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Eine - für die Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen erforderliche - erhöhte Gefahr der Entweichung im Sinne des § 69 Abs. 1 StVollzG NRW setzt eine an konkreten Anhaltspunkten belegte und individuell zu beurteilende Fluchtgefahr voraus, die über die allgemein bei Gefangenen naheliegende Fluchtvermutung hinaus geht und auch die gemäß § 53 Abs. 1 StVollzG NRW der Gewährung von Vollzugslockerungen entgegenstehende Fluchtgefahr übersteigt.
Unabhängig von konkreten, in der Person des Gefangenen liegenden Gründen ist die Fesselung in den Konstellationen des § 69 Absatz 9 StVollzG (Ausführung, Vorfühung oder Transport), bei denen typischerweise bereits auf Grund der äußeren Umstände die Gefahr der Entweichung eines Gefangenen erhöht ist, auch dann zulässig, wenn die Beaufsichtigung nicht ausreicht, um eine Entweichung zu verhindern.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Der angefochtene Beschluss wird - mit Ausnahme der Festsetzung des Gegenstandswertes - aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die dem Betroffenen insoweit entstandenen notwendigen Auslagen - an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bonn zurückverwiesen.
Gründe:
2I.
3Ausweislich der Antragsschrift, der Gründe des angefochtenen Beschlusses und der Rechtsbeschwerdeschrift verbüßt der Betroffene in der Justizvollzugsanstalt D. (im Folgenden: Antragsgegnerin) eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Körperverletzung, u.a., zudem eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten wegen fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr und eine Gesamtfreiheitsstrafe wegen schweren Raubes und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Das Haftende ist auf den 02.07.2029 notiert.
4Nachdem am 18.12.2023 eine Ausführung in das Stadtgebiet D. unter Anwendung der Hamburger Fesselung durchgeführt worden war, beantragte der Betroffene am 22.01.2024 eine Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit nach V. in Begleitung seiner Ehefrau und deren Tochter (die er als eigene angenommen hat). Die Antragsgegnerin genehmigte den Antrag in der Vollzugskonferenz vom 15.02.2024 mit der Maßgabe, dass die Ausführung aufgrund der angenommenen Fluchtgefahr nur in Begleitung von Bediensteten unter Anwendung der Hamburger Fesselung genehmigt wird. Als Konferenzergebnis wurde festgehalten:
5Der Betroffene beantragte am 04.06.2024 sodann die Änderung der Modalitäten und bat um Ausführung nach D. ohne Fesselung in Begleitung seiner Ehefrau und der Tochter. Zu diesem Zeitpunkt war bekannt, dass die Ehefrau und der Betroffene ein gemeinsames Kind erwarteten. Die Antragsgegnerin beschied den Betroffenen am 21.06.2024 wie folgt:
7Mit einem am 22.06.2024 beim Landgericht eingegangenen Schreiben vom 20.06.2024 hat der Betroffene „gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG in Verbindung mit einem Fortsetzungsfeststellungsantrag wegen der Fesselung sowie der Feststellung der Fluchtgefahr“ begehrt und beantragt, die Antragsgegnerin zur Neubescheidung „über die angebliche Fluchtgefahr, sowie die Fesselung bei meiner Ausführung (..)“ zu verpflichten. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die Antragsgegnerin pauschal bei jedem Inhaftieren eine Fluchtgefahr behaupte. Jeweils erfolge die Ausführung „mit schwammigen Begründungen“, die einer Überprüfung nicht standhielten, gefesselt. Eine konkrete Fluchtgefahr werde nicht dargelegt. Zudem treffe es nicht zu, dass er die Tat leugne. Die Feststellung der Fluchtgefahr sie rechtswidrig, wenn sie nicht begründet werden könne. Gleiches gelte für die Fesselung.
9Die Antragsgegnerin hat ihre Entscheidung verteidigt und ausgeführt, dass der Sachverhalt umfassend ermittelt und das Ermessen fehlerfrei ausgeübt worden sei. Zudem bestünde im V.er Stadtgebiet aufgrund der Infrastruktur eine erhöhte Fluchtmöglichkeit im Vergleich zu D..
10Die Strafvollstreckungskammer hat mit Beschluss vom 06.08.2024 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zurückgewiesen. Zur Begründung hat die Strafvollstreckungskammer ausgeführt, dass der Antrag als Verpflichtungsantrag zulässig sei. Dieser sei so auszulegen, dass der Betroffene nur die Fesselung, nicht die Begleitung durch die Bediensteten angreife. Sodann führt die Strafvollstreckungskammer aus, dass der „Feststellungsantrag“ unbegründet sei, da die Anordnung der Fesselung bei der Ausführung rechtmäßig sei. Die Entscheidung über die Gewährung von Ausführungen nach § 53 Abs. 1 StVollzG NRW stehe im Ermessen der Vollzugsanstalt und sei nur nach den Grundsätzen des § 115 Abs. 5 StVollzG zu überprüfen. Die Gründe für die Versagung von Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit sei lockerungsbezogen abzufassen, wobei die Vollzugsbehörde nachvollziehbare Ausführungen dazu machen müsse, welche Sicherungsmaßnahmen im Einzelfall erforderlich seien und inwieweit diese den Zweck der Ausführung gefährdeten. Gemessen daran sei die Ablehnung der Ausführung ohne Anordnung einer Fesselung nicht zu beanstanden. Die Antragsgegnerin sei zu Recht davon ausgegangen, dass aufgrund der bestehenden Fluchtgefahr eine Ausführung zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit nur unter Anordnung von Sicherungsmaßnahmen erfolgen könne. Die knapp gehaltene, aber auf die individuelle Situation des Betroffenen zugeschnittene Entscheidung bewege sich im Rahmen des der Antragsgegnerin eingeräumten Ermessens. Die als unrealistisch bewerteten Vorstellungen des Betroffenen zu seiner Perspektive in der Haft habe die Antragsgegnerin so gewertet, dass ein Fluchtanreiz bestehen könne, wenn seine Erwartungen nicht erfüllt würden. Zwar reichten allgemeine Fluchtvermutungen in diesem Zusammenhang nicht aus, aber die Antragsgegnerin habe auch die kürzlich erfolgte Verurteilung bedacht. Soweit sie im gerichtlichen Verfahren mit geographischen Gegebenheiten und der Infrastruktur argumentiere, habe dies ersichtlich für die Entscheidung keine Rolle gespielt und sei daher nicht zu bewerten.
11Gegen den am 19.09.2024 zugestellten Beschluss wendet sich der Betroffene mit der am 20.09.2024 durch Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten erhobenen Rechtsbeschwerde. Er beantragt, den angefochtenen Beschluss und die „Regelung der Antragsgegnerin über die Nichtgewährung des ungefesselten Ausgangs“ aufzuheben und erhebt mit näheren Ausführungen die Sachrüge.
12Das Ministerium der Justiz hat am 16.01.2025 Stellung genommen und erachtet die Rechtsbeschwerde in Ermangelung eines Zulassungsgrundes für unzulässig. Darauf hat der Betroffene mit privatschriftlichem Schreiben vom 02.02.2025 erwidert und unter Verweis auf seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung ausgeführt, dass sich sein Antrag nicht nur gegen die Fesselungsanordnung, sondern auch gegen die angebliche Flucht- und Missbrauchsgefahr gerichtet habe. Mit einer weiteren privatschriftlichen, als „Rechtsbeschwerde (…) wegen der angeblichen Flucht-/Missbrauchsgefahr sowie der Fesselung (…)“ bezeichneten Eingabe vom 02.02.2025 hat er weitere Ausführungen gemacht.
13II.
14Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache – jedenfalls vorläufig - Erfolg.
151.
16Die mit Schriftsatz des Verfahrensbevollmächtigten vom 20.09.2024 form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde (§ 118 StVollzG) ist zulässig mit dem Antrag erhoben, die Regelung der Antragsgegnerin über die „Nichtgewährung des ungefesselten Ausgangs“ aufzuheben. Damit ficht der Betroffene ausschließlich die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Anordnung der Fesselung bei der Ausführung zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit an (§ 118 Abs. 1 S. 2 StVollzG).
17Zu Gunsten des Betroffenen hat der Senat die als „Rechtsbeschwerde“ bezeichnete privatschriftliche Eingabe vom 02.02.2025 nicht als weiteres Rechtsmittel im Sinne des § 116 StVollzG ausgelegt, obwohl sich der Eingabe ein über die Rechtsbeschwerde vom 20.09.2024 hinausgehendes Rechtsschutzziel entnehmen lässt, da der Betroffene ersichtlich beabsichtigt, auch „die Feststellung der Fluchtgefahr“ zum (isolierten) Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu machen. Die Eingabe vom 02.02.2025 ist nicht in der erforderlichen Form des § 118 Abs. 3 StVollzG NRW und weit nach Ablauf der Frist des § 118 Abs. 1 StVollzG NRW bei dem insoweit unzuständigen Rechtsbeschwerdegericht eingegangen. Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass - unabhängig davon - die Rechtsbeschwerde bezogen auf die vom Betroffenen eindeutig als solche angegriffene „Feststellung“ unzulässig wäre, da insoweit der Antrag auf gerichtliche Entscheidung bereits unzulässig wäre. Dieser kann nach § 109 StVollzG eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzuges oder des Vollzuges freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung zum Gegenstand haben. Die angegriffene „Feststellung der Missbrauchsgefahr“ hat die Antragsgegnerin (allein) im Rahmen der Prüfung der Anordnung der besonderen Sicherungsmaßnahmen getroffen. Eine eigenständige Regelungswirkung mit dem Charakter einer „Maßnahme“ im Sinne des § 109 StVollzG liegt darin jedoch nicht.
18Auch die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer befasst sich daher folgerichtig ausschließlich mit dem gegen die Fesselungsanordnung gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Soweit in den Beschlussgründen ausgeführt ist, dass der „Feststellungsantrag unbegründet“ sei (Bl. 5 des Beschlusses), handelt es sich dabei ersichtlich um ein Versehen. Weder hat die Strafvollstreckungskammer sich mit der Zulässigkeit eines etwaigen Feststellungsantrags auseinandergesetzt, noch lassen die weiteren Ausführungen einen Bezug zu dem als solchen gestellten Feststellungsantrag erkennen.
192.
20Die Rechtsbeschwerde (vom 20.09.2024) war zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 116 Abs. 1 StVollzG) zuzulassen. Es ist zu besorgen, dass die Strafvollstreckungskammer die rechtlichen Vorgaben für die Überprüfung der Fesselungsanordnung als besondere Sicherungsmaßnahme anhand des § 69 Abs. 1 StVollzG NRW bzw. des § 69 Abs. 9 StVollzG NRW verkannt hat, was vor dem Hintergrund der Grundrechtsrelevanz der Maßnahme für den Betroffenen die Rechtsprechung im Ganzen tangiert und die Gefahr der Wiederholung bei künftigen Entscheidungen birgt.
21III.
22Die Rechtsbeschwerde ist - jedenfalls vorläufig - begründet.
231.
24Die hier allein verfahrensgegenständliche Frage der Rechtmäßigkeit der Anordnung einer Fesselung als Modalität (“Wie“) der beantragten Ausführungen ist nach der Regelung des § 69 StVollzG NRW zu beurteilen. Diese Regelung ermöglicht besondere Sicherungsmaßnahmen, die präventiv der Abwehr von konkreten Gefahren, die von Gefangenen ausgehen, dienen. Nach § 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 StVollzG NRW kann die Fesselung als besondere Sicherungsmaßnahme angeordnet werden, wenn nach dem Verhalten von Gefangenen oder auf Grund ihres seelischen Zustandes in erhöhtem Maße die Gefahr der Entweichung, von Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen oder die Gefahr der Selbstverletzung oder Selbsttötung besteht. Gemäß § 69 Abs. 9 StVollzG NRW ist die Fesselung u.a. bei einer Ausführung auch dann zulässig, wenn die Beaufsichtigung nicht ausreicht, eine Entweichung zu verhindern.
25Der angefochtenen Entscheidung ist schon nicht zweifelsfrei zu entnehmen, dass die Strafvollstreckungskammer die Fesselungsanordnung überhaupt nach den Vorgaben des § 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6, Abs. 9 StVollzG NRW überprüft hat. Vielmehr legen die rechtlichen Erwägungen nahe, dass die Strafvollstreckungskammer die Maßnahme auf Grundlage der Regelung des § 53 Abs. 3 StVollzG NRW überprüft hat, der die Voraussetzungen für die Ausführungen zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit regelt („Ob“ der Ausführung). Das erweist sich als grundlegend rechtsfehlerhaft und die Entscheidung begegnet auch im Ergebnis Bedenken.
26a)
27Eine erhöhte Gefahr der Entweichung im Sinne des § 69 Abs. 1 StVollzG NRW setzt eine an konkreten Anhaltspunkten belegte und individuell zu beurteilende Fluchtgefahr voraus, die über die allgemein bei Gefangenen naheliegende Fluchtvermutung hinaus geht und auch die gemäß § 53 Abs. 1 StVollzG NRW der Gewährung von Vollzugslockerungen entgegenstehende Fluchtgefahr übersteigt (Senat, Beschluss vom 31.03.2025 – III – 1 Vollz 30/25 – juris; NStZ-RR 2011, 291 [292] zu § 88 Abs. 1 StVollzG Bund unter Hinweis auf OLG Koblenz, NStZ 2000, 467; OLG Karlsruhe, MDR 1993, 1114 – juris Rn 16; Arloth, in: Arloth/Krä, 5. Aufl. 2021, § 88 Rn. 2a; Goerdeler, in: Feest/Lesting/Lindemann, 8. Aufl. 2022, § 78 Rn. 11, jew. mwN). Es muss sich immer um eine im Zeitpunkt der Entscheidung nach dem möglichen Stand der Ermittlungen erkennbare, substantiierte und mit konkreten Anhaltspunkten belegbare Gefahr handeln, die aus dem Verhalten des Gefangenen zu entnehmen ist. Nach Absatz 1 ist die Anstalt befugt, aus den in diesem sowie in den folgenden Absätzen des § 69 StVollzG NRW genannten Gründen die in Absatz 2 bezeichneten Sicherungsmaßnahmen – wozu neben anderen auch die Fesselung gehört – gegenüber Gefangenen anzuordnen (LT-Drucks. 16/5413, S. 144; Senat, Beschluss vom 31.03.2025 – III – 1 Vollz 30/25 – juris mit mwN.).
28Gemessen an diesen Maßstäben hat die Strafvollstreckungskammer rechtsfehlerhaft die von der Antragsgegnerin angenommene Fluchtgefahr als ermessensfehlerfrei gebilligt, die sich aus einer weiteren Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren, seinen Vorstellungen bezogen auf eine Verlegung in eine Anstalt des offenen Vollzuges, die aufgrund mangelnder Tataufarbeitung und der weiterhin unbehandelten Delinquenzursachen - auch im Hinblick auf den Zeitaufwand für die Erstellung der erforderlichen psychologischen Basisdiagnostik - unrealistisch erscheine. Aus diesen Gründen hat die Antragsgegnerin (lediglich) die Möglichkeit für naheliegend erachtet, dass die Vorstellungen des Betroffenen und die diesseitigen Erwartungen an die weitere Behandlungsplanung auseinanderfallen werden. Eine substantiierte und mit konkreten Anhaltspunkten belegbare Fluchtgefahr, die aus dem Verhalten zu entnehmen ist, hat die Antragsgegnerin damit gerade nicht festgestellt. Die allgemein gehaltenen Befürchtungen und Erwägungen reichen insoweit nicht aus. Insbesondere hat die Antragsgegnerin - soweit für den Senat ersichtlich - auch die einem Fluchtanreiz möglicherweise entgegenstehende Verbindung zu seiner (damals von ihm schwangeren) Ehefrau und der von ihm angenommenen Tochter nicht in die Erwägungen mit einbezogen.
29b)
30Die Fesselungsanordnung erweist sich auf Grundlage der dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen auch nicht nach Maßgabe des § 69 Abs. 9 StVollzG als rechtmäßig. Der Anwendungsbereich des § 69 Abs. 9 StVollzG NRW ist enger gefasst als der des § 69 Abs. 1 StVollzG NRW, da die Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen auf die dort genannten Konstellationen außerhalb der JVA – Ausführung, Vorführung, Transport – beschränkt sind und überdies als Rechtsfolge nur die Fesselung (§ 69 Abs. 2 Nr. 6 StVollzG NRW) zulässig ist. Innerhalb dieses Anwendungsbereichs sind die tatbestandlichen Voraussetzungen jedoch erweitert bzw. gegenüber Absatz 1 qualitativ herabgesetzt. Denn unabhängig von konkreten, in der Person des Gefangenen liegenden Gründen ist die Fesselung in den Konstellationen des Absatz 9, bei denen typischerweise bereits auf Grund der äußeren Umstände die Gefahr der Entweichung eines Gefangenen erhöht ist, nach der gesetzlichen Konzeption auch dann zulässig, wenn die Beaufsichtigung nicht ausreicht, um eine Entweichung zu verhindern (LT-Drucks. 16/5413, S. 145; BVerfG, NJW 1117 [1118], vgl. Senat, Beschluss vom 17.04.2023 zu III-1 Vollz (Ws) 551/22, Rn. 12 und Beschluss vom 17.04.2023 zu III-1 Vollz (Ws) 92/23, Rn. 9 – jeweils juris).
31Ein Spezialitätsverhältnis, bei dem Absatz 9 die Anwendung des Absatzes 1 verdrängt („lex specialis derogat legi generali“), ist damit der gesetzlichen Systematik nicht zu entnehmen. Zwar überschneiden sich die tatbestandlichen Anwendungsbereiche der Vorschriften, weil § 69 Abs. 1 StVollzG NRW nicht auf die in Absatz 9 genannten Konstellationen beschränkt ist. Jedoch sehen sowohl Absatz 1 als auch Absatz 9 miteinander vereinbare Rechtsfolgen vor, weil sie jeweils die Fesselung des Gefangenen erlauben („kumulative Normenkonkurrenz“) (Senat, Beschluss vom 31.03.2025 – III – 1 Vollz 30725 – juris).
32Den von der Strafvollstreckungskammer dargestellten Erwägungen der Antragsgegnerin ist nicht zu entnehmen, aus welchen Gründen die Beaufsichtigung durch Bedienstete bei der Ausführung nicht ausreicht, um eine Entweichung zu verhindern. Die pauschal aufgestellte Behauptung, dass ein nur durch die angeordneten Sicherungsmaßnahmen zu relativierendes Fluchtrisiko bestehe, ist insoweit unzureichend. Auch hat die Antragsgegnerin auf Grundlage der angenommenen Fluchtgefahr lediglich feststellend ausgeführt, dass „im Ergebnis“ eine ungefesselte Ausführung im Beisein der Ehefrau und Tochter nicht verantwortet werden könne. Diese Ausführungen der Antragsgegnerin legen letztlich die Vermutung nahe, dass sie Erwägungen zu der Frage, ob eine ungefesselte Ausführung in Begleitung von Bediensteten ausreichen könnte, um eine Entweichung zu verhindern, nicht getroffen hat.
332.
34Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben (§ 119 Abs. 4 S. 1 StVollzG) und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen (§ 119 Abs. 4 S. 3 StVollzG). Eine Entscheidung des Senats an Stelle der Strafvollstreckungskammer (§ 119 Abs. 4 S. 2 StVollzG) war mangels Spruchreife nicht möglich. Dem Senat ist es als Rechtsbeschwerdegericht versagt, eigene Feststellungen zur Ausübung des Ermessens (§ 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6, Abs. 9 StVollzG NRW zu treffen). Insbesondere ist Spruchreife nicht deshalb anzunehmen, weil in der Sache nur eine einzige Entscheidung rechtlich vertretbar wäre (vgl. dazu: KG Beschluss vom 22.08.2011 – 2 Ws 258 und 260 Vollz – juris = StV 2012, 159). Insoweit ist nicht ausgeschlossen, dass die Strafvollstreckungskammer unter Auswertung von dem Senat im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen weitere Feststellungen zu den erfolgten Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin treffen kann.