfenen Beteiligung an der Quecksilberverbringung in die Schweiz die Verhängung einer im nicht mehr bewährungsfähigen Bereich liegenden Freiheitsstrafe zu erwarten. Zwar soll der Angeklagte in deutlich geringerem Maße als seine Mittäter M. und X. von den Taterträgen profitiert haben (17% statt 35% M. und X.). Bei den Mittätern konnten jedoch jeweils das frühzeitige, verfahrensverkürzende, vollumfängliche Geständnis, die erhebliche Aufklärungshilfe, die Mitwirkung bei der Sicherung möglicher Wertersatzverfallansprüche und die Zurverfügungstellung erheblicher Vermögenswerte im Rahmen der Rückgewinnungshilfe strafmildernd gewürdigt werden. Diese wesentlichen Strafmilderungsfaktoren liegen bei dem Angeklagten voraussichtlich nicht vor. Zudem kommt dem Umstand, dass die Straftaten nun deutlich länger zurückliegen, keine maßgebliche Bedeutung zu, da dieser vor allem seine Ursache darin hat, dass der Angeklagte sich dem Strafverfahren nicht stellt.
31b)
32Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist auch nicht damit zu rechnen, dass das erkennenden Tatgericht die in der italienischen Vollzugsanstalt P. (F.) erlittene Auslieferungshaft gem. § 51 Abs. 4 S. 2 StGB im Verhältnis 1:2 oder sogar 1:3 anrechnen wird. Nicht jede dem Inhaftierten nachteilige Abweichung von den Verhältnissen in einer deutschen Haftanstalt vermag die Wertung besonders schwerer Haftbedingungen zu begründen, die die Anwendung eines dem Verurteilten günstigeren Anrechnungsmaßstabes angemessen erscheinen ließe (KG Berlin, Beschluss vom 5. Juni 1998 – 1 AR 541/98 - 5 Ws 308/98 –, juris). Nach gefestigter Rechtsprechung, auch des Bundesgerichthofs, ist die in italienischen Vollzugsanstalten erlittene Haft im Verhältnis 1:1 anzurechnen (BGH, Beschluss vom 18.08.2020 – 3 StR 206/20 –, juris; BGH Beschluss vom 12.07.2016 – 2 StR 440/15, BeckRS 2016, 13941, beck-online; BGH Beschluss vom 08.10.2002 - 3 StR 294/02 – nicht veröffentlicht, zitiert bei Seebode in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltkommentar, 3. Auflage 2020, § 51 StGB, Rn. 18; KG Berlin, Beschluss vom 05.06.1998 – 1 AR 541/98 - 5 Ws 308/98 –, juris; LG Braunschweig, Urteil vom 16.12.2019 – 1 KLs 71/19 –, juris). Das Beschwerdevorbringen zu den Haftverhältnissen in P. gibt keinen Anlass, die Bestimmung eines abweichenden Anrechnungsmaßstabes zu erwarten.
332)
34Die Unverhältnismäßigkeit des nationalen und europäischen Haftbefehls kann ferner nicht aus etwaigen Verfahrensfehlern der deutschen Strafverfolgungsbehörden im Zusammenhang mit den Auslieferungsbemühungen aus Italien oder aus Verfahrensfehlern der italienischen Strafverfolgungsbehörden während des dortigen Auslieferungsverfahrens hergeleitet werden.
35a)
36Soweit die Beschwerde rügt, dass ausschließlich der nationale Haftbefehl und – entgegen Art. 8 Abs. 2 S. 1 RB-EuHB – nicht auch der europäische Haftbefehl in die italienische Sprache übersetzt wurde, ist bereits zweifelhaft, ob dieses Vorbringen zutrifft. So ist im Urteil des Appellationsgerichts von D. vom 14.03.2024 (in der deutschen Übersetzung Seite 10) ausdrücklich vermerkt, dass der Europäische Haftbefehl in italienischer Übersetzung vorgelegen habe. Zudem wird auf Seite 15 der deutschen Übersetzung auf den Inhalt des europäischen Haftbefehls näher eingegangen.
