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Die Substantiierungsanforderungen im Hinblick auf Art und Ausmaß eines Vorschadens und zu Umfang und Güte einer Vorschadensreparatur dürfen nicht – wie hier – überspannt werden (zu Vorschäden außerhalb der Besitzzeit des Geschädigten BGH, Beschluss vom 06.06.2023 – VI ZR 197/21, NJW-RR 2023, 1038 Rn. 3 ff., 11 ff.; BGH, Beschluss vom 15.10.2019 – VI ZR 377/18, r+s 2020, 108 Rn. 9 ff.; zu Vorschäden innerhalb der Besitzzeit des Geschädigten Senat, Urteil vom 11.04.2022 – 7 U 9/22, NJW-RR 2022, 1336 = juris Rn. 5 ff.; allgemein Empfehlung des Arbeitskreis VI des 62. VGT 2024).
Hinweise auf eine (vermeintlich) fehlende Substantiierung müssen hinreichend frühzeitig erfolgen und hinreichend konkret sein; erfolgen sie erst in der mündlichen Verhandlung, ist im Einzelfall – wie hier – von Amts wegen Schriftsatznachlass zu gewähren (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 12.01.2022 – XII ZR 26/21, BeckRS 2022, 2092 Rn. 9 ff. mwN; Senat, Urteil vom 11.4.2022 – 7 U 9/22, NJW-RR 2022, 1336 = juris Rn. 5).
Auf die Berufung des Klägers wird das am 28.11.2023 verkündete Urteil des Einzelrichters der 12. Zivilkammer des Landgerichts Essen, Az. 12 O 270/22, einschließlich des zugrundeliegenden Verfahrens aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Gerichtskosten, die niedergeschlagen werden – an das Landgericht Essen zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
G r ü n d e
2(abgekürzt gemäß § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1, § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO)
3I.
4Die Berufung ist begründet. Die Berufung des Klägers führt gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zur ausdrücklich beantragten Aufhebung des angefochtenen Urteils einschließlich des zugrundeliegenden Verfahrens und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, soweit der Senat sie nicht niedergeschlagen hat. Das landgerichtliche Urteil beruht auf einem wesentlichen Verfahrensfehler im Sinne der vorgenannten Vorschrift, deren Voraussetzungen auch ansonsten vorliegen. Das Landgericht hat den maßgeblichen Sachverhalt verfahrensfehlerhaft nicht hinreichend aufgeklärt.
5Das Landgericht hätte die Klage nicht wegen unzureichender Darlegung der Reparatur von Vorschäden (außerhalb der Besitzzeit des Klägers) abweisen dürfen, ohne den Kläger vorab hinreichend hierauf hinzuweisen und ihm insoweit von Amts wegen einen Schriftsatznachlass zu gewähren.
6Im Einzelnen:
71. Ob bzw. inwieweit es zu einer fachgerechten Reparatur von Vorschäden gekommen ist und welche Auswirkungen dies auf den streitgegenständlichen unfallbedingten Schaden hat, ist durch weitere umfangreiche Beweisaufnahme zu klären.
8Das Landgericht hat die Substantiierungsanforderungen verfahrensfehlerhaft mit Blick auf die Bemessung der klägerischen Substantiierungslast zu Art und Ausmaß des Vorschadens und zu Umfang und Güte der Vorschadensreparatur überspannt (vgl. zu den maßgeblichen Anforderungen BGH Beschl. v. 6.6.2023 – VI ZR 197/21, NJW-RR 2023, 1038 Rn. 3 ff., 11 ff.; BGH Beschl. v. 15.10.2019 – VI ZR 377/18, r+s 2020, 108 Rn. 9 ff.; OLG Hamm Urt. v. 25.1.2022 – 9 U 46/21, BeckRS 2022, 2475 = juris Rn. 8 ff.; Senat Urt. v. 11.4.2022 – 7 U 9/22, NJW-RR 2022, 1336 = juris Rn. 5 ff.; Laws/Lohmeyer/Vinke in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. (Stand: 01.12.2021), § 7 StVG Rn. 414-418, insbesondere Rn. 416; siehe auch Empfehlung des Arbeitskreis VI des 62. VGT 2024).
9Vor allem aber hat es den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. hierzu zuletzt etwa Senat Urt. v. 11.4.2022 – 7 U 9/22, NJW-RR 2022, 1336 = juris Rn. 5; OLG Hamm Urt. v. 25.1.2022 – 9 U 46/21, BeckRS 2022, 2475 = juris Rn. 9).
10Das erkennende Gericht hatte zunächst – vor Richterwechsel – unter dem 05.03.2023 einen Hinweis dahin erteilt, dass der Vortrag des Klägers hinreichend schlüssig und eine Beweisaufnahme erforderlich sei (eGA I-208), und auf dieser Grundlage unter dem 20.04.2023 einen entsprechenden Vergleichsvorschlag unterbreitet (eGA I-232 ff.). Deshalb hätte das erkennende Gericht – nach Richterwechsel – in der mündlichen Verhandlung vom 28.11.2023 (eGA I-320 ff.) zum einen konkreter auf seine geänderte Rechtsauffassung und die von ihm nunmehr angelegten Substantiierungsanforderungen hinweisen müssen, zum anderen aber jedenfalls von Amts wegen einen Schriftsatznachlass gewähren müssen. Denn die Klägervertreterin konnte in der mündlichen Verhandlung ersichtlich nicht reagieren und das Landgericht hatte es versäumt, rechtzeitig einen eindeutigen Hinweis zu seinen (veränderten) Substantiierungsanforderungen zu erteilen (vgl. zuletzt etwa BGH Beschl. v. 12.1.2022 – XII ZR 26/21, BeckRS 2022, 2092 Rn. 9 ff. m. w. N.; Senat Urt. v. 11.4.2022 – 7 U 9/22, NJW-RR 2022, 1336 = juris Rn. 5).
11Auch die vorhergehenden Hinweise der Gegenseite ließen – entgegen den Ausführungen im angefochtenen Urteil – (jedenfalls) angesichts der vorhergehenden Hinweise des Gerichts (vor Richterwechsel) die Hinweispflicht des Gerichts nach § 139 Abs. 2 ZPO evident nicht entfallen (vgl. allgemein zur Entbehrlichkeit gerichtlicher Hinweise aufgrund von Hinweisen der Gegenseite BGH Beschl. v. 15.5.2023 – VIa ZR 1332/22, BeckRS 2023, 17046 Rn. 9 ff.).
12Der Gehörsverstoß ist auch erheblich. Hätte das Landgericht von Amts wegen Schriftsatznachlass gewährt, ist davon auszugehen, dass, wie nunmehr mit der Berufungsbegründung, konkret zu sämtlichen Vorschäden unter Beweisantritt vorgetragen worden wäre. Im Hinblick auf die oben bereits aufgeführte Rechtsprechung (vgl. erneut insbesondere BGH Beschl. v. 15.10.2019 – VI ZR 377/18, r+s 2020, 108 Rn. 9 ff.) genügt insoweit die Vorlage der Reparaturrechnung sowie von Lichtbildern, die Benennung eines Zeugen aus dem Reparaturbetrieb und des Voreigentümers und -besitzers als Zeuge sowie die Beantragung der Einholung eines Sachverständigengutachtens. Es ist auch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich das Landgericht nach Vernehmung der benannten Zeugen und der Einholung eines Sachverständigengutachtens eine Überzeugung (§ 287 ZPO) von der erfolgten Reparatur des Vorschadens verschafft oder wenigstens zur Schätzung eines abgrenzbaren Mindestschadens in der Lage gesehen hätte (vgl. hierzu BGH Beschl. v. 15.10.2019 – VI ZR 377/18, r+s 2020, 108 Rn. 15).
132. Soweit die Haftung der Beklagten dem Grunde und der Quote nach aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG, § 17 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG noch nicht feststeht, ist auch insoweit eine umfangreiche Beweisaufnahme durch das Landgericht erforderlich.
14Insoweit sei bereits jetzt vorsorglich darauf hingewiesen, dass nach derzeitigem Sach- und Streitstand die Annahme eines deklaratorischen Anerkenntnisses nicht trägt (vgl. dazu etwa abstrakt OLG Hamm Beschl. v. 9.11.2018 – 20 U 86/18, VersR 2019, 1074 = juris Rn. 16 f. m. w. N., dessen Einzelfallentscheidung Rn. 18 ff. aber auf den vorliegenden Einzelfall nicht übertragbar ist; siehe auch Senat Beschl. v. 29.12.2020 – 7 U 90/20, BeckRS 2020, 42091 = juris Rn. 17 m. w. N.).
15Denn zum Zeitpunkt der Erstellung des vermeintlichen Anerkenntnisschreibens vom 04.03.2022 seitens der Beklagten zu 1 (eGA I-135) hatte sich der Kläger noch gar nicht an die Beklagte zu 1 gewandt. Dies geschah erst – nach dem Verständnis des Klägers, es läge ein deklaratorisches Anerkenntnis vor, dann aber ohne jede Notwendigkeit – durch anwaltlichen Schriftsatz vom 07.03.2022 (eGA I-53). Es gab mithin bis zu diesem Zeitpunkt schon keinen Grund für ein Schuldanerkenntnis, da nichts in Streit stand.
16Ebenso wenig ist vorgetragen oder ersichtlich, dass die Beklagte zu 1 am 04.03.2022 bereits erkennen konnte oder bei sorgfältiger Prüfung des Sachverhalts hätte erkennen müssen, dass das Unfallgeschehen möglicherweise (auch) auf einen Spurwechsel des Klägers zurückzuführen war. Denn aus dem Schreiben wird bereits deutlich, dass der Beklagten zu 1 jedenfalls kein Gutachten zum Schaden am klägerischen Fahrzeug vorlag, anhand dessen das Unfallgeschehen hätte begutachtet werden können. Allein das der Beklagten zu 1 bereits vorliegende Gutachten zum Schaden am Beklagtenfahrzeug vom 22.02.2022 (eGA I-99 ff.) ließ eine Klärung des Unfallgeschehens nicht zu.
17Der Kläger ist entsprechend auch selbst noch in der Klageschrift nicht davon ausgegangen, dass ein deklaratorisches Anerkenntnis vorgelegen habe.
183. Es ist vor diesem Hintergrund der Verletzung rechtlichen Gehörs eine umfassende Beweisaufnahme durch Vernehmung von Zeugen und Einholung eines Sachverständigengutachtens (ggf. nach ergänzender Anhörung des Klägers und des Beklagten zu 3 gemäß § 141 ZPO zu Vorschäden bzw. zum behaupteten Spurwechsel) erforderlich.
19Infolgedessen waren – entsprechend dem ausdrücklich gestellten Antrag – gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO das landgerichtliche Urteil einschließlich des zugrundeliegenden Verfahrens aufzuheben und die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, soweit der Senat sie nicht niedergeschlagen hat, an das Landgericht zurückzuverweisen.
20Das Landgericht wird nunmehr im weiteren Verfahren – unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats – den maßgebenden Sachverhalt weiter aufzuklären und sodann insgesamt erneut zu entscheiden haben.
21II.
22Eine Kostenentscheidung ist noch nicht veranlasst (vgl. Vollkommer in: Zöller, ZPO, § 304 Rn. 26; Heßler in: Zöller, ZPO, § 548 Rn. 58); die Niederschlagung beruht auf § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 713 ZPO.
23III.
24Die Revision ist nicht zuzulassen (§ 543 Abs. 2 ZPO).