37Sollte tatsächlich versehentlich ausschließlich der nationale Haftbefehl übersetzt worden sein (am 09.10.2023 hat der Vorsitzende die Übersetzung des inter(nationalen) Haftbefehls verfügt, Bl. 1700 d.A., die vom Dolmetscherbüro übersandte Übersetzung, Bl. 1702 d.A., bezieht sich indes auf den nationalen Haftbefehl), sind jedenfalls keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass durch diesen Verfahrensfehler das Auslieferungsverfahren behindert worden wäre, zumal den italienischen Behörden und Gerichten jedenfalls der nationale Haftbefehl übersetzt vorlag.
38b)
39Ebenfalls zweifelhaft ist die Behauptung des Angeklagten, dass ihm bei Verkündung des Haftbefehls kein Dolmetscher gestellt worden sein soll. Das Urteil des Appellationsgerichts von D. vom 14.03.2024 (in der deutschen Übersetzung Seite 10) führt diesbezüglich ausdrücklich aus, dass der Angeklagte binnen 48 Stunden von einem Ermittlungsrichter mit Hilfe eines deutschsprachigen Dolmetschers vernommen wurde sowie ferner, dass das Appellationsgericht von D. mit Beschluss vom 25.09.2023 die Verhaftung für rechtsgültig erklärt hat (in der deutschen Übersetzung Seite 10).
40Selbst wenn man einen solchen Verstoß gegen die Vorgaben der Richtlinie RL 2010/64/EU betreffend das Recht auf Dolmetschleistungen unterstellt, wird für diesen Fall allerdings – soweit ersichtlich – ausschließlich diskutiert, ob dies zur Unverwertbarkeit der vom Sprachunkundigen in Vernehmungen gemachten Angaben und damit zu einem Beweisverwertungsverbot führt (Simon in: Löwe-Rosenberg, 27. Auflage, § 187 GVG, Rn. 9; Gless in: Löwe-Rosenberg, StPO, 28. Auflage 2025, § 136 StPO, Rn. 104). Dies erachtet der Senat für überzeugend. Verfahrensfehler im Auslieferungsverfahren haben zur Folge, dass der Betroffene sich gegen seine Auslieferung an den ersuchenden Staat zur Wehr setzen kann. Dies hat der Angeklagte vorliegend auch erfolgreich getan. Mit Urteilen vom 08.11.2023 und 25.01.2024 hob der Oberste Gerichtshof Urteile der Vorinstanz auf, weil die Ladung zur Gerichtsverhandlung bzw. die Teilnahmeverzichtserklärung nicht übersetzt worden waren. Es ist indes nicht geboten, einen etwaigen Verfahrensfehler bei der Dolmetscherbestellung aus Verhältnismäßigkeitsgründen auf den Bestand des nationalen und europäischen Haftbefehls durchschlagen zu lassen. Zum einen ist diesbezüglich zu sehen, dass – wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat – die deutschen Strafverfolgungsbehörden keinen unmittelbaren Einfluss auf die Durchführung des Auslieferungsverfahrens in dem um Auslieferung ersuchten Staat haben. Zum anderen belegen die vom Angeklagten in Italien erfolgreich eingelegten Rechtsmittel gerade, dass ihm dort hinreichender Rechtsschutz gegen etwaige Verfahrensfehler eröffnet worden ist.
413)
42Des Weiteren ist die Aufhebung der Haftbefehle auch nicht wegen justizseitig zu verantwortender Verzögerungen im Haftbeschwerdeverfahren geboten.
43a)
44Eine Verletzung des in Haftsachen auch bei der Nichtvollzug der Untersuchungshaft geltenden Beschleunigungsgebots liegt im Zeitraum vom Eingang der Haftbeschwerde beim Landgericht Essen am 15.10.2024 bis zum Fassen des Nichtabhilfebeschlusses am 29.10.2024 (noch) nicht vor.
45Zwar bestimmt § 306 Abs. 2 StPO, dass das Beschwerdegericht im Falle der Nichtabhilfe die Beschwerde spätestens vor Ablauf von drei Tagen dem Beschwerdegericht vorzulegen hat. Obgleich die Vorschrift nicht regelt, welche Folgen eine Fristüberschreitung nach sich zieht, handelt es sich hierbei um keine bloße Ordnungsvorschrift (KG Berlin, Beschluss vom 27. Oktober 2014 – 2 Ws 360/14 –, Rn. 18, juris), sondern um eine der Verfahrensbeschleunigung dienende Sollvorschrift (Matt in: Löwe-Rosenberg, 26. Aufl. 2014, § 306 StPO Rn. 23). In Ausnahmefällen – insbesondere bei besonderer Komplexität der Sache (Peglau, jurisPR-StrafR 4/2023 Anm. 4 m.w.N.) – ist allerdings eine spätere Vorlage für zulässig zu erachten und eine praktische Konkordanz zwischen Beschleunigung und verantwortlicher Entscheidung über die Nichtabhilfe herbeizuführen (Peglau, jurisPR-StrafR 4/2023 Anm. 4).
46Diesen Anforderungen wird die Nichtabhilfeentscheidung in zeitlicher Hinsicht (noch) gerecht. Wie sich dem Vermerk des Berichterstatters vom 29.10.2024 entnehmen lässt, ist diesem die Sache nach seiner Urlaubsrückkehr erstmalig an diesem Tag vorlegt worden und noch am gleichen Tag hat eine Kammerberatung stattgefunden, welche die Nichtabhilfe beschlossen hat. Das Nichtabhilfeverfahren hat damit insgesamt vierzehn Tag gedauert. Auch wenn Haftsachen bei Urlaubsabwesenheit grundsätzlich durch den Vertreter bearbeitet werden müssen (Böhm, in: MünchKomm, 2. Aufl. 2023, § 121 StPO Rn. 65), wäre in diesem Fall nicht mit der zügigeren Herbeiführung einer verantwortlichen Entscheidung zu rechnen gewesen. Es handelt sich um ein besonders umfangreiches und komplexes Verfahren aus dem Umweltstrafrecht, welches zur sachgerechten Einarbeitung und Vorbereitung eines Entscheidungsvorschlags jedenfalls den bis zur tatsächlichen Beschlussfassung verstrichenen Zeitraum benötigt hätte.
47b)
48Nach Abfassen des Vermerks zur Nichtabhilfe am 29.10.2024 ist die Verfahrensakte am 04.11.2024 und damit zeitnah bei der Staatsanwaltschaft eingegangen.
49c)
50Nicht mit der gebotenen Beschleunigung ist das Beschwerdeverfahren hingegen im Folgenden betrieben worden. Auch wenn § 306 Abs. 2 StPO unmittelbar nur die Verfahrensweise bis zur Anordnung der Weiterleitung der Akten beschreibt, darf diese Norm nicht dahin missverstanden werden, dass die nachfolgende – die Anordnung ausführende – Übermittlung der Beschwerde samt Akten (sowie das Abfassen der staatsanwaltschaftlichen Stellungnahme) nunmehr zögerlich erfolgen dürfte (KG Berlin, Beschluss vom 27. Oktober 2014 – 2 Ws 360/14 –, Rn. 16 - 17, juris). Sowohl Sinn und Zweck des § 306 Abs. 2 StPO als auch der allgemeine Beschleunigungsgrundsatz gebieten nach Erlass der Nichtabhilfeentscheidung eine insgesamt vorrangige Bearbeitung des Beschwerdeverfahrens (KG Berlin, Beschluss vom 27. Oktober 2014 – 2 Ws 360/14 –, Rn. 16 - 17, juris). Dies hätte sowohl ein zeitnahes Weiterleiten der Akten an die Generalstaatsanwaltschaft als auch ein zügiges Abfassen der Antragsschrift erfordert, wobei im Hinblick auf Letzteres allerdings erneut Komplexität und Umfang des Verfahrens ebenso wie der Umstand zu berücksichtigen sind, dass auch der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft sich neu in das Verfahren einarbeiten musste. Die letztmalige Befassung der Generalstaatsanwaltschaft mit der Angelegenheit liegt ca. fünf Jahre zurück und die damalige Antragsschrift zur Haftbeschwerde des Angeklagten wurde noch durch einen anderen Dezernenten verfasst. Insgesamt erachtet der Senat unter Berücksichtigung der vorgenannten Umstände für die Weiterleitung der Verfahrensakte und die Abfassung der Antragsschrift einen Zeitraum von drei Wochen als noch mit dem Beschleunigungsgebot in Einklang stehend. Tatsächlich ist die Antragsschrift jedoch erst unter dem 13.01.2025 abgefasst worden, so dass sich die Verfahrensverzögerung auf insgesamt sieben Wochen beläuft.
51d)
52Verfahrensverzögerungen im Beschwerdeverfahren führen indes nicht zwangsläufig zur Unverhältnismäßigkeit der Haftanordnungen (BVerfG NStZ-RR 2023, 80; BGH Beschluss vom 12.08.2015 – StB 8/15, BeckRS 2015, 15121 Rn. 12, KG Berlin NStZ-RR 2015, 18; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 08.08.2000 – 1 Ws 359/00 –, Rn. 6, juris; Schmitt, in: Meyer-Goßner, 67. Aufl. 2024, § 306 StPO Rn. 11; Cirener, in: Beck´scherOK, Stand: 01.01.2025, § 306 StPO Rn. 14, beck-online; Neuheuser, in: MünchKomm, 2. Aufl. 2024, § 306 StPO Rn. 20). Erforderlich für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist eine Abwägung, die neben dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse auch das Recht des Angeklagten auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG berücksichtigt (BVerfG NStZ-RR 2023, 80, beck-online).
53Ausgehend von diesem Maßstab ist vorliegend einerseits zu sehen, dass die Entscheidung des Rechtsschutzbegehrens des Angeklagten um mehrere Wochen und damit einen erheblichen Zeitraum verzögert wurde. In diesem Zeitraum war es dem Angeklagten als Schweizer Staatsbürger faktisch nicht möglich, in einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union einzureisen, ohne seine Verhaftung fürchten zu müssen, zumal er in der Vergangenheit bereits in Österreich und in Italien festgenommen worden ist und Auslieferungsverfahren gegen ihn betrieben wurden. Dies beeinträchtigte den Angeklagten nicht nur in privaten Reisetätigkeiten, sondern als Unternehmer möglicherweise auch in geschäftlichen Angelegenheiten. Ferner ist zu berücksichtigen, dass gegen ihn noch kein erstinstanzliches Strafurteil ergangen ist. Andererseits war in die Abwägung einzustellen, dass angesichts der dem Angeklagten zur Last gelegten schweren Umweltstraftat ein erhebliches Strafverfolgungsinteresse besteht. Zudem sind der nationale und europäische Haftbefehl während des Haftbeschwerdeverfahrens nicht vollzogen worden, so dass die hiervon ausgehende Belastungswirkung gegenüber dem Untersuchungshaftvollzug deutlich abgesenkt war. Insofern besteht vorliegend die Besonderheit, dass der Angeklagte als Schweizer Staatsbürger anders als deutsche Staatsangehörige, die sich verborgen halten oder flüchten müssten, unbehelligt in diesem Zeitraum in seinem Heimatland leben konnte und dies bereits jahrelang getan hat. Bei vollzogener Untersuchungshaft ist eine Gesamtvorlagedauer von 51 Tagen (KG Berlin, Beschluss vom 8. Mai 2014 – 4 Ws 32/14 –, Rn. 9, juris) bzw. eine verspätete Vorlage von rund einem Monat (BVerfG NStZ-RR 2023, 80, beck-online) noch nicht als unverhältnismäßigkeitsbegründend gewertet worden. So verhält es sich nach Auffassung des Senats insbesondere mit Blick auf den fehlenden Vollzug der Untersuchungshaft auch hier, zumal sich die eingetretene Verzögerung des Rechtsschutzes auf die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht entscheidend ausgewirkt hat (siehe hierzu auch BVerfG NStZ-RR 2023, 80). Die verzögerte Aktenvorlage im Haftbeschwerdeverfahren hat die Aufrechterhaltung der Haftbefehle im Ergebnis nicht verlängert (siehe hierzu auch BVerfG NStZ-RR 2023, 80). Der Senat kann ausschließen, dass er bei früherer Befassung mit der Sache eine dem Angeklagten hinsichtlich der Fortdauer der Untersuchungshaft günstigere Entscheidung getroffen hätte. Schließlich ist das strafrechtliche Erkenntnisverfahren in keiner Weise behindert worden. Da der Angeklagte sich dem Verfahren nicht stellt, konnte dies ohnehin nicht betrieben werden.
54Nach der vorzunehmenden Gesamtabwägung erachtet der Senat die Aufrechterhaltung des nationalen Haftbefehls und des europäischen Haftbefehls daher auch unter Berücksichtigung der Verzögerungen im Haftbeschwerdeverfahren nicht als unverhältnismäßig